Ihr verehrt das Christkind fein,
Voller Besinnung seid ihr zur Weihnachtszeit.
Doch seht, zu welchen Gräueln er bereit,
woll`n nicht länger seine Sklaven sein.
„Alina...“ Meine Mutter klang entnervt. Meine kleine Schwester brüllte, zeigte auf den Weihnachtsbaum. „Marie will unbedingt Geschenke auspacken. Kannst du nicht bis nach der Bescherung warten und dann auf die Toilette gehen?“
Ich hatte eine Blasenentzündung und habe schon das ganze Festessen hindurch gewartet. Jetzt brannte mein Bauch und meine Blase drückte. Die Kombination aus kaltem Winter und altem Haus hatten ihren Teil dazu beigetragen, dass ich krank wurde. „Schon gut, Mama.“ Ich zwang mich zu einem schmerzverzerrten Lächeln. „Fangt doch ohne mich an. Ich komme gleich.“
Noch nie hatte ich meine Mutter so erleichtert erlebt. Ich fragte mich, ob ich auch so war wie Marie, als ich so klein war. Doch erinnerte ich mich nur an schöne Momente. Wahrscheinlich nehmen Kleinkinder das anders wahr, als Erwachsene oder große Kinder wie ich. „Danke, mein Schatz.“ Ihr dankbarer Blick begleitete mich nach draußen.
Ich hasste diese alten Häuser, in denen es keine Toilette gab. Ich nahm noch schnell eine Schmerztablette, um wenigstens den Rest des Heiligen Abends zu genießen. Ich zog meinen Mantel an und verließ das wohlig warme Haus, betrat den fluffigen, weißen Schnee, der im Sternenlicht schimmerte. Die kalte Luft schoss mir ins Gesicht, wie tausende kleine Pfeile stach sie in meine Haut. Der Frost ließ mich erstarren. Mit steifgefrorenem Körper und zitternden Beinen marschierte ich auf das Toilettenhäuschen zu.
Dass es Menschen gab, die dieses Häuschen überhaupt Toilette nannten, empfand ich als dubios. Hoffentlich hatten meine Eltern den Umbau bald abgeschlossen, damit wir ein normales Badezimmer bekämen, so wie jeder andere Mensch unserer Zeit.
Doch heute war Weihnachten und weder ließ ich mir die Stimmung durch die Blasenentzündung, noch durch die Toilette außerhalb des Hauses vermiesen. Ich war mir sicher, die lang ersehnte VR Brille geschenkt zu bekommen, und darauf freute ich mich. Ich saß in der unbeheizten Kabine und krümmte mich vor Schmerzen.
Plötzlich donnerte es in meinen Ohren. Der Schall kam aus allen Richtungen gleichzeitig. Minutenlang blieb ich unfähig, mich zu bewegen. Ein Piepen hallte noch länger nach. Mein Herz pumpte. War das eine Explosion? Unzählige Gerüche stiegen in meine Nase: Staub, Gestein, Holz, aber auch Blut und verkohltes Fleisch. Die Kälte und die Schmerzen waren vergessen. Mit rasendem Atem stand ich in dem Häuschen, getraute mich nicht heraus. Meine Füße verwurzelten sich im Boden des Toilettenhäuschens.
Als sich die Schockstarre gelöst hatte, griff ich zur Türklinke. Sie zu drücken, dauerte eine Ewigkeit und doch kam die Öffnung der Tür viel zu schnell.
Betäubt verließ ich das kleine Gebäude und mein Herz blieb vor Schreck stehen. Mein Haus war weg. „Mama“, schluchzte ich und irrte zwischen Gesteinstrümmern umher. „Papa! Marie!“ Immer wieder flüsterte ich ihre Namen, immer lauter, bis ich sie schrie: „MAMA! PAPA! MARIE!“
Erst jetzt bemerkte ich, dass nicht nur unser Haus dem Erdboden gewichen war, sondern auch jedes andere Haus in der Nachbarschaft. Bis zum Horizont sah ich nichts als Gesteinsbrocken und Staub.
Als ich jegliche Orientierung verloren hatte, versanken meine Füße im Schnee, der nicht mehr weiß war. Er war grau, bedeckt von Asche. Rot, durchzogen von Blut.
Haben geschuftet Tag für Tag.
Eure Geschenke, die haben wir verpackt.
Eure geschund`nen Leiber, die werden nun zerhackt,
Denn Unkenntlichkeit wird sein unser großer Schlag.
Trümmer säumten die Umgebung. In all dem Grau fiel mir zunächst das Schlimmste gar nicht auf. Doch jetzt sah ich sie, fahl und tot und leer: Arme, Beine, Rümpfe und Köpfe.
Mein Magen drehte sich und doch konnte ich nicht erbrechen. Ich stolperte rückwärts. Das Grauen, das sich mir jetzt zeigte, ließ mich alles vergessen. Ich sah nichts anderes mehr. Nichts anderes wäre von Bedeutung gewesen. Denn das, was mir entgegen starrte, waren die leeren, kalten Augen meiner Mutter. Ihr abgerissener Kopf verharrte im grauen Schnee.
Tränen stiegen meine Augen hoch, während ich rückwärts stolperte und über einen Trümmer fiel. Links von mir brannte es.
Nein, es war eine näher kommende Stichflamme. Ich raffte mich auf. Hasserfüllte, krächzende Rufe, piepender, niedlicher Stimmen begleiteten das Feuer, das sich einen Weg auf mich zu bahnte.
Kleine, grüne Wesen in bunten Kleidern mit hassverzerrten Gesichtern rannten auf mich zu. Verzweifelt und verwirrt schaute ich ihnen einen Moment lang zu, bevor mein Blick ein letztes Mal auf den Kopf meiner Mutter schweifte.
Ich rannte. Wohin wusste ich nicht. Einfach weg von den feuerschießenden Geschöpfen. Trümmer, Leichenteile und Blut säumten meinen Weg.
Der Schnee knackte mit jedem Schritt. Ich spürte die Wiese, die darunter lag. Kalte Luft peitschte in mein Gesicht. Mein Atem vernebelte die Sicht. Immer schneller setzte ich einen Fuß vor den anderen, nahm Geschwindigkeit auf.
Plötzlich rutschte ich aus. Mein Po landete hart auf dem Boden. Ein Schmerz durchzuckte mich. Ich rappelte mich auf. Es war rutschig. Ich stürmte weiter, bahnte mir einen Weg über den gefrorenen Untergrund.
Meine Verfolger holten auf. Immer wieder drehte ich den Blick. Jedes Mal sah ich mehr von ihren verzerrten Fratzen, mehr von ihren spitzen Zähnen. Mein Herz pochte, die Seite schmerzte. Doch ich rannte weiter.
Dort vorne erhoben sich Bäume. Ein Wald. Ich schlitterte auf ihn zu. Je näher ich dem Stadtrand kam, desto weniger Trümmer, Körperteile und Blut zierten meinen Weg.
Ich drehte mich wieder um. Die Kreaturen hatten aufgeholt. Ich erkannte Zuckerstangen auf ihren rot-weiß gestreiften Pullovern, die sich von der grünen Haut abhoben.
Verzweifelt versuchte ich, schneller zu rennen. Doch bei jedem Versuch rutschte ich aus und fiel fast hin. Mit einem Mal stockte mein Gleiten. Ich ruderte mit den Armen. Wieder drehte ich mich um. Sie fletschten ihre Zähne. Ihre Augen leuchteten von loderndem Feuer. Mit panisch geweitetem Blick rannte ich weiter. Ich suchte nach einem Versteck, einer Unterkunft, einem Fahrzeug, irgendwas. Immer verzweifelter wurden meine Schritte. Kein Haus, kein Auto, kein Motorrad hatte die Explosion überstanden.
Obwohl ich hier schneller wurde, holten die Elfen weiter auf. Ein Feuerblitz schoss an mir vorbei. Steine donnerten mir entgegen. Ich rannte, hob schützend meinen Unterarm vor die Augen, achtete nicht auf die Trümmerteile, die mir durch den Blitzeinschlag entgegenschossen.
Mein Blick fiel zur Seite. Ein Lichtblick durchzuckte mich. Die Explosion hatte ein Fahrrad freigelegt. Abrupt blieb ich stehen, drehte mich und hechtete auf das Gefährt zu. Bis ich es in Position gebracht hatte, waren die Bestien noch näher. Ich dachte, sie erwischen mich, als ich losfuhr.
Ich fuhr in den Wald hinein. Ich drehte mich um. Ein wenig Abstand hatte ich gewonnen. Feuerblitze schossen an mir vorbei, schlugen ein in Bäume. Splitter und flammende Äste flogen mir entgegen. Ich fuhr weiter. Der Weg gabelte sich. Der Linke führte bergab. Ich drehte mich um. Der Abstand war nahezu gleich. Die Erschöpfung griff nach meiner Kehle. Schwarze Flecken vernebelten mir die Sicht.
Ich trat in die Pedale. Mein Herz pumpte. Meine Seite stach. Meine Beine schmerzten. Ich ignorierte es, fuhr weiter, drehte mich wieder um. Ich resignierte, doch gab nicht auf. Meine Füße strampelten, als könnten sie nur das. In diesem Moment wurde mir klar: Das war eine Hetzjagd. Es war nicht ihr Ziel, mich zu stellen. Ihr Interesse galt meinem Dahinsiechen vor Erschöpfung.
Der Abstand hatte sich noch immer nicht verringert. Als sich mein Blick wieder nach vorne wandt, erschrak ich. Vor mir öffnete sich eine riesige Schlucht.
Jetzt wusste ich, wo ich war: Der Abgrund, der unser Dorf begrenzte. Hunderte Meter steil unter mir verlief eine reißende Strömung. Panisch zog ich die Bremse. Das Fahrrad schlitterte auf dem Schnee. Ich würde es nicht schaffen.
Ich spürte ihre Blicke, wie sie meinen Rücken durchbohrten. Ihre grausamen Gesänge schallten von allen Seiten.
Wir jagen euch mit Feuer und Pein,
Nun soll die Zerstörung euer sein.
Erschöpfung, wie wir sie gefühlt, splittet euch entzwei.
Ich fixierte den Horizont. Den Ort, an dem die Schlucht endete. Von alleine traten meine Beine in die Pedale, geführt wie von Geisterhand. Ich schaltete hoch und trat noch kräftiger. Auch das spürte ich kaum. Mein Atem setzte aus, als ich abhob. Ich flog über die Schlucht. Hoffte, betete, dass ich auf der anderen Seite ankommen würde. Unter mir sah ich den reißenden Fluss. Hinter mir Geschrei, Gelächter. Stichflammen verfolgten mich. Weit vor mir lag die andere Seite. Sie schien immer weiter weg, je weiter ich flog. Ich schloss die Augen. Schneller und schneller holte ich Luft, wurde panisch. Mein Atem überschlug sich. Meine Finger verkrampften sich. Gelähmt stand ich auf dem fliegenden Fahrrad, überzeugt davon, jeden Moment in die Tiefe zu stürzen. Ich schloss meine Augen und erwartete den Tod.
Hart landete ich auf der anderen Seite. Mein Fuß rutschte ab. Beinahe wäre ich doch noch abgestürzt. Meine Finger gruben sich in den Schnee und die harte Erde darunter. Mit letzter Kraft zog ich mich hoch. Die Gesänge verfolgten mich immer noch. Stichflammen schossen an mir vorbei.
Ich stemmte mich auf die Beine. Das Fahrrad hatte den Sprung nicht überstanden. Ich lief, joggte eher. Hielt Ausschau nach einem Versteck, als ich vor mir noch mehr dieser Kreaturen entdeckte. Verzweifelt suchten meine Augen nach einem Ausweg.
Ich rannte zwischen die Bäume, hörte die Stimmen hinter mir, drehte mich um, doch sah sie nicht. Nur ihre Spur aus Flammen verriet, dass sie noch weit weg waren. Ich rannte weiter. Eine Höhle. Erleichtert nahm ich meine letzten Kraftreserven zusammen und hastete auf den Eingang zu. Tief hinein und hoffte, dass sie mich hier nicht entdeckten.
Als ich tiefer hinein wanderte, hörte ich Stimmen. Menschliche Stimmen. Ich folgte ihnen und fand fünf Überlebende.
Nun da die Welt in Trümmern liegt,
unser marterndes Leid verfliegt.
Geschafft ist unser Werk, zu entleiben euer Sein.
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2019
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