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Für alle Freds, insbesondere den meinigen




»Reiher-Luke ist hier«, murmelte meine Schwester Mary Alice, während sie sich neben mich in die vordere Kirchenbank schob. Sie drehte sich um und winkte kurz dem Brautführer zu.
»Hat sie gesagt, Reiher-Luke ist hier?«, flüsterte Fred – mein Mann – mir ins linke Ohr.
Ich nickte. Luke ist unser Cousin. Er stammt aus Columbus, Mississippi, und war immer mit uns am Meer, als wir Kinder waren. Die Übelkeit, die ihn beim Autofahren unweigerlich überkam, war so legendär, dass sie sich zu einem Running-Gag in der Familie entwickelte.
Händels Wassermusik erfüllte die Kuppel von Birminghams St. Mark’s Episcopal Church.
»Du siehst großartig aus«, raunte ich Mary Alice zu. Und das war nicht gelogen. Das dezent aschblond gefärbte Haar (sonst war es rosa!) und das lavendelfarbene Kleid verliehen ihr etwas geradezu Königliches. Außerdem mogelte das tunikaförmige Oberteil glatt 15 Kilo weg, was sie allerdings immer noch über 90 Kilo wiegen ließ. »Eins zweiundachtzig und mit ein paar hübschen Rundungen«, pflegte sie sich selbst zu beschreiben.
»Hmmmm«, sagte Mary Alice mit einem musternden Blick. »Du siehst auch gut aus, Patricia Anne.« Ein seltenes Lob. Ich strich über das blaue Chiffonkleid, Größe 36, das ich in The Petite Shoperstan den hatte. Mary Alice und ich werden ständig gefragt, ob wir wirklich Schwestern seien. Mary Alice will daraufhin gelegentlich wissen, was denn mit »wirklich« gemeint sei, was den Fragesteller häufig in Verlegenheit bringt. Ich sage ihr immer, dass ich das geschmacklos fände, dass sie nach sechzig Jahren weiß Gott an die Frage gewöhnt sein und einfach mit Ja antworten sollte.
»Was hast du denn in deinem Haar?«, fragte sie.
»Poly Brilliance sandblond. Das wäscht sich raus.«
»Schade.«
»Sag ihr, dass ich dein graues Haar mag«, flüsterte Fred. Ich überdachte das kurz und gab dann an meine Schwester weiter: »Fred mag mein graues Haar.«
»Ha.«
Händels Wassermusik überdeckte zum Glück meine Antwort.
Mary Alice blickte sich um. »Findest du das Rosa der Blumen nicht zu dunkel?«
»Absolut nicht. Sie sind wundervoll.«
»Ich kann es gar nicht glauben, dass Debbie so eine Hochzeit feiert.«
Mir ging es genauso. Meine Nichte Debbie Nachman, die Tochter von Mary Alice, ist eine erfolgreiche sechsunddreißigjährige Anwältin und alleinerziehende Mutter zweier Zwillingsmädchen. Als sie und ihr Verlobter Henry Lamont an Weihnachten ihre Hochzeitspläne verkündeten, hätte niemand von uns Glanz und Gloria erwartet. Aber sie hatten uns an der Nase herumgeführt, und so saßen wir jetzt in der ersten Reihe von St. Mark’s – mit mindestens dreihundert Menschen hinter uns.
»Dieses Buntglasfenster sieht nicht richtig aus wie Jesus«, murmelte Schwesterherz.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Fred.
»Sie sagte, dass das Buntglasfenster nicht richtig wie Jesus aussieht.«
»Sie muss es ja wissen. Vermutlich kannte sie ihn.«
»Was hat er gesagt?«, fragteMary Alice.
»Nichts.« Ich blickte Fred mit hochgezogenen
Augenbrauen an. Mit ihren 65 Jahren ist Mary Alice nur fünf Jahre älter als ich. Und zwei Jahre älter als dieser Schlauberger zu meiner Linken.
»Doch, er hat was gesagt. Er hat über mein Alter gelästert.«
»Ignorier ihn einfach.«
»Was hat sie gesagt?«, flüsterte Fred.
Die Orgel leitete zur ›Ode an die Freude‹
über, und die Menge raschelte erwartungsvoll.
Die Seitentür ging auf, und Henry, der Bräutigam, und unser Sohn Freddie, sein Trauzeuge, kamen hinter dem Pfarrer herein. Sie sahen dermaßen gut aus, dass ich in meiner Handtasche nach einem Papiertaschentuch kramte.
»O Gott, sie haben beide Kaugummi im Mund«, zischte Mary Alice.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Fred.
»Sie kauen Kaugummi, Fred!«
Die beiden wandten uns ihr Gesicht zu.
Freddie lächelte uns an, und wir machten alle drei wie verrückt Kaubewegungen. Einen Moment lang blickte er erstaunt drein, und dann sahen wir seinen Adamsapfel hüpfen, als er schluckte. Er stieß Henry mit dem Ellbogen an, und eine Sekunde später wanderte Henrys Kaugummi ebenfalls abwärts.
»Gut«, nickte Mary Alice.
Unsere Tochter Haley war die Erste vorn am Altar. Das rosafarbene Brautjungfernkleid war zwar nicht praktisch, aber äußerst kleidsam.
Sein enges Mieder ließ ihre Taille unglaublich schmal aussehen, und die Farbe verlieh ihrer olivfarbenen Haut einen rosigen Schein.
Mary Alices Tochter Marilyn war die Brautführerin ihrer Schwester. Mit ihren eins zweiundachtzig und dem brünetten Haar sah sie derartig aus wie ihre Mutter in diesem Alter, dass es geradezu gespenstisch war. Und wie sie neben meiner 1,55m großen rotblonden Haley stand, das war wie Schwesterherz und ich vor dreißig Jahren.
Die Orgel intonierte lautstark eine Fanfare, alles stand auf, und die Braut rauschte am Arm ihres Cousins Philip Nachman zum Altar.
Rauschte war der richtige Ausdruck. Ihr Kleid hätte Prinzessin Di die Schamesröte ins Gesicht getrieben.
»Mein Gott«, sagte Fred. »Dieses jungfräuliche Weiß blendet einen ja fast.«
»Halt die Klappe.« Ich versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, als wir uns wieder setzten.
»Liebe Brüder und Schwestern«, begann der Pfarrer. Mary Alice und ich griffen beide zum Taschentuch.
Es war eine traditionelle Zeremonie. Debbie, die unabhängigste Frau, die man sich vorstellen kann, die sich mit ihren etwas über dreißig Lenzen seit Jahren allein durchgeschlagen hatte, und zwar gut, Gott sei’s gepriesen, und die sich, als sie sich für Kinder entschied, in der Samenbank der Universität künstlich hatte befruchten lassen, diese Debbie wurde nun durch ihren Cousin an Henry Lamont »übergeben«, der sieben Jahre jünger war als sie. Ein wundervoller Mann, aber mit nichts zu beißen, wie man so schön sagte. Das war aber nur vorübergehend so. Henry würde einer der großen amerikanischen Köche werden, das wussten wir alle.
Nach dem Traugelübde knieten Debbie und Henry zum Gebet nieder, und der Organist stimmte mit großem Getöse das Auszugslied an. Sie machten Halt, um Mary Alice zu küssen und eine ältere Cousine von Henry, die anstelle seiner Mutter dort saß. Das Brautgefolge stürmte grinsend vorbei, und dann eskortierte Philip Nachman seine Tante Mary Alice hinaus, während Freddie Henrys Cousine hinausführte.
»So, das wär’s«, sagte Fred.
Die Leute standen auf und unterhielten sich lächelnd. Ich wischte mir ein letztes Mal über die Augen.
»Das war eine Hochzeit, die hält«, sagte ich.
»Eine was?«
»Du weißt schon, was ich meine. Bei manchen Leuten ist einfach klar, dass sie zusammenbleiben werden.«
Jetzt arbeiteten auch wir uns durch den Mittelgang nach draußen.
»Hast du mir nicht gesagt, Mary Alice habe dem alten Philipve rsprochen, Debbie jüdisch zu erziehen?«, fragte Fred. »Das sieht mir hier aber gar nicht nach einem Tempel aus. Viel mehr nach einer Kathedrale.«
Der »alte« Philip, auf den Fred Bezug nahm, war Debbies Vater, Mary Alices zweiter Ehemann.
Er war gleichzeitig auch der Onkel des »jungen« Philip Nachman, seines Namensvetters, der die Braut ihrem Ehemann zugeführt hatte. »Sie sagt, sie hat es vergessen«, erklärte ich.
»Sie hat es vergessen?« Fred lachte lauthals.
Er lachte noch immer, als wir aus der Kirchentür hinausschritten. Mir fiel auf, dass ich schon eine ganze Weile nicht mehr dieses inbrünstige, glucksende Lachen gehört hatte. Ich verspürte einen kurzen, sorgen- vollen Stich. Aber nur eine Sekunde lang, da wir uns gleich darauf mitten in der Menge von Freunden und Verwandten befanden, die vor der Kirche umherschlenderte.
»Patricia Anne!«, begrüßte mich Reiher-Luke mit einer herzlichen Umarmung. Er ist ein distinguiert aussehender millionenschwerer Versicherungsmanager in den Sechzigern. Er hat eine reizende Frau und einen Sohn, der Mitglied des Repräsentantenhauses ist. Kurz gesagt führt er ein beispielhaftes Leben und ist der Glanzstern am Götterhimmel der Familie.
Mary Alice hasst ihn nach wie vor.
»Er hat so gereihert, dass ihm das Zeug sogar in den Wimpern hing!«, sagt sieimmer. »Es kann einem ja schon mal beim Autofahren schlecht werden, aber er explodierte geradezu. Hat uns jede Urlaubsreise, egal wohin sie ging, versaut.«
Schwesterherz kann sich besser als ich an diese frühen Exkursionen ans Meer erinnern.
Ich mag Luke, obwohl ich gern ein wenig Abstand zu ihm halte – für alle Fälle.
»Luke«, sagte ich und trat einen Schritt zurück, »schön, dich zu sehen. Schwesterherz wird sicherlich begeistert sein, dass du hier bist.«
Er machte einen erfreuten Eindruck. Ich glaube, er hofft noch immer,Mary Alice würde ihm eines Tages vergeben. Schließlich war das alles sechzig Jahre her.
Luke begrüßte Fred mit einem Handschlag, und ich umarmte seine Frau Virginia.
»Was für eine wunderschöne Hochzeit«, sagte sie. »Minnie meint, es sei die schönste, die er je erlebt habe.«
Minnie ist Virginias Kosename für Luke. Sie hatte Schwesterherz und mir auf einer anderen Familienfeier, auf der sie ganz allein eine Flasche
Rheinwein geleert hatte, anvertraut, dass dies die Abkürzung für »Minutenmann« war.
Ein Geständnis, das meiner Schwester das Herz aufgehen ließ. Armer Luke.
»Ja, es war wundervoll«, stimmte ich ihr bei.
»Haley war umwerfend hübsch. Und Freddie und Alan sahen unglaublich gut aus.«
Ich strahlte. Mochten meine Kinder auch nicht im Repräsentantenhaus sein, so waren sie doch in der Tat ausgesprochen nette und attraktive Menschen.
»Und die Blumen waren traumhaft. Dieses Rosa! Und Debbie hatte ein phantastisches Kleid an. Und der Bräutigam ist zum Anbeißen süß.«
Ich warf einen prüfenden Blick auf die weiter vor sich hin babbelnde Virginia. Sie hatte offenkundig schon früh mit dem Feiern begonnen.
»Patricia Anne!« Meine Freundin Bonnie Blue Butler hatte sich einenWeg durch die Menge gebahnt. »Das war eine Hochzeit, was?«
Ich pflichtete ihr bei und stellte sie Luke und Virginia vor.
»Sie sind aus Columbus, stimmt’s?«, sagte sie, während sie Lukes Hand schüttelte. »Mary Alice hat schon so viel von Ihnen erzählt.«
Luke schien erfreut. »Das höre ich gern.«
»Braucht jemand eine Mitfahrgelegenheit zu dem Empfang?«, fragte Virginia.
»Nein!«, antworteten wir im Chor.
»Wir müssen schon mal losfahren, weil wir nicht lange bleiben können.«
»Wir sehen euch dann dort!«, sagte ich.
»Reiher-Luke ist aber ein gutaussehender Kerl.« Bonnie Blue blickte den beiden hinterher.
»Er ist auch nett. Ich bin nur froh, dass er nicht näher bei Schwesterherz wohnt. Sie wird ihm nie verzeihen.« Wir dachten einen kurzen Moment darüber nach. »Mir hat sie auch nach wie vor nicht verziehen, dass ich ihre Shirley-Temple-Puppe verloren habe.« Auch hierüber dachten wir einen Moment lang nach. »Fünfundfünfzig Jahre ist das her.«
»Willst du mit uns zu dem Empfang fahren, Bonnie Blue?«, fragte Fred. »Wir bringen dich dann wieder hierher zurück.«
»Gern.«
»Ich hol das Auto. Ihr Frauen habt Stöckelschuhe an.«
»Das ist auch ein gutaussehender Gentleman«, sagte Bonnie Blue, als Fred davonging.
Ich konnte ihr gar nicht genug beipflichten.
Mit seinen dreiundsechzig Jahren hatte Fred noch immer den Gang eines jungen Mannes.
Ich schob meine Bifokalbrille nach unten und blickte ihm hinterher. Schnuckelig!
Die Menge hatte keine Eile damit, sich aufzulösen.
Es war so angenehm, in der warmen Märzsonne vor der Kirche zu stehen und ein Schwätzchen zu halten. Debbie hatte zweifellos Glück gehabt mit dem Wetter an ihrem Hochzeitstag.
Im März kann das Wetter Kapriolen schlagen in Alabama. Und normalerweise tut es das auch. Der einzige Blizzard, der je in Birmingham verzeichnet wurde, fegte vor ein paar Jahren an einem 13. März durch die Stadt und hinterließ 45 cm Schnee und 500 000 traumatisierte Menschen, von denen die meisten in ihrem ganzen Leben noch nicht mehr als eine Schneeflocke gesehen hatten. Aber der heutige Tag war wunderbar. Glücklich die Braut, die bei Sonne getraut.
»Du siehst mächtig festlich aus«, sagte ich Bonnie Blue.
»Big, Bold and Beautiful Shop«, sagte sie.
»Schau mal.« Sie drehte sich, damit ich den Rücken ihres cremefarbenen Kleides sehen konnte. Die Jacke war hinten in der Form eines »V« geschnitten, und der Rock hatte eine lange Sprung- falte, die das »V« der Jacke noch einmal aufnahm.
»Todschick«, sagte ich.
»Streckt die Figur.«
»Sieht einfach gut aus.«
»Danke«, antwortete Bonnie Blue grinsend.
»Dein Outfit finde ich auch toll. Aber die haben dir doch hoffentlich für so ein kleines Ding nicht den vollen Preis berechnet?«
»Eine Masse Geld«, gab ich zu.
Mehrere Leute riefen uns hallo zu oder blieben stehen, um sich mit uns zu unterhalten.
Autos fuhren im Schritttempo an uns vorbei, aber die Sonne war warm, und ich hatte keine Eile, von hier wegzukommen. Bonnie Blue gähnte.
»Genauso fühle ich mich auch«, sagte ich.
»Ich habe gestern Nacht nicht viel geschlafen.
Wir waren erst nach zwölf von der Probe zurück, und dann konnte ich keinen Schlaf finden.«
»Aber jetzt haben wir sie unter der Haube.«
»Haben wir.«
Bonnie Blue Butler gehört zu den Menschen, die ich besonders gern mag. Bei unserem ersten Zusammentreffen dachte ich, das weiß ich noch genau, ich hätte das Negativ von meiner Schwester vor Augen: die gleiche Körpergröße, die gleiche Art zu gehen, die gleichen Eigenheiten. Sie trugen sogar identische Handtaschen.
Aber Bonnie Blue war etwa fünfzehn Jahre jünger, und ihre Haut war wie feine Milchschokolade.
Doch es war die gemeinsame Zuneigung zu Henry Lamont, dem Bräutigam des heutigen Tages, die uns zu richtigen Freundinnen hatte werden lassen. Bonnie Blue hatte mit ihm zusammengearbeitet,
und ich hatte ihn unterrichtet, und ich denke, er steht uns beiden so nahe wie ein Sohn.
Jetzt warteten wir gemeinsam auf das sich im Schneckentempo nähernde Auto, in dem wir Fred ungeduldig mit den Handflächen auf das Steuerrad klopfen sahen.
»Wehe, Debbie macht den guten Henry nicht glücklich«, sagte Bonnie Blue. »Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«
»Amen«, pflichtete ich ihr bei. Dann fiel mir ein, dass Debbie meine Nichte war und dass ich sie ausgesprochen gern hatte.
»Ich hoffe, sie machen sich gegenseitig glücklich.«
»Amen. Du und Fred – wie lange seid ihr schon verheiratet?«
»Vierzig Jahre. Vierzig glückliche Jahre.«
Das Auto blieb vor uns stehen, Fred lehnte sich zu uns herüber und öffnete die Beifahrertür.
»Verdammt! Nächstes Mal könnt ihr zu Fuß gehen.«


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Texte: Deutscher Taschenbuch Verlag ISBN: 978-3423253154
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2011

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