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Das Sterben der Dryaden

Das Sterben der Dryaden

Schön, dass du dich zu mir gesellst. Mein Name ist Laurelia und ich möchte dir von meiner Großmutter erzählen. Sie hat die Menschen gewarnt, doch ihre Warnungen haben sie nicht beachtet, nicht einmal erhört. Deshalb ist ihre Geschichte so bedeutungsvoll. Denn sie alle, Menschen und Dryaden, würden heute leben, hätten sie meine Großmutter ernst genommen. Die Geschichte begann, als sich meine Omama in einem Meer aus Leichen wiederfand.
Tränen flossen über ihre Wangen, als sie wieder eine Leiche entdeckte. „Osagia“, schluchzte sie. Neben der toten Freundin lag ihr gefällter Mutterbaum, eine Eiche. Aralias Beine wurden schwer, als sie sich in einem Meer aus toten Bäumen und Dryaden wiederfand. Sie stakste weiter. Ihre Birke stand am Rand des Leichenfeldes. Überall tote Bäume und Freundinnen, die in der Symbiose dahinschieden.
Bay, Lilea, Suroria und jetzt Osagia. Ganz zu schweigen von den vielen Dryaden, die sie gar nicht kannte und die den Ort des Grauens zierten. Sie alle waren tot.
Hinter ihr hörte sie eine Stimme. „Hallo?“
Aralia drehte sich um und sah eine andere Dryade auf sich zustapfen. Auch ihr Gesicht zeigte blankes Entsetzen. „Hallo“, presste Aralia hervor. „Bist du nicht...“
„Azoris“, fiel ihr die Dryade ins Wort und verzog ihre Mundwinkel so, dass der Anschein eines Lächelns zu sehen war. Auch Aralia zwang sich, der Höflichkeit halber zum Lächeln. Vermutlich sah es ähnlich künstlich aus wie das von Azoris.
„Und du bist Aralia?“, stellte Azoris eher fest, als dass sie fragte.
„Ja“, antwortete Aralia knapp und ließ ihren Blick wieder über das Totenfeld schweifen. „Was ist hier passiert?“, fragte sie und fixierte Azoris wieder.
Azoris` Gesicht zeigte für einen kurzen Moment puren Ekel, der sich auch auf ihre Stimme niederschlug, obwohl sie offenbar versuchte, ihn zu unterdrücken. „Menschen.“ Auch Azoris` fassungsloser Blick schweifte über das Schlachtfeld.
Aralia verstand nichts. „Wie Menschen? So schnell? Gestern haben doch...“ Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, ihren Satz nicht zu Ende sprechen.
Azoris packte Aralia an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. „Ja, so schnell. Ich habe sie gesehen. Maschinen, die unsere Mütter der Erde entreißen und sie auf den Boden werfen als wären sie nicht lebendig. Und den Tod ihrer Töchter, unseren Tod nehmen sie einfach in Kauf.“ Azoris schluchzte, während sie erzählte und Tränen flossen ungehalten über ihre Wangen.
Auf einmal schrie sie auf. Ihre Pein steckte Aralia an. Schreie zerrissen ihr das Herz. „Was hast du?“, fragte Aralia in ihrer Hilflosigkeit. Ihr Atem raste. Ratlosigkeit und Panik nahmen Besitz von ihr.
Azoris brüllte dem Wahnsinn nahe immer weiter, sackte auf die Knie. Ihre hölzernen Beine barsten auseinander. Sie lag wimmernd am Boden. „Sie töten meine Mutter“, brachte sie mit letzter Kraft hervor, während Harz in Strömen aus ihrem Mund floss.
Aralia sackte neben ihrer Freundin zusammen und streichelte ihre Rinde, ihre Blätter und Blüten bis der letzte Atemzug ihre Kehle verließ.
Mit einem Schleier aus Tränen, der das Grauen verhüllte, erhob sich Aralia und rannte durch das Leichenfeld. Vorbei an allen, die sie gekannt hatte und an allen, die sie nicht kannte. Sie ignorierte sie, blendete sie aus, verließ die Trümmer aus Toten und rannte tief hinein in den Wald. Auch lebende Dryaden, die ihr jetzt begegneten, nahm sie nur am Rande wahr. Sie rannte, bis ihr der Atem wegblieb und sank auf einer Lichtung inmitten eines Blumenfeldes zusammen.
Sie schluchzte in ihre Hände und ihre Tränen beträufelten die Blumen, deren Blüten sich sofort zu Knospen zusammenzogen. Auch das bemerkte sie kaum.
Etwas Warmes legte sich auf ihre Schulter. Noch bevor sie aufsah, wusste sie, dass es die Hand eines Menschen war. Nur Menschen strahlten diese Wärme aus und berührten auf diese Weise. Zögernd schaute sie auf. Durch den Schleier aus Wasser, der ihren Blick verhüllte, sah sie zunächst männliche Konturen. Männer gibt es unter unseresgleichen nicht. Jedes Mal, wenn ein neuer Baum wuchs, erwachsen wurde, gebar er eine Dryade, die sich in Symbiose um ihn kümmerte. Und umgekehrt.
Aralias Herz schlug höher. Noch nie war sie einem Mann begegnet. Gesehen hatte sie schon einige. Aus der Ferne. Doch so nah war ihr noch keiner gekommen.
„Was ist mit dir?“, erklang seine erhabene Stimme, die vor Stolz und Edelmut fast überquoll.
Aralia wischte ihre Tränen weg, um ihren Gegenüber besser zu erkennen. Er trug Gewänder aus Samt und Seide, gefärbt mit Purpur. Wie sie wusste, waren diese Materialien Edelleuten vorbehalten. Die meisten Menschen hatten weniger wertvolle Kleidung.
„Sie alle sind tot“, murmelte sie vor sich hin und wich dem Blick des Mannes aus.
Im Augenwinkel sah sie, dass der Mann verwundert die Augenbrauen zusammenzog. „Wer ist tot?“
Aralia konnte kaum glauben, dass der Mann das wirklich gefragt hatte. Er konnte doch kaum das Feld aus Toten übersehen haben. „Mein Mutterbaum.“ Ihre Stimme kippte. „Er steht am Rand zum Feld der Toten.“ Ungehalten schluchzte sie weiter.
Der Edelmann hob fragend die Augenbrauen. „Feld der Toten?“ Aralia schluchzte so heftig, dass sie keine Silbe mehr hervorbrachte. „Mein Name ist Rotron. Wer bist du?“ Er klang nicht ernsthaft interessiert. Eher, als fühlte er sich dazu verpflichtet, mit ihr zu sprechen.
Die Hand auf ihrer Schulter wärmte sie, tröstete sie. „A-Aralia“, wimmerte sie. „Es war deinesgleichen. Hunderte, nein, tausende Tote.“
Rotron zog erschrocken seine Hand zurück. „Wie meinst du das?“
Der Hass, der sich nun in Aralia ausbreitete, funkelte in ihren Augen. Doch Rotron hielt ihrem Blick stand. „Ihr wollt Städte, mäht alles Leben nieder“, fauchte sie. „Ihr verletzt, tötet, hinterlasst Narben. Ihr vernichtet alles, was nicht menschlich ist.“
Rotrons Augen funkelten ebenfalls vor aufkeimender Wut. Er richtete sich auf, bevor er sprach. „Wir brauchen diese Lebensräume. Wir brauchen Städte. Wir brauchen Entwicklung und Forschung. Wo sollen wir den Raum hernehmen, wenn ihr euch überall breitmacht?“
Aralia stand auf, während sie langsam den Kopf schüttelte. „Es ist eure Entscheidung gewesen, meinesgleichen bestialisch abzuschlachten, uns zu quälen und zu foltern. Auch ein Zusammenleben wäre möglich.“
Auch Rotron erhob sich. Obwohl er seines Wesens wegen viel kleiner war als Aralia, zuckte sie zusammen, ob der Erhabenheit, die er ausstrahlte. „Städte sind für Menschen und nicht für unterentwickelte Wesen wie euch. Es gilt seit jeher das Recht des Stärkeren.“
Aralia spürte wieder Tränen in ihren Augen aufsteigen. Um sie zu verbergen, drehte sie sich von ihm weg. „Auch du wirst erkennen, dass es nicht um den Stärkeren geht, sondern um die Abhängigkeit eures Lebens von unserem.“ Mit diesen Worten rannte sie davon. Sie bildete sich ein, noch ein „warte“ gehört zu haben, doch interessierte es sie nicht mehr. Sie rannte in Richtung ihrer Birke, ihrer Mutter. Sie wand das Gesicht ab vom Leichenfeld, hin zum lebendigen Wald. Sie umarmte ihre Mutter, ging in Symbiose, suchte Halt und Trost.
Sie erwachte noch vor dem Morgengrauen durch einen stechenden Schmerz, der ihr in den Rücken fuhr. Etwas hatte sie umklammert. Sie schrie auf. Wand sich unter den Schmerzen. Sie spürte die Pein ihrer Mutter und weinte. Etwas hob die beiden hoch, entriss ihre Mutter der Erde. Ihre Wurzeln lagen frei. Noch lebte sie. Doch wie lange noch? Qualvoll würden sie zugrunde gehen. Gemeinsam. Immerhin wären sie zusammen. Nicht so wie es bei Azoris war. Sie und ihre Mutter würden in Symbiose sterben. Sie schrie immer lauter und weiter und weinte und flehte die Arbeiter an, sie leben zu lassen. Doch beachteten sie sie nicht einmal. Sie schluchzte, während sie ihrer Mutter die Rinde streichelte. Die Äste und Blätter der Birke sanken herab auf Aralias Kopf und streichelten auch sie. Leise schluchzte sie vor sich hin, als edle Lederstiefel vor ihren Augen auftauchten. Sie schaute auf und blickte in Rotrons Augen. Die Mischung aus eiskalter Gier und tiefem Mitleid machten sie wahnsinnig.
„Bitte hilf uns“, flehte sie flüsternd. Unfähig, lauter zu sprechen. Sie streckte ihre Hand aus nach ihm. Den flehenden Blick in seine Augen gerichtet.
„Herr, wir müssen noch 10.000 Hekar roden, um Basart zur größten Stadt der Welt werden zu lassen“, ertönte eine ihr unbekannte Männerstimme.
Jegliches Mitleid verschwand aus Rotrons Blick, als er ein Gewehr zückte und auf Aralia zielte.
„Bitte“, flehte sie panisch. „Bitte hilf uns.“
Er wich ihrem Blick aus, lud das Gewehr, richtete es aus und schielte entlang des Laufes.
Aralia spürte, wie zuerst ihre Mutter und dann sie selbst schwächer wurden. „Ihr Menschen werdet sehen, was ihr davon habt“, sagte sie, bevor sich der Schuss aus Rotrons Gewehr löste und Aralia direkt in den Kopf traf.

Warum habe ich dir das jetzt erzählt? Sie ist tot. Und nun? Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, denn Rotron hat fast alle Dryaden geopfert, um Basart zu bauen. Obwohl ich noch nicht geboren war, ist sie für mich schon damals eine Geisterstadt gewesen. Er war ein strebsamer Stadtherr, denn er wollte hoch hinaus. König, vielleicht gar Kaiser werden. Seine Stadt florierte und vergrößerte sich sogar noch mehr. Menschen lachten, wohnten, arbeiteten und handelten in Basart. Immer mehr Platz wurde benötigt und als die Stadt von keinem Wald mehr umgeben war, entschloss der fleißige Stadthalter, Brücken zu bauen und auf der anderen Seite der Flüsse weiter zu roden und zu bauen.
Doch schon bald husteten die ersten Menschen von Basart. Das Atmen fiel ihnen zunehmend schwer. Sie spuckten Blut. Schlussendlich erstickten sie. Die Stadt leerte sich, verkam auch aus menschlicher Sicht zu einer Geisterstadt. Häuser fielen in sich zusammen und Bäume eroberten sich ihren Weg zurück in das Leben. Zu dieser Zeit gebar meine Mutter mich und viele andere Bäume gebaren weitere Dryaden. Ich bahnte mir meinen Weg zum hustenden und Blut spuckenden König der Geisterstadt. Ja, er lebte noch. Doch waren seine Tage gezählt.
Lachend stellte ich mich vor ihn. „Erinnerst du dich? Vor etlichen Jahren hat meine Großmutter dich gewarnt.“ Die Schadenfreude, die sich bei seinem Anblick in mir ausbreitete, übermannte mich.
Rotron röchelte, während das Blut ihm aus dem Mund floss. Er streckte seine Hand nach mir aus, zuckte im Todeskampf. Ich wich einen Schritt zurück, wollte nicht von ihm berührt werden.
„Die Wurzeln, die du nicht vollständig vernichtet hast, merken sich alles. Sie sprechen miteinander, kommunizieren. Wie hast du reagiert, als meine Großmutter um Hilfe gefleht hat?“
Rotrons Augen weiteten sich in Panik, als er 20 Jahre zurückdachte. Aralias schmerzerfülltes, von Angst gezeichnetes Gesicht vor dem inneren Auge. Ich sah ihm an, was er sah. Ich fühlte die Schuld, die auch er fühlte. Ich ließ meine Finger zu langen Ästen mit vielen dünnen Verzweigungen wachsen. Rotron versuchte, zu schreien, als sich die Äste um seine Kehle, seinen Brustkorb, den Bauch, die Arme und die Beine schlangen und wickelten. Doch der Verlust sauberer Luft, ließ es nicht zu. Gehört hätte ihn sowieso keiner mehr.
„Das Überleben des Stärkeren hast du es genannt, als du ihr in Kopf geschossen hast. Wohlwissend, dass sie den Kampf bereits verloren hatte. Nun zeige ich dir, wer der Stärkere ist.“
Immer mehr Blut floss ihm aus dem Mund und je enger sich die Äste und Zweige um seinen Körper wickelten, desto mehr Blut floss, bis schließlich das Trommelfell platzte und auch Blut aus seinen Ohren lief.
„Ich habe ihr geholfen. Ihr Leid verkürzt“, röchelte er. Starr vor Angst barsten zum Schluss seine Augäpfel und er starb, ohne dass es noch Menschen gab, die seiner Größe gedenken konnten, um ihn trauerten.
Er starb als der letzte Mensch von Basart.

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Tag der Veröffentlichung: 10.09.2019

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