Leseprobe
EINS
Als der Hubschrauber nach Norden abdrehte und hinter der Hügelkuppe verschwand, trat Parker unter dem Baum hervor, wo er gewartet hatte, und stieg weiter bergauf. Was immer auf der anderen Seite dieses Hügels sein mochte, war auf jeden Fall besser als die Hunde, die im Talgrund hinter ihm bellten, unruhig herumrannten, an ihren Leinen zerrten, seinen Geruch aufnahmen und den Berg hinauf- wollten. Er konnte den Fuß des Hügels mit den Polizei- wagen, die rings um den gemieteten Dodge, den er an dem Schnellimbiss stehengelassen hatte, nicht mehr sehen, aber das brauchte er auch nicht. Das aufgeregte Jaulen der Hunde reichte vollkommen.
Wie hoch war dieser Hügel? Parker war nicht für eine
Wanderung an einem Oktobermittag in bergigem Gelände
gekleidet; seine Straßenschuhe rutschten auf dem Laub, und sein Jackett bauschte sich, als er sich von Baumstamm zu Baumstamm nach oben hangelte. Doch er musste den Vorsprung vor den Hunden halten und darauf hoffen, dass er, wenn es irgendwann endlich wieder bergab ging, ein gutes Versteck oder irgend etwas Brauchbares fand.
Wieweit noch bis zum Gipfel? Er hielt, an die rauhe Borke eines Baums gelehnt, inne und hob den Blick, und fünf Meter über ihm stand zwischen den dünnen Stämmen der nachwachsenden Bäume ein Mann. Die Nachmittagssonne hing links von Parker, der Himmel hinter dem Mann ein blasses Oktobergrau, der Mann selbst nur eine Silhouette. Mit einem Gewehr.
Kein Bulle. Allein. Ein Mann, der da stand, auf Parker hinunterblickte, dieselben Hunde hörte wie Parker und das Gewehr entspannt und schräg nach oben gerichtet vor der Brust hielt. Parker senkte den Blick wieder, griff nach dem nächsten Baum und zog sich hinauf.
Es dauerte drei, vier Minuten, bis er auf gleicher Höhe mit dem Mann war. Der trat einen Schritt zurück und sagte: »Das reicht. Genau da.«
»Ich muss weiter«, sagte Parker, blieb aber stehen und wünschte, seine Schuhe gäben ihm auf dem dürren Laub einen besseren Halt.
Der Mann sagte: »Sind Sie einer von diesen Bankräubern, von denen ich im Fernsehen gehört hab? Die drüben in Massachusetts die Bank leergeräumt haben?«
Parker sagte nichts. Wenn das Gewehr sich bewegte,
würde er reagieren müssen.
Der Mann musterte ihn, und ein paar Sekunden lang betrachteten sie einander. Der Mann war etwa fünfzig und trug eine rote Jagdjacke aus Leder mit vielen Taschen, ausgebleichte Blue Jeans und schwarze Stiefel. Der Schirm einer rot-schwarzen Flanellmütze beschattete die Augen. Neben ihm lag ein grauer, halbgefüllter Segeltuchsack mit braunen Ledergriffen.
Bei näherem Hinsehen erkannte man eine Anspannung in
dem Mann, die ein Teil von ihm zu sein schien und nicht daher stammte, dass er im Wald einem Mann auf der Flucht begegnet war. Seine Hände umklammerten das Gewehr, und in seinen Augen war eine Bitterkeit, als hätte ihn einmal irgend etwas verletzt und als wäre er entschlossen, so etwas nicht noch einmal hinzunehmen.
Er schüttelte den Kopf und zog, ungeduldig angesichts des Schweigens, die Mundwinkel nach unten. »Ich frage nur«, sagte er, »weil ich, als ich Sie und dann die Hunde gehört hab, gedacht habe, wenn Sie einer von denen sind, will ich mit Ihnen reden.«
Er zuckte zutiefst pessimistisch die Schultern.
»Wenn nicht, können Sie hier stehenbleiben und die
Hunde streicheln.«
»Ich hab’s nicht dabei«, sagte Parker.
Überrascht sagte der Mann: »Nein, wohl kaum. War ja
auch ’ne Lastwagenladung Geld, nicht?«
»So ungefähr.«
Der Mann sah den Hügel hinunter. Die Hunde waren noch
nicht in Sicht, aber man konnte sie hören, immer wilder und aufgeregter, nur zurückgehalten durch die Unbeholfenheit ihrer Führer, die sich bergauf mühten.
»Heute könnte Ihr Glückstag sein«, sagte er, »und meiner auch.«
Wieder eine verdrießliche Miene.
»Ich könnte mal einen gebrauchen.«
Er bückte sich, hob den Segeltuchsack auf und sagte: »Ich hab mir was für den Kochtopf geschossen. Mein Wagen steht dahinten.«
Parker folgte ihm das kurze Stück bis zum Hügelrücken, wo der Wald sich lichtete. In einer kleinen Baumgruppe stand auf einem kaum sichtbaren Weg ein schwarzer Ford- Geländewagen.
»’n alter Forstweg«, sagte der Mann, öffnete die Hecktür des Wagens und legte den Sack und das Gewehr hinein.
»Ist besser, wenn Sie vorn sitzen.«
»Klar.«
Parker setzte sich auf den Beifahrersitz, während der
Mann von der anderen Seite einstieg. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Er startete den Wagen und fuhr den bewaldeten Nordhang auf einem Weg hinunter, der meist nur daran zu erkennen war, dass dort keine Bäume standen.
Ohne die Augen von dem Weg zu nehmen, der sich vor
ihnen den Hügel hinunterwand, sagte der Mann: »Ich bin Tom Lindahl. Und wie soll ich Sie nennen?«
»Ed«, beschloss Parker.
»Haben Sie irgendwelche Waffen dabei, Ed?«
»Nein.«
»Die haben hier überall Straßensperren errichtet.«
»Ich weiß.«
»Ich meine, wenn Sie glauben, Sie könnten mir eins überziehen und mir den Wagen klauen, wäre Ihre Fahrt nach zehn Minuten zu Ende.«
»Können Sie die Straßensperren umgehen?« fragte Parker.
»Bis zu mir sind’s bloß ein paar Kilometer«, sagte Lindahl.
»Wirwerden keinem begegnen. Ich kenne mich hier aus.«
»Gut.«
Parker blickte an Lindahls verdrießlichem Gesicht vorbei nach links. Zwischen den Bäumen konnte er jetzt unterhalb von ihnen eine zweispurige asphaltierte Straße sehen, die parallel zu dem Forstweg verlief. Dort unten fuhr ein roter
Pick-up, allerdings in die andere Richtung, nämlich bergauf.
Parker sagte: »Können die uns von da unten sehen?«
»Spielt keine Rolle.«
»Die mit den Hunden werden in fünf Minuten auf dem
Kamm sein«, sagte Parker.
»Wenn sie den Weg sehen, werden sie sich zusammen- reimen, dass ich mit einem Wagen weggefahren
bin.«
»Wir sind bald da«, sagte Lindahl und lachte unvermittelt.
Es war ein rostiges Geräusch, als würde er sonst nicht oft lachen.
»Wegen Ihnen bin ich überhaupt hier rausgefahren«,
sagte er.
»Ach ja?«
»Im Fernsehen reden sie bloß noch von diesem Bankraub, von dem ganzen Geld, das weg ist – ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Ich dachte: Diese Burschen lassen sich nicht herumschubsen. Diese Burschen haben keine Angst vor ihrem eigenen Schatten, die gehen hin und erledigen, was erledigt werden muss. Ich hatte eine solche Wut auf mich selbst – ich bin ein Feigling, das sag ich Ihnen lieber gleich –, dass ich einfach das Gewehr nehmen und hier raus- fahren musste. Die beiden Kaninchen dahinten kamen mir weiß Gott gelegen, aber wirklich gebraucht hab ich sie im Moment eigentlich nicht. Ich bin wegen Ihnen hier rausgefahren.«
Parker betrachtete sein Profil. Wenn er sprach, machte Lindahl einen etwas weniger verbitterten Eindruck. Was immer an ihm nagte, tat offenbar mehr weh, wenn er es für sich behielt.
Lindahl warf ihm einen kurzen Blick zu. Sein Gesichts- ausdruck war jetzt beinahe fröhlich.
»Und da sind Sie«, sagte er.
»Und aus der Nähe, muss ich sagen, sehen Sie nicht gerade aus wie einer, der viel auf der Pfanne hat.«
Er lenkte nach links ein steiles Gefälle hinunter, an dessen Ende derWeg in die Straße mündete.
ZWEI
Der Name auf dem Ortsschild lautete Pooley, und es war ein Nest. An einer kleinen Kreuzung standen Blinklichter, die in zwei Richtungen gelb und in die beiden anderen Richtungen rot leuchteten. An der Ecke befanden sich eine Tankstelle, eine geschlossene Bankfiliale, eine geschlos- sene Kneipe und ein geschlossenes Sportgeschäft. Entlang der beiden schmalen Straßen der Stadt standen etwa zwanzig Häuser – drei oder vier davon waren mit Brettern vernagelt, die meisten anderen heruntergekommen. Auf einer Veranda saß ein alter
Mann in einem Schaukelstuhl und schlief, und ein Stück weiter kniete eine alte Frau in ihrem Vorgarten.
Lindahl fuhr geradeaus über die Kreuzung und bog kurz
danach rechts in eine gekieste Einfahrt neben einem der vernagelten Häuser ein. Hinter dem Haus stand am Ende des Grundstücks eine für drei Wagen vorgesehene und mit braunen Schindeln verkleidete Garage, die zu einer Wohnung umgebaut worden war. Lindahl hielt an.
»Gehen Sie rein«, sagte er. »Die Tür ist offen. Ich kümmere mich um die Kaninchen.«
Parker stieg aus dem Ford und ging zu dem mittleren
Garagentor, aus dem eine behelfsmäßige Haustür konstruiert worden war. Daneben befand sich ein Doppelschiebefenster, das von innen mit einer Jalousie verschlossen war.
Er stieß die Tür auf und trat in das trübe beleuchtete Innere. Es roch ein wenig wie in einer Höhle: alter Schmutz, gemischt mit irgendeinem Tiergeruch. Dann bemerkte er den Papagei in dem großen Käfig auf dem Fernseher. Auch der Papagei sah ihn und drehte den grünen Kopf von einer Seite zur anderen, sagte jedoch nichts, sondern gab nur einen leisen, gurgelnden Ton von sich und hob wiegend die Füße von der Stange. Die Zeitung auf dem Boden des Käfigs war nicht neu.
Der Rest des Wohnzimmers wirkte ziemlich normal, aber
schäbig – es war mit alten, verschlissenen Möbeln ausgestattet.
Der Fernseher lief mit abgeschaltetem Ton und zeigte
Werbung für ein Mittel gegen Sodbrennen.
Der Grund für Lindahls Wut war Geldmangel. Es war nicht gerecht, dass er bedürftig war, dass er in einer solchen Umgebung leben und Kaninchen schießen musste, um etwas im Topf zu haben. Die Nachrichten von dem großen Bankraub hatten ihn mit Wut, Depressionen und Selbsthass erfüllt; er hätte etwas unternehmen müssen, um an das Geld zu kommen, das ihm, wie er fand, rechtmäßig zustand, doch er hatte nichts unternommen. Und jetzt glaubte er, dass es helfen würde, mit einem Bankräuber zu reden.
Die nächsten fünf Minuten verbrachte Parker damit, sich ein wenig umzusehen: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad, Küche, Abstellkammer mit Ölofen. In einer Wandhalterung im Schlafzimmer waren drei weitere Gewehre fest- geschlossen, doch Parker fand keine Pistolen. Lindahl lebte allein und schien nicht viel Kontakt mit anderen zu haben. Er hatte ein Konto mit zweihundertdreiundsiebzig Dollar, schrieb ausschließlich Schecks für laufende Ausgaben wie Telefon und Strom aus und hob Geld am Automaten ab. Ein monatlicher Zahlungseingang in Höhe von siebzehn- hundertsechsundfünfzig Dollar trug den Vermerk »Ber.unf.«. Berufsunfähigkeitsrente?
Lindahl würde ihm sagen, warum er mit einem Bankräuber lieber reden als ihn der Polizei ausliefern wollte. Was auch immer der Grund sein mochte – im Augenblick brauchte Parker ihn. Seine einzigen Papiere waren jetzt, da der Wagen, den er damit gemietet hatte, der Polizei in die Hände gefallen war, nutzlos. In den nächsten Tagen würde es in dieser Gegend unmöglich sein, irgendwohin zu fahren oder auch nur zu gehen, ohne hin und wieder einen Ausweis vorzeigen zu müssen.
Als Lindahl mit dem Gewehr und zwei weißen Plastiktüten in den Händen eintrat, saß Parker in dem Sessel, der nicht dem Fernseher zugewandt war, und blätterte in dem örtlichen Käseblatt von gestern. Nach den Überschriften zu urteilen gab es hier keine großen Städte, nur kleinere Ortschaften.
Parker sah zur Tür, und Lindahl sagte: »Ich räume nur
schnell das hier weg und wasche mir die Hände«, und ging weiter in die Küche. Parker hörte Wasser laufen, dann kehrte Lindahl mit dem Gewehr zurück, das er locker in der Hand hielt.
»Nur das noch«, sagte er und ging ins Schlafzimmer.
Parker hörte das Klicken, mit dem das Gewehr in der Wandhalterung festgeschlossen wurde.
Jetzt endlich kam Lindahl ins Wohnzimmer und setzte
sich auf die linke Seite des Sofas.
»Ich hab nachgedacht, wie ich es Ihnen sagen soll«, begann er.
»Ich bin’s nicht mehr gewöhnt, mit Leuten zu reden.«
Er hielt inne und sah Parker an, als warte er auf eine Antwort, doch Parker sagte nichts. Also verzog Lindahl das Gesicht zu seinem säuerlichen Lächeln und sagte: »Bei Ihnen ist es wahrscheinlich genauso.«
»Sie wollen mir etwas sagen.«
»Ich bin ein Petzer«, sagte Lindahl, als hätte er das ursprünglich mit sehr viel mehr Worten sagen wollen.
»Meine Frau hat gesagt, ich sollte das nicht tun, sie hat gesagt, ich würde alles verlieren, auch sie, und sie hat recht gehabt. Aber ich bin eben stur.«
»Undwo haben Sie gepetzt?«
»Ich hab zweiundzwanzig Jahre auf einer Rennbahn in
Richtung Syracuse gearbeitet«, sagte Lindahl.
»Das Ding hieß Gro-More – nach einer Futtermittelfirma, die vor vierzig Jahren pleite gegangen ist. Den Namen haben sie beibehalten.«
»Sie haben gepetzt.«
»Ich war Technischer Direktor, verantwortlich für die Infrastruktur, den Zustand der Gebäude, der Tribüne und der Bahn. Ich hab Leute eingestellt, Aufträge vergeben. Mit dem Geld hatte ich nichts zu tun.«
»Was war’s dann«, sagte Parker, »wovon Sie nichts wissen sollten?«
»Ich hätte nicht davon wissen müssen.«
Lindahl schüttelte den Kopf und begann zu erklären. »Es war eine saubere Rennbahn«, sagte er. »Wir alle, alle, die da gearbeitet haben, waren froh, dass es eine saubere Rennbahn war. Eine Rennbahn kann auf tausend Arten schmutzig sein, aber nur auf eine Art sauber, und als ich rausfand, was die mit dem Geld angestellt haben, tat das richtig weh. Es war, als hätten sie einem aus meiner Familie was Schmutziges angetan.«
Das Bemühen, seine Motive zu erklären, vertiefte die
Falten in seinem Gesicht. Er hielt inne, machte eine wegwischende Gebärde und sagte: »Ich brauche ein Bier. Ohne ein Bier kann ich Ihnen das nicht erzählen.«
Er stand auf und fragte: »Sie auch?«
»Nein, aber holen Sie sich ruhig eins.«
Das tat Lindahl, und als er wieder auf dem Sofa saß, fuhr er fort: »Die haben also folgendes gemacht: Sie haben illegale Wahlkampfspenden für Politiker aus diesem Bundesstaat versteckt und durch die Rennbahn geschleust. Gewaschen sozusagen.«
»Wie hat das funktioniert?« fragte Parker.
»Einer geht zur Rennbahn und setzt bei jedem Rennen
tausend Dollar auf einen krassen Außenseiter. Auf die Art und Weise lässt er an einem Tag achttausend Dollar da. An einem Tag. Das Geld bleibt im System, weil er mit seiner Kreditkarte bezahlt, aber ein ganzer Haufen kleiner Wetten, die andere Leute gemacht haben, verschwindet. Wetten, die mit Bargeld bezahlt worden sind. Der Typ hat die achttausend also nicht dem Politiker gegeben, sondern auf der Rennbahn verzockt, aber kurz darauf taucht das Geld in der Tasche von dem Politiker auf.«
»Die Pferde haben’s ihm gespendet.«
»So ungefähr«, nickte Lindahl. »Als ich das erfahren hab, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Bei uns gab’s kein Doping, keine Absprachen, keine vertauschten Pferde, keine Mafia – und dann das. Ich hab mit einem der Chefs gesprochen, aber der sah kein Problem. Man hilft doch nur ein paar Freunden, keiner von der Rennbahn macht dabei einen Schnitt. Das Ganze dient bloß dazu, ein paar von den idiotischen Bestimmungen zu umgehen, die sich die Sesselfurzer in Washington ausgedacht haben.«
»Klingt gut«, sagte Parker.
»Ist aber nicht gut.« Lindahl nahm einen Schluck Bier.
»Das ist Korruption. Wo man auch hinsieht: die Politiker, die Rennbahn, alles, was mit Sport zu tun hat. Ich hab mit meiner Frau darüber gesprochen, monatelang, immer wieder, und sie hat gesagt, das ginge mich nichts an, und ich würde meinen Job verlieren und alles andere dazu. Wir hatten nie viel Geld, und sie hat gesagt, wenn ich entschlossen wäre, mein Leben in den Sand zu setzen, würde sie nicht bleiben und dabei zusehen. Aber ich konnte nicht anders, und darum bin ich schließlich zur Staatspolizei gegangen.«
»Und die haben Sie verdrahtet?«
»Genau.«
Lindahl machte ein gequältes Gesicht.
»Das bereue ich wirklich«, sagte er. »Wenn ich hingegangen wäre und gesagt hätte: ›Da läuft das und das‹, wäre ich eben bloß irgendein Zeuge gewesen. Die Staats- anwaltschaft hat mir Druck gemacht, damit ich ihnen helfe, den Fall vor Gericht zu bringen. Aber letztlich waren die Politiker einfach zu stark. Es wurde alles unter den Teppich gekehrt, und keinem ist was passiert. Nur mir.«
»Sie wussten, dass es so kommen würde.«
»Wahrscheinlich«, sagte Lindahl und nahm noch einen
Schluck.
»Die haben mich überredet, aber im Grunde hab ich mich wahrscheinlich auch selbst überredet. Ich hab gedacht, das wäre das Beste für die Rennbahn – können Sie sich das vorstellen? Nicht das Beste für mich, sondern für eine verdammte Rennbahn, die nach einem Viehfutter benannt ist. Ich sollte mal meinen Kopf untersuchen lassen.«
»Zu spät«, sagte Parker.
Lindahl seufzte.
»Allerdings«, sagte er. »Alle haben gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen, es gibt Gesetze, die Zeugen schützen, und mir kann keiner was anhaben.«
Er machte, die Bierflasche in der Hand, eine Geste, die den ganzen Raum einschloss.
»Sie sehen ja, wo ich jetzt bin. Meine Frau hat Wort gehalten und ist mit ihrer verwitweten Schwester abgehauen. Ich bin seit vier Jahren arbeitslos. Ich kriege eine kleine Berufsunfähigkeitsrente, weil ich vor Jahren mal unter ein Pferd gekommen bin. Ich hinke nicht mal mehr, aber in meinem Alter, mit meiner Geschichte und in dieser Gegend finde ich niemanden, der mir irgendeinen Job gibt. Nicht mal an der Hamburgertheke wollen die einen, der so alt ist wie ich.«
»Stimmt«, sagte Parker. »Und darum haben Sie sich in den Hintern gebissen, weil Sie sich nicht gerächt haben. Denn Sie denken, das könnten Sie. Aber wie?«
»Ich hab die Gebäude jahrelang in Schuss gehalten«, sagte Lindahl.
»Ich habe noch immer sämtliche Schlüssel. Ich fahre
noch immer ab und zu hin, wenn kein Rennen veranstaltet wird und das Ganze geschlossen ist wie ein Museum, und dann laufe ich einfach ein bisschen herum. Manchmal finde ich eine Tür mit einem neuen Schloss, dann nehme ich einen Ersatzschlüssel vom Brett und kopiere ihn.«
»Sie können also rein- und rausspazieren.«
»Nicht nur das«, sagte Lindahl. »Ich weiß auch, wo man rein- und rausspazieren kann. Ich weiß, wo das Geld aufbewahrt wird, wo es herumliegt, wo es für den Transport in die Bank gesammelt und gelagert wird. Ich weiß, wo alles ist und wie man drankommt. Während der Rennen wird alles rund um die Uhr bewacht, aber ich weiß, wie man um drei Uhr morgens mit einem Lastwagen reinkommt, ohne dass einer
was merkt. Ich weiß, wie man reinkommt und eine große
Ladung wieder rausbringt.«
Lindahl hatte bereits einiges von dort mitgenommen, aber das war es nicht, was er meinte. Parker sagte: »Die haben Sie also um Ihre Frau und Ihren Job gebracht, und da haben Sie beschlossen, sie auszunehmen, dick abzusahnen, von hier zu verschwinden und sich gemütlich zur Ruhe zu setzen.«
»Genau«, sagte Lindahl. »Seit vier Jahren denke ich an nichts anderes.«
»Warum haben Sie’s nicht gemacht?«
»Weil ich ein jämmerlicher Feigling ohne Rückgrat bin«, sagte Lindahl und trank sein Bier aus.
DREI
»Könnte aber auch sein«, sagte Parker, »dass Sie gar nicht so blöd sind.«
Lindahl sah ihn stirnrunzelnd an. »Inwiefern?«
»Sie gehen da rein«, sagte Parker, »um drei Uhr morgens, mit Ihrem Lastwagen und Ihren Schlüsseln und Ihrem Insiderwissen, und laden das ganze Geld auf Ihren Lastwagen und verschwinden, und wenn die am nächsten Morgen sehen, dass das Geld weg ist und nirgendwo Einbruchspuren zu sehen sind, was ist dann das erste, was sie sagen? Sie sagen: ›Gibt’s da vielleicht irgendwo einen ehemaligen Mitarbeiter, der was gegen uns hat?‹«
»Ich weiß«, sagte Lindahl, lachte in sich hinein und schüttelte den Kopf.
»Das gehört ja zum Plan. Mir geht’s ja nicht nur um das Geld, sondern auch um Rache. Die sollen wissen, dass ich mich gerächt hab und dass sie nichts dagegen tun können.«
»Sie wollen einfach verschwinden.«
»So was ist schon vorgekommen.«
»In letzter Zeit seltener«, sagte Parker. »Im Augenblick sitze ich hier und höre Ihnen zu, anstatt von hier zu verschwinden, und das nur, weil ich keinen Ausweis habe.«
»Tja, Sie haben sie aufgescheucht«, sagte Lindahl. »Sie haben ihre Bank ausgeraubt.«
»Ihre Rennbahn auszurauben wird sie aber auch auf- scheuchen.«
»Ich erzähle Ihnen jetzt mal meinen Plan«, sagte Lindahl.
»Bei den Wetten bezahlen die Verlierer die Gewinner, also braucht man anfangs nur wenig Bargeld. Beim ersten Rennen nimmt das Wettbüro genug ein, um die Gewinner zu bezahlen und einen Schnitt zu machen, und so geht’s dann weiter. Etwa zwanzig Prozent vom Umsatz bleibt als Gewinn, und das ist das Geld, das ich haben will. Am Ende des Tages werden das Bargeld und die Kreditkarten- quittungen in Kisten verpackt. Die Kisten kommen auf kleine Wagen, und die werden mit dem Lastenaufzug in den Keller gefahren.
Dann geht’s durch einen Korridor in den sogenannten Saferaum, der hat Betonwände, keine Fenster und nur eine Tür, und die ist aus Stahl und immer verschlossen. Neben dieser Tür ist die Tür zu der Rampe, die am Ende des Clubhauses zur Oberfläche führt. Auch diese Tür ist verschlossen, und das Tor am oberen Ende der Rampe ebenfalls. Von Montag bis Freitag kommt eine Stunde nach Schließung der Rennbahn ein Geldtransporter, fährt rückwärts die Rampe runter und holt die Tageseinnahmen ab. Samstags und sonntags kommt er nicht, sondern erst am Montag morgen um acht – dann holt er die Wochen- endeinnahmen ab.«
»Und Ihr Plan ist«, sagte Parker, »die Sache Sonntag nacht durchzuziehen.«
Lindahl schüttelte den Kopf. »Samstag nacht«, sagte er.
»Diese Kisten sind schwer. Wenn die erst mal da stehen, rührt sie bis Montag morgen keiner mehr an. Ich fahre also Samstag nacht dorthin, mit Kisten, die genauso aussehen wie die von der Rennbahn. Ich nehme die vollen mit und lasse die leeren da. Dadurch bleiben mir sechsunddreißig Stunden, bis irgendeiner was merkt. Wie weit kann man in sechsunddreißig Stunden kommen, wenn man bar bezahlt und keine Spuren hinterlässt?«
Jeder hinterlässt Spuren, aber es hatte keinen Zweck, das Lindahl zu erklären, denn es war ja sowieso alles bloß Phantasie.
Parker hätte sich Lindahls Schlüssel und Ortskenntnisse zunutze machen können, wenn die Gegend ein wenig ruhiger gewesen wäre und er ein, zwei zuverlässige Typen hätte finden können, aber Lindahl selbst konnte unmöglich in dieses Feuer greifen, ohne sich zu verbrennen.
Es war nicht Parkers Aufgabe, einem Amateur zu sagen,
dass er ein Amateur war, und ihn an Führerschein, Nummernschilder, Fingerabdrücke und das Misstrauen zu erinnern, das Barzahlung in einem Land erregt, in dem jeder Kreditkarten verwendet. Also sagte er: »Und den Papagei nehmen Sie mit?«
Lindahl war von dem unvermittelten Themenwechsel
überrascht, und dann erst recht, als er begriff, dass es überhaupt kein Themenwechsel war.
»Darüber hab ich noch nie nachgedacht«, sagte er und lachte wieder in sich hinein.
»Halten Sie nach einem Mann mit einem Papagei Ausschau.«
Er wandte sich zu dem Vogel um, als sähe er ihn zum erstenmal, und sagte: »Das bin ich in den letzten Jahren doch gewesen, oder? Wer sonst würde sich einen Papagei zulegen, der nicht spricht?«
»Kein Wort?«
»Kein Wort.«
Lindahl musterte den Papagei, und der Vogel legte den
Kopf schief und musterte seinerseits Lindahl, hörte aber schließlich damit auf und wühlte mit dem Schnabel in seinen Federn. Seine Augen waren so groß und schimmernd wie Knöpfe an einem Kommunionsanzug.
Wieder zu Parker gewandt, sagte Lindahl: »Da sehen Sie, wie wenig Lust zu reden ich in den letzten Jahren hatte. Ich nehme ihn lieber nicht mit, aber das ist kein Problem. Ich komme ganz gut allein zurecht. Ich werde nicht mit irgendwelchen Leuten irgendwelche Gespräche anfangen. Gehört der zu Ihnen?«
Er nickte in Richtung Fernseher. Parker beugte sich vor und sah auf den Bildschirm, der ein altes Polizeifoto von Nick Dalesia zeigte. Nick war bis eben einer seiner Partner gewesen. Unter dem Foto stand »Nicholas Leonard Dalesia«.
Sie hatten Nick also geschnappt. Das änderte alles.
»Soll ich den Ton einschalten?«
»Wir wissen, was sie sagen«, antwortete Parker.
Lindahl nickte. »Wahrscheinlich.«
Der Täter wurde vorgeführt. Dalesia ging in Handschellen, mit gesenktem Kopf und sah ziemlich mitgenommen aus. Er lief in ruckartigen kleinen Schritten von einem Wagen der Staatspolizei über den breiten Betonbürgersteig irgend- einer Kreisstadt zum Seiteneingang eines Backstein- gebäudes, das vorn das Gericht und in einem Seitenflügel das Gefängnis beherbergte. Es war die Polizei des Staates New York, also war auch Nick nicht sehr weit gekommen. So viele uniformierte Polizisten wie möglich drängten sich ins Bild, um Nick vom Wagen zum Gebäude zu schieben.
Parker lehnte sich zurück und sah nicht mehr auf den Bildschirm. Sie hatten das Ding zu dritt durchgezogen und die Beute versteckt, anstatt zu versuchen, sie durch die Straßensperren zu bringen. Wenn man einen von ihnen schnappte, dann würde er – das war klar – das Versteck verraten, um sich die Sache ein wenig zu erleichtern. Er konnte auch seine Partner verraten, sofern er genug von ihnen wusste. Wenn man der erste war, der geschnappt wurde, gab man so viel wie möglich preis. Und wenn man nicht der erste war, ließ man sich lieber überhaupt nicht schnappen, denn dann gab es keine Verhandlungsmasse mehr.
Das Geld war also weg. Es war eine fette Beute gewesen, aber jetzt war sie weg, bis auf die viertausend in Parkers Tasche, und er musste noch einen Weg durch dieses Minenfeld finden. Er sagte: »Die Saison auf dieser Renn- bahn von Ihnen läuft noch?«
»Noch zwei Wochen«, sagte Lindahl, »und dann ist sie bis Ende April geschlossen.«
»Also noch drei Samstage – heute und die beiden kommenden.«
»Heute können wir’s nicht tun«, sagte Lindahl und machte ein erschrockenes Gesicht.
»Wir können heute nacht hinfahren«, sagte Parker. »Ein Probelauf, um zu sehen, ob es überhaupt möglich ist.«
Lindahl wirkte eifrig und beunruhigt zugleich. »Sie meinen, Sie würden das mit mir machen?«
»Mal sehen«, sagte Parker.
Copyright © Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co.KG
Texte: DTV
ISBN: 978-3423212106
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe