Kapitel 1
»Hellhäutige Vampire sollten nie Weiß tragen«, begann
der Fernsehmoderator. »Wir haben Devon Dawn, die
erst seit zehn Jahren Vampirin ist, heimlich dabei gefilmt, wie sie sich zum Ausgehen zurechtmacht. Und jetzt sehen Sie sich dieses Outfit an! Es steht ihr überhaupt nicht!«
»Was denkt sie sich bloß dabei?«, fiel eine Frau gehässig ein. »Total in den Neunzigern stecken geblieben! Schauen Sie sich nur die Bluse an – wenn man das überhaupt so nennen kann. Ihr Hautton schreit geradezu nach kontrastierenden Farben, und was zieht sie an? Etwas Elfenbeinfarbenes! Das macht sie doch erst recht leichen- blass.«
Ich band mir gerade die Schuhe zu, aber jetzt sah ich
auf, um nicht zu verpassen, wie sich die beiden Modefreaks auf ihr glückloses Opfer stürzten – oh, Entschuldigung, auf die glückliche Vampirin natürlich, die gleich unfreiwillig eine Stilberatung bekommen würde. Und die außerdem sicher hocherfreut darüber war, dass ihre Freundinnen sie bei der Modepolizei angeschwärzt hatten.
»Das geht bestimmt nicht gut aus«, sagte Octavia Fant.
Meine Mitbewohnerin Amelia Broadway hatte Octavia
zwar sozusagen in mein Haus hineingemogelt – nachdem ich ihr in einem Augenblick der Schwäche eher beiläufig ein Zimmer angeboten hatte –, aber das Zusammen- wohnen funktionierte recht gut.
»Devon Dawn, das hier ist Bev Leveto von ›Fashion Vamp‹, und ich bin Todd Seabrook. Ihre Freundin Tessa hat uns angerufen, weil Sie dringend eine Stilberatung in Sachen Mode brauchen! Wir haben Sie an den letzten beiden Abenden heimlich gefilmt, und – AAACKK!« An Todds Gurgel blitzte eineweiße Hand auf und hinterließ nichts als ein gähnendes rötliches Loch. Fasziniert folgte die Kamera Todd, der wankend zu Boden ging, ehe die Linse wieder auf den Kampf zwischen Devon Dawn und Bev Leveto gerichtet wurde.
»Meine Güte«, sagte Amelia. »Sieht aus, als würde Bev
gewinnen.«
»Bessere Taktik«, erwiderte ich. »Ist dir aufgefallen, dass sie Todd als Ersten durch die Tür gehen ließ?«
»Ich habe sie überwältigt«, rief Bev auf dem Bildschirm triumphierend. »Devon Dawn, während Todd seine Stimmbänder zusammenklaubt, durchforsten wir mal Ihren Kleiderschrank. Eine Frau, die ewig leben will, kann es sich nicht leisten, geschmacklos gekleidet herumzulaufen. Vampire dürfen nicht in ihrer Vergangenheit stehen bleiben. Wir müssen stets mit der Mode gehen!«
Devon Dawn wimmerte. »Aber mir gefallen meine Sachen! Sie sind ein Teil von mir! Oh, Sie haben mir den Arm gebrochen.«
»Das heilt wieder. Sie wollen doch wohl nicht als die
arme kleine Vampirin gelten, die es nicht hinkriegt,
oder? Und Sie wollen sicher auch nicht selbst Vergangen- heit werden!«
»Äh, eigentlich nicht…«
»Na also! Ich lasse Sie jetzt los. Und wenn ich Todd
so husten höre, würde ich sagen, ihm geht’s auch schon wieder besser.«
Ich schaltete den Fernseher aus und band mir den
anderen Schuh zu. Über Amerikas neue Sucht nach Vampir-Reality-Shows konnte ich nur noch den Kopf schütteln.
Doch der Anblick meines preiselbeerroten Mantels, den ich aus dem Wandschrank zog, erinnerte mich umgehend daran, dass ich selbst einige höchst reale Probleme mit Vampiren hatte. Im Vampirkönigreich Louisiana hatten vor zweieinhalb Monaten die Vampire aus Nevada die Macht übernommen, und seitdem war Eric Northman vollauf damit beschäftigt, seine Stellung innerhalb des neuen Regimes zu festigen und herauszufinden, was vom alten noch übrig war.
Eswar längst überfällig, dass ich mit Eric mal über seine frisch wiederaufgetauchten Erinnerungen an unsere seltsam intensive gemeinsame Zeit plauderte. Eigentlich hatte er damals ja aufgrund eines Fluchs oder Hexen- zaubers sein Gedächtnis zeitweise verloren.
»Was macht ihr denn heute Abend, während ich arbeite?«, fragte ich Amelia und Octavia, weil ich noch ein weiteres Fantasiegespräch mit Eric wirklich nicht gebrauchen konnte. Ich zog den Mantel an. Im Norden Louisianas wird es nie so entsetzlich kalt wie im richtigen Norden, aber an diesem Spätnachmittag hatte es keine zehn Grad mehr, und wenn ich aus der Arbeit kam, würde es noch kälter sein.
»Meine Nichte und ihre Kinder holen mich zum Abend- essen ab«, erzählte Octavia.
Amelia und ich tauschten einen überraschten Blick, als Octavia ihren Kopf wieder über die Bluse beugte, die sie gerade flickte. Es war das erste Mal, dass sie ihre Nichte treffen würde, seit sie aus deren Wohnung in mein Haus gezogen war.
»Tray und ich werden heute Abend wohl in die Bar kommen«, sagte Amelia hastig, um die kleine Pause zu überdecken.
»Dann sehen wir uns also im Merlotte’s.« Ich war schon seit Jahren Kellnerin dort.
»Oh, dieses Nähgarn hat ja die falsche Farbe«, rief Octavia und lief die Diele hinunter in ihr Zimmer.
»Und mit Pam triffst du dich gar nicht mehr?«, fragte ich Amelia. »Dann ist das mit Tray und dir alsowas Ernstes.«
Ich steckte mein weißes T-Shirt noch etwas ordentlicher in meine schwarze Hose und blickte in den alten Spiegel über dem Kaminsims. Mein Haar war zwar zu einem Pferde- schwanz gebunden, wie immer zur Arbeit, aber ich entdeckte trotzdem ein langes blondes Haar auf meinem flammendroten Mantel und zupfte es ab.
»Pam war nur ein Strohfeuer, und sie sieht das sicher genauso. Aber Tray mag ich wirklich«, erzählte Amelia.
»Das Geld meines Vaters scheint ihm egal zu sein, und es stört ihn auch nicht, dass ich eine Hexe bin. Und im Bett macht er mich richtig heiß. Es läuft also alles bestens.«
Amelia grinste mich so breit an wie eine Katze, die gerade einen Kanarienvogel verspeist hat. Sie mochte ja aussehen wie eine dieser typischen Vorstadtmütter – kurzes, glänzendes Haar, schönes Zahnpastalächeln, funkelnde Augen –, doch sie war äußerst interessiert an Sex, und zwar (im Gegensatz zu mir) in vielerlei Richtungen.
»Er ist ein guter Kerl«, erwiderte ich. »Hast du ihn schon als Werwolf gesehen?«
»Nein. Aber ich freue mich schon darauf.«
Amelia war eine außergewöhnlich klare Senderin,
doch der Gedanke, den ich da eben auffing, erschreckte mich.
»Es ist bald so weit? Sie treten an die Öffentlichkeit?«
»Würdest du das bitte sein lassen!« Amelia ließ es sonst stets kalt, dass ich Gedanken lesen konnte, heute jedoch nicht.
»Ich will nicht die Geheimnisse anderer Leute verraten, okay?«
»Tut mir leid«, sagte ich, und das meinte ich auch so.
Aber ichwar trotzdem leicht eingeschnappt.Wenigstens
in meinem eigenen Haus sollte ich mich doch etwas entspannen und die Schutzbarrieren herunterfahren dürfen, mit denen ich meine Fähigkeit sonst abblockte. Schließlich war es schon anstrengend genug, sie jeden Tag bei der Arbeit aufrechtzuerhalten.
Amelia erwiderte sogleich: »Mir tut’s auch leid. Hör mal, ich muss mich jetzt fertig machen. Bis später.«
Leichtfüßig lief sie die Treppe in den ersten Stock hinauf, der kaum genutzt worden war, bis sie mich vor einigen Monaten aus New Orleans hierher begleitete. So war sie dem Hurrikan Katrina entgangen, ganz im Gegensatz zur armen Octavia.
»Tschüs, Octavia. Viel Spaß heuteAbend!«, rief ich und ging durch die Hintertür zu meinem Auto.
Während ich die lange Auffahrt entlangfuhr, die durch den Wald zur Hummingbird Road führte, fragte ich mich, wie die Chancen wohl standen, dass Amelia und Tray zusammen- blieben. Tray, ein Werwolf, betrieb eine kleine Reparatur- werkstatt für Motorräder und arbeitete gelegentlich als Bodyguard. Und Amelia war eine vielversprechende junge Hexe, deren Vater unermesslich reich war, sogar noch nach Katrina. Der Hurrikan hatte die meisten Materiallager seines Bauunternehmens verschont und ihn auf Jahr- zehnte hinaus mit ausreichend Aufträgen versorgt.
Laut Amelias Gedanken war’s heute Abend so weit – nein, Traywollte ihr keinen Heiratsantrag machen, heute Abend würde Tray sein Coming-out haben. Trays Zweigestaltig- keit war ein großes Plus in den Augen meiner Mitbewohnerin, die ein Faible fürs Exotische hatte.
Ich betrat das Merlotte’s durch den Hintereingang für Angestellte und ging direkt in Sams Büro.
»Hey, Boss«, sagte ich, als ich ihn hinter dem Schreibtisch sitzen sah.
Sam war Buchhaltung eigentlich verhasst, doch das war genau das, woran er gerade saß. Aber vielleicht war ihm die Arbeit auch eine willkommene Ablenkung, denn Sam wirkte irgendwie beunruhigt. Sein Haar war noch
verwuschelter als üblich, und seine goldblonden Locken umstanden sein angespanntes Gesicht wie ein Heiligen- schein.
»Mach dich auf was gefasst. Heute Abend ist es so weit«, sagte er.
Ich war sehr stolz, dass er es mir doch noch selbst sagte; und weil er beinahe wie ein Echo meine eigenen Gedanken ausgesprochen hatte, musste ich unwillkürlich lächeln.
»Ich bin auf alles gefasst. Du kannst auf mich zählen.«
Meine Handtasche verstaute ich wie üblich in der tiefen Schublade der Kommode. Dann ging ich mir eine Schürze umbinden. Ich sollte Holly ablösen, doch nachdem ich mit ihr über die Gäste an unseren Tischen geredet hatte, sagte ich: »Du solltest heute Abend hierbleiben.«
Siewarf mir einen taxierenden Blick zu. Holly ließ sich seit einiger Zeit die Haare wachsen, so dass die schwarzen Haarfransen wie in Teer getaucht aussahen. Ihre natürliche Farbe zeichnete sich bereits gut zwei Zentimeter am Ansatz ab und entpuppte sich als ein hübsches Hellbraun. Sie hatte sich so lange die Haare gefärbt, dass ich das schon komplett vergessen hatte.
»Worum geht’s? Lohnt sich’s, deswegen Hoyt warten zu lassen?«, fragte sie. »Er und Cody sind dicke Freunde, aber ich bin immer noch Codys Mama.«
Hoyt, der beste Freundmeines Bruders Jason,war von Holly erhört worden. Jetzt folgte er ihr überallhin.
»Du solltest noch eine Weile bleiben.« Ich sah sie an
und hob vielsagend die Augenbrauen.
»Die Wergeschöpfe?« Ich nickte, und sie grinste über das ganze Gesicht. »Oh, Junge! Arlene wird komplett ausrasten.«
Arlene, unsere Kollegin und einstige Freundin, hatte sich vor einigen Monaten von der neuesten Flamme in der endlosen Reihe ihrer Liebhaber politisch aufklären lassen und stand jetzt irgendwo rechts von Attila dem Hunnen- könig, vor allem was Vampire anging. Ja, sie war sogar der Bruderschaft der Sonne beigetreten, einer religiösen Sekte, bei der nur der Name harmlos war. Im Augenblick stand sie gerade an einem ihrer Tische und führte ein ungeheuer gewichtiges Gespräch mit ihrem Freund, Whit Spradlin, irgend so einem BdS-Funktionär, der tagsüber in einem der Baumärkte von Shreveport arbeitete. Er hatte eine deutlich sichtbare kahle Stelle auf dem Kopf und einen Bauchansatz, was grundsätzlich kein Ausschlusskriterium für mich war. Seine politische Einstellung dagegen schon. Und er war natürlich mit einem Kumpel gekommen. Diese BdS-Typen schienen immer im Rudel aufzutreten – genau wie eine andere Minderheit, die sie bald kennenlernen sollten.
Mein Bruder Jason war auch da, er saß an einem Tisch mit Mel Hart. Mel Hart arbeitete in Bon Temps’ Einkaufs- markt für Autozubehör und war etwa in Jasons Alter, vielleicht einunddreißig. Ein schlanker, durchtrainierter Mann mit hellbraunem Haar, Vollbart und einem ansprechenden Gesicht. In letzter Zeit hatte ich Jason öfter mit Mel gesehen. Jason musste wohl irgendwie die Lücke füllen, die Hoyt hinterlassen hatte. Er fühlte sich einfach nicht wohl ohne besten Freund an der Seite.
Heute Abend waren beide in Begleitung einer Frau gekommen.
Mel war geschieden, aber Jason dem Gesetz nach immer noch verheiratet, so dass er sich öffentlich eigentlich nicht mit einer anderen sehen lassen sollte.
Doch das verübelte ihm keiner. Seine Frau Crystal war beim Ehebruch mit einem Typen hier aus der Stadt auf frischer Tat ertappt worden.
Soweit ichwusste, war die schwangere Crystal wieder zurück in das kleine Dorf Hotshot zu ihren Verwandten gezogen. (Dort konnte sie praktisch in jedes Haus einziehen und würde immer bei Verwandten wohnen. Genau umdie Sorte Dorf handelte es sich.) Mel Hartwar auch in Hotshot geboren, aber einer der wenigen der Sippe, die beschlossen hatten, woandershin zu ziehen.
Bill, mein Exfreund, saß mit einem anderen Vampir namens Clancy an einem Tisch, was mich ziemlich überraschte. Clancywar alles andere als mein Lieblings- freund, auch wenn er zu den Untoten zählte. Sie hatten beide eine Flasche TrueBlood vor sich stehen. Soweit ich wusste, war Clancy noch nie einfach so auf einen Drink ins Merlotte’s gekommen, und schon gar nicht mit Bill.
»Hallo, Jungs, braucht ihr Nachschub?«, fragte ich und setzte mein strahlendstes Lächeln auf. In Bills Nähe war ich immer etwas nervös.
»Ja, bitte«, erwiderte Bill höflich. Clancy schob mir bloß seine leere Flasche zu.
Also ging ich hinter die Bar, holte zwei weitere Flaschen True Blood aus dem Kühlschrank, öffnete sie und stellte sie in die Mikrowelle. (Fünfzehn Sekunden lang ist am besten.) Dann schüttelte ich die Flaschen sachte und tat die warmen Drinks zusammen mit frischen Servietten auf mein Tablett. Bills kühle Hand berührte meine leicht, als ich ihm seinen Drink hinstellte.
»Wenn du zu Hause mal irgendwie Hilfe brauchst, ruf mich bitte an«, sagte er.
Es war freundlich gemeint, das wusste ich, aber irgendwie unterstrich es noch zusätzlich meinen aktuellen männer- losen Status. Bill wohnte quasi direkt gegenüber von mir, einmal quer über den alten Friedhof, und so oft, wie er des Nachts umherstreifte, wusste er wohl nur zu gut, dass ich keinen Gefährten hatte.
»Danke, Bill«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.
Clancy lächelte nur spöttisch.
Dann kamen Tray und Amelia ins Merlotte’s, und nachdem er Amelia an einen Tisch gebracht hatte, ging Tray, alle Leute rundum grüßend, an die Bar. Sam kam aus dem Büro und trat auf den kräftigen Mann zu, der mindestens zehn Zentimeter größer war als mein Boss und fast doppelt so breit. Sie grinsten sich vielsagend an, was Bill und Clancy sofort in Alarmbereitschaft versetzte.
Und da wurde plötzlich in den Fernsehern, die im ganzen Raum in regelmäßigen Abständen angebracht waren, mit einem Jingle die aktuelle Sportberichterstattung unter- brochen. Die Gäste der Bar drehten sich, aufmerksam geworden, zu den Bildschirmen um, und der Geräuschpegel sank, weil sich nur noch hier und da vereinzelt Leute unterhielten.
»Spezial«, flimmerte es in Riesenlettern über die Bild- schirme, ehe ein Nachrichtensprecher mit kurz geschnittenem, gegeltem Haar und todernster Miene in feierlichem Ton sagte: »Ich bin Matthew Harrow. Heute Abend haben wir ein Spezial für Sie. Wie in allen Nachrichtenredaktionen im ganzen Land haben auch wir hier in Shreveport einen Gast in unserem Studio.«
Die Kamera fuhr zurück, um das Blickfeld zu erweitern, und eine schöne Frau rückte ins Bild. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Mit eingeübter Geste winkte sie in die Kamera. Sie trug so eine Art Kaftan, ziemlich unmöglich für einen Fernsehauftritt.
»Das ist Patricia Crimmins, die vor einigen Wochen nach Shreveport gezogen ist. Patty – ich darf Sie doch Patty nennen?«
»Eigentlich werde ich Patricia genannt«, erwiderte die brünette Frau.
Jetzt erinnerte ich mich: Sie gehörte zu dem Rudel, das von Alcides Rudel geschluckt worden war. Eine wirklich bildschöne Frau, und der Teil von ihr, der nicht unter diesem Kaftan verschwand, sah fit und durchtrainiert aus. Sie lächelte Matthew Harrowan.
»Ich bin heute Abend als Vertreterin eines Volkes hier, das schon seit vielen Jahren unter Ihnen lebt. Und weil sich der Schritt an die Öffentlichkeit für die Vampire so bewährt hat, haben wir beschlossen, dass es nun auch für uns an der Zeit ist, Ihnen von unserer Existenz zu berichten. Immerhin sind Vampire ja sogar tot. Sie sind nicht einmal Menschen. Im Gegensatz zu uns, wir sind genau so wie Sie alle, mit nur einem kleinen Unterschied.«
Sam drehte die Lautstärke auf. Gespannt auf das, was jetzt kommen mochte, begannen die Leute in der Bar auf ihren Stühlen hin- und herzurücken.
Das Lächeln des Nachrichtensprechers war so eingefroren, wie es nur sein konnte, und er war sichtlich nervös.
»Wie interessant, Patricia! Was – was sind Sie denn?«
»Vielen Dank, dass Sie gleich danach fragen, Matthew! Ich bin eine Werwölfin.«
Patricia umschlang mit den Händen das eine Knie ihrer übereinandergeschlagenen Beine und wirkte kess genug, um Gebrauchtwagen zu verkaufen. Da hatte Alcide wirklich eine gute Wahl getroffen.
Und außerdem war sie… tja, hoffentlich wurde sie nicht gleich wieder auf der Stelle ermordet… seine Neue.
Jetzt herrschte Grabesstille im Merlotte’s, während das Wort von Tisch zu Tisch die Runde machte. Bill und Clancy waren aufgestanden und hatten sich an den Tresen gestellt. Nun verstand ich. Sie waren hier, um für Frieden zu sorgen, falls es nötig wurde. Sam musste sie gebeten haben, heute Abend zu kommen. Tray begann sein Hemd aufzuknöpfen. Sam trug ein langärmeliges T-Shirt, das er sich jetzt über den Kopf zog.
»Heißt das, Sie verwandeln sich bei Vollmond in eine
Wölfin?« Matthew Harrow bebte und war bemüht, sein
Lächeln aufrechtzuerhalten und einfach nur mit interessierter Miene dreinzublicken. Seine Bemühungen blieben jedoch recht erfolglos.
»Und auch zu anderen Zeiten«, erklärte Patricia. »Bei Vollmond müssen sich die meisten von uns verwandeln, aber die vollblütigenWergeschöpfe unter uns können es
auch zu anderen Zeiten. Es gibt viele verschiedene Wertiere, doch ich verwandle mich in eine Wölfin. Werwölfe sind unter den Zweigestaltigen die größte Gruppe. Und nun werde ich Ihnen allen zeigen, was für ein erstaunlicher Vorgang das ist. Und haben Sie keine Angst. Ich überstehe das unbeschadet.«
Sie zog die Schuhe aus, aber den Kaftan nicht. Da verstand ich plötzlich. Sie trug das Ding, damit sie sich nicht vor laufender Kamera nackt ausziehen musste. Patricia kniete sich hin und lächelte ein letztes Mal in die Kamera, ehe ihr Körper sich zu verzerren begann. Die Luft um sie herum flirrte vor lauter Magie, und durch das Merlotte’s hallte ein einstimmiges »Ooooooo«.
Patricia hatte mit ihrer Verwandlung im Fernsehstudio kaum begonnen, da taten Sam und Tray es ihr nach, an Ort und Stelle. Sie trugen altes Unterzeug, das ruhig in Fetzen gehen konnte. Die Gäste im Merlotte’s waren hin- und hergerissen zwischen dem Fernsehschirm, auf dem sich eine wunderschöne Frau in ein Tier mit langen weißen Zähnen verwandelte, und dem Spektakel vor ihren Augen, wo zwei ihnen wohlbekannte Männer genau dasselbe taten. Überall in der Bar ertönten Ausrufe, die man fast alle in anständiger Gesellschaft nicht wiederholen konnte. Jasons Begleiterin, Michele Schubert, stand sogar auf, um besser sehen zu können.
Ich war so stolz auf Sam. Das erforderte eine Menge Mut, zumal er ein Geschäft betrieb, bei dem es nicht zuletzt darauf ankam, dass die Leute ihn mochten.
Und im nächsten Augenblick war es auch schon geschehen.
Sam, einer der seltenen reinen Gestaltwandler, hatte sich in sein mir vertrautestes Wesen, einen Collie, verwandelt. Er kam zu mir gelaufen, setzte sich vor mich hin und heulte freudig auf. Ich tätschelte seinen Kopf.
Die Zunge hing ihm aus dem Maul, und er schien mich
anzulachen. Trays Tiergestalt war sehr viel ehrfurcht- gebietender.
Große Wölfe sind im ländlichen Norden von Louisiana nur sehr selten zu sehen – ach, sagen wir, wie’s ist: Sie machen einem Angst. Die Leute wichen besorgt zurück und hätten vielleicht sogar die Flucht ergriffen, wenn Amelia sich nicht neben Tray gehockt und ihm den Arm um den Nacken gelegt hätte.
»Er versteht jedes Wort«, sagte sie aufmunternd zu den Leuten am Nachbartisch. Amelia hatte ein ganz wunder- bares Lächeln, offen und ehrlich.
»Hey, Tray, bring ihnen das hier.«
Sie reichte ihm einen der Bierdeckel des Merlotte’s, und Tray Dawson, einer der unerbittlichsten Kämpfer sowohl in Wolfs- wie in Menschengestalt, trottete brav zu der Frau am Nebentisch und legte ihr den Bierdeckel in den Schoß. Sie blinzelte, zögerte und brach schließlich in ein Kichern aus.
Sam leckte mir die Hand.
»Oh, du großerGott!«, kreischte Arlene. Whit Spradlin
und sein Kumpelwaren aufgesprungen. Ein paar der anderen Gäste wirkten auch nervös, aber keiner von ihnen hatte so heftig reagiert.
Bill und Clancy sahen mit ausdruckslosen Mienen zu.
Es war nicht zu übersehen, dass sie in Alarmbereitschaft waren und beim geringsten Ärger eingreifen würden.
Doch bislang lief alles bestens bei dieser Großen Offen- barung.
Die Nacht der Großen Enthüllung der Vampire war nicht so glimpflich verlaufen, vermutlichweil es der erste große Schock für die Gesellschaft der Normalbürger war, dem in den Jahren darauf noch weitere folgten.
Doch allmählich waren die Vampire zu angesehenen Einwohnern Amerikas geworden, auch wenn ihre Bürgerrechte noch in mancher Hinsicht beschnitten waren.
Sam und Tray liefen unter den Leuten umher und ließen sich streicheln, als wären sie ganz normale gezähmte Tiere. Der Nachrichtensprecher im Fernsehen hatte sichtlich zu zittern begonnen, seit er sich mit der schönen weißen Wölfin konfrontiert sah, in die Patricia sich verwandelt hatte.
»Seht euch den an, der hat so ’ne Angst, der macht sich gleich ins Hemd!«, rief D’Eriq, unsere Hilfskraft, und lachte laut los. Die Anspannung der Gäste im Merlotte’s ließ so weit nach, dass die Leute sich überlegen fühlen konnten. Immerhin hatten sie das alles doch ziemlich gelassen hingenommen.
»Vor so ’ner hübschen Lady«, rief Jasons neuer bester
Freund Mel, »muss doch keiner Angst haben, selbst wenn sie ein bisschen haart.« Und das Gelächter und die Entspannung griffen noch weiter um sich in der Bar, ein Glück. Auch wenn ich’s ziemlich ironisch fand, dass den Leuten das Lachen sicher im Halse stecken geblieben wäre, wenn auch Jason und Mel sich verwandelt hätten.
Siewaren beide Werpanther, Jason konnte sich allerdings nicht vollständig verwandeln.
Nach diesem Gelächter spürte ich, dass alles gut ausgehen würde. Auch Bill und Clancy gingen, nach einem wachsamen Blick in die Runde, zurück an ihren Tisch. Whit und Arlene waren total perplex, wie locker die Leute um sie herum das alles nahmen. Arlenes Gedanken waren ein einziges wildes Gewirr. Sie wusste überhaupt nicht, wie sie reagieren sollte. Sam war schließlich schon einige Jahre lang unser Boss. Wenn sie ihren Job nicht verlieren wollte, würde sie den Mund halten müssen. Doch ich konnte auch ihre Angst und die heraufbrodelnde Wut wahrnehmen, die gleich hinter diesen Gedanken lauerten. Whit kannte sowieso nur eine einzige Reaktion auf alles, was er nicht verstand: Er hasste es, und Hass ist ansteckend. Er sah seinen Trinkkumpan an, und die beiden wechselten düstere Blicke.
In Arlenes Hirn purzelten die Gedanken herum wie die Lotteriebälle in der Kugel vor der Ziehung. Es war schwer zu sagen, welcher zuerst zum Vorschein kommen würde.
»Herrgott, schlagt ihn tot!«, brach es plötzlich aus ihr heraus. Der Lotterieball Hass hatte gewonnen.
Ein paar Leute riefen: »Oh, Arlene!«,…aber sie hörten ihr zu.
»Es ist gegen Gott und die Natur!«, schrie Arlene wütend, und ihr rot gefärbtes Haar schien unter der Wucht ihrer Worte geradezu zu erzittern.
»Sollen eure Kinder etwa umgeben von diesen… diesen Kreaturen leben?«
»Unsere Kinder haben immer umgeben von diesen
Kreaturen gelebt«, erwiderte Holly ebenso laut. »Wir wussten es nur nicht. Und es ist noch nie jemandem etwas passiert.«
Jetzt stand auch sie vom Stuhl auf.
»Gott wird uns strafen, wenn wir die nicht totschlagen«, rief Arlene und zeigte theatralisch auf Tray. Inzwischen war ihr Gesicht fast ebenso rot wie ihr Haar. Whit sah sie zustimmend an.
»Ihr versteht nicht! Wir landen alle in der Hölle, wenn wir denen die Welt nicht wieder entreißen! Seht doch hin, wen die sich geholt haben, um uns Menschen in Schach zu halten!«
Sie fuhrwerkte mit dem Zeigefinger in der Luft herum, um auf Bill und Clancy zu deuten. Da die beiden jedoch längst wieder auf ihren Stühlen saßen, verlor sie etwas an Boden.
Jetzt setzte ichmein Tablett auf dem Tresen ab und trat einen Schritt vor, die Hände zu Fäusten geballt.
»Wir hier in Bon Temps kommen alle miteinander aus«, sagte ich, und es gelang mir, ruhig und sachlich zu sprechen. »Du scheinst die Einzige zu sein, die damit nicht klarkommt, Arlene.«
Arlene warf finstere Blicke in die Runde und versuchte, verschiedenen Gästen direkt in die Augen zu sehen.
Dass die Leute ihre Reaktion nicht teilten, schockierte sie zutiefst. Sam setzte sich vor Arlene hin und blickte sie mit seinen hübschen Hundeaugen an.
Ich trat noch einen weiteren Schritt auf Whit zu, nur für den Fall. Whit überlegte gerade, was er tun sollte, und dachte daran, sich auf Sam zu stürzen. Aber wer würde ihm dabei helfen, einen Collie zu verprügeln? Sogar Whit sah ein, wie absurd das war. Doch seinen Hass auf Sam steigerte das nur umso mehr.
»Wie konntest du nur?«, schrie Arlene Sam an. »All die Jahre hast du mich belogen! Ich hab dich für einen Menschen gehalten, nicht für einen gottverdammten Supra!«
»Er ist ein Mensch«, sagte ich. »Er hat im Moment nur eine andere Gestalt, das ist alles.«
»Und du!«, schrie sie und spuckte mir die Worte förmlich entgegen.
»Du bist die verrückteste, die unmenschlichste von all denen!«
»Hey, hey«, mischte Jason sich ein und sprang auf.
Nach kurzem Zögern gesellte sich Mel zu ihm. Seine Freundin sah beunruhigt drein, während Jasons Begleiterin lächelte.
»Lass meine Schwester in Frieden. Sie hat früher immer auf deine Kinder aufgepasst, bei dir sauber gemacht und jahrelang all deinen Mist hingenommen. Was für eine Sorte Freundin bist du eigentlich?«
Copyright © Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Texte: Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN: 978-3423212229
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2010
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