Das Haus auf der Klippe
Inspiriert von der H.P. Lovecraft Geschichte „The Strange High House In The Mist“
geschrieben Anfang Juli 2009 in Galway, Irland
Zeichnung: Anfang August 2009
In Maghera Beg sprach niemand darüber, wem das Haus auf der Klippe gehörte, wer es erbaut hatte und zu welchem Zweck. Die Familien lebten vom Fischfang und bauten in kleinen Gärten hinter den Häusern ein wenig Obst und Gemüse an, hielten sich eine Kuh oder zwei Schweine, die Väter und Söhne zogen mit ihren Fischkuttern auf die See hinaus, die Frauen kümmerten sich um die Kinder, die zur Schule gingen oder auch nicht, die Alten saßen auf den Bänken vor den Haustüren und nutzten jeden warmen Sonnenstrahl. Die Fischkutter umschifften die Klippe, die weit vor der Brandung aus den Wellen ragte, die Männer vermieden jeden unnötigen und leichtsinnigen Blick auf das graue Haus mit dem Rietgrasdach und den dunklen kleinen Fenstern. Es war ein Wunder, dass es überhaupt noch stand, denn es war seit Jahrzehnten, wenn nicht noch länger, dem Wind und dem Meer ausgesetzt und trotzte den Naturgewalten ebenso wie die schwarze Klippe, auf der es stand. Die meiste Zeit des Jahres war es von der Landseite aus nicht zu sehen, denn das Meer hüllte die Küste gerne in Dunst und Nebel. Wenn es an hellen klaren Tagen über das Wasser ragte, sich schwarz gegen den Himmel abhob, bekreuzigten sich die Weiber und die alten Männer, und die Mütter beeilten sich, die spielenden Kinder ins Haus zu holen. Da es so selten deutlich aus dem Meer herausragte, konnte niemand mit Gewissheit sagen, wann das Licht in den Fenstern brannte. Möglicherweise brannte es jede Nacht und nur der Nebel verhinderte, dass sie es an Land sahen.
Die Fischer, die mit ihren Kuttern an der Klippe vorbeikamen und das gelbe Licht in den Fenstern sahen, gingen nach der Rückkehr in den Hafen niemals sofort nach Hause. Sahen sie das Licht, brachte der Kapitän seine Mannschaft in die Kirche und jeder entzündete dort eine Kerze.
Caleb kam nach Maghera Beg, das Dorf seines Vaters, zurück und er hatte das Gefühl, niemals fortgewesen zu sein. Er war mit dem Bus, der dreimal täglich unter der Woche über die Küstenstraße nach Maghera Beg kam und an der Sturmglocke die Passagiere ein-und aussteigen ließ, angekommen, einen kleinen Koffer unter dem Arm geklemmt, in der Hand den Brief seiner Mutter, die ihm genau beschrieben hatte, wie er sich in dem Dorf zurechtfinden konnte. Sie hatte nicht darauf vertraut, dass er sich an die Straßen seiner Kindheit gut genug erinnern würde. Sturmglocke, zweite Gasse linke Hand, das letzte Haus neben der alten Eiche. Dort würde er in der Pension ein Zimmer nehmen, sich während des Sommers wieder unter die alten Familien mischen, irgendeinen Job annehmen. Seine Mutter war nicht glücklich darüber gewesen, dass er in das Küstendorf zurückkehren wollte und wenn auch nur während des Sommers, aber sie hatte nicht versucht es ihm auszureden.
Er hatte ihr nicht gesagt, weshalb er den Sommer nicht wie üblich zu Hause verbringen wollte. Seine Freundin hatte ihm etwas gebeichtet und diese Nachricht konnte er nicht verarbeiten, wenn er zu Hause saß.
Als Caleb in der Pension nach einem Zimmer fragte und sich als Caleb Coogan vorstellte, löste er damit eine Welle hysterischen Interesses an seiner Person aus. Denn seine unglückliche Mutter hatte ihn als Kind mit in die Stadt genommen, nachdem ihr Mann auf See geblieben war und niemand hatte erwartet, ihn jemals wiederzusehen. Die Frauen tätschelten ihn, kniffen in seine Wangen, bestätigten ihm, wie groß und kräftig er geworden sei und schüttelten ungläubig die Köpfe, als er auf ihre Fragen bestätigte, dass er im Frühjahr zwanzig Jahre alt geworden war.
„Ich brauche einen Job“, sagte er, „muss nichts Großes sein, nur ein normaler Job.“
Die Frauen um ihn herum sahen sich an, schoben ihn von sich, um seine Erscheinung besser begutachten zu können, inspizierten seine Hände.
„Er ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, aber was soll er arbeiten mit diesen Händen? Seht euch bloß diese Hände an.“
Sie benahmen sich, als sei es eine Katastrophe. Eine bemerkte, dass der alte Henry einen weiteren Mann auf seiner Seekin‘ Mary benötigte, aber niemand hielt das für eine gute Idee, bis auf Caleb.
„Auf einem Kutter?“ rief er, „warum nicht? Wenn er mich haben will und gebrauchen kann.“
Er verbrachte die erste Nacht in der Pension, dachte über das Problem mit seiner Freundin nach, schlief dann wie ein Stein und fand sich am frühen Morgen, noch bevor die Sonne wirklich aufgegangen war, im Hafen ein.
Kapitän Henry McMahon, ein Bär von einem Mann und von unbestimmtem Alter, sagte, er wolle es einen Tag ohne Bezahlung mit ihm versuchen und sich dann entscheiden und Caleb schlug ein. Kapitän Henry war im Vorteil, denn er kannte Caleb noch als kleinen Hosenscheißer, während Caleb zwar die Familiennamen zuordnen konnte, aber keine Erinnerung mehr an die Personen hatte.
Caleb zog das Ölzeug über, spuckte in die Hände und machte sich nützlich. Als sie aus dem Hafen tuckerten, Henry fuhr mit seiner kleinen Mannschaft stets als einer der Ersten hinaus, umrundeten sie weitläufig die Klippe, die im Nebel nur undeutlich auftauchte. Caleb rief dem Kapitän zu, dass er das Haus auf der Klippe ganz vergessen habe und es ihn wunderte, dass es noch stand, klein und schief im Schatten der hochaufragenden düsteren Klippe.
„Es gibt Dinge, die ändern sich nicht“, antwortete der Kapitän.
So war es, ganz besonders in Maghera Beg, wo die Zeit stillzustehen schien, nicht ein Haus oder eine enge verwinkelte Straße hatte sich seit Calebs Kindheit verändert.
Den ganzen Tag holten sie in der unruhigen See die vollen Hummerreusen ein, markierten die Hummer, klemmten ihnen die Scheren zu, warfen die zu kleinen Kameraden wieder über Bord. Caleb beobachtete, wie einer der alten Fischer einen großen Hummer aus der Reuse nahm, ihn lange betrachtete und ihn zurück ins Meer warf, mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht, als sei dieser Hummer nicht dazu bestimmt, im Kochtopf zu landen. Von der Gischt und dem Regen waren sie durchnässt bis auf die Haut, als sie den Fang des Tages in den Hafen brachten, trotz des Ölzeugs. Der Himmel riss für einen Moment auf, der Nebel lichtete sich und als Caleb an der Reeling stand und auf das Meer starrte, tauchte vor seinen Augen das Haus auf der Klippe auf. Er konnte fast danach greifen, so nah schien es ihm, er erkannte die Fenster, das reetgedeckte Dach, aber er sah keine Tür, die in das Haus hineingeführt hätte.
Das muss ein einsamer Fischer dort gebaut haben, dachte er und einen Augenblick lang, bevor Haus und Klippe wieder im Nebel verschwanden, erleuchtete ein gelbes flackerndes Licht erst das eine, dann das andere Fenster des Hauses, als würde eine Person in dem dunklen Haus langsam herumwandern und dabei eine Kerze tragen. Caleb wollte Kapitän Henry von seiner Beobachtung erzählen, er wollte einen der anderen Männer einweihen, aber ihm fiel wieder ein, dass niemand gerne über das Haus auf der Klippe sprach.
Aber er hatte das Licht gesehen, es war kein Trugbild gewesen, also musste es jemanden geben, der dort entweder lebte oder zumindest ein- und ausging. Mit einem kleinen Boot konnte man die Klippe erreichen und vielleicht gab es eine Seite, wo man sicher anlegen konnte. Nicht, dass er das vor hatte, er hätte nur gerne mit jemandem darüber gesprochen, über dieses seltsame unheimliche Gefühl, das Licht gesehen zu haben.
„Du bist ein fleißiger Junge“, sagte Kapitän Henry, als er auf der Mole seine Männer nach Hause schickte, „morgen früh um die gleiche Zeit.“
Dieser Satz war so gut wie ein unterschriebener Arbeitsvertrag und Caleb war so glücklich, dass er nicht einmal nach dem Lohn fragte. Im Bett liegend, obwohl es erst früher Nachmittag war, starrte er an die Decke des Pensionszimmers und dachte über das Haus auf der Klippe nach. Es ließ ihm keine Ruhe, er konnte es nicht aus seinen Gedanken verbannen und deshalb nahm er sich vor, gleich am nächsten Tag sofort vom Kutter herunter mit dem Bus in die nächstgrößte Stadt zu fahren, wo er eine Bibliothek und das Zeitungsarchiv der Region wusste. Wenn er schon in Maghera Beg mit niemandem darüber sprechen konnte, wollte er die stummen Zeitzeugen befragen.
Der Bibliothekar war kaum zehn Jahre älter als er und keine wirkliche Hilfe für persönliche Informationen, aber als Caleb ihm von dem Haus erzählte, zeigte er ihm, wo er die Chroniken und Journale des Fischerdorfes finden konnte und Caleb blätterte und las in ihnen, bis die Bibliothek schloss. Er hatte den letzten Bus verpasst und musste die weite Strecke zu Fuß laufen. Fast hätte er seine Freundin über Handy angerufen, um ihr zu erzählen, dass er jetzt Hummerfischer war, aber sie hätte ihm wieder nur Vorhaltungen gemacht, weshalb er mit der Situation nicht wie ein erwachsener Mensch umgehen konnte.
Einiges hatte er erfahren aus den Büchern, aber das Haus auf der Klippe wurde immer nur am Rande erwähnt, es gab keine Informationen, wer es erbaut hatte und weshalb ausgerechnet auf dieser kleinen steilen Klippe. Aber ein ansässiger Maler, John Harrison, sollte einige Bilder gemalt haben von dem Haus. Wenn er noch lebte, könnte er mit Sicherheit eine Menge über das Haus erzählen.
Wer baut so ein Haus? dachte Caleb, irgendwo stand, die Türschwelle würde direkt an der abfallenden Klippe enden. Aber vielleicht ist dort früher ein Weg gewesen, vielleicht ist ein Stück der Klippe abgebrochen.
John Harrison war im Alter weggezogen aus Maghera Beg, hatte seine Bilder nie wirklich verkaufen können und es war aus den Jahreschroniken nicht zu ersehen, ob er überhaupt noch lebte. Wurde das Haus erwähnt, stand es immer in Beziehung mit Unglücken, Unfällen, Todesfällen, die die Familien von Maghera Beg heimsuchten. Angehörige wurden häufig zitiert mit einem stereotypen ‚Ich wusste, dass etwas Schlimmes geschehen würde, denn ich habe durch den Nebel hindurch das Haus gesehen‘.
Alle Autoren, die das Haus erwähnten, zogen die Verbindung zu schlechten Ereignissen, entweder als Auslöser oder als Überbringer.
Dem Ganzen allerdings schrieb Caleb keine große Bedeutung zu, denn ihn interessierte die Entstehungsgeschichte des Hauses und jede Interpretation von Ereignissen auf dem Festland oder auf dem Meer in Verbindung mit dem Haus mochte reines Wunschdenken von Buchautoren sein. Das alles erinnerte ihn an „Wenn du das Haus sehen kannst, wird es regnen, wenn du das Haus nicht sehen kannst, regnet es bereits“.
Er machte sich Gedanken darüber, wer in dem Dorf Maghera Beg heimlich das Haus in Schuss hielt, um es vor dem Verfall zu bewahren, wer dort in unregelmäßigen Abständen ein Licht entzündete, um die Grusel- und Geistergeschichten lebendig zu halten.
Aufgrund der Strömung und des Riffs, das die Klippe unter dem Meeresspiegel mit dem Festland verband, umrundeten die Fischkutter nur von einer Seite die Klippe. Sie sahen immer nur eine Seite des Hauses.
Obwohl die Arbeit auf dem Hummerkutter schwer und manchmal auch gefährlich war, sie kaum Zeit hatten für Pausen, und zwischendurch nur schnell einen schwarzen Kaffee tranken, sich die kalten Finger wärmten, fand Caleb immer wieder Zeit, um bei jeder Fahrt an der Klippe vorbei die Augen offen zu halten. In einem kleinen Taschenkalender notierte er alles, was er über das Haus erfuhr, wann er es durch den Nebel hindurch sah, wann das Licht auftauchte und wie die Fischer und besonders der alte Kapitän darauf reagierten.
Abends ging er mit den Männern in die Bar und trank ein Bier mit ihnen, bis er sich mehr und mehr wie einer von ihnen fühlte und er unter dem Vorwand, etwas über die Familiengeschichte seines Vaters zu erfahren, den er durch den Unfalltod auf dem Meer nie richtig kennengelernt hatte, fragte er nach alten Dingen. Er war zu jung gewesen, hatte die Kindheitserinnerungen an ihn verloren im Laufe der Zeit. Es interessierte ihn, weshalb Maghera Beg, ob nun abgeschieden an der Küste gelegen oder nicht, von nur acht Familienclans bewohnt und lebendig gehalten wurde, weshalb sich keine Fremden ansiedelten, weshalb alles noch so ablief wie vor zweihundert Jahren. Er legte sein Handy auf den Tisch und sagte: „Wir haben das volle Netz hier, aber niemand von euch hat ein Handy. Die Kutter sind nicht mal mit Funk ausgestattet. Das muss doch irgendeinen Grund haben.“
Tim Harrison sah ihn prüfend an, warf einen Blick in die schweigende Runde der Männer, was ganz den Anschein erweckte, als müsse er sich eine Antwort darauf absegnen lassen.
„Den ganzen modernen Kram mögen wir nicht“, sagte er, „weshalb etwas ändern, was seit ewigen Zeiten gut funktioniert? Weshalb sollen wir unser Land und unsere Häuser an Fremde verkaufen? Was sollen wir mit dem Geld anfangen, wenn wir kein Heim mehr haben? Sieh dir den Rest des Landes an, was dort geschieht. Alte Familien brechen auseinander, Land wird aufgeteilt und an Fremde verkauft, die viel zu große Häuser darauf bauen und es an andere Fremde verkaufen, die dann darin wohnen und den Grund und Boden nicht zu schätzen wissen. Wir glauben einfach, dass wir nicht alles mitmachen sollen, was Neues kommt. Neues kommt und geht, die alten Werte bleiben.“
Sie bestellten eine weitere Runde Bier, draußen schlug der Regen gegen die runden Fensterscheiben wie Fingernägel kleiner Kinder, die um Einlass bettelten.
„Es ist mehr als Tradition“, sagte Caleb mehr zu sich als zu den anderen, „es ist, als wäre alles an dieser Küste, in diesem Dorf ebenso alt wie das Haus auf der Klippe, oder sogar noch älter.“
Er wollte alte Geschichten hören, aber er versuchte nie, sie aus den Männern herauszupressen. Jeder von den Fischern konnte Geschichten erzählen, dass Caleb die Ohren anlegte. Als der Akku seines Handys leer war, legte er es in eine Schublade und vergaß es.
Jeden Tag arbeitete er hart, fuhr zu den Hummerbänken raus, scheuerte die Lagerräume und das Deck, reparierte die Reusen und verdiente sich seinen Lohn redlich und nutzte seine Freizeit, um in der Bibliothek weiter nach dem Haus auf der Klippe zu forschen. Er fand heraus, dass der Maler, Tims Onkel, vor einigen Jahren gestorben war. Er fragte Tim, ob er seine Bilder jemandem hinterlassen habe oder ob sie verkauft worden seien und es versetzte ihn in Hochstimmung zu erfahren, dass Tims Vater sie alle auf dem Dachboden seines Hauses lagerte.
„Er hatte Talent“, sagte Tim, „aber das allein genügt nicht, um sich damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er war eine sehr ruhelose Seele. Nie hat er eines verkauft zu seinen Lebzeiten und mein Dad war der Meinung, dass sie auch nach seinem Tod die Familie nicht verlassen sollten.“
Wie das Land, dachte Caleb, das die Familie nicht verlässt.
*
Es geschah ein zweites Mal, dass Caleb das Licht im Haus auf der Klippe sah, als sie am frühen Abend zurück in den Hafen einliefen und er war sich sicher, dass es auch der Kapitän gesehen hatte. Kaum im Hafen, zog es die Männer nicht wie üblich in die Bar, sondern sie gingen schweigend und in gedrückter Stimmung in die Kirche, beteten um Schutz für ihre Familien und sich selbst, stifteten Kerzen. Caleb war voller Inbrunst, betete für seine Mutter, seine Freundin, die so weit fort war, seinen toten Vater, für seine fernen Verwandten, obwohl diese ihn immer noch schnitten, weil er von seiner Mutter weggebracht worden und er nun keiner mehr von ihnen war. Er nahm jedenfalls an, dass das der Grund dafür war.
„Morgen habt ihr alle ein Auge aufeinander“, sagte Henry, „ich habe ein schlechtes Gefühl.“
Im Mittelgang tauchte eine weitere Gläubige auf, die eines der gezeichneten Kinder bei sich hatte, setzte sich mit dem kleinen Jungen in eine der hinteren Reihen und betete stumm. Der Junge war zwar im Schulalter, aber er würde wohl niemals eine Schule von innen sehen, denn er litt an einer der verbreiteten Erbkrankheiten, die Maghera Beg heimsuchten. Caleb sah ihn nur kurz an, schauderte, schämte sich dafür und wagte ihn nicht mehr anzusehen. Sein entstelltes Gesicht, diese harmlosen idiotischen Augen, der zu einem breiten Grinsen verzogene Mund, der wie der eines Fisches aussah, die verkrümmte Wirbelsäule und die graue Haut ließen ihn daran denken, dass es schon zu seiner Jugend viele solcher Kinder gegeben hatte. Die Familien schickten sie niemals weg, sie lebten in den Häusern bei ihren Eltern, bis sie der Herrgott wieder zu sich nahm. Niemand beklagte sich über dieses Los.
Als sie am nächsten Morgen mit der Seekin‘ Mary ausliefen, war das Wetter so schlecht, dass die Männer sich mit Taue sichern mussten, um nicht über Bord gespült zu werden. Sie erreichten die Hummerbänke, aber alle Reusen waren leer, die Köder, Innereien vom Knurrhahn, waren unangerührt.
„Schlechte Zeichen“, sagte Henry, „wir drehen um.“
Es blieb ungeklärt, wie Tim über Bord gehen konnte, er war jung, aber er war ein erfahrener Seemann. Solche Unfälle passierten. Wäre Caleb nicht gewesen, wäre er nicht neben ihm gewesen, hätte ihm an seinem Tau nicht so lange festgehalten, bis sie ihn wieder an Bord hatten, wäre vermutlich mehr passiert als nur die tiefe Platzwunde über dem rechten Auge. Und hätte Caleb ihn nicht eigenhändig ins nächste Krankenhaus gefahren, obwohl alle sagten, sie würden ihn zu Dr. O’Malley bringen, wäre sein Auge verloren gewesen. Das sagten die Spezialisten im Krankenhaus.
Die Männer feierten Caleb wie einen Helden und als Tim aus dem Krankenhaus zurückkam, wurde Caleb zu einem großen Familienfest eingeladen.
„Es war nur Glück im Unglück“, sagte Caleb, dem so viel Aufmerksamkeit unangenehm war, „jeder von uns hätte das Gleiche gemacht.“
„Ich habe das Gleichgewicht verloren“, erklärte Tim, „ich war einen Moment unaufmerksam.“
Die Feier war ein großes Ereignis, es gab viel zu essen und zu trinken, es wurde ausgelassen gelacht, Geschichten erzählt, die Kinder liefen in ihren Schlafanzügen herum, weil die Erwachsenen es irgendwann nicht mehr versuchten, sie zurück in ihre Betten zu stecken, als es Schlafenszeit wurde. Unter Alkohol begannen die Männer alte Fischerlieder zu singen, die Frauen räumten die leeren Schüsseln vom Tisch, brachten volle aus der Küche herein und verteilten weitere Gläser, Tassen, kleine Schüsseln mit Nachtisch. Caleb konnte sich nicht erinnern, jemals so lange und so viel gefeiert und gegessen zu haben. Irgendwann fand der letzte Gast ein Einsehen und ließ sich nach Hause bringen, die Kinder waren zusammengerollt auf der Couch eingeschlafen, die Hunde zu ihren Füßen, eine grobe Wolldecke war über sie ausgebreitet.
„Wo wir gerade hier sind“, sagte Tim beim letzten Kaffee, nachdem sich seine Eltern ebenfalls zur Nachtruhe verabschiedet hatten, „du wolltest doch die Bilder von meinem Onkel sehen. Komm mit. Wir müssen nur leise sein.“
Sie fanden die Bilder, auf Rahmen gespannte Leinwände, Mappen mit Bleistift- und Kreidezeichnungen und blasse Aquarelle unter der Schräge des Dachbodens, abgedeckt mit einer alten Decke, die aus dem Bestand der ländlichen Feuerwehr stammte. In dem staubigen Licht der Dachbodenbeleuchtung konnte Caleb nicht viel erkennen, aber die meisten Bilder zeigten Fischer bei der Arbeit, Szenen in aufgewühlter See, viele Familienportraits, die grünen Hügel, die das Dorf umgaben, zeitlose Dorfszenen, die bewiesen, dass hier die Zeit wirklich still stand. Nur ein einziges zeigte undeutlich und vage das Haus auf der Klippe, nur erkennbar durch die Position im Meer, es war eine ruhige Hafenansicht am frühen Morgen. Das Haus war nur angedeutet, ein dunkler Fleck im milchigen Nebel.
„Das sind alle“, flüsterte Tim, „sieh mal, hier hat er alle Familienoberhäupter versammelt.“
Caleb erkannte seinen lange verstorbenen Großvater, es war, als würde er sechzig Jahre in der Zukunft in den Spiegel schauen. Die Familienähnlichkeit der einzelnen Familien war beeindruckend und ließ Tim und Caleb lange auf das Gemälde starren. Da waren sie alle, die McMahons, die Cahills, die Coogans, die Byrnes, die O’Malleys, die Harrisons, die Gallaghers, die Doyles. Der Maler musste für das Gruppenportrait alte Fotos als Vorlagen benutzt haben, denn mindestens zwei der Männer waren jünger gestorben und hätten kaum in der Gruppe Modell sitzen können. Sie alle wirkten sehr ernst und gewissenhaft.
Caleb wollte sich seine Enttäuschung darüber nicht anmerken lassen, dass die in den Chroniken erwähnten Gemälde des Hauses auf der Klippe nicht aufgetaucht waren. Tim bemerkte trotzdem, dass er etwas anderes erwartet hatte.
„Ich weiß, dass du glaubtest, diese anderen Bilder wären hier“, sagte er, „aber mein Vater hat sie vernichtet, als er sie das erste Mal zu Gesicht bekam. Er hat nicht erlaubt, dass wir auch nur einen Blick darauf geworfen haben.“
„Aber aus welchem Grund hat er sie vernichtet?“
„Er hätte diese Bilder niemals malen dürfen. Dad sagte, er musste mit einem Boot vor die Klippe gefahren sein, vermutlich näher heran, als es gut war, um die Skizzen von dem Haus zu erstellen. Das Haus bringt Unglück.“ Das war alles, was Tim sagte.
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Aus den Wochen auf der Seekin‘ Mary wurden Monate und langsam ging der Sommer zu Ende und das Ende der Hummersaison war absehbar. Calebs Hände waren rau und kräftig geworden, er hatte an Gewicht zugelegt und sein Interesse an dem Haus schien etwas nachgelassen zu haben. Zwar fuhr er noch in die Bibliothek, aber längst stellte er keine Fragen mehr. Er erzählte dem Kapitän, dass seine Mutter wollte, dass er zurück aufs College ging, aber er selbst wusste nicht, ob das noch das Richtige für ihn war.
„Sie hat mir einen Brief geschrieben“, sagte er, „weil mein Handy abgeschaltet ist. Ich habe es total vergessen. Am liebsten würde ich ihr schreiben, dass ich noch länger bleibe, um bei dir zu arbeiten. Noch ein halbes Jahr, ich kann weiter arbeiten und zum nächsten Schuljahr wieder anfangen.“
Kapitän Henry gab zu Bedenken, dass das Hummergeschäft bald zu Ende war, denn es war nicht erlaubt, ganzjährig Hummer zu fangen. Außerhalb der Saison wurden die Kutter repariert, Reusen geflickt und Bojen gestrichen. Das war die Arbeit der Schiffseigentümer und die Besatzung musste sich andere Jobs suchen. Die meisten lebten von ihren Ersparnissen und das mehr schlecht als recht. Caleb plante, bis zum letzten Tag auf der Seekin‘ Mary zu arbeiten, danach aber noch in Maghera Beg zu bleiben, weiter zu versuchen, mit den Coogans in Kontakt zu kommen.
An Bord des Kutters hörte er zufällig Teile einer Unterhaltung zwischen zwei Männern, die nebeneinander saßen, die Reusen bestückten und glaubten, es sei niemand in Hörweite. Sie flüsterten, dass es ein Unglück gewesen sein könnte, das Opfer verhindert zu haben und es würde sie nicht wundern, wenn es doppelt so schlimm zuschlagen würde. War ein Opfer gefordert, musste es gebracht werden. So war es schon immer gewesen.
Obwohl Caleb den Zusammenhang nicht verstand, stellte er seltsamerweise eine Verbindung zum Haus auf der Klippe her.
Wer forderte ein Opfer? Die unbekannte Person, die heimlich in dem Haus ein und ausging?
Caleb war schon der Gedanke gekommen, hatte diesen in seinem Notizbuch notiert, dass Schmuggler das Haus nutzten, allerdings hätten Schmuggler kein Interesse an Opfern aus dem Fischerdorf. Sie würden nur Sorge tragen, dass niemand ein Fuß auf die Klippe setzte.
In der Bibliothek entdeckte er eines Tages ein altes Buch, das er bisher übersehen hatte, zumindest glaubte er das, bis ihm der Bibliothekar mitteilte, dass der alte Schinken zusammen mit anderen Antiquitäten zur Restaurierung weggegeben worden war und jetzt erst wieder zur Verfügung stand. Der alte Ledereinband war ausgebessert, die Leimung erneuert, verblasste Texte wieder hergestellt worden. Der Autor war ihm vollkommen unbekannt und die Verlagsangabe zeigte, dass es sich um eine private Veröffentlichung handelte, die sicher über einen Nachlassverwalter ihren Weg in die Bibliothek gefunden hatte.
Was Caleb bereits in den ersten, schwer lesbaren handschriftlichen Kapiteln fand, war so fesselnd, dass er große Teile herauskopierte, und als ihm das Geld für den Kopierer ausging, er ganze Passagen abschrieb. Er überredete den Bibliothekar, ihn über Nacht einzuschließen, damit er weiterlesen könne, denn es war nicht erlaubt, dieses Buch auszuleihen.
„Ich stehle schon nichts“, sagte er, „wie denn auch? Untersuchen sie mich morgen früh, wenn sie aufschließen.“
Es war wie ein Fieber, das ihn gepackt hatte. Obwohl er wusste, dass dieses alte Buch eine private Chronik ohne den Anspruch auf Korrektheit und Vollständigkeit war, dass es keine Quellenangaben gab, erschien es ihm als die Antwort aller Fragen. Das Buch selbst war knapp einhundert Jahre alt, aber die Berichte darin reichten sehr viel weiter zurück.
Der Bibliothekar sagte, er riskiere seinen Job, wenn es herauskäme, dass er Caleb über Nacht in der Bibliothek gelassen hatte, aber er tat es trotzdem, weil er in dem glühenden Gesicht erkannte, dass er ihn entweder einschließen oder das Buch überlassen musste. Er sagte, Caleb solle nur im hinteren Bereich ein kleines Licht eingeschaltet lassen und um Gottes Willen nicht herumlaufen.
„Ich werde hier am Tisch sitzen bleiben und lesen“, sagte Caleb, „nichts anderes werde ich tun.“
Er blätterte in dem Buch hin und her, machte Notizen, Querverweise zu Ereignissen, denn das Buch ließ einen chronologischen Ablauf vermissen, es schien, als habe der Autor alles hastig zusammengetragen, die meisten Kapitel handschriftlich, anderes gedruckt. Jahresangaben ergaben sich nur aus den Texten der kurzen Kapitel. Nach den ersten Seiten hatte Caleb geglaubt, es sei eines der seltenen Kapitel über das Haus auf der Klippe, aber er blätterte weiter und weiter und stellte mit glühendem Gesicht fest, dass das ganze Buch von dem Verhältnis des Hauses auf der Klippe und dem Fischerdorf Maghera Beg handelte. Im ersten Kapitel berief der Autor sich auf ein Schriftstück aus der Gründerzeit des Dorfes, in dem erwähnt wurde, dass die Klippe mit dem Haus nicht betreten werden solle. Es wurde kein Grund genannt und so erfanden die Dorfbewohner einen Grund für das Verbot, der ihnen logisch erschien. Es solle nicht betreten werden, da es einem Fischer gehörte, der sich von der Welt abgewandt hatte. Die Familien, die in der Chronik zuerst genannt wurden und somit die Ältesten sein mussten, waren die Cahills und die McMahons. O’Malleys, Harrisons, Doyles, Gallaghers, Coogans und Byrnes kamen nach und nach in die Region, bauten gemeinsam das Dorf auf, errichteten die Kirche und den Hafen, kauften den ersten gemeinsamen Kutter. Caleb überflog die Berichte über familiäre Ereignisse, den Geburten, den Sterbefällen, Vermählungen und stellte fest, dass schon damals kaum frisches Blut in die Familien floss und dass Verbindungen von den Vätern sehr sorgsam gewählt wurden. So etwas wie Liebesheiraten schien es nicht gegeben zu haben.
Männer und Frauen, die Maghera Beg verließen, kamen sehr selten zurück. Kirche und Staat hatten einen nur oberflächlichen Einfluss. In einem Kapitel wurde von Father Doyle berichtet, der in seinen besten Jahren in sein Heimatdorf zurückgekehrt war und während einer Sonntagspredigt die heidnischen Bräuche angesprochen hatte, von denen jeder wusste, die jeder praktizierte und die jeder öffentlich abstritt. Er war kaum zwei Wochen in seinem Amt und musste der Meinung gewesen sein, etwas in seiner alten Heimat verändern zu können. Sie alle sollten diese Dinge als das ansehen, was sie waren: Relikte aus der Vergangenheit, die längst keine Bedeutung mehr hatten. Hummer und Fische mit abnormen Zeichen (einige Seiten weiter fand Caleb Zeichnungen von deformierten Hummern in dem Buch), die wieder ins Meer zurückgeworfen wurden, weil sie ‚dem anderen‘ gehörten, an die Vorboten des Unglücks zu glauben, wenn das Haus auf der Klippe sichtbar war, dem Licht in dem Haus eine absonderliche Bedeutung zuzuschreiben, das alles nannte Father Doyle und bemerkte nicht das blanke Entsetzen, das sich in der Kirche breit machte. Noch am selben Abend entwickelte sich ein besonders heftiger Sturm, der drei Tage lang an der Küste tobte, viele Häuser und Boote beschädigte und nur das Haus auf der Klippe unberührt ließ. Man fand Father Doyle tot in seiner Kirche und selbst der alte Mediziner, der in seiner Zeit schon vieles gesehen hatte, konnte nicht sagen, woran er gestorben war. In der ganzen Kirche roch es nach Salzwasser und verfaultem Fisch. Das war überliefert, zusammen mit einer der seltenen Quellen, einem Zeitungsausschnitt mit der Todesanzeige von Father Doyle aus dem Jahr 1901.
Einige Traditionen von Maghera Beg wurden immer wieder dokumentiert, diese setzten sich durch die Jahrzehnte fort und an einige konnte Caleb sich erinnern, denn seine Mutter hatte viel davon erzählt, nachdem sie in die Stadt gezogen waren.
Die erstgeborenen Söhne wurden zweimal getauft – einmal in der Kirche und mit dem heiligen Wasser und ein zweites Mal beim ersten Vollmond an einer bestimmten Stelle im Hafenbecken. Aus welchem Grund? Damit aus den Söhnen ordentliche Seemänner wurden, die die Tradition weiterführten, sagten die Alten. Kein einziges Haus hatte Fenster in Blickrichtung auf die Klippe, unabhängig davon, wie weit es vom Ufer entfernt war. Viele Kinder kamen schon damals mit kleinen oder großen Fehlbildungen zur Welt, mit einem elften Finger, Schwimmhäuten zwischen den Zehen, einem dritten Gelenk an beiden Daumen, mit unterentwickelten Ohrmuscheln. Caleb erinnerte sich an ein Mädchen in seinem Alter, die statt Augenlidern nur dünne strenge Hautfalten über den Augäpfeln gehabt hatte, die ihr das Blinzeln fast unmöglich gemacht hatten. Sie hatten sie „den Oktopus“ genannt, obwohl keiner von ihnen gewusst hatte, wie denn ein Oktopus aussah.
Und von einem Schwur der Familien war die Rede, aber als Caleb weiterblätterte, fand er die folgenden Seiten vernichtet. Jemand hatte die Seiten nicht einfach herausgerissen, sondern heraus gebrannt, die verkohlten Ränder waren noch sichtbar und waren auch bei der Restaurierung nicht ersetzt worden. Caleb strich über die verbrannten Ränder der Seiten. Die Zerstörung musste mit Absicht herbeigeführt worden sein, denn alle Seiten der Kapitel davor und danach waren unversehrt. Er machte Notizen, bis seine Schreibhand verkrampfte und er vor Erschöpfung die Augen nicht mehr offen halten konnte.
Wenn es einen Schwur der Gründerfamilien gab, dann sicher, das Vergangene lebendig zu halten, kein Stück Land zu verkaufen, möglichst unter sich zu bleiben. Das war kein Geheimnis.
Caleb kam der Gedanke, dass diese Chronik mit all ihren detaillierten Innenansichten von einer Person aus Maghera Beg verfasst worden sein könnte und diese Person mochte Familiendokumente als Quellen benutzt haben.
A. Dannon. Chronik von Maghera Beg.
Es gab natürlich keine Familie Dannon in Maghera Beg, aber sicher war es nicht der richtige Name. Caleb bewegte seine verkrampften Finger, blätterte in dem Buch weiter, versuchte die kleine steile Handschrift zu entziffern, die immer wieder vor seinen Augen verschwamm, weil er so müde war. Endlich legte er das Buch beiseite, legte sich auf eine der Sitzbänke zwischen der Kinderbuchabteilung und den Sachbüchern und schlief augenblicklich ein. Fast hatte er erwartet, wild zu träumen, aber als er aufwachte, war es, als habe er überhaupt nicht geschlafen. Er brauchte einige Sekunden, bis er sich erinnerte, dass er in der Bibliothek war, tastete nach den Kopien und Notizen in der Innenseite seiner Jacke und fuhr mit dem ersten Bus nach Maghera Beg zurück, nachdem der Bibliothekar aufgeschlossen und ihn hinausgelassen hatte. Er hatte nicht auf seine Uhr gesehen, aber er hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen.
Im Hafen stieg er aus, setzte sich an die Mole und starrte auf das Meer hinaus. Die Nebelbank lag wie Watte über der Küste, Caleb konnte nicht einmal die Spitzen der Bojen in der Hafeneinfahrt erkennen. Er erkannte das Muster, aber er sah noch nicht das ganze Bild. Es gab sicher eine uralte Verbindung zwischen dem Dorf und dem Haus und diese Verbindung wollte er finden. Er konnte nicht sagen, weshalb es ihm so wichtig war, und ob er endlich Ruhe finden würde, wenn er die Antworten auf seine Fragen hatte.
Pat Coogan traf ihn im Hafen, lud ihn auf ein Bier ein. Caleb war sprachlos, denn bislang hatten die Coogans, die Familie seines Vaters, keinen Wert darauf gelegt, mit ihm zu sprechen oder ihn zu sehen, sie waren ihm aus dem Weg gegangen, hatten ihn höflich aber reserviert behandelt. Nun dirigierte Pat ihn in der Bar in eine ruhige Ecke, holte zwei Bier vom Ausschank, nahm ihm gegenüber Platz. Draußen zog ein neuer Sturm aus, der Wind brauste um die Häuser, trieb die Gischt weit über die Mole in den Hafen.
„Du bist ein netter Junge, Caleb“, sagte Pat, „und deshalb möchten wir dich warnen. Es ist eine ernst gemeinte Warnung und bitte glaube mir, dass ich weiß, wovon ich spreche. Es war kein Zufall, dass deine Mutter dich fortgebracht hat und es ist auch kein Zufall, dass du zurückgekommen bist. Was weißt du über den Schwur?“
„Was?“ machte Caleb. Pat beugte sich ihm entgegen und vor Calebs innerem Auge erschien das Portrait der Familien, das alte Gesicht der Coogans, diese markanten Zeichen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden.
„Du schnüffelst herum, seit du das Haus gesehen hast. Ich glaube dir nicht, dass du es vergessen hast, denn es hat dich nicht vergessen. Du bist wieder hier, obwohl deine Mutter versprochen hat, es nicht geschehen zu lassen. Also, was weißt du über den Schwur?“
Caleb tastete nach seinen Unterlagen unter der Jacke, ihn überfiel ein kalter Schauer, als er darüber nachdachte, dass der Tod seines Vaters kein Unfall auf einem Kutter gewesen sein mochte. Auch hatte er vor Augen, wie Tim neben ihm in diesem irrwitzigen Sturm das Gleichgewicht verlor und mit rudernden Armen über Bord ging. Weshalb hatte er das Gleichgewicht verloren? Was hatte er vorgehabt?
„Wenn ich dir sage, was ich weiß, beantwortest du mir dann die Fragen, die ich noch habe?“
Es war sehr still in der Bar, oder kam es ihm nur so vor? Sein Zeitsinn musste durcheinander sein – er war mit dem ersten Bus am Morgen angekommen. So früh öffnete keine Bar. Er musste lange am Hafen gesessen und die Welt um sich herum vergessen haben.
„Ich beantworte dir deine Fragen, wenn du beim Leben deiner Mutter schwörst, sofort abzureisen, niemals zurückzukommen und es mit ins Grab zu nehmen, was du weißt.“
Wer hat die Seiten aus dem Buch verbrannt? dachte Caleb.
Der Bibliothekar hatte ihm erzählt, das Buch sei bereits mit den verbrannten Seiten in den Besitz der Bibliothek gelangt. Caleb sagte, er schwöre es beim Leben seiner Mutter, nahm einen Schluck Bier. Es schmeckte seltsam und er nahm noch einen Schluck, um den Nachgeschmack zu bestätigen.
„Ich vermute, dass es ein Bündnis zwischen einiger oder aller Familien gibt, das Geheimnis des Hauses auf der Klippe zu bewahren. Deshalb kommt niemand von außerhalb her, um dumme Fragen zu stellen. Selbst die Gemälde, auf denen es zu sehen war, wurden zerstört. Ganz Maghera Beg ist damit beschäftigt, dem Haus etwas Unheimliches anzudichten, damit keine nachfolgende Generation es wagt, nachzusehen, was sich wirklich dahinter verbirgt.“
Der Barceeper musste Limonade oder Beerensaft ins Bier gemixt haben, der süße pelzige Nachhall auf seiner Zunge wollte gar nicht verschwinden.
„Ich habe das Buch von A. Dannon gefunden“, sagte er mühsam, scharf beobachtet von Pat, „viele Seiten sind zerstört, der letzte lesbare Satz vor den verbrannten Seiten beginnt mit ‚die ersten Siedler verbündeten sich mit ihm‘, der Rest ist zerstört. In meinen Notizen…“ Es wunderte ihn etwas, dass sein Notizbuch und die Kopien bereits vor ihm auf dem Tisch lagen. Pat hatte sie zunächst ausgebreitet, dann wieder zusammengeschoben und sein volles Glas darauf gestellt.
„Das Haus war vor Maghera Beg da“, sagte Caleb, leerte sein Glas, „vielleicht sind wir nur hier, um zu verhindern, dass es zerstört wird. Wir reparieren es heimlich, weil…“
„Nein, Caleb“, sagte Pat mit sanfter Stimme, „wir beschützen es nicht. Unser Schwur ist es, die Welt vor ihm zu beschützen.“
***
Caleb erwachte im Haus seines Vaters. Alles um ihn herum war ihm so vertraut, der Geruch, die Geräusche, dieses Zimmer, dass er eine wunderliche Sekunde lang nach seiner Mutter rufen wollte. Nichts hatte sich verändert, seit er es mit vier Jahren verlassen hatte. Sein Kopf hämmerte und er lachte verzweifelt in sich hinein. Nicht der Alkohol bewirkt den Kater am Morgen, sondern das Aufwachen.
Etwas war in dem Bier gewesen, das hatte ihm die Lampen ausgeknipst. Unsicher erhob er sich von dem Bett, fand seine Schuhe ordentlich abgestellt neben der Tür. Er zwängte erst den rechten dann den linken Fuß hinein und versuchte sich dann erst zu bücken, um die Schnürsenkel zuzubinden. Das Herunterbeugen war nicht das Problem, er fiel fast der Länge nach hin, als er sich wieder aufrichtete.
Im ganzen Zimmer suchte er nach seinem Notizbuch, nach den Kopien, aber sie waren verschwunden. Pat musste sie behalten haben. Die Zimmertür war unverschlossen, er wankte vorsichtig durch den Flur bis in die winzige Küche, wo er sich in den Ausguss erbrach. Selbst das Geschirr in den Schränken und die Gardinen an dem kleinen Fenster waren noch wie früher. Aber Caleb hatte nicht die Zeit, in den Gefühlen zu schwelgen, die das Haus in ihm auslösten, denn alles schrie in ihm, dass er verschwinden müsse, bevor es zu spät sei. Die Coogan-Sippe hatte ihn einen Moment allein gelassen, darauf vertrauend, dass ihn das Zeug in dem Bier noch eine Weile schlafen lassen würde. Er wollte nicht abwarten, bis sie zurückkamen und dann herausfinden müssen, was sie mit ihm vor hatten.
Durch die Hintertür verschwand er aus dem Haus, das auf einem kleinen Hügel unweit der Kirche stand, in den Gemüsegarten. Er folgte dem schmalen Trampelpfad zwischen den Gärten hindurch, unter verkrüppelten Eichen und Kiefern entlang, bis er wieder im Hafen landete. In der Dunkelheit und der kühlen Luft wurden seine Schritte sicherer und sein Kopf immer klarer. Es war ganz erstaunlich, dass er sich noch an alles erinnern konnte. An jedes Wort, was Pat erzählt hatte.
A. Dannon. Dan war der Vorname seines Großvaters. Dan Anon. Er hatte das Buch geschrieben, das Manuskript binden lassen und sein Sohn, Calebs Vater, hatte es nach Dans Tod weitergeführt. Er hatte ganze Kapitel ergänzt, Passagen korrigiert und er hatte das bis zu seinem Unfalltod mit Hingabe getan. Das Unglück mit tödlichem Ausgang hatte er auf sich gezogen, weil er zu viel wissen wollte anstatt nur dem Schwur zu folgen. Caleb, der Erstgeborene, einziger Sohn und im Hafen getauft, hätte in die Fußstapfen seiner Väter treten sollen, aber die Familie hatte beschlossen, ihn fortzubringen, nachdem sein Vater gestorben war.
Caleb dachte darüber nach, wem er sich anvertrauen und um Hilfe bitten konnte und es fiel ihm niemand ein.
„Junge“, hatte Pat ihm zugeflüstert, „wir halten die Welt von der Klippe fern so gut es geht. Und wir alle kämpfen Tag für Tag gegen den Sog an.“
Der Sog? Tim hatte sich ungeschickt dabei angestellt, ihn über Bord zu bringen und hätte diesen dummen Fehler mit seinem rechten Auge bezahlt, wenn Caleb ihn nicht ins Krankenhaus gebracht hätte. Das Opfer war nicht erfolgt und deshalb würde es nun ein Größeres geben. Sie würden alle dafür sorgen, dass Caleb sein Wissen mit ins Grab nahm.
Im Hafen schlich Caleb sich auf die Seekin‘ Mary, kletterte vom Heck hinunter in das Schlauchboot, was Kapitän Henry dort immer angetaut hatte. Um niemanden mit dem Motorenlärm zu alarmieren, ruderte Caleb aus dem Hafen hinaus, steuerte in den Nebel und warf erst dort den Außenbordmotor an. Alles, was er brauchte, hatte er von dem Kutter mitgenommen. Dinge, die zwar modern waren, die aber doch so nützlich waren, dass man sie akzeptieren konnte. Eine Maglite mit neuen Batterien, ein Rettungsring, eine gelbe Regenjacke, eine Leuchtrakete, ein Kanister Benzin. Nur zu gerne hätte er jemandem anvertraut, was er plante, aber das ganze Dorf hätte versucht, ihn aufzuhalten. Selbst das Handy lag vergessen irgendwo in der Pension, er konnte nicht einmal eine Nachricht an seine Mutter und an seine Freundin hinterlassen.
Blind steuerte Caleb durch den Nebel, verpasste die Bojen am Hafen und vertraute darauf, dass die Riffe unter Wasser zu tief lagen für das Schlauchboot. An Pats Worte konnte er sich erinnern, er glaubte daran, dass Pat ihm die Wahrheit gesagt hatte, aber trotzdem schlug er die Warnung in den Wind. Ganz fest hatte er sich vorgenommen, das Haus zu betreten, herauszufinden, wer dort lebte und es zu zerstören, sollte es eine Bedrohung sein. Seine Chancen wagte er sich nicht auszurechnen, dazu mochten sie zu schlecht stehen. Es lebte jemand – etwas – uraltes in dem Haus auf der Klippe, etwas, das nicht von dieser Welt war. Die Tür des Hauses war dem endlosen Meer, dem Horizont zugewandt, denn aus dem tiefen Wasser war er gekommen, hatte die Klippe erobert und Maghera Beg in seinen Bann gezogen. Aber seit Jahrhunderten sorgten die Familien dafür, dass die Welt nichts von Maghera Beg erfuhr.
Niemand solle das Haus auf der Klippe betreten, denn mit jeder Seele würde der Hunger größer werden.
„Weshalb verlässt er nicht einfach das Haus auf der Kippe und holt sich, was er will?“ hatte Caleb gefragt. Pat hatte geantwortet: „Er kam aus dem Meer, aber das Haus ist ein Tor in seine alte Welt. Er lebt in dieser Zwischenwelt.“ Pat hatte gesagt, dass er die Seelen, die er bereits in seinem Besitz hatte, als Lichter umhergehen ließ, um andere anzulocken, um Geschöpfe aus dem Meer zu schicken, die ihm gehorchten, um Dinge geschehen zu lassen. Er war hungrig und unersättlich, aber auch geduldig. Er wartete schon so lange.
„Habt ihr ihm nie einen Namen gegeben?“ fragte Caleb.
„Wir kennen seinen Namen, aber wir können ihn weder aussprechen noch niederschreiben. Aber wir kennen ihn und er weiß es.“
Der letzte Ausläufer des Sturms zog an der Küste weiter, riss den Nebel auf und befreite das Haus auf der Klippe vor Calebs Augen. Trotz der Regenjacke war er bis auf die Knochen durchnässt, dabei war sein Mund ausgetrocknet und sein Hals brannte. Er konnte die Augen nicht abwenden. Alle Fenster des Hauses waren hell erleuchtet, das ganze Haus erstrahlte in einem gelben flackernden Licht. Als Caleb immer näher kam, sah er, dass das Haus viel kleiner war als vermutet. Es schien kaum möglich, dass man es vom Hafen aus überhaupt sehen konnte. Es war nicht aus Stein erbaut. Das Dach war nicht mit Reetgras gedeckt. Das Entsetzen kroch in Calebs hoch, er war unfähig, die Richtung des Schlauchboots zu ändern oder die Augen abzuwenden. Wie von fremder Hand geführt, drehte er auf das offene Meer hinaus ab und wieder zurück, hielt auf die offen stehende Tür des Hauses auf der Klippe zu. Er war unfähig, seinen Plan auszuführen und wusste, dass er ihm in die Falle gegangen war. Er mochte geplant haben, das Haus zu zerstören, aber er hätte es niemals geschafft. Das gelbe Licht tanzte aus der Dunkelheit auf ihn zu. Caleb wusste, dass das Grab seines Vaters leer war, denn auch er hatte dem Licht nicht widerstehen können. Die Coogans waren gute Chronisten, aber sie waren eine zu enge Verbindung mit seinen niederen Wesen aus dem Meer eingegangen, sie waren nicht stark genug. Wenn er rief, kamen die Söhne selbst aus der Ferne zurück.
Caleb schmeckte den übermächtigen Salzgeschmack auf der Zunge, atmete den fremden Geruch ein und starrte hilflos in das Licht, das sich langsam veränderte, je näher er kam. Es schien sich zu freuen, ihn endlich zu sehen.
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Viele Jahre später stieg eine junge Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand aus dem Bus, blieb bei der Sturmglocke stehen und sagte, zu dem starrenden Jungen hinunter gebeugt: „Hier ist dein Daddy aufwachsen, Cal.“ Und der Junge sah mit großen Augen auf das Meer hinaus, wo sich gerade der Nebel etwas lichtete.
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2010
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