Kühlfach vier
Autorenporträt
Jutta Profijt wurde 1967 in Ratingen geboren. Nach dem Abitur ging sie ins Ausland, verkaufte Walzwerke, unterrichtete Unternehmensvorstände und Studenten und veröffentlichte 2003 ihren ersten Kriminalroman. Heute lebt sie als freie Autorin in der niederrheinischen Provinz.
Zur Website der Autorin: www.juttaprofijt.de
Das Buch
Dr. Martin Gänsewein trägt Dufflecoat, fährt Ente, sammelt Stadtpläne und geht als Rechtsmediziner dem täglichen Geschäft mit dem Tod äußerst gewissenhaft nach. Über das Seelenleben der Verstorbenen macht er sich keine Gedanken, bis ihm eines Tages die Seele des kleinkriminellen Autoschiebers Pascha, dessen Leiche vor ihm auf dem Obduktionstisch liegt, ein Gespräch aufdrängt. Pascha ist stinksauer. Sein angeblicher Unfalltod war nämlich in Wirklichkeit Mord, was ja allein schon eine Sauerei ist. Und jetzt muss er auch noch als Geist herumirren und seine eigene Obduktion mit ansehen! Da Martin der Einzige ist, mit dem er Kontakt aufnehmen kann, soll er ihm jetzt auch helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. So nistet sich die nervtötende Seele bei dem sich vergeblich wehrenden Pathologen in Heim und Hirn ein, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Ehe Martin sich versieht, muss er sich im Rotlichtmilieu zurechtfinden und kollidiert unsanft mit der Kölner Autoschieberszene. Sein Leben gerät nicht nur völlig aus den Fugen, sondern auch noch in große Gefahr. Und jetzt ist es an Pascha, sich schnellstens etwas einfallen zu lassen, um seinen neuen Freund zu retten …
Leseprobe
Ist ja auch egal. Jedenfalls kennt Olli die gesamte Nord-Süd- Ost-West-Autoschieber-Szene wie seine eigene Gesäßtasche. Mich kennt er auch gut, ich habe nämlich mal für ihn gearbeitet, bis wir wegen einer dummen Sache aneinandergeraten sind. Normalerweise wäre es weit unter seiner Würde, meine Existenz jemals wieder zur Kenntnis zu nehmen, aber gestern Abend hat er mir einen seiner Handlanger vorbeigeschickt. Der gab mir den Auftrag, in dessen Ausführung ich mich gerade befand.
Ich will keine Details verraten, denn einen SLR zu klauen ist eine heikle Kiste, und ich bilde mir etwas darauf ein, als einer der wenigen die notwendigen Tricks und Kniffe zu kennen. Deshalb verrate ich sie auch nicht weiter, obwohl mir das Wissen ja nun leider nichts mehr nützen wird. Aber um die Sache kurz zu machen: Ich hab das Ding vom Parkplatz weggeklaut. Leider war es durch meinen gesegneten Schlaf und den langen Fußweg inzwischen schon etwas später als geplant und die Geldsäcke, deren fahrbare Untersätze auf dem Parkplatz standen, traten gerade in Zinnsoldatenmanier und dreiteiliger Einheitskleidung vor die Tür, als ich den Motor startete. Nun ist der Sound, den ein SLR macht, nicht mit dem eines beliebigen Zweit- oder Drittwagens zu verwechseln, also drehten sich fünfzig Köpfe zu mir um, als ich die Kiste aus der Parkbucht jagte. Im Rückspiegel konnte ich noch eine angedeutete La-Ola-Welle erkennen, als neunundvierzig Arme in meine Richtung zeigten und eine Hand in die Jacketttasche fuhr, vermutlich um ein Handy rauszuholen und die Bullen zu rufen. Aber dann verlor ich das Interesse an der Szene hinter mir und konzentrierte mich darauf, mein neues Gefährt zügig, aber nicht zu schnell durch die dunkle Innenstadt Richtung Autobahnauffahrt zu lenken. In der Rushhour an einem Winterabend bei Dunkelheit und eisigem Nieselregen verschwindet selbst ein Vierzigtonner schneller im Gewühl als ein Nichtschwimmer im Niagarafall, und in dem Moment hätte ich glatt glauben können, dass alles gut wird.
Ich widerstand der Versuchung, zu schnell zu fahren, andere Fahrer zu nötigen, rechts zu überholen, die Spur im letzten Moment vor dem Abbiegen zu wechseln und allen anderen Verlockungen, die Autofahren erst richtig hypertonisch krokofantös machen, denn ich wollte ja nicht auffallen. Wenn man in einem geklauten Auto sitzt, sollte man korrekter fahren als bei der Führerscheinprüfung. Ich hielt mich dran. Ich brauchte siebenundzwanzig Minuten bis zu dem vereinbarten Treffpunkt, war fünfundvierzig Sekunden vor der vereinbarten Zeit da. Mist! Ich hätte noch ein paar Minuten Zeit gebraucht, denn bevor man eine geklaute Karre weiterreicht, macht man sie leer. Man sucht alles aus Handschuhfach, Ablagen, Kofferraum und unter den Sitzen hervor, was man noch selbst brauchen oder anderweitig verticken kann. Jetzt war der Turbodurchgang gefragt. Handschuhfach: Straßenkarten, Knebelsäcke, Sonnenbrille, Schreibset. Unter den Sitzen: ein Bündel Geldscheine, Summe auf die Schnelle nicht feststellbar, egal, einstecken. Im Kofferraum: eine nackte Frau.
Ich schlug den Kofferraumdeckel zu, hyperventilierte ein bisschen, öffnete die Klappe wieder und sah sie immer noch dort liegen. Halb auf dem Rücken, die Knie voll angewinkelt, die Arme neben dem Körper, den Kopf etwas zur Seite gedreht. Sie war klein und zierlich, füllte den winzigen Kofferraum aber total aus. Ich stupste sie mit dem Finger an, sie war eiskalt. Ich schob den einen Arm ein bisschen zur Seite und bekam einen riesigen Schreck, als ich die violette Unterseite des Arms sah. Ich legte einen Finger an die Stelle, an der ich die Halsschlagader vermutete: nichts. Sie hatte Tätowierungen um die Fußknöchel, sie war ziemlich hübsch, wenn auch leider dick geschminkt, und sie war mausetot. Ich schloss den Kofferraumdeckel wieder über ihr, vorsichtig, als ob es ihr etwas ausgemacht hätte, wenn ich das Ding mit einem lauten Knall zuschlug. Dann lehnte ich mich an die Fahrertür, fummelte eine Zigarette aus der Jacke, zündete sie an und inhalierte so tief, dass die halbe Fluppe mit einem Mal weg war.
Ich musste sie wegschalten. Die Frau, nicht die Kippe. Man gibt einem Autoschieber kein Auto mit einer Leiche im Kofferraum, noch nicht einmal, wenn es ein SLR ist. Oder erst recht nicht einen SLR? Ich war verwirrt, aber ich wusste, dass die Frau verschwinden musste. Freiwillig würde sie mir den Gefallen nicht tun, also war es Zeit, dass ich mir eine wirklich schlaue Lösung für dieses wirklich ungewöhnliche Problem einfallen ließ, und zwar rapido. Ich nahm noch einen sehr tiefen Zug, warf die Kippe weg und wollte einsteigen, als ich eine Hand auf der Schulter spürte. Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mir das Kinn am Wagendach anschlug.
»Hey, Pascha, du bist pünktlich. Das ist gut.«
Der Typ, der mich da begriffelte und mir mit seinem
Pädagogengewäsch kam, hieß Kevin, trug einen Kinnbart, der aussah, als hätte seine Freundin ihm den mit einem feinen Eyeliner auf den Kiefer gemalt und grinste ständig. Vielleicht litt er an Gesichtslähmung. Ich fand ihn jedenfalls immer widerlich und jetzt erst recht. Er hielt die Hand auf.
Ich japste nach Luft und jaulte auf, weil ich mir nicht
nur das Kinn angestoßen, sondern auch noch auf die Zunge gebissen hatte, und überlegte krampfhaft, was ich noch tun könnte, um erst die Leiche aus dem Auto verschwinden zu lassen, bevor Kevin die Kiste zu Olli brachte. Es half nichts, mein Laufwerk hatte einen Hänger, die Gedanken wollten keine klare Form oder Richtung annehmen, also ließ ich völlig entkräftet die Schlüssel in Kevins Hand fallen und schüttelte den Kopf, als er mir anbot, dass sein Kumpel mich zurück in die Stadt mitnehmen könnte. Ich stand geschlagene fünf Minuten unbeweglich auf dem Parkplatz, bis ich mich dazu durchringen konnte, die Überbleibsel meines fettigen Mitternachtsburgers in die Schüssel des Raststättenklos zu kotzen. Danach ging es mir etwas besser und ich machte mich auf den Weg nach Hause.
Weder am nächsten noch am übernächsten Tag hörte ich von Kevin oder Olli, und das machte mich langsam nervös. Die achtundvierzig Stunden, die Mehmet mir gewährt hatte, liefen bald aus und ich wusste nicht, wie ich die Schulden bezahlen sollte. In der Wohnung hatte ich noch fünfzig Euro gefunden, meine eiserne Reserve in den zusammengerollten Sportsocken, die ich schon seit Jahren nicht mehr trug, aber wenn ich Mehmet mein Sockengeld gab, war ich völlig blank und er war immer noch sauer, das war also keine Lösung. Ich hockte abwechselnd bei mir zu Hause und in meinen liebsten Kneipen rum, wartete darauf, dass Kevin oder ein anderer Laufbursche von Olli auftauchte, um mir die versprochenen zweitausend Euronen zu geben, und wurde kurz vor Ablauf des Ultimatums nervös. Noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Ich wollte nicht wie ein Schlachtvieh dumm rumstehen und auf den Typ mit dem Bolzenschussgerät warten, also setzte ich mich in die nächstbeste Straßenbahn, fuhr einfach drauflos, wechselte Linie und Richtung, fuhr zurück, nahm dann den Bus und fuhr kreuz und quer durch die Stadt. Ich wechselte wieder in die Straßenbahn, wo es abwechselnd eiskalt oder brüllend heiß war, und als ich einen Sitzplatz am Fenster ergatterte und den Beschlag von der Scheibe wischte, lagen schon zwei Zentimeter Schnee. Auch das noch. Ich hasse Schnee. Wer schnelle Autos liebt, muss Schnee hassen.
Ich stieg an einem belebten Platz mit einem Kiosk aus, legte das Sockengeld in alkoholischen Getränken an, nahm eine Bahn Richtung Innenstadt und fing schon während der Fahrt an, mich volllaufen zu lassen. Irgendwo stieg ich aus, natürlich hatte ich das große Glück, mitten in einer Straßenbaustelle zu landen. Hatte gar nicht gewusst, dass in unserem Land noch in Infrastruktur investiert wird. Ich kraxelte provisorische Holztreppen hoch, drängelte mich mit anderen Fahrgästen durch Engstellen, verlief mich und nahm irgendwann eine Überführung, an der ein Schild »Richtung Innenstadt« hing. Mein Sichtfeld hatte sich inzwischen dramatisch verkleinert, die Geräusche aus der Umgebung erreichten meine Horchbretter wie aus weiter Ferne, aber immerhin machte ich mir keine allzu großen Sorgen mehr wegen meiner Schulden.
Den Stoß in den Rücken spürte ich trotz Vollrausch. Er erwischte mich in einem denkbar ungünstigen Moment. Vor mir lagen zwei abwärtsführende Stufen und ein provisorisches Geländer. Mein Schritt wurde durch den Stoß etwas weiter als geplant, dadurch verpasste ich die erste Stufe. Die zweite war schneebedeckt, deshalb glatt, und so rutschte mein profilloser Schuh über die Kante. Das dünne Brett, das als Geländer dienen sollte, hatte ungefähr so viel Halt wie ein Abschleppseil aus Hosengummi. Der Nagel, der an der linken Seite die Verbindung zum Pfeiler herstellen sollte, gab sofort und ohne sich zu zieren nach, der rechte folgte kurz darauf. Meine Beobachtungsgabe war in diesen Sekunden so unbeschreiblich gut wie nie zuvor, und vielleicht hätte das allein mich schon stutzig machen sollen, aber dazu hatte ich gar keine Zeit. Ich rutschte mit den Füßen voran durch das Geländer, kippte nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf unglaublich hart auf dem Holz der Brücke auf, bevor ich komplett absemmelte. Meinen Sturz in die Tiefe erlebte ich in Slow Motion. Um irgendeine Achse kreiselnd donnerte ich auf den sechs Meter tiefer liegenden Plattenweg. Das Geräusch, das mein Körper und vor allem meine Denkschüssel beim Aufprall machte, erschreckte sogar die Leute, die meinen Sturz gar nicht hatten sehen können, weil sie mir den Rücken zuwandten. Ich konnte, da ich auf dem Bauch, aber mit dem Gesicht zur Seite lag, noch kurz einen Blick auf Gesichter erhaschen, die sich mir zuwandten, dann sah ich nichts mehr.
Die Dunkelheit währte nur einen kurzen Moment, denn plötzlich, nach schätzungsweise zehn Sekunden, konnte ich die ganze Szenerie sehr klar beobachten – und zwar von oben. Nun haben wir ja alle schon zur Genüge diese Nahtod-Gespenster gesehen, die von Talkshow zu Talkshow geistern, um von ihren geheimnisvollen Erfahrungen zu berichten. Sie betrachten ihren Körper von außen, dann kommt der Tunnel und das Licht, blablabla. Ich dachte mir also noch nicht viel dabei, als ich über meiner verrenkt herumliegenden äußeren Hülle schwebte, und wartete auf den Tunnel, das Licht und darauf, endlich wieder in meinem eigenen Körper aufzuwachen. So haben diese wiedergeborenen Fernseh-Fuzzis das schließlich immer beschrieben.
Ich hing also so herum und wartete. Beobachtete, wie Leute meinen Körper anstießen, wie jemand sich wichtig machte, etwas von Rettungssanitäter faselte, mir ans Handgelenk und die Halsschlagader fasste und dann mit wichtigem Gesichtsausdruck dem Mann, der die Polizei informierte, das Handy aus der Hand nahm und hineinsagte, der Verunfallte sei tot.
Moment mal, dachte ich mir, jetzt übertreibt der Typ
aber. Er darf sich gern wichtig machen, wenn er meint, dass er die Weiber damit beeindruckt, aber irgendwo muss doch bitteschön die Grenze sein. Zumal seine theatralische Aufführung noch nicht einmal dazu führte, dass die holde Weiblichkeit sich ihm schluchzend an den Hals warf. Die Umstehenden taten einfach das, was Umstehende so tun: Sie standen umher und glotzten.
Ich will Sie nicht mit allen Details langweilen, nur das
Wichtigste in Kürze: Die Polizei kam, registrierte, dass ich von der provisorischen Baustellen-Überführung heruntergefallen war, stellte – wie ich immer noch meinte, unzutreffenderweise – meinen Tod fest und rief den Rechtsmediziner.
»Hallo Rolf«, begrüßte der kleine, pummelige Mann im dunkelblauen Dufflecoat (wirklich, ich schwör’s, der kam im Dufflecoat) den Schutzpolizisten, stellte seine Tasche ab und überprüfte meinen Körper nach Lebenszeichen.
»Hallo Martin«, antwortete Rolf, der Polizist.
»Wie lange liegt er denn schon hier?«, fragte Duffie in die gaffende Menge, die jetzt hinter dem inzwischen angebrachten rot-weißen Absperrband mit den frierenden Füßen scharrte.
»Siebzehn Minuten«, antwortete der eifrige Held mit
der Rettungserfahrung. Klugscheißer.
»Unfall oder Nachhilfe?«, fragte Duffie.
»Unklar«, entgegnete ein Typ in Zivil, der die Anweisungen gegeben hatte, wo die rot-weißen Bänder angebracht wurden, und der überhaupt den Eindruck machte, hier das Sagen zu haben.
Polizisten wuselten herum, machten tausend Fotos von mir, von der Brücke, dem Geländer und der Flasche, die mir aus der Hand gefallen war. Sie gingen den Weg ab, den ich gekommen war, maßen Längen und Winkel und taten alle furchtbar beschäftigt. Duffie, also Martin, kniete sich neben mich in den leise rieselnden Schnee, betrachtete mich von oben bis unten, zum Teil sogar durch eine Lupe, die er aus seinem großen Koffer holte. Er suchte jeden Zentimeter des Kopfes ab, betrachtete besonders aufmerksam die Stelle, an der der Hinterkopf auf die Holzbohlen gekracht war, kroch mit dem Gesicht fast auf dem Boden herum, als er versuchte, so viel wie möglich von der linken Gesichtshälfte zu sehen, auf der ich lag, bevor er mich endlich umdrehte. Dann lief die Untersuchung noch mal auf der jetzt sichtbaren Vorderseite ab, wieder mit Lupe, und endlich, endlich hatte er genug. Er legte das Glotzglas zurück in seinen Koffer, sah sich suchend um, entdeckte, was er gesucht hatte undmachte ein Zeichen mit der linken Hand. Zwei Männer kamen, steckten meinen Körper in eine Horizontalsänfte und schleppten mich weg.
Ich war, wie Sie sich wohl denken können, komplett durch den Wind. Die Nahtod-Surfer hatten nie davon gesprochen, dass die ganze Geschichte so lange dauert. Dass Leute kommen, ihren Tod feststellen, dass Rechtsmediziner sie wie Insekten durch die Lupe anstarren, dass sie in Särge gesteckt und abtransportiert werden.
Abtransportiert – wohin?, fragte ich mich plötzlich und fühlte Panik aufkommen.Wie zum Teufel sollte ich zurück in meinen Körper finden, wenn ich nicht wusste, wo er war? Sie können sich meinen Schreck vorstellen. Ich sauste also hinter den zwei Gestalten her, die den Sarg mit meinem Körper gerade in ein Auto luden. Zum Glück schlitterte ich, im Gegensatz zu den Sargträgern, nicht über die schneeglatte Straße, sondern zischte einfach so durch die Luft und zack ins Auto rein. Auch das hätte mich vielleicht wieder stutzig machen müssen, aber das Thema hatten wir ja eben schon. Zum Stutzen blieb mir keine Zeit. Ich war einfach nur froh, dass ich bei meinem Körper war, als der Wagen auch schon anfuhr.
Ich habe nicht aus dem Fenster geschaut, es interessierte mich nicht wirklich, wohin sie mich brachten, solange ich nur bei meinem Körper war. Irgendwann ging es eine Rampe hinunter, dann wurde die Tür des Autos geöffnet, ein langer Gang erwartete uns und dann eine Tür. Eine Edelstahlschublade wurde aufgezogen, mein Körper hineingelegt, ich natürlich nix wie hinterher, dann ging die Schublade zu und wir lagen im Dunkeln, mein Körper und ich.
Wieder fehlte mir aufgrund meiner Verwirrung und vielleicht als Nachwirkung des Alkohols – wobei ich nicht wusste, ob man als Nahtod-Geist besoffen sein konnte – das Zeitgefühl, aber irgendwann öffnete sich die Schublade, mein Körper wurde auf eine Rollbahre gelegt, in einen gekachelten Raum gefahren, dort auf einen Edelstahltisch mit einem Ablaufsieb am Fußende gelegt, und dann trat Duffie-Martin zusammen mit einem anderen Mann an den Tisch. Der andere hielt ein Diktiergerät in der Hand und sprach die Einleitung. »Obduktion eines männlichen Leichnams im Auftrag der Staatsanwaltschaft Köln. Identität wurde polizeilich festgestellt als Sascha Lerchenberg, Alter: 24, Körpergröße 173 cm, Körpergewicht 69 kg.«
Ich war immer noch völlig durcheinander, aber das war auch durchaus angebracht, denn was danach kam, war wirklich grauenvoll. Meine anfängliche Verwirrung steigerte sich zu einer ausgewachsenen Panik, als ich sah, was Martin in der Hand hielt: Ein blitzendes, verflucht scharf aussehendes Skalpell. Er setzte es an und schlitzte mir den gesamten Oberkörper auf, vom Kinn abwärts in einem geraden Schnitt bis dahin, wo es wirklich nicht mehr weitergeht. Ich erwartete einen Schwall Blut, aber nichts geschah. Der Labersack kommentierte jeden Schnitt und jeden Befund in sein blödes Gerät, während ich in allerhöchster Aufregung über dem Obduktionstisch kreiste. Mir war schlecht. Lage um Lage wurde meine Haut abgeschält, das Fettgewebe darunter freigelegt, weggeklappt, ich kann mich an all die Details gar nicht mehr richtig erinnern, bis zu dem Punkt, wo die Sache anfing, wirklich eklig zu werden. Martin fasste mir an die Eier.
»Hey, nimm deine Wichsgriffel von meinem Sack«,
brüllte ich in höchster Not, und Martin fuhr herum, wobei
er so stark zusammenzuckte, dass ich dachte, er schlitzt gleich seinen Kollegen auf. Das war der Moment, in dem ich feststellte, dass er mich hören kann.
© 1995-2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Texte: Ab 1. April 2009 im Buchhandel
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe zum Roman
ISBN 978-3-423-21129-1