Normalerweise drehte sich Venka immer sofort um, als die letzte Kuh, die sie hereingetrieben hatte, in der Höhle stand. Sie waren nervös. Als wüssten sie, dass der Tod bevorstand. Venka hatte jedes Mal Mitleid mit ihnen, den Kloß im Hals versucht, herunterzuschlucken. Doch dieses Mal war da etwas. Angespannte Luft. Ein Auge am Felsenrand. Animalisch. Schwarz. Größer als ein Mensch. Sie hielt den Atem an. Wich zurück. Das Auge verharrte an Ort und Stelle. Als sie dachte, den schmalen Gang endlich erreicht zu haben, der aus der Höhle herausführte, erhob sich das Auge. Und mit ihm der braun geschuppte Kopf, auf dem sie ein dutzend Mal Platz gefunden hätte. Venkas Körper erstarrte.
Als sich das Biest erhoben hatte, schwebte es einige Sekunden an Ort und Stelle in der Luft. Sekunden, die Venka erlaubt hätten zu fliehen. Doch sie rührte sich nicht. Ihr Körper hörte nicht mehr auf sie, auf ihre Befehle. Und dann flog das Ungetüm auf sie zu. Krallte sie.
Die Klauen der Bestie gruben sich tief in ihr Fleisch. Sie hörte, wie ihre Haut barst, und spürte das Blut spritzen. Sie spürte, wie die Krallen sich brennend in die Wunde gruben. Immer tiefer sank das Tier herab in die Höhle. Das Licht war nurmehr ein flaues Schimmern am tiefschwarzen Horizont.
Ein Glimmen, nicht größer als die Spitze einer Stecknadel. Sie schaute sich um, doch sah sie nichts als Schwärze. Ab und zu huschte ein dunkler Schatten vorbei. Das Zischen der aufwirbelnden Luft ließ sie erschaudern.
Sie war doch nur eine Dienerin. Sie hatte sie nur füttern sollen. So wie jeden Tag als sie die Kuhherde in die Höhle unter dem Schloss trieb und verschwand, bevor sie sah, wie sich die Kreaturen an ihnen vergingen. Noch nie hatte sie einen von ihnen gesehen, doch die Überreste von Blut, viel Blut, an den Gesteinen ließen sie jedes Mal erschaudern. Sie hatten sie wissen lassen, dass die Bestien Wirklichkeit waren.
Sie spürte den harten Aufprall, der sich durch ihren Körper zog, als die Kreatur sie auf den Höhlenboden fallen ließ. Venka saß in einer stockfinsteren Höhle fest. Gefangen von wilden Ungetümen.
Sie stand inmitten der unüberschaubar großen Höhle und schien sich zu einem Teil ihres Inventars zu entwickeln.
Ein Hitzeschwall erreichte sie. Sie saß immer noch auf dem Höhlenboden, auf den sie der Drache hatte fallen lassen. Fauchende Geräusche hallten durch die Luft. Sie kamen von überall her. Es mussten mehrere dutzend dieser Ungeheuer hier unten leben, gefangen sein. Venka erschauderte, als ein erneutes Fauchen die Luft durchschnitt. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie erkannte Konturen der Felswand, die steil emporstieg. Sie sackte auf dem kalten, feuchten Boden zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie genau hier gefangen war. Dort vorne war eine kleine Nische. Venka sah sich um. Weit über ihr flogen die riesigen Schatten umher. Sie fauchten und krischen, brummten und knurrten. Mit jedem Geräusch, das die Tiere von sich gaben, lief Venka ein eiskalter Schauer über den Rücken. Nur wenige Meter von ihr entfernt zeigte die Felswand eine Nische. So klein, dass die Kreaturen sie nicht erreichten.
Venka kroch in die Nische hinein. Sogar sie musste sich ducken und tief war sie auch nicht. Es fühlte sich geschützter an als der kalte, blanke Boden inmitten der Höhle.
Augen tauchten vor der Nische auf. Ein Stück des Felsens verdeckte einen Teil des Auges. Venka zuckte zusammen. Sie umschlang ihre Beine mit ihren Händen, vergrub das Gesicht zwischen ihren Knien.
Schweiß und Dreck klebten ihre Kleidung an die Haut. Trocknendes Blut sog den Stoff schmerzhaft in die Wunden hinein. Ihr Atem raste. Das Auge blinzelte und verschwand. Wieder vernahm Venka fauchende und knurrende Geräusche. Auch ihren Herzschlag hörte sie in ihrem Kopf pochen.
Drachenstaub bedeckte ihre Haut. Pures Gift, wie sie aus den alten Legenden wusste. Sie würde sterben.
Ein Stück Fleisch landete direkt vor ihrer Nische. Wahrscheinlich hatten die Bestien es versehentlich fallen lassen, als sie eine der Kühe zerfleischt hatten. Venka drehte sich der Magen. Angewidert starrte sie auf das rohe Fleisch. Fast höhnisch lag es dort auf dem Boden.
Regen prasselte in Strömen durch die Höhle und das Wasser sammelte sich in den schmalen Rissen der Felswände, in Aushöhlungen im Boden. Es bildete sich ein kleiner See. Venka war überrascht, doch traute sie sich nicht aus der Höhle heraus. Wie konnte es hier regnen? Gerne wäre sie in den See hineingesprungen, hätte getrunken, sich den giftigen Staub abgewaschen, der sich bald durch ihre Haut fressen würde. Doch sie traute sich nicht heraus, wollte sich nicht in Gefahr begeben, von den Drachen gefasst zu werden. Das permanente Fauchen und Knurren erhellte die Höhle. Fast klang es wie ein Gespräch. Doch das war unmöglich.
Venkas Mund fühlte sich trocken an. Kaum war sie noch in der Lage, ihre Lippen und Zunge zu bewegen. Alles klebte aneinander fest. Der See war so verlockend und sie beschloss, sich aus ihrem Versteck zu wagen. Sie fixierte den schwarzen Himmel der Höhle und schlich auf das Wasser zu. Ihre Hände tauchten ein in das kühle Nass, das ihr sofort neue Lebensfreude schenkte. Sie schluckte es, schlürfte es, als wäre es das Letzte, das sie jemals zu sich nehmen würde.
Als sie sich gerade zum Waschen in den See gewagt hatte, landete ein Lindwurm direkt vor ihr. Auf dem See. Als würde er gar nicht spüren, dass unter ihm kein fester Boden war. Seine roten Schuppen schimmerten bräunlich im Dunkel der Höhle. Ab und zu zeigte sich das eigentlich flimmernde Rot, wenn einer der Drachen, die oben flogen, Feuer spie. Venka blieb starr vor Angst, wagte nicht, sich zu bewegen. Das große Auge des Tieres fixierte sie. Und zum ersten Mal fiel ihr auf, welchen Stolz, welchen Edelmut dieses Tier ausstrahlte. Zum ersten Mal spürte sie Sympathie für die gefährliche Kreatur. Zu Venkas Überraschung tat ihr der Lindwurm nichts an. Er erhob sich in die Lüfte und gesellte sich, ebenfalls fauchend und keifend, zu seinen Artgenossen. Als Venka sich vollständig gesäubert hatte, verkroch sie sich wieder in ihre Nische. Das rohe Stück Fleisch, das dort lag, starrte sie an. Sie hatte Hunger, doch das würde sie nicht essen.
Ihr Magen knurrte und ihr wurde übel. Das blutige Fleisch verstärkte ihre Übelkeit. Wieder hörten sich die Geräusche an, als würden die Drachen sich unterhalten. Das Fauchen war mal leiser, mal lag Wut, mal Sanftmut in ihren Klängen. Doch dann, Venka konnte es kaum glauben, erkannte sie deutliche Worte in den Lauten. Sie sagten etwas von einem Menschen, von einer Revolution.
Auf einmal wurde Venkas Herz schwer. So lange waren die Drachen hier gefangen gehalten. So viele Jahrzehnte. Ob sie sich überhaupt noch an das Sonnenlicht erinnerten? Doch wie wollten sie eine Revolution starten? Mit Venka, einer Dienerin. Niemand würde ihretwegen Bestien frei lassen.
Der Lindwurm landete wieder vor ihrer Nische und beäugte sie. „Wie geht es dir?“, fragte er mit unerwartet sanfter Stimme.
Venka wusste keine passende Antwort auf die Frage und zuckte mit den Achseln. Demütig blickte sie zu Boden, als sie in das wehmütige Auge des edlen Tieres sah.
„Unser Staub ist nicht giftig“, fuhr der Lindwurm fort. „Er hat heilende, stärkende Fähigkeiten. Doch nur für diejenigen, die es verdienen. Denjenigen, deren Hass die Welt vergiftet, den vergiftet unser Staub.“
Venka erstarrte. „Ich bin eine einfache Dienerin, habe keinen Wert. Nicht für euch. Nicht für meinen König.“
Der Drache lächelte verwegen. „Dein Wert ist nicht an deinen Stand gebunden. Du führst uns täglich eine Herde Kühe in die Höhle. Nur wegen dir haben wir überlebt.“
Venka dachte daran, dass sie damit lediglich einen Befehl ausgeführt hatte, das niemals von sich aus gemacht hätte. Doch sie sagte es nicht.
Der Lindwurm nickte. „Mach dir keine Gedanken. Die wenigsten hätten freiwillig Bestien gefüttert. Du hast danach gehandelt und daran geglaubt, was dir erzählt wurde.“
Venka starrte beschämt das rohe Fleisch an, das direkt neben dem Drachenauge lag und von ihm keine Beachtung fand.
„Wir haben es gespürt, als du angefangen hast, unsere Worte zu verstehen. Wir haben dein Mitleid über unsere Gefangenschaft gespürt. Du warst es von Anfang an Wert und du hast es bewiesen.“
Venka schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das bin ich nicht. Ich will hier raus. Ich will meine Familie sehen, mich versichern, dass meine Mutter noch lebt. Ich habe Angst. Und helfen kann ich euch nicht.“
Der Blick des Drachen fiel auf das Stück Fleisch. „Du musst essen. Nur so kommst du zu Kräften.“
Venka würgte, als sie daran dachte, dass sie in dieses blutige Stück Fleisch, das inmitten von Drachenstaub und Kot auf dem Boden lag, hineinbeißen sollte. Das Drachenauge kniff sich zusammen und fixierte sie.
„Ich verstehe“, sagte er nachdenklich und drehte sich von Venkas Nische weg. Er pustete einen Schwall aus Feuer und Rauch direkt auf das Fleisch und seine Umgebung, so dass ein köstlicher Geruch in ihre Nase stieg.
„Iss“, sagte er. „Und schaue dir danach deine Wunden an.“
Venka schaute schmerzerfüllt auf die Wunden, die der Drache, der sie vorhin gepackt hatte, überall auf ihrem Körper hinterlassen hatte. Sie brannten. Ihr wurde schwindlig. Venka griff nach dem Fleisch und aß, bevor ihre Wunden eiterten und sie am Fieber starb. So würde sie zumindest nicht mit leerem Magen sterben. Doch als das Essen ihr zu Kräften verholfen hatte, starrte sie wie gebannt auf die großen Krallenschnitte am Bauch, die gerade noch so geschmerzt hatten. Der Schmerz war verflogen. Vor ihren Augen schlossen sich die Wunden. Nicht einmal Narben blieben zurück. Ihr Körper sah aus, als wären die Schnitte nie da gewesen. Lediglich das trockene Blut, das ihre zerfetzte Kleidung tränkte, war ein Überbleibsel, eine Erinnerung an ihre Entführung.
Abermals landete der Lindwurm. „Siehst du. Dich heilt unser Staub. Und er stärkt dich. Würdest du ein paar Worte für mich sprechen?“
Venka, die sich fühlte, als wäre sie so kräftig wie einer der Ritter, die sie immer aus der Ferne bewundert hatte, nickte nur, bevor sie die Worte des Drachen wiederholte.
„Hebu minyoro ita´pasuka. Pigoza kuta na. Kwa watu wote.“ Ihre Stimme dröhnte, hallte wieder von den Gesteinen der Höhle. Ketten barsten. Drachen fauchten. Das Gemäuer um sie herum explodierte. Mondlicht und Sterne lösten die finstere Dunkelheit, die sich jahrzehntelang über den Köpfen der Tiere etabliert hatte. Freudiges Fauchen und Keifen erhellte die Nacht. Venka weinte beim Anblick der Drachen, denen sie die Freiheit geschenkt hatte.
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2019
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