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Für Julia, Rachel, Kathryn
und vor allem John, möge er ein hohes Alter erreichen.




Sie nehme sich ihn zum Hüter und Beobachter im Geheimen, nicht allein ihrer Taten, vielmehr auch ihres Gewissens …
Und sie betrage sich immerfort so, dass seine Seele
keinen Grund zum Zorne habe und Vergeltung übe für ihre Unziemlichkeit.



Über das geziemende Betragen einer Witwe
gegen ihren Gemahl Juan Luis Vives,
De institutione feminae christianae,


gewidmet Katharina von Aragón, 1523




Teil eins Geist




1


Sarah McConnells Ehemann war seit drei Monaten tot, als sie ihn im Supermarkt sah. Er stand am Ende des Gangs mit den Saisonartikeln, wo er unentschlossen die Auswahl an Plastikkürbissen musterte, hob plötzlich den Kopf und blickte ihr einen Moment lang direkt in die Augen. In seinem unveränderten Gesicht blitzte ein so seltsames Gemisch von Sehnsucht und Zaudern auf, dass sie am liebsten sofort zu ihm gerannt wäre und sich in sein unvergessliches grünes Flanellhemd gekuschelt hätte. Doch dann überfi el sie ein so kaltes Grauen, dass sie nur stumm und starr mit hämmerndem Herzen dastehen konnte. Und sie hatte kaum wieder Luft geholt, da war er auch schon um die Ecke des Gangs gebogen und verschwunden.
Sie hörte den brüchigen Schrei, ehe ihr klar wurde, dass sie selbst es war, die da rief: »David! Warte!« Dann ließ sie einfach ihren Einkaufswagen stehen und rannte so schnell hinter ihm her, dass ihre Handtasche gegen ihren Oberschenkel schlug.
Als sie ganz hinten links abbog, sah sie nichts als eine Regalwand voll Milch und Eier und davor die Gesichter argwöhnischer Fremder. Wie getrieben lief sie von einem Gang zum nächsten, sah in jeden hinein und fand nichts, nichts und wieder nichts. Sie eilte zur Frontseite des Supermarkts und suchte von der anderen Richtung aus weiter, ließ den Blick nach links in die Gänge hinein- schweifen und nach rechts auf die Schlangen an den Kassen. Noch nie waren ihr die Reihen von Papiertüchern, eingemachten Früchten und Frühstücksfl ocken so schreiend bunt erschienen. Die Logos der Verpackungen überblendeten ihre verwirrten Gedanken.
Sie rannte auf den Parkplatz hinaus und rief erneut laut nach David. Doch unter der Handvoll Leute, die ihre Autos aufschlossen und ihre Einkäufe im Kofferraum verstauten, war nirgends ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters in Jeans und grünem Flanellhemd zu entdecken.
Als Sarah wieder in den Supermarkt zurücklief, trat der Filialleiter aus seiner erhöht gelegenen Arbeitskabine. Das alles hatte er schon oft erlebt, schien sein auf- gesetztes Lächeln zu versichern. Offenbar wieder eine Mutter, die gleich in Panik geriet, weil ihr Kind weg war. Mit einem kleinen Suchtrupp würde er den Streuner, der vermutlich bloß die Hummer im Lebendbecken anstarrte oder sich hinter einem Turm von Konservendosen versteckte, schon wieder auftreiben.
»Haben Sie jemanden verloren?«
Die Worte klangen nach in Sarahs Gedanken.
»Ja.« Sie hatte jemanden verloren.
»Wie sieht er aus?«
Ihre dunklen Augen blickten immer noch suchend umher.
Sie hatte den unbestimmten Eindruck, dass sie David aufhalten könnte, wenn sie nur in der Nähe der Eingangs- tür bliebe.
»Er trug seine Yankees-Baseballkappe.«
»Wie heißt er?«
»David.«
»Wie alt ist er?«
»Dreiundvierzig.«
Das Lächeln des Filialleiters schwand. »Dreiundvierzig?«
Sarah ließ den Blick nicht länger schweifen und musterte jetzt den Mann. Seine pechschwarze Krawatte fi el ihr auf, sein rot-weiß-blaues Namensschild und seine Ungeduld.
»Er ist mein Ehemann.«
Es war beinah komisch, wie rasant die Freundlichkeit aus dem Gesicht des Mannes wich. In seinen Augen war sie nicht länger eine reizende junge Mutter, die einen starken Arm brauchte. Jetzt war sie bloß noch eine dieser lautstark jammernden Verrückten, eine Frau mittleren Alters mit verstörter Miene, deren braunes Haar sich aus den silbrigen Haarspangen löste.
»Soll ich ihn ausrufen lassen?« Die Worte klangen eher abschätzig als fragend. In Gedanken saß der Filialleiter anscheinend längst wieder vor seinem Computer- bildschirm.
Wollte sie wirklich am Serviceschalter für Kunden warten, während jemand ihren toten Ehemann ausrief, fragte sich Sarah, und allmählich begann ihre Hysterie zu versiegen.
Warum war sie überhaupt hier? Was machte sie an diesem Ort?
»Schon gut.«
Sie wollte nur noch weg, zurück in die Ruhe und Geborgen- heit ihres Zuhauses.
Als sie wieder auf den Parkplatz trat, bemerkte sie, wie fahl der Himmel geworden war. Die Ahornblätter, die noch vor zwei Wochen so feuerrot geleuchtet hatten, waren welk und fielen zu Boden wie Asche. Der Oktoberwind fuhr eisig durch die Maschen ihres Pullovers, als sie über das Gelände zu ihrem Auto eilte.
Sie stieg in ihren alten Volvo, zog die Tür zu, schnallte sich an und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Und dann sank sie in den Sitz zurück, schloss die Augen und begann leise, ganz leise, zu weinen.

2



»Ich habe David heute gesehen.«
Sarah saß in der Küche ihrer Nachbarin und fuhr mit der Fingerspitze am Rand eines leeren Kaffeebechers entlang.
Margaret Blake, eine große Engländerin mit kurzem grauem Haar, beugte sich über den Herd und tauchte ein silbernes Tee-Ei in eine blaue Teekanne. Sarah hatte sich gefragt, ob Margaret bei ihren Worten wohl zusammen- zucken oder den Kopf herumdrehen würde. Doch sie konnte nicht das geringste Zögern erkennen, als ihre Freundin die Hand nach dem wattierten Teewärmer ausstreckte.
In den drei Jahren, seit auch Margarets jüngere Tochter aufs College ging, war das Teetrinken am Freitag- nachmittag für die beiden Frauen zu einem Ritual geworden. Es war die Zeit, in der man über Gartenarbeit und Politik reden und über Präsidenten und Premier- minister schimpfen konnte.
Und es war die Zeit, in der man trauern konnte, denn
auch Margaret war Witwe. Vor fünf Jahren hatte sie ihren Ehemann tot im Garten aufgefunden, inmitten eines Haufens herausgeschnittener Holzapfelbaumzweige. Wie zu einem Jahrestag blühte dieser Baum nun seit fünf Jahren jeden Frühling erneut auf, und jedes Mal wieder fragte Sarah sich, was Ethan Blake, einen Mann mit einem bekanntlich schwachen Herzen, dazu getrieben hatte, plötzlich mit dem Beschneiden des Baums zu beginnen. Hatte er gespürt, dass an diesem Tag ein alter Zweig abgeschnitten werden musste?
Dass etwas zu Ende gehen würde?
Bis dahin hatte Ethan die Gartenarbeit auf gelegentliches Rasenmähen am Nachmittag beschränkt. Sarah sah immer noch vor sich, wie ihm seine Brille mit dem Metallgestell auf der verschwitzten Nase hinunterrutschte, während er den Rasenmäher vor sich her und um die Flieder- und Forsythienbüsche herumschob.
Von ihrem Platz am Küchentisch hatte Sarah einen guten Blick auf die kleine Gedenkstätte, die Margaret auf dem Kaminsims im Wohnzimmer errichtet hatte. Rechts und links standen Bilder der beiden Töchter, einundzwanzig und vierundzwanzig Jahre alt, fröhliche Zeugnisse der Jugend und Gesundheit. Und dazwischen in einem Ebenholz- rahmen ein Foto, auf dem strahlender Sonnenschein durch die Äste eines Holzapfelbaums brach.
Sarah war eine der wenigen, die die ganze Bedeutung
dieses Bildes verstanden. An jenem Frühlingsnachmittag war Margaret nach Hause gekommen und hatte ihren Ehemann so friedlich auf dem Rücken liegend und den leblosen Blick in die strahlende Sonne gerichtet vor- gefunden, dass sie sich neben ihn legte – um auch hinaufzuschauen durch die Zweige des Holzapfelbaums und zu sehen, was er in den letzten Minuten seines Lebens gesehen hatte. Und als sie dort lag, die abgeschnittenen Zweige zwischen den Schulterblättern und Ethans Hand an der ihren, war Margaret so überwältigt gewesen von den leuchtend blauen Himmelsfetzen, die wie Glassplitter durch die rosa Blüten und die dunklen Zweige schimmerten, dass sie noch einmal mit ihrem Fotoapparat in den Garten hinausgegangen war, nachdem sie im Haus den Notarzt angerufen hatte. Und dort stand es jetzt, das Ergebnis, auf dem Kaminsims im Wohnzimmer, ein Triptychon, das an den Anfang und das Ende des Lebens gemahnte.
Es muss irgendwas Englisches sein, dachte Sarah, dieser Pragmatismus im Angesicht des Todes. Margaret Blake war keine Frau, die sich von der Erscheinung eines Toten in einem Supermarkt verstören ließ.
»Wo hast du ihn gesehen?« Margaret drehte sich um und
trug die Teekanne zum Tisch.
»Bei Food Lion.«
»Ich dachte, du kaufst bei Safeway ein.«
Sarah lächelte. Typisch Margaret, das Morbide ins Profane zu wenden.
»Ich hatte am anderen Ende der Stadt ein paar Dinge zu erledigen.«
Gott sei Dank war ihr das nicht bei Safeway passiert. In Jackson, Virginia, lebten achttausend Einwohner, und wann immer Sarah in diesem Supermarkt einkaufte, traf sie Kollegen aus dem Institut für Englische Philologie am College oder ehemalige Patienten von David. Sogar die Gesichter der Angestellten, die den Kunden an der Kasse die Tüten einpackten, waren ihr vertraut – das junge Mädchen mit Downsyndrom, der Mann mit dem schwarzen Ohrring.
Sarah hätte den Leuten wochenlang aus dem Weg gehen
müssen, wenn diese miterlebt hätten, was sie selbst inzwischen schon ihren »Vorfall« nannte.
Margaret schenkte zwei Becher Earl Grey ein. Sie stellte die Teekanne auf eine gefaltete Leinenserviette und reichte Sarah einen kleinen blauen Milchkrug, der mit Ansichten der Kathedrale von Canterbury verziert war. Solche Andenken
brachten Freunde Margaret immer wieder aus dem Urlaub in Europa mit, als ob ausgerechnet eine Atheistin aus Manchester nostalgische Gefühle für Thomas Becket hegen würde.
»Ich habe Ethan nach seinem Tod überall gesehen.« Margaret umfasste ihren Becher mit beiden Händen. »In Menschenmengen, im Straßenverkehr. Und wenn ich ihn in einem vorbeifahrenden Auto entdeckt habe, bin ich wie eine Verrückte hinterhergerast. Aber dringesessen hat immer ein anderer.«
Sarah nickte. Die ersten Wochen ihrer Witwenschaft waren voller Täuschungen dieser Art gewesen. Jedes Mal wenn sie an einem Mann von Davids Statur und Haarfarbe vorbeiging, blitzte in ihr ein Wiedererkennen auf, das dann unweigerlich vom Gesicht eines Fremden Lügen gestraft wurde.
»Aber diesmal war’s anders. Diesmal habe ich sein Hemd und seine Yankees-Kappe wiedererkannt. Und er hat mich direkt angesehen.«
»Und was ist passiert?«
»Er ist verschwunden.«
»Oh.«
Margaret stellte ihren Becher ab, richtete den Blick auf die Zuckerdose und zerstach mit ihrem Teelöffel die harten Klümpchen darin. Mit jedem Knirschen des Silber- löffelchens wuchs Sarahs Anspannung ein wenig mehr. Was musste sie sagen, um ein zustimmendes Nicken zu bekommen?
Ihr fiel nur der immer gleiche Refrain ein, die Worte, die sie nun schon seit drei Monaten wiederholte.
»Sie haben seine Leiche immer noch nicht gefunden.«
Und jetzt zögerte Margaret doch, gerade lang genug, um Sarah in die Augen zu sehen. »Sie werden sie finden.«


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Texte: Deutscher Taschenbuch Verlag ISBN: 978-3423247856
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2010

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