Cover

Dieser Roman war schon fertig, als im Sommer 2005 der
Hurrikan Katrina die amerikanische Golfküste verwüstete.
Die Handlung spielt zum Teil in New Orleans, und so habe ich mit mir gerungen, ob ich die Katastrophe aus den Monaten August und September in ›Ball der Vampire‹ einarbeiten solle. Nach langem Nachdenken, und da Sookie die Stadt bereits im Frühling besucht, habe ich mich jedoch entschieden, das Buch in der ursprünglichen Fassung zu veröffentlichen.
Mit tiefem Mitgefühl denke ich an die Bewohner der
schönen Stadt New Orleans und an die Menschen an den
Küstenstrichen von Mississippi, dem US-Bundesstaat, der meine Heimat ist. Alle, die dort ihr Zuhause und ihr Leben wieder aufbauen müssen, schließe ich in meine Gebete ein.




Kapitel 1




Malerisch lag ich in den Armen des schönsten Mannes, den ich je gesehen hatte, doch er starrte mit leerem Blick auf mich herunter. »Denk an … Brad Pitt«, flüsterte ich. Die dunkelbraunen Augen zeigten noch immer nicht das geringste Interesse.
Okay, kein guter Vorschlag.
Ich rief mir Claudes letzten Liebhaber ins Gedächtnis, den Rausschmeißer einer Striptease-Bar.
»Denk an Charles Bronson«, schlug ich vor. »Oder an,
äh, Edward James Olmos.« Und schließlich wurde ich mit dem Auflodern eines heißglühenden Blicks in diesen von langen Wimpern umrahmten Augen belohnt.
Man hätte meinen können, jetzt würde Claude mir jeden
Moment den langen, raschelnden Rock hochschieben,
mir das tiefausgeschnittene Mieder herunterreißen und
über mich herfallen, bis ich um Gnade flehte. Doch bedauerlicherweise – für mich und alle anderen Frauen in Louisiana – setzte Claude auf das andere Team. Vollbusige Blondinen entsprachen leider überhaupt nicht seinem Wunschtraum. Raubeinige, leicht grobe Männer mit Hang zum Grübeln und vielleicht noch einem Dreitagebart, das war es, was ihn anmachte.
»Maria-Star, geh mal hin und streich ihr das Haar zurück«, befahl Alfred Cumberland, der Fotograf, ein stämmiger Schwarzer mit graumeliertem Haar und Schnauzbart.
Schnell trat Maria-Star Cooper vor die Kamera und arrangierte eine Strähne neu, die sich aus meinem langen, blonden Haar gelöst hatte. Ich lag zurückgelehnt in Claudes rechtem Arm und klammerte mich mit der (für die Kamera unsichtbaren) linken Hand verzweifelt am Rückenteil seines schwarzen Gehrocks fest, während mein rechter Arm sanft auf seiner linken Schulter ruhte. Seine linke Hand lag an meiner Taille. Ich glaube, die Pose sollte wohl andeuten, dass er mich zu Boden gleiten lässt, um sich gleich über mich herzumachen.
Zu dem schwarzen Gehrock trug Claude schwarze Kniehosen, weiße Strümpfe und ein weißes Rüschenhemd. Ich trug ein langes blaues Kleid mit bauschigemRock und jeder Menge Unterröcken. Obenrum war das Kleid, wie schon erwähnt, ziemlich knapp, und die winzigen Ärmel hatten sie mir die Schultern hinuntergeschoben. Ich konnte von Glück sagen, dass es in dem Fotostudio einigermaßen warm war. Der große grelle Scheinwerfer, der aussah wie eine Satellitenschüssel, gab nicht so viel Hitze ab, wie ich erwartet hatte.
Al Cumberland drückte unablässig den Auslöser, während Claude mich mit glühenden Blicken anschmachtete.
Ich tat mein Bestes und schmachtete glühend zurück. Mein Privatleben war in den letzten Wochen, na, sagen wir mal: unterkühlt gewesen, und deshalb war ich durchaus bereit, ein bisschen zu glühen. Eigentlich hätte ich auch nichts dagegen gehabt, in Flammen zu stehen.
Maria-Star, eine wunderschöne junge Frau mit hellbrauner Haut und lockigen schwarzen Haaren, stand mit einem riesigen Schminkkoffer, Pinselchen und Kämmen für Reparaturen in allerletzter Minute parat. Als Claude und ich vorhin im Fotostudio ankamen,war ich ziemlich überrascht gewesen, dass ich die junge Assistentin des Fotografen kannte. Ich hatte Maria-Star zuletzt vor ein paar Wochen gesehen, als der neue Leitwolf von Shreveport bestimmt wurde.
Damals hatte ich allerdings kaum Gelegenheit gehabt,
sie genauer zu betrachten, denn der Wettkampf der Leitwolfkandidaten war furchteinflößend und blutig gewesen.
Heute war ich entspannter und sah, dass Maria-Star nach dem Unfall im Januar, als sie von einem Auto angefahren worden war, wieder vollständig genesen war. Bei Wer- wölfen heilen Wunden schnell.
Maria-Star erkannte mich ebenfalls, und ich war erleichtert, als sie zurücklächelte. Mein Ansehen beim Werwolfrudel von Shreveport hatte, gelinde gesagt, ziemlich gelitten.
Ohne es eigentlich zu wollen und völlig ahnungslos,
hatte ich mich auf Seiten des unterlegenen Leitwolf- kandidaten wiedergefunden. Der Sohn dieses Kandidaten, Alcide Herveaux, den ich mal für sehr viel mehr als nur einen guten Freund gehalten habe, fühlte sich während des Wettkampfs von mir im Stich gelassen; und der neue Leitwolf Patrick Furnan wusste von meinen Verbindungen zur Familie Herveaux. Ich war überrascht, dass Maria-Star gutgelaunt
mit mir plauderte, während sie mir in das Kostüm half und mein Haar bürstete. Sie trug mir mehr Make-up auf, als ich je in meinem Leben im Gesicht gehabt hatte, doch als ich in den Spiegel blickte, bedankte ichmich spontan bei ihr. Ich sah großartig aus, wenn auch ganz und gar nicht wie Sookie Stackhouse.
Wäre Claude nicht so stockschwul, hätte mein Aussehen
ihn sicher auch beeindruckt. Er ist der Brudermeiner Freundin Claudine und arbeitet als Stripper bei der Ladies’Night im Hooligans; der Club gehört ihm inzwischen. Claude ist so lecker, dass einem dasWasser im Mund zusammenläuft: 1,85 Meter groß, welliges schwarzes Haar, große braune Augen, klassische Nase und Lippen, die gerade voll genug sind. Er trägt die Haare lang, damit sie seine Ohren bedecken.
Denn die hat er operieren lassen, so dass sie oben abgerundet sind wie bei den Menschen und nicht mehr spitz zulaufend, wie sie von Geburt an waren. Wer ein bisschen was von Supranaturalen versteht, erkennt die Schönheitsoperation der Ohren sofort und weiß, dass Claude ein Elf ist. Und das meine ich nicht als Witz. Er ist wirklich ein Supra, ich meine, im wahrsten Sinn des Wortes: ein Übernatürlicher.
Claude ist ein Elf.
»Jetzt die Windmaschine«, ordnete Al an, und nach ein
wenig Hin- und Hergeschiebe schaltete Maria-Star den großen Ventilator an. Nun schienen wir in einem Sturm zu stehen. Mein Haar flatterte wie eine blonde Fahne hinter mir, Claudes Haar blieb allerdings, wo es war, im Pferde- schwanz zurückgebunden. Nach ein paar Aufnahmen dieser Szene löste Maria-Star Claudes Haar und drapierte es ihm über eine Schulter, damit es im Luftstrom nur auf einer Seite nach vorn wehte und so den perfekten Hintergrund für sein perfektes Profil bildete.
»Wunderbar«, sagteAl und drückte noch ein paarmal auf
den Auslöser. Maria-Star schob den Ventilator immer wieder an eine andere Stelle, so dass uns der stürmische Wind aus den verschiedensten Richtungen erfasste. Schließlich sagte Al zu mir, dass ich mich aufrichten könne. Dankbar streckte ich mich.
»Hoffentlich war das nicht zu anstrengend für deinen
Arm«, sagte ich zu Claude, der bereits wieder ganz cool und gelassen blickte.
»Nee, kein Problem. Gibt’s hier keinen Fruchtsaft?«, fragte er Maria-Star. Claude war nicht gerade für seine Umgangs- formen bekannt.
Die hübsche Werwölfin zeigte zu einem Kühlschrank in
der Ecke des Fotostudios. »Becher stehen obendrauf«, sagte sie zu Claude. Ihr Blick folgte ihm, und sie seufzte. Das taten Frauen häufig, nachdem sie mit Claude gesprochen hatten.
Und der Seufzer bedeutete immer: »Wie jammerschade.«
Maria-Star sah zu ihrem Boss hinüber, und da der noch
konzentriert an seiner Ausrüstung herumschraubte, drehte sie sich freundlich lächelnd zu mir herum. Auch wenn sie eine Werwölfin war, weshalb ihre Gedanken nur schwer zu lesen waren, erkannte ich, dass sie mir irgendwas erzählen wollte … und sie war nicht sicher, wie ich es aufnehmen würde.
Telepathie macht keinen Spaß. Die Selbstachtung leidet ganz schön, wenn man weiß, was andere von einem denken.
Und Gedankenlesen macht es fast unmöglich, mit ganz normalen Männern auszugehen. Denkt einfach mal
darüber nach. (Und vergesst nicht, dass ich es weiß – ob es ganz normale Männer sind oder nicht.)
»Alcide macht eine ziemlich schwere Zeit durch, seit
sein Vater den Wettkampf verloren hat«, begann Maria-
Star mit gesenkter Stimme. Claude war damit beschäftigt, sich selbst im Spiegel zu betrachten, während er Fruchtsaft trank. Al Cumberland hatte einen Anruf auf dem Handy erhalten und war in sein Büro verschwunden, um dort ungestört zu telefonieren.
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte ich. Da Jackson Herveaux von seinem Gegner getötet worden war, war es zu erwarten gewesen, dass sein Sohn mit einigen Höhen und Tiefen zu kämpfen haben würde. »Ich habe zum Gedenken eine Spende an den Tierschutzbund geschickt, und ich weiß, dass sie Alcide und Janice davon in Kenntnis setzen«, sagte ich. (Janice war Alcides jüngere Schwester und daher keine Werwölfin. Ich fragte mich, wie Alcide seiner Schwester eigentlich den Tod ihres Vaters erklärt
hatte.) Als Antwort hatte ich eine Karte mit vorgedruckter Danksagung erhalten, eine von der Sorte, wie Beerdigungsinstitute sie versenden, ohne jedes persönliche Wort.
»Nun …« Sie schien nicht in der Lage, auszusprechen,
was immer ihr auch im Halse steckte. Plötzlich erhaschte ich einen flüchtigen Eindruck davon. Schneidender Schmerz durchfuhr mich, und dann zog ich meine Schutz- barriere hoch und verbarrikadierte mich hinter meinem Stolz. Viel zu früh im Leben hatte ich lernen müssen, das zu tun.
Ich nahm eine Mappe mit Arbeitsproben von Alfred
zur Hand und begann darin zu blättern, obwohl ich kaum etwas von all den Brautpaaren, Bar-Mizwas, Erst- kommunionen und Silberhochzeiten darin sah. Dann klappte ich die Mappe wieder zu, legte sie zurück und versuchte ganz locker zu wirken, aber ich glaube, das hat nicht funktioniert.
Mit einem Lächeln, das ein müder Abklatsch von Maria-
Stars betont freundlicher Miene war, sagte ich: »Alcide und ich sind nie richtig zusammen gewesen, weißt du.«
Sicher, ich hatte Sehnsüchte und Hoffnungen gehabt, aber die waren nicht weit gediehen. Das Timing hatte nie gestimmt.
Maria-Stars Augen, die von einem viel helleren Braun
waren als Claudes,weiteten sich vor Ehrfurcht. Oderwar es Furcht?
»Ich habe schon gehört, dass du das kannst«, sagte
sie. »Aber es ist schwer zu glauben.«
»Ja«, erwiderte ich leicht genervt. »Nun, ich freue mich, dass du mit Alcide ausgehst, und ich habe kein Recht, was dagegen zu haben, selbstwenn es mich interessieren würde. Und das tut es nicht.«
Das sprudelte etwas zu hastig aus mir heraus (und entsprach auch nicht ganz der Wahrheit), aber
ich glaube, Maria-Star hat es schon richtig verstanden: Ich wollte mein Gesicht wahren.
Als ich in den Wochen nach dem Tod seines Vaters nichts von Alcide hörte, wusste ich, dass seine Gefühle für mich, wie immer sie auch ausgesehen hatten, erloschen waren.
Das war ein Schlag gewesen, aber kein tödlicher. Ganz ehrlich, ich hatte nichts von Alcide erwartet. Aber verflixt noch mal, ich mochte ihn, und es tut immer weh, wenn man feststellt, dass man einfach ausgewechselt wird. Immerhin hatte Alcide vor dem Tod seines Vaters noch vorgeschlagen, dass wir zusammenziehen sollten. Und jetztwar er mit dieser jungen hübschen Werwölfin hier zusammen, vielleicht planten sie sogar bereits, kleine Werwölfchen zu bekommen.
Ich verbot mir diese Art Gedanken sofort. Schäm dich!
Es ist total sinnlos, hier die Ziege zu spielen.Was auch, wenn ich drüber nachdachte, Maria-Star auf falsche Gedanken bringen konnte.
Schäm dich gleich doppelt!
»Ich hoffe, ihr seid sehr glücklich«, sagte ich.
Wortlos reichte sie mir eine andere Fotomappe, auf der augenblicke stand. Als ich sie aufschlug, bemerkte ich, dass die augenblicke nur Supras festhielten. Es waren Fotos von Zeremonien, die Menschen nie zu sehen bekamen…
ein Vampirpaar, das in aufwendigen Kostümen vor
einem riesigen Ankh-Kreuz posierte; ein junger Mann, der sich eben in einen Bären verwandelte, wahrscheinlich zum ersten Mal; die Aufnahme eines Werwolfrudels, dessen Mitglieder alle Wolfsgestalt angenommen hatten. Alfred Cumberland, der Fotograf des Übernatürlichen. Kein Wunder, dass er die erste Wahl für die Fotos gewesen war, mit denen Claude eine Karriere als Model für die Cover von Liebesromanen anzuschieben hoffte.
»Weiter geht’s«, rief Al, als er aus dem Büro eilte und sein Handy zuklappte.
»Maria-Star, wir sind gerade für eine Doppelhochzeit gebucht worden, irgendwo da draußen in der Gegend, wo Miss Stackhouse wohnt.«
Ich überlegte, ob er bei diesem Auftrag wohl normale Menschen oder übernatürliche Wesen fotografieren würde, aber es wäre unhöflich gewesen zu fragen.
Claude und ich kamen uns noch einmal ganz nahe. Ich
folgte Alfreds Anweisungen und raffte den Rock hoch, damitmeine Beine zu sehenwaren. In der Epoche, in der mein Kleid getragen wurde, hatten die Frauen ihre Beine sicher noch nicht gebräunt oder rasiert, und meine Haut war braun und glatt wie ein Kinderpopo. Aber hey, was soll’s.
Die Männer waren wahrscheinlich genauso wenig mit aufgeknöpftem Hemd durch die Gegend gelaufen.
»Heben Sie das Bein so hoch, als ob Sie’s gleich um ihn schlingen wollten«, kommandierte Al. »Also, Claude, das ist jetzt deine Chance zu glänzen. Du musst aussehen, als würdest du dir jede Sekunde die Hose herunterreißen. Wir wollen doch, dass die Leserinnen anfangen, schwer zu atmen, wenn sie dich ansehen!«
Claude wollte diese Fotos zu einer Mappe zusammenstellen und sie beim Wettbewerb zum »Romantischen Liebhaber« einreichen, der jedes Jahr von der Zeitschrift des Buchclubs »Romantische Zeiten« veranstaltet wurde.
Als er Al von seinen Plänen erzählte (soweit ich weiß, hatten sie sich auf einer Party kennen gelernt), riet der Fotograf ihm, sich mit dem Typ Frau aufnehmen zu lassen, der häufig auf den Umschlägen von Liebesromanen abgebildet ist. Er hatte dem Elf erklärt, dass sein dunkler Typ am besten zusammen mit einer blauäugigen Blondine zur Geltung kommen würde. Und ich war zufällig die einzige vollbusige blonde Frau in Claudes Bekanntenkreis, die bereit war, ihm umsonst zu helfen. Natürlich kannte Claude einige Stripperinnen, die es auch gemacht hätten; aber sie hätten erwartet, dafür bezahlt zu werden. Das hatte er mir mit seinem üblichen Feingefühl auf der Fahrt ins Fotostudio erzählt.
Er hätte diese Details genauso gut für sich behalten
undmir damit das gute Gefühl geben können, dass ich dem Bruder einer Freundin einen Gefallen tat – aber nein, in typischer Claude-Manier ließ er mich an seinem Wissen teilhaben.
»Okay, Claude, jetzt runter mit dem Hemd«, rief Alfred.
Claude war daran gewöhnt, zum Ausziehen aufgefordert
zu werden. Seine breite, unbehaarte Brust war beeindruckend muskulös, so dass er ohne Hemd tatsächlich sehr gut aussah. Bei mir regte sich gar nichts. Vielleicht wurde ich langsam immun.
»Rock, Bein«, erinnerte Alfred mich, und ich sagte mir, dass es einfach nur ein Job war. Al und Maria-Star verhielten sich ganz professionell und unpersönlich, und cooler als Claude konnte sowieso keiner sein. Aber ich war es nicht gewöhnt, vor anderen Leuten die Röcke zu raffen, und für
mich fühlte es sich wie eine ziemlich intime Sache an. Obwohl ich in Shorts genauso viel Bein zeigte, ohne je dabei rot zu werden, erschien mir das Raffen des langen Rocks doch irgendwie viel aufgeladener mit Sexualität. Ich biss die Zähne zusammen und legte den Stoff sorgfältig in Falten, damit ich ihn auch festhalten konnte.
»Miss Stackhouse, es soll so aussehen, als würde Ihnen das Spaß machen«, sagte Al. Er spähte hinter seiner Kamera hervor, die Stirn ziemlich unzufrieden gerunzelt.
Ich versuchte, nicht beleidigt zu sein. Schließlich hatte ich Claude versprochen, ihm einen Gefallen zu tun, und Gefallen sollten bereitwillig getan werden. Ich hob mein Bein so weit, dassmein Oberschenkel parallel zum Bodenwar, und streckte die nackte Fußspitze in einer, wie ich hoffte, graziösen Haltung nach unten. Dann legte ich beide Hände auf Claudes nackte Schultern und sah zu ihm auf. Seine Haut fühlte sichwarm und weich an – aber es war weder erotisch noch erregend.
»Sie wirken gelangweilt, Miss Stackhouse«, sagte Alfred.
»Sie sollen aussehen, als ob sie ihn gleich anspringen wollen.
Maria-Star, mach siemehr…mehr…«Seine Assistentin
schoss auf mich zu und zog die kleinen Puffärmel noch weiter über meine Schultern herunter. Sie war etwas zu eifrig bei der Sache, und ich war nur froh, dass das Mieder ziemlich stabil war.
Tatsache war, dass Claude den ganzen Tag lang wunder- schön und nackt dastehen könnte, ohne dass ich ihn begehren würde. Er ist ein mürrischer Typmit äußerst schlechtem Benehmen. Selbst wenn er hetero wäre, hätte ich nichts mit ihm anfangen können – daswarmir schon nach zehn Minuten in seiner Gesellschaft klar.
Wie Claude vorhin musste jetzt ich Zuflucht zu meiner
Fantasie nehmen.
Ich dachte an den Vampir Bill, meine erste große Liebe in jeder Hinsicht. Doch statt Lust verspürte ich nur Wut. Bill traf sich mit einer anderen Frau, und das schon seit ein paar Wochen.
Okay, dann vielleicht Eric, Bills Boss, der einstige Wikinger?
Mit dem Vampir Eric hatte ich im Januar einige Tage
lang mein Haus und mein Bett geteilt. Nein, bloß nicht, das war zu gefährlich. Eric kannte ein Geheimnis, das ich für den Rest meines Lebens verbergen wollte. Da er allerdings an Gedächtnisverlust gelitten hatte, während er bei mir zu Hause war, konnte er sich nicht daran erinnern, dass mein Geheimnis irgendwo in seinem Hirn schlummerte.
Und auch ein paar andere Gesichter kamen mir noch
in den Sinn – mein Boss Sam Merlotte, der Besitzer von Merlotte’s Bar. Nein, tu das nicht, stell dir nicht deinen Boss nackt vor, ganz schlechte Idee. Alcide Herveaux? Völlig ausgeschlossen, und erst recht nicht in Gegenwart seiner neuen Freundin … Okay, damit waren die realen Personen für meine Fantasien aufgebraucht; jetzt musste ich auf meine alten Lieblinge aus der fiktiven Welt zurückgreifen.
Aber Filmstars wirkten so langweilig, verglichen mit der übernatürlichen Welt, die ich kannte, seit Bill das erste Mal ins Merlotte’s gekommen war. Mein letztes irgendwie entfernt erotisches Erlebnis hatte – seltsamerweise – damit zu tun, dass eine blutende Wunde an meinem Bein abgeleckt wurde. Das war… beunruhigend gewesen. Aber sogar unter jenen ungewöhnlichen Umständen hatte sich tief in meinem Innern etwas geregt. Ich erinnerte mich, wie sich
Quinns kahler Kopf bewegt hatte, während er auf ganz intime Weise den blutenden Kratzer ableckte, der feste Griff seiner warmen Hände an meinem Bein…
»So geht’s«, sagte Alfred und drückte ein ums andere
Mal denAuslöser.Claude legte eineHandummeinen Oberschenkel, als er spürte, dass meine Muskeln von der Anstrengung, ihn hochzuhalten, zu zittern begannen. So hielt wieder ein Mann mein Bein fest. Claude hatte kräftig zugegriffen, um meinen Oberschenkel zu stützen. Was mir durchaus half, aber es war kein bisschen erotisch.
»Und jetzt ein paar Bettfotos«, sagte Al genau in dem
Augenblick, in dem ich es keine Sekunde länger aus- gehalten hätte.
»Nein«, antworteten Claude und ich im Duett.
»Aber das ist Teil des Auftrags«, erklärte Al. »Keine Angst, keiner muss sich ausziehen. Solche Fotos mache ich nicht.
Meine Frau würde mich umbringen. Ihr legt euch einfach beide so aufs Bett, wie ihr seid. Claude stützt sich auf einen Ellbogen und schaut auf Sie hinunter, Miss Stackhouse.«
»Nein«, erwiderte ich entschlossen. »Machen Sie ein paar Fotos von ihm, wie er allein im Wasser steht. Das wäre viel besser.«
In der einen Ecke des Fotostudios war so eine Art
künstlicher Teich, und Fotos von einem scheinbar nackten Claude, dem das Wasser von der Brust tropfte, würden höchst anziehend wirken (jedenfalls auf jede Frau, die ihm noch nie begegnet war).
»Was meinst du, Claude?«, fragte Al.
Jetzt brach sich Claudes Narzissmus Bahn. »Ich glaube, das wäre großartig, Al«, sagte er und versuchte, nicht zu begeistert zu klingen.
Ich ging schon auf den Umkleideraum zu, ich konnte es
kaum erwarten, aus diesem Kostüm herauszukommen und
wiedermeine guten alten Jeans überzustreifen. Ich sah mich nach einer Uhr um. Um halb sechs begannmeine Schicht im Merlotte’s, und vorher musste ich noch nach Bon Temps zurück, meine Kellnerinnenuniform von zu Hause holen und wieder zur Bar fahren.
»Danke, Sookie«, rief Claude mir hinterher.
»Gern, Claude. Und viel Glück bei diesem Wettbewerb.«
Doch er bewunderte sich schon wieder im Spiegel.
Maria-Star brachte mich hinaus. »Tschüs, Sookie. Schön, dass wir uns mal wieder getroffen haben.«
»Find ich auch«, log ich. Und obwohl sie die verwickelte rote Gedankenwelt einer Werwölfin hatte, konnte ich erkennen, dass Maria-Star nicht verstand, warum ich Alcide einfach so aufgab. Schließlich sah der Werwolf auf robuste Art sehr gut aus, war ein unterhaltsamer Freund und ein heißblütiger Mann aus der heterosexuellen Liga. Und noch dazu besaß er jetzt eine eigene Baufirma und war ein wohlhabender Mann.
Eine Frage schoss mir durch den Kopf, und ehe ich nachgedacht hatte, sprach ich sie auch schon aus. »Wird eigentlich noch nach Debbie Pelt gesucht?«, fragte ich, geradeso wie jemand, der in einer Wunde bohrt. Debbie war Alcides Langzeitfreundin gewesen, auchwenn sich die beiden zwischendurch immer mal wieder getrennt hatten. Sie war ein echtes Miststück gewesen.
»Nicht mehr von denselben Leuten«, sagte Maria-Star.
IhreMiene verdüsterte sich. Maria-Star dachte genauso ungern an Debbie wie ich,wenn auch aus völlig anderen Gründen.
»Die von den Pelts angeheuerten Privatdetektive haben
den Fall aufgegeben; sie sagten, sie würden die Familie nur schröpfen, wenn sie noch weitermachen. Das habe ich jedenfalls gehört. Und die Polizei gibt es zwar nicht zu, aber sie hat auch einen toten Punkt erreicht. Ich bin den Pelts nur einmal begegnet, als sie kurz nach Debbies Verschwinden nach Shreveport kamen. Eine wirklich wilde Familie.« Ich blinzelte verwirrt. Das war ein ziemlich hartes Urteil, vor allem von einer Werwölfin.
»Sandra, die andere Tochter, ist die schlimmste. Sie hat Debbie sehr gern gehabt, und nur ihretwegen heuern die Pelts noch immer irgendwelche seltsamen Leute in der Sache an. Ich glaube ja, dass Debbie entführt wurde. Oder vielleicht hat sie sich umgebracht. Als Alcide sich von ihr losgesagt hat, ist sie wahrscheinlich durchgedreht.«
»Vielleicht«, murmelte ich ohne große Überzeugung.
»So ist er besser dran. Ich hoffe, sie taucht nie wieder auf«, sagte Maria-Star.
Ich war derselben Meinung wie Maria-Star, nur dass ich im Gegensatz zu ihr ganz genau wusste, was Debbie zu- gestoßen war; und das war es auch, was zwischen Alcide und mir stand und uns getrennt hatte.
»Ich hoffe, er sieht sie nie wieder«, bekräftigte Maria-Star.
Ihr hübsches Gesicht war düster und zeigte einen Anflug ihrer eigenen wilden Seite.
Alcide mochte sich ja vielleicht mit Maria-Star treffen, aber er hatte sich ihr nicht vollständig anvertraut. Alcide wusste, dass er Debbie nie wiedersehen würde. Und das war meine Schuld.
Ich habe sie nämlich erschossen.
Ich habe mehr oder weniger meinen Frieden mit dieser
Tat gemacht, aber an die schiere Tatsache muss ich immer wieder denken. Es ist unmöglich, jemanden zu töten und nach einer solchen Tat weiterzumachen wie vorher. Die Konsequenzen verändern dein Leben.


Copyright © Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Impressum

Texte: Deutscher Taschenbuch Verlag ISBN: 978-3423209878
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Leseprobe

Nächste Seite
Seite 1 /