Minas Herz raste. Sie spürte ihren Herzschlag im Hals, in den Fingerspitzen. Sogar in ihrer Stirn pochte es. Die Höhle, in der sie sich verkrochen hatte, war klein, unerreichbar für ihre Verfolger. Schatten tauchten immer wieder vor dem Eingang auf. Groß und bedrohlich. Schweiß klebte die Leinen ihrer Kleidung an ihrer Haut fest. Immer wieder erhellten Feuerfälle die schwarze Nacht. Sie war entkommen. Fürs Erste. Es war ihre Angst, dank derer sie überlebt hatte. Ob sonst noch jemand lebte? Eine Stichflamme bohrte sich durch den schmalen Höhleneingang. Mina rutschte auf ihrem Gesäß nach hinten und stieß gegen die Wand. Die Flamme verebbte. Der Schatten des Drachen, der noch dunkler war als die Nacht, verschwand.
Als Einzige, seit ihr Vater gestorben war, wäre sie in der Lage gewesen, das Dorf zu retten. Doch die Furcht hatte ihr die Kehle zugeschnürt. Sie war gerannt, hatte alle zurückgelassen und sich nicht geschert um die Schicksale, die sie besiegelt hatte.
Der Nachthimmel erhellte sich erneut. Schreie gesellten sich zu den fauchenden Geräuschen der Tiere. Das Feuer erlosch ebenso schnell wie die Hilferufe.
Hätte nicht Hestia die Macht ihres Vaters erben können? Die Kriegerin, die Soldatin, auf die das Dorf so stolz war.
Wieder erhellten Schreie die Nacht. Fauchen, schnauben und zischen drangen an Minas Ohren. Rauch stahl sich in ihre Nase, begleitet vom Geruch verbrannten Fleisches. Sie hätte sie alle retten können. Angst. Sie legte sich um ihre Kehle wie eine Schlinge. Sie war gerannt. Begleitet von flehenden, nach Hilfe schreienden Stimmen. Brennende Balken waren auf sie niedergestürzt. Einige Soldaten hatten ihre Schwerter gezückt und hatten sich in die Schlacht gestürzt. Unter ihnen Hestia.
Doch Mina war einfach nur gerannt. Vorbei an brennenden Freunden. Vorbei an den Überresten ihrer Häuser. Tief hinein in den dunklen Wald. Sie rutschte hinab in die Höhle, deren Eingang der Größe eines Kindes entsprach. Hier hatte sie sich früher immer versteckt, als ihr Vater sich mit den Drachen getroffen hatte. Zähneklappernd und mit dröhnendem Herzen hatte sie zugeschaut, wie ihr Vater Übereinkünfte mit ihnen traf, sie befehligte, Frieden schuf.
Kampfgeschrei ertönte. Immer lauter klangen die Gesänge in die Höhle. Der Nacht erhellte sich immer häufiger. Eine Stimme stach hervor. Hestia! Mina sprang auf und stieß sich den Kopf an der Höhlendecke. Sie duckte sich erneut. Sie konnte ihre Schwester retten. Nur sie alleine.
Kampfgebrüll pochte in ihren Ohren. Der Himmel erhellte sich erneut. Wieder drangen Rauch und der Geruch von verbranntem Fleisch in ihre Nase. Schreie unterbrachen den Gesang der Kämpfenden. Angst lähmte sie. Der Gesang wurde nun begleitet von rhythmischem Klopfen. Mina wurde übel. Nachdem der dritte Schwall den Höhlenboden erreichte, traten außerdem Tränen aus ihren Augen. Ein beißender Geruch machte sich breit. Dennoch empfand sie Erleichterung.
Die Rufe und Gesänge wurden immer lauter. Sie umgaben Mina. Umrundeten sie. Höhnten. Hielten ihr ihre Feigheit vor.
Panisch schaute sie sich in alle Richtungen um. Die Geräusche engten sie ein, lachten sie aus.
Die Stimme Hestias bahnte sich einen Weg durch den Eingang. Feuerregen. Der Gesang ihrer Schwester verebbte mit einem Mal.
Taubheit durchschlug jede Zelle in Minas Körper. Zorn und abgrundtiefer Hass ersetzten Angst, Furcht und Panik.
Sie sprang mit einem Satz aus der Höhle. Die Großmeisterin, die sich über ihr ganzes Leben in ihr versteckt hatte, arbeitete sich in ihr Bewusstsein vor.
Die Drachen hatten wohl gedacht, sie könnten sie und ihr Dorf vernichten, weil Minas Vater nicht mehr lebte. Doch sie hatten nicht mit Mina gerechnet.
Sie wuchs, als sie ihre Stimme erhob: „Dragonner, t’vogh har´dehy brenkvi.“ Die Worte zerschnitten die Dunkelheit wie ein Schwert.
Augenblicklich ließen die Drachen von Kämpfenden ab. Die riesigen Geschöpfe flogen auf Mina zu. Die schwarzen Augen fixierten sie. Sie bohrten sich durch ihren Leib. Am liebsten wäre sie zurückgesprungen, hätte sich wieder in der Höhle verkrochen.
Doch sie schrie weiter. Nutzte die Sprache der Drachen, von der sie nicht wusste, dass sie sie beherrschte. Je weiter sie die Tiere rief, desto härter verwurzelte ihr Drachenmeister-Ich ihre Füße im Boden. Sie verschmolz mit der Erde, dem Wasser und der Luft. Ihre Stimme hallte in jedem Winkel des Waldes wieder.
Sie befahl den Drachen, zu verschwinden. Mina atmete erleichtert aus, als sie taten, wie ihnen geheißen. Sie rannte in die Richtung, aus der zuvor Hestias Stimme erklungen war. Ein Drache stand über ihr. Seine blutunterlaufenen Augen fixierten ihre Schwester. Er fletschte die Zähne, hob seinen Kopf. Mina stockte. Gleich würde er seinen Kopf herunterstürzen lassen und Hestia verspeisen.
„Dragon, t’vogh spanut’yuny“, brüllte ihre ungewohnt mächtig klingende Stimme, als sie auf den Drachen zustürmte. Doch der hörte sie nicht und sein Kopf schnellte herunter, als sich Mina auf die Bestie stürzte und ihren Kopf hochriss. Sie saß ihm im Genick. Der Drache ließ von Hestia ab. Er türmte sich auf. Er versuchte seine Reiterin abzuschütteln. Doch Mina hielt sich. Der Drache erhob sich in die Lüfte, schnellte hoch und im Sturzflug herab. Er flog enge Kreise und Kurven. Doch Mina saß auf dem Drachen und ließ nicht los. Das Tier schien nach einer Weile akzeptiert zu haben, dass Mina eine echte Drachenmeisterin war, und zog weite Kreise über das Dorf, dessen verkohlte Mauern von der aufgehenden Sonne in ein tiefes Rot getaucht wurden.
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2019
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