Cover

Der Abstieg

 

 

von

 

Wolfgang J. Willems

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Projekt 1596 / BoD-Nr. 501261

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

Trotz vieler realer Elemente handelt es sich bei dieser Geschichte um eine Fiktion, die über das Jahr 2004 bis Herbst 2005 zeigt, wie Leidtragende der kombinierten Arbeitslosenhilfe mit Sozialhilfe als langjährige Arbeitnehmer aus dem Netz staatlicher Fürsorge fallen und daraus resultierend einen beruflichen, menschlichen sowie familiären Abstieg erleben können. Aus dramaturgischen Gründen und zur Straffung der fiktiven Geschichte muss nicht alles der Wirklichkeit entsprechen. Das bezieht sich sowohl auf umfangreiche gesetzliche Bestimmungen wie präzis wirkende Ortsangaben und auch Personen. Zwar sind viele Daten den geltenden Gesetzen entnommen, aber für eine beschleunigte Darstellung des Verfahrens gelegentlich gerafft.

 

INHALT

 

 

 

Januar 2004

Silvester

Neujahr 2004

  1. Januar

 

Februar

Kritische Zeiten

Gerüchte

 

März

Bewerbungen

Betriebsversammlung

Kündigung

 

April

Schlechte Laune

Arbeitslos

Urlaub

 

Mai

Frei-Tage

Keine Chance

 

Juni

Geburtstag

Sportabzeichen

 

Juli

Alg II

Hoffnungsschimmer

Zu teuer

 

August

Absagen

Langeweile

Demo

 

September

Alo-Treff

Morgenstund’

Kassensturz

 

Oktober

Glück und Glas

Leben lohnt

Kabarett

 

November

Ungerechtigkeiten

Jobsuche

Betreuerarbeit

 

Dezember 2004

Weihnachtsbummel

Jammertag

Notverkauf

 

Januar 2005

Auf ein Neues

Selbstmord

Arm oder reich

Perspektiven

 

Februar

Fastnacht 2005

Banküberfall

Entschuldigung

 

März

Sauf-Tour

Selbstständigkeit

Familienrat

 

April

Fragestunde

Hoffnungslos

 

Mai

Incorporated

Geschäfte

 

Juni

Ärger

Ausbeutung

 

Juli

Falscher Wohlstand

Todesfall

Erbschaft

 

August

Allein

Trennung

Tobsuchtsanfall

 

September 2005

Am Ende

Neuanfang

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

  

Es ist eisig kalt. Auf der Hotelterrasse drängen sich Herren im schwarzen Anzug, bibbern leicht vor sich hin. Genauso wie die Damen im Pelzmantel. Darunter tragen sie elegante Abendkleidung. Manche haben es sogar gewagt, ohne den wärmenden Überhang nach draußen zu treten. Es ist drei Minuten vor Mitternacht. Sie alle warten auf das Neue Jahr.

 

Sie schauen hinaus in die helle Landschaft des Deutsch-Französischen Gartens. In wenigen Minuten soll hier ein beeindruckendes Feuerwerk das Neue Jahr begrüßen. Versprochen hat man den Hotelgästen eine Super-Illumination mit klassischer Musik. Zu den Klängen von Händels Feuerwerksmusik sollen Knaller und Kracher gen Himmel aufsteigen, farbige Blüten in die Vollmondnacht zaubern. Das helle Licht des Mondes wird von dem frisch gefallenen Schnee reflektiert. So erscheinen Silhouetten von Bäumen und Sträuchern wie eine unwirkliche Kulisse, die sowohl die Finsternis der Nacht wie das Hoffen auf einen neuen Tag widerspiegeln.

 

Etwa 30 elegant gekleidete Paare stehen auf der Terrasse. Dazu einzelne Herrschaften, Singles, die in einer besonderen Atmosphäre mit Gesellschaft das Neue Jahr erleben wollten. Auch vom Hotelpersonal halten sich vereinzelt Kellner und Küchenmädchen im Hintergrund. Sie haben Anorak oder Mantel über ihre schwarz-weiße Dienstkleidung gezogen. Klassische Musik erklingt seit einigen Minuten. Sie hat die Gäste aus dem warmen Restaurant hinaus in die Kühle der Nacht gelockt.  

 

Klar sind die Sterne am dunkelblauen Nachthimmel zu erkennen. Lieselotte Pitz schaut nach oben. „Schön ist die Nacht“, flüstert sie ihrem Mann zu. Er steht neben ihr. Sie hält seine Hand. Andreas Pitz schaut in die Ferne, zum Horizont. Dorthin, wo sich das aus der Stadt aufsteigende Licht am Himmel abzeichnet. Er denkt an das in wenigen Minuten zu Ende gehende Jahr. Er wird melancholisch, sieht die Zeit an sich vorbeistreifen. „Je älter man wird, desto schneller verrauscht die Zeit“, denkt er.

 

Ein Zischen durchbricht die Nacht. Die Menschen schauen auf ihre Uhren. Ein silberner Sternenkranz erleuchtet das Umfeld der Terrasse taghell. Das dunkle Grün der Fichten ist zu erkennen - und wird auch schon wieder nachtgrau, als die hernieder regnenden Feuerwerkskörper ihre Strahlkraft verlieren. Paare umarmen sich, andere lassen die aus dem Restaurant mitgebrachten Sektgläser erklingen. Wieder andere staunen nur über die jetzt dauernd aufsteigenden Feuerwerkskörper.

 

„Prosit Neujahr“ ist ringsum zu hören, „Glückliches Neujahr“ oder auch einfach nur „Ein schönes Neues Jahr“ wünschen sich die Menschen. Andreas Pitz drückt seiner Frau einen Kuss auf den Mund. „Du bist mein Glücksstern“, sagt er danach. „Ich wünsche Dir alles Gute zum Neuen Jahr!“. „Ich Dir auch!“ Andreas stellt sich hinter seine Frau, umarmt sie und hält ihre Hände vor ihrem Körper. Der Pelz wärmt nicht nur sie sondern auch ihn. Der Himmel erstrahlt in vielerlei Farben: Blaue und rote Sterne rieseln zur Erde, dazwischen schrauben sich silberne Säulen gen Himmel. Die Musik greift den Abschussrhythmus der Feuerwerkskörper auf - oder ist es umgekehrt? Auf jeden Fall passt die Musik zu den am Himmel auftauchenden Lichtbildern. Laut und impulsiv bei den Krachern, entspannend zu silbernen und goldenen Schirmen, die ihre funkelnden Taler zur Erde regnen lassen.

 

Immer wieder ist ein vielstimmiges „Aah“ und Ooh“ zu hören. Die Menschen staunen. Inzwischen sind auch aus der benachbarten Spielbank Besucher nach draußen gekommen, stehen frierend im Schnee auf der Terrasse. Andreas schmiegt sich an seine Frau, hat seine Hände in ihre bepelzten Ärmel geschoben. Er schaut seine Frau von der Seite an. Ihr Gesicht ist nicht nur fröhlich, es strahlt vor Glück.

 

„So etwas kriegen nur Franzosen hin“, sagt er. „Feuerwerk und Musik in diesem Einklang zu erleben vergisst man nie mehr.“ Und er erinnert sich an Paris, wo er zu Studentenzeiten als Reiseleiter arbeitete. Das Feuerwerk zum Nationalfeiertag am 14. Juli hat er am Eiffelturm erlebt. Dazu an Johannistag ein gewaltiges Feuerwerk auf Montmartre. Mit klassischer Musik, Trommeln, Trompeten und Posaunen wurde der Eindruck erweckt, als ob die Kirche von Sacre Coeur explodieren wollte.

 

Gemeinsam mit Liesel - so nennt er seine Frau - verfolgt er die aufsteigenden Raketen, schaut zu, wie sie sich am Himmel teilen, um zum Klang der Musik einen beeindruckenden Farbenzauber in die Nacht zu zeichnen. Vereinzelt ziehen sich Zuschauer bereits wieder ins warme Restaurant zurück. Aber Andreas liebt Feuerwerke. Vor allem gute Feuerwerke. Und das hier ist schön und gut. Goldregen rieselt zur Erde. Dazu erklingt - so glaubt er zu erkennen - Musik von Chopin. Aber die Kälte nimmt Besitz von ihm.

 

Er zittert leicht hinter seiner Frau. „Ist Dir kalt?“ fragt sie. Entschlossen schiebt sie seine sie umgreifenden Arme zur Seite, öffnet ihren Mantel und stellt sich mit weit geöffneten Armen hinter ihn. Dann umarmt sie Andreas, so dass der wärmende Mantel beide bedeckt. „Danke“ murmelt er und legt den Kopf zurück - an ihre trotz Nachtkühle warme Wange. Sie drückt ihn noch enger an sich. Und sofort merkt er ihre Körperwärme, die auf ihn überstrahlt.

 

Schon 20 Minuten steigen Raketen und Kracher in den Himmel auf. Andreas wundert sich. So teuer war das Essen nun auch wieder nicht, dass man „alle Ewigkeiten“ davon ein Feuerwerk bestreiten könnte. „Sollen wir ins Restaurant zurückgehen?“ fragt Lieselotte. „Nein“, Andreas will das Feuerwerk bis zu Ende erleben. „Du wirst noch krank“, sagt seine Frau besorgt. Sie spürt, dass er trotz Pelzwärme schon wieder in der Kälte bibbert. Er dreht sich im Mantel um, umfasst ihre Taille und küsst sie - richtig. Er schmiegt sich noch enger an sie. Nach einer leichten Drehung der beiden Körper kann er über ihre Schulter weiter das Feuerwerk bewundern. Sie schaut in die Gegenrichtung und bestaunt Leucht- und Lichteffekte.

 

Die Filmmusik zum „Krieg der Sterne“ läutet das Finale ein. Andreas hat wie die wenigen noch übrig gebliebenen Zuschauer den Eindruck, dass sich Starts von Knallern und das Erscheinen der funkelnden Leuchtkugeln überholen wollen. Ein einziges Geballer schallt durch das Tal, dazu am Himmel die schönsten Lichtbilder. Unwillkürlich stehen Lieselotte und ihr Mann wieder nebeneinander. Mit offenem Mund staunen sie über die Lichteffekte. Sie bemerken die Kälte gar nicht mehr, die sie umgibt. Mit einem - im wahrsten Sinne des Wortes - Knalleffekt und einem geradezu riesigen Sternenregen findet das Silvesterfeuerwerk sein Ende.

 

Sekundenlang ist es still auf der Terrasse - genauso wie in der breiten Talaue der Grünanlage des Deutsch-Französischen Gartens. Die Musik ist verstummt. Für den Feuerwerker und seine Mitarbeiter gibt es nur dürftigen Applaus, denn nur wenige Zuschauer haben sich das ganze Spectacle in der Kälte angesehen. Andreas hakt seine Frau unter und geht vorsichtig mit ihr über die auf der Terrasse liegende Schneeschicht zurück ins Restaurant. Erst jetzt nimmt er wahr, dass sie mit ihren eleganten Tanzschuhen mindestens so gefroren haben muss wie er.

 

 

 

 

 

 

Vorbei geht es am Büfett, wo die Eisdekoration dezent vor sich hinschmilzt. Andreas denkt mit einem wohligen Gefühl an den Abend, mit dem er seiner Frau eine Freude machen wollte. Sie hat es gerne etwas exquisierter, liebt die schöne Umgebung des Hotels, in dem sie schon des öfteren zum Essen waren. „Ich bin ein Ästhet“, sagt sie immer. Er muss mit dem Gedanken daran lächeln.

 

Aber es stimmt: In der heimischen Wohnung sorgt sie dafür, dass es schön aussieht. Sie hatte an der Tür einen Weihnachtskranz angebracht. Sie hatte zu Halloween eine „Gruselparty“ vorbereitet. Im Herbst lagen immer ein paar bunte Kastanienblätter auf dem Tisch, um das sonntägliche Mittagessen zur Jahreszeit stimmig genießen zu können. Selbst das tägliche Frühstück lässt sie zu einem Erlebnis werden: Sei es mit Fruchtsaft oder einem Limoncello als Aperitif, der besonderen Moltebeeren-Marmelade als eine Erinnerung an die Nordkap-Reise letzten Sommer oder mit einem kleinen Schoko-Dessert zum Abschluss. Mit Liesel beginnt jeder Tag aufs Neue schön. Andreas lächelt wieder. Er liebt seine Frau.

 

Sie stehen vor der Garderobe. Er hilft ihr aus dem Mantel. Aus einem Impuls heraus umarmt er sie. „Ich liebe Dich“, sagt er. Andreas drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie freut sich. Ihre Augen strahlen. Eng umschlungen gehen sie zurück ins Restaurant. „Sie hat noch immer schmale Hüften“, denkt sich Andreas, dessen Finger in ihrer Seite spielen.

 

Die Musiker, die ihren Platz auf einem improvisierten Podest am anderen Ende des Raumes haben, spielen einen Walzer. „Wollen wir tanzen?“, fragt Andreas seine Frau. Eine eigentlich überflüssige Frage, denn sie tanzt gern. Zügig durchqueren beide das leicht abgedunkelte Restaurant. Auf der Bühne funkeln Lichterketten mit Sternenimagination. Auf den Tischen, an denen sie auf dem Weg zu der kleinen Tanzfläche vorbeieilen, stehen silberne Leuchter mit heruntergebrannten weißen Kerzen. Andreas legt seine Hand auf das rechte Schulterblatt seiner Frau, greift ihre linke Hand. Und schon drehen sie sich im Takt der Musik.

 

Sie sind ein schönes Paar: Anthrazitfarben schimmert sein Anzug mit einem leichten Glanz, dazu trägt Andreas ein weißes Hemd unterschiedlich dichter Streifen in Weiß. So scheint seine satte braune Haut immer mal wieder durch. Schönes schwarzes Haar mit silbergrauen Fäden macht ihn zu einem eleganten Mann. Nicht minder elegant wirkt Lieselotte: Rötlich-blond krönt ihr halblanges Haar ein eher schlicht geschnittenes Kleid. Große Blütenmuster in Rot setzen farbliche Akzente. Dreiviertel lang zaubert das Kleid in Verbindung mit dazu passenden Pumps mit kleinen Absätzen das Bild einer großen Frau - obwohl Lieselotte mit 1,69 Meter etwas kleiner ist als ihr Mann. Eine Kette aus echten Südseeperlen schmückt ein dezent ausgeschnittenes Decolletée. Ohrclips mit glänzenden Perlen lenken die Blicke auf das sparsam geschminkte Gesicht: etwas Rouge, zum Blütenrot des Kleides passender Lippenstift, schön nachgezogene Augen.

 

Beide tragen sie randlose klare Brillen mit Goldbügel. Das sieht nicht nur schön aus, sondern - so glaubt zumindest Andreas - auch intelligent. „Vorbei“, stellt Andreas etwas außer Atem fest, als die Musik aufhört. Die beiden bleiben auf der Tanzfläche stehen, wollen hören, was als Nächstes gespielt wird. Sie hält noch immer seine Hand. Rock’n Roll wird angesagt. Andreas spürt ihre Erregung, seine Frau tanzt gerne voller Ekstase. Und so fliegen alsbald ihre Beine. Hier zeigt sich, dass sich der Tanzkurs letzten Herbst gelohnt hat. Andreas führt seine Frau um sich herum, lässt sie in seinen Arm einrollen, sie um sich selber drehen. Während er leise zur Musik mitsummt - damit kann er sich angeblich besser auf den Takt konzentrieren -, fliegt Lieselotte wie spielerisch um ihn herum. Andreas schaut sich um. Er sieht einige wenige Paare besser tanzen, andere schieben eine eher „ruhige Kugel“.

 

Er ist stolz auf seine Frau. „Mit ihr kann man so viel anfangen“, denkt er sich - wie in Trance dem Takt des Tanzens folgend. Führt er? Oder lenkt sie ihn? Er lächelt. Sie lächelt zurück. „Schön!“, sagt er nur - und schon tanzt Liesel wieder neben ihm. Sie ist eine sportliche Frau. Als Andreas meinte, etwas für seine Fitness tun zu müssen und zu Laufen anfing, hat sie ihn begleitet. Mond- oder Sonnenfinsternis sind für sie Gründe, stundenlang aufs Land zu fahren und in den Himmel zu gucken. Kaum ein Museum ist es nicht wert, es sich nicht anzusehen: angefangen vom Schulmuseum in Ottweiler über das Fastnachtsmuseum in St. Ingbert bis hin zum Historischen Museum in Saarbrücken. Dort hat Andreas in der „Schulabteilung“ seine Kindheit gesehen: auf einer Holzbank lag „Mon Livre“, das Buch, mit dem er zu Volksschulzeiten Französisch lernte.

 

Im Urlaub geht sie tauchen. Er erholt sich in der Zeit lesend am Strand. Wenn sie montags mit Arbeitskolleginnen ins Bad nach Merzig fährt, sagt Andreas, dass ihm die Luft in der Sauna zu heiß und zu trocken sei. Dafür geht er dann mit, wenn sie ins luxemburgische Mondorf les Bains fährt, um sich mit ihr im warmen Thermalwasser zu erholen. Ohne ihre Initiativen wäre sein Leben viel ruhiger - und erlebnisärmer. Sie hat ihm das Römerheiligtum in Ihn gezeigt, mit ihm die Kupfergrube in Düppenweiler besichtigt. Und wegen ihr war Andreas im Losheimer Stausee baden - obwohl ihm das Wasser auch zur Sommerzeit „grundsätzlich zu kalt“ war.

 

Jetzt ist ihm heiß, Schweißperlen stehen Andreas auf der Stirn. Die Musik hat aufgehört. Wie Lieselotte ist Andreas aufgekratzt, aber gleichzeitig auch müde. Mitternacht ist „seine Zeit“, um zu Bett zu gehen. „Du bist müde“, sagt seine Frau, ebenso feststellend wie fragend. Natürlich gibt er das nicht zu: „Nein, nein, ich könnte geradewegs die Nacht durchmachen!“ Er wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß ab. Die Kapelle macht Pause. Wie die anderen Tänzer gehen Lieselotte und Andreas zu ihrem Tisch. Die Bedienung scheint neue Kerzen auf die Leuchter gesetzt zu haben. Als sich Lieselotte hinsetzt, schiebt ihr Andreas den Stuhl unter. Gleichzeitig erschöpft wie zufrieden schauen sie sich um. Zwei Plätze an dem für vier Paare vorgesehenen Tisch sind bereits frei.

 

„Die sind bereits gegangen“, sagt Andreas’ Nachbar auf einen fragenden Blick. Neben Andreas sitzt Eugen Suchomski.   Suchomski ist Direktor bei den Stadtwerken, hat Andreas im Laufe des Abends erfahren. Suchomski redet gern und viel und so kennt Andreas fast das gesamte Leben des wahrscheinlich 50-Jährigen. Er wollte eigentlich lieber zu Hause in aller Ruhe das Neue Jahr begrüßen - „eigentlich lieber gar nicht, am liebsten wäre ich wie jeden Abend zu Bett gegangen“ -, doch Ingrid, „meine Gattin“, habe ihn „gezwungen“ mal „richtig“ auszugehen. Für Ingrid Suchomski war es ein „erfrischender Abend“, denn Lieselotte Pitz hat sich zu Büfett und Tanz „über Gott und die Welt“ mit der 49-Jährigen unterhalten.

 

Genauso wie mit dem anderen noch verbliebenen Paar. Manches Mal beneidet Andreas seine Frau um ihre Fähigkeit, Small Talk zu führen. Nikolai und Rosa Zöller sind Zahnärzte, haben erst Anfang des inzwischen letzten Jahres eine Gemeinschaftspraxis eröffnet. Das junge Paar wollte sich nach einem erfolgreichen und harten Jahr mit dieser Silvesterfeier etwas Gutes tun. „Wir gehen denn mal auch“, sagt Suchomski. Er steht auf, verabschiedet sich wie seine Frau von der Runde. Dann walzt der etwas unförmige Mann Richtung Garderobe. Seine Frau folgt ihm.

 

„Sie tanzen gut“, lobt Rosa Zöller das Ehepaar Pitz. Andreas freut sich. „Wir könnten noch besser sein, wenn Andreas öfter mit mir zum Tanzen ginge“, sagt Lieselotte über den Tisch. Verstohlen schaut Andreas auf seine aus dem Ärmel lugende Uhr. Es ist kurz nach ein Uhr. Er greift zur Rosé-Flasche. Sie enthält noch einen kleinen Rest Wein. „Trinkst Du noch etwas?“, fragt er seine Frau. Sie lehnt ab, trinkt lieber von dem auf dem Tisch stehenden Mineralwasser. „Trink Du - und dann fahren wir nach Hause!“ Um Andreas Mundwinkel zuckt ein Lächeln. Er erinnert sich, seine Frau noch überraschen zu wollen. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen.

 

Er trinkt aus. Die beiden verabschieden sich von ihren Tischgästen, wünschen ihnen ein weiterhin gutes Jahr. Andreas umgreift die Hüfte seiner Frau, zieht sie an sich. „Das war ein schöner Abend“, flüstert sie ihm entgegen. Er drückt ihr einen Kuss auf den Mund. „Komm!“ Hand in Hand gehen die beiden zur Garderobe. Andreas hilft seiner Frau in den Mantel, den eigenen Mantel hängt er nur um. Sie gehen Richtung Hotelhalle, wo noch ein Weihnachtsbaum warmes Kerzenlicht ausstrahlt.

 

Während Lieselotte Richtung Ausgang strebt, zieht Andreas Richtung Rezeption. Die Hand seiner Frau hält er fest, so dass sie mit ihm gehen muss. „Hast Du etwas vergessen?“ fragt sie. „Könnte man so sehen“, meint er nur vielsagend. Und zur Rezeptionistin gewand: „Meine Schlüssel bitte, Nummer 166!“ „Was soll das? Wohnen wir etwa hier?“ Lieselotte ist überrascht. Sie glaubt nicht, was sie sieht. Ihr Mann strebt mit dem Schlüssel zum Aufzug. „Ich habe doch gar nichts dabei“, sagt sie. „Macht doch nichts, Liesel“, sagt Andreas verschmitzt, „ohne alles bist Du noch schöner!“. Die beiden spiegeln sich im goldfarbenen Metall und im Rahmen der Aufzugtür. Sie sehen sich an - und strahlen. Andreas legt den Arm auf die Schultern seiner Frau. Die Tür öffnet sich. Auch im Innern des Aufzugs ist alles verspiegelt. Andreas küsst seine Frau. Dann drückt er den Etagenknopf. „In diesem Jahr geht es aufwärts!“

 

 

Blauer Himmel, gleißende Sonnenstrahlen auf einer dichten Schneedecke - all das wäre zu sehen, wenn sich Andreas und Lieselotte Pitz zum Fenster ihres Zimmers bewegen würden. Aber sie liegen noch immer in ihrem kuschelig warmen Bett. Sein Arm reicht über ihren Hals zurück zu seinem Körper. Es scheint, als ob er sie erdrücken wollte. Lieselotte wird wach, befreit sich aus diesem Würgegriff. Daraufhin öffnet auch Andreas verschlafen seine Augen. „Hallo Liesel, schön geschlafen?“, murmelt er aus seinem Kissen.

 

„Es war eine wunderschöne Nacht“, erwidert Lieselotte leise. „Das Essen, unsere Tänze, das Feuerwerk und dann dieses Zimmer!“ Sie scheint in Gedanken noch einmal alles zu erleben. „Wie bist Du eigentlich dazu gekommen, hier zu übernachten?“ Erst sagt Andreas nichts, gewöhnt verschlafen blinzelnd seine Augen an die Helligkeit im Hotelzimmer. Er rollt sich auf den Rücken, schaut zur Decke. „Du wolltest doch immer ausgehen, ‚richtig’ ausgehen“, sagt er dann. „Und was ist besser als Ferien vom Alltag, die das Zuhause wirklich hinter einem lassen? Und im Hotel gab es ein Sonderangebot: Silvesteressen mit Feuerwerk und Übernachtung - alles inclusive!“ „Und mich dazu!“, meint Lieselotte mit spitzer Stimme. „Ja, Liesel!“, entgegnet er im satten Tonfall eines zufriedenen Ehemannes. Die beiden rollen aufeinander zu, sie liegen einander gegenüber. Ihre verliebten Blicke kreuzen sich. „Und jetzt noch ein schönes Frühstück mit allem Drum und Dran“, stellt Andreas verträumt fest, als er seine Frau umarmt. Er rollt über sie, richtet sich auf. Sein Blick fällt auf seine Armbanduhr, die ihn vom Nachttisch aus anzuschauen scheint.

 

„Was, schon 20 vor elf?“ entfährt es ihm. Er sieht gar nicht mehr ihre mädchenhaften Brüste, springt aus dem Bett. „Wir müssen runter zum Frühstück! Es gibt nur bis elf Uhr etwas zu essen!“ Wie eine kalte Dusche überfährt es Lieselotte - und das nicht nur, weil er die Bettdecke mit sich gerissen hat. Aber so kennt sie ihren Mann. Er ist ein Hektiker. Aus der Dusche hört sie das Wasser rauschen. „Komm Liesel!“, ruft er. Noch liegt sie auf dem Bett, schaut aus dem Fenster, wo graue Wolken aufziehen. Als Andreas weiter nach ihr ruft, steht sie auf, folgt ihm in die Dusche.

 

Das Frühstücksbüfett war schon etwas „zerrupft“, als die beiden kurz vor elf Uhr ins Restaurant kommen. Gleich den ersten Kellner fragt Andreas, ob sie noch essen können. „Natürlich, gerne“, bekommt er zu hören. Lieselotte sucht einen der schon wieder sauber hergerichteten Tische. Sie setzt sich hin. Eine Bedienung kommt vorbei: „Möchten Sie Kaffee?“ „Ja, gerne!“ „Ich möchte lieber Tee - Hagebuttentee“, ergänzt Andreas auf den fragenden Blick der Kellnerin. Er hat sich nicht einmal hingesetzt. „Komm, wir gehen essen“, sagt er zu Lieselotte gewandt.

 

Sie steht wieder auf. Sie laufen zur Büfett-Theke: Fruchtsäfte, Müsli, Körner, Brot und Brötchen, verschiedene Marmeladensorten, Käsescheiben, Wurstplatten, Rührei und gekochte Eier. „Wenn ich das essen müsste“, sagt Andreas, dabei zeigt er auf Wurst und Rührei, „würde mir schlecht.“ Er schaut sich weiter um: Obstsalat, Bananen, Äpfel, Orangen. Dann entdeckt er die Piccolos, kleine Sektflaschen. „Na Liesel, trinken wir einen?“ fragt er Lieselotte. Als sie nickt, nimmt er zwei Flaschen, holt sich noch einen Fruchtsaft und geht zum Tisch zurück. Lieselotte kommt mit einer Schale Müsli. „Auf ein schönes Neues Jahr!“ Andreas gießt den Sekt in die bereit stehenden Gläser. „Andreas, schau mir in die Augen“, fordert Lieselotte ihren Mann auf. „Prost!“ Die Gläser klingen hell.

 

„Weißt Du noch“, erinnert Lieselotte, „als wir in Warnemünde waren und fast das Abendessen verschlafen hätten?“ „Jaaa“, sagt Andreas gedehnt, „da hatten wir auch einen zu viel getrunken!“ „Draußen war es kalt und in der Fischerkate haben wir einen Grog nach dem anderen in uns reingeschüttet.“ Lieselotte lächelt in der Erinnerung an diesen Kurzurlaub an die herbstliche Ostseeküste. „Und dann haben wir uns im Hotel hingelegt und sind auch erst fünf Minuten vor dem großen Menü wach geworden“, ergänzt Andreas. „Das hat hervorragend geschmeckt. Und ich habe alles gegessen!“ Das ist für Andreas nicht alltäglich. Er mag nur wenig Fisch, isst kaum Fleisch und Käse und Eier sind auch nicht „seine Sache“. Jetzt zum Frühstück beschränkt er sich auf Marmelade-Brötchen und den mit Honig getränkten Puffreis. „Das erinnert mich an meine Kindheit“, sagt er. „Damals haben wir das in rauen Mengen gegessen.“ Lieselotte genießt ihre Brötchen mit Wurst und Käse, versucht ihren Mann davon zu überzeugen, dass er zum Abschluss auch noch einen Obstsalat essen sollte.

 

Schließlich ist es Mittag. Die beiden merken, dass sie stören. Das Hotelpersonal hat längst begonnen, das Büfett abzubauen. Außer Andreas und Lieselotte gibt es keine weiteren Gäste im Restaurant. Durch die großen Fenster zum Park sehen sie, dass es wieder schneit. Große, dichte Schneeflocken fallen zur Erde. Die draußen sichtbare Ruhe scheint trotz Geschirrgeklapper ins Restaurant überschwappen zu wollen. Das Schneegestöber nimmt zu. Man kann schon gar nicht mehr über die Talaue hinweg sehen.

 

„Gehen wir?“ Auffordernd schaut Andreas auf Lieselotte, die gerade ihren Löffel zur Seite gelegt hat. Sie nickt. Vor dem Aufzug legt Andreas seine Hand um seine Frau. Sie schauen in die goldfarbene Spiegelung. „Verwegen siehst Du aus“, meint sie, auf seinen Bartansatz anspielend. Er verzieht seinen Mund zu einem breiten Lächeln. „Andreas, ein Dreitagebart würde Dir stehen!“, schickt Lieselotte hinterher. Andreas sagt nichts. Im Aufzug betrachten sie weiterhin ihr Spiegelbilder. „Sie sieht auch ohne Schminke ‚einwandfrei’ aus“, denkt sich Andreas. Im Zimmer holen sie ihre Mäntel, dann gehen sie nach unten - zur Tiefgarage.

 

Andreas startet den Mercedes-Geländewagen. Das Rolltor der Garage öffnet sich und hinaus geht es. Dichtes Schneetreiben behindert die Sicht. Andreas fährt langsam und vorsichtig. „Das Beste an diesem Auto ist die Sitzheizung. Das muss ich immer wieder sagen“, meint Lieselotte, als sie nach Hause fahren. Der Schnee schluckt alle Geräusche. Herrlich sieht der Wald aus: Schwarze Bäume heben sich im Schneegestöber gegen das Weiß der Umgebung ab.

 

Endlich sind sie zu Hause. Das elektrische Garagentor fährt nach oben. Lieselottes Peugeot-Cabrio steht trocken in der Doppelgarage. Durch den Verbindungsgang geht es direkt ins Haus. „Mama, Papa, seid ihr es?“ klingt eine Stimme von oben. „Du bist schon da?“ ruft Lieselotte. „Wie war es bei Su?“ Mit lautem Gepolter kommt Isabella die Treppe herunter gesprungen.

 

Die Zwölfjährige ist das Nesthäkchen der Familie. Die „Großen“, das sind der sechsundzwanzigjährige Friedbert und die zweiundzwanzigjährige Helene, wohnen schon nicht mehr zu Hause. Helene studiert in Paris Literatur. Sie möchte Journalistin werden. Friedbert studiert „in Amerika“ ‚Economics’. „Wo der Wirtschaftsstudent wirklich studiert“, so erzählt Andreas immer Neugierigen aus Verwandtschaft, Bekanntschaft und Freundschaft, „ist egal. Das kennt eh’ keiner!“ An der Uni in Saarbrücken hatte Friedbert vor zwei Jahren eine amerikanische Austauschstudentin kennen gelernt. Sie kam aus Kalifornien und deswegen wollte er auch dorthin, als ihr Jahr in Deutschland vorüber war. „Jetzt sitzt er in Eureka, im nördlichen Kalifornien - noch weit hinter San Francisco“, erklärt Andreas nicht ganz ohne Schadenfreude. Erst war er damals dagegen, dass sein Sohn in Kalifornien „High life“ mache. Als er dann erfuhr, dass Eureka „amerikanische Provinz“ sei, stimmte er schließlich dem Auslandsstudium zu.

 

„Wir waren am Schloss“, erzählt Isabella. „Su, ihr Bruder, ihre Mutter und ihr Vater. Da war ’was los! Mindestens tausend Leute! Und die haben geschossen und geknallt! Und von überall in der Stadt haben wir Feuerwerke gesehen. Da geh’ ich nächstes Jahr wieder hin!“ Lieselotte umarmt ihre Tochter: „Erst einmal auch Dir ein schönes Neues Jahr!“ „Prost Neujahr, Kleines“, sagt dann auch Andreas. „Wann wart ihr denn zu Hause?“ „Gegen eins“, kommt zögerlich-fragend Isabellas Antwort. Sie durfte die Neujahrsnacht bei ihrer Freundin Su verbringen. Die beiden besuchen gemeinsam das Deutsch-Französische Gymnasium in Saarbrücken. Su ist die Tochter von Andreas’ Kegelbruder Horst Stolz, einem Lehrer.

 

Horst schwärmt immer von der Neujahrsnacht am Saarbrücker Schloss. Von der Schlossterrasse, einer Grünanlage hoch über dem Saartal, hat man eine großartige Aussicht auf die Stadtsilhouette und die überall aufsteigenden Feuerwerkskörper. Für Horst Stolz ist Neujahr ein „einigermaßen festliches Essen“ in einem Restaurant am St. Johanner Markt. Dann geht er zum Schloss, trinkt dort mit seiner Familie ein Glas Sekt, schaut sich das Spektakel und die fröhlichen Menschen an. Danach geht er gut gestimmt nach Hause. Als die Kinder dieses Mal zusammen Neujahr feiern wollten und auch Horst nichts dagegen einzuwenden hatte, nutzte Andreas die Chance, einmal allein mit seiner Frau Silvester zu feiern.

 

Für Helene war es die erste Silvesternacht in der französischen Hauptstadt. Die feierte sie lieber mit ihren neuen Kommilitonen als nach Haus zu fahren; und nach Eureka zu fliegen hatte Andreas keine Lust.

 

 

 

 

 

 

„Verdammt, schon wieder Überstunden!“ Andreas Pitz stürmt in sein Büro, an der Sekretärin vorbei. Er geht zum Telefon, ruft in der Werkstatt an. „Hallo Armin, heute müssen wir wieder länger bleiben! Der Polen-Auftrag soll jetzt doch noch diese Woche raus. Ich komm’ nachher runter. Dann starten wir die Testreihen.“ Andreas wählt eine neue Nummer. Durch die offen stehende Bürotür brüllt er nach draußen: „Sie bleiben auch da! Wir müssen später noch den Bericht schreiben.“ Andreas macht eine kleine Pause. „Das geht doch bei Ihnen?“, klingt es schon etwas versöhnlicher. Der Elektroingenieur, der bei der auf Bergbaumaschinen spezialisierten Maschinenfabrik Brück als Abteilungsleiter auch für die Qualitätskontrolle zuständig ist, sieht seine Sekretärin vor seinem geistigen Auge Grimassen schneiden. „Hans-Georg“, Pitz spricht wieder ins Telefon, „es tut mir leid. Wir müssen wieder länger arbeiten. Der neue Kohlenschaufler für die Polen muss diese Woche noch fertig werden und heute Abend machen wir den Schaltungstest. In einer halbe Stunde bin ich in der Halle.“ Es scheint keinen Widerspruch zu geben. Pitz legt auf. Schnellen Schrittes geht er zur Bürotür, schaut in sein Sekretariat, wo Sigrid Konz am Schreibtisch Papiere sortiert. „Sie können doch bleiben?“, fragend bittend klingt Andreas’ Stimme.

 

„Wenn es denn wieder sein muss.“ Sigrid Konz klingt nicht gerade begeistert. „Diesen Monat bin ich schon drei Mal länger geblieben. Wann soll ich denn die Überstunden mit denen vom Vormonat abfeiern? Hier läuft doch alles auf der ‚Reservespur’!“ Pitz weiß, dass er seinen Mitarbeitern viel abverlangt. Aber die Aufträge sind eng kalkuliert. Spezielle Einzelanfertigungen von Maschinen für die Bergwerke in Polen und in der Ukraine müssen das Werk auf jeden Fall ohne Mängel verlassen. Nachbesserungen sind teuer. Erst vor neun Monaten hatte die Firma einen Walzenschrämlader in die Ukraine geliefert. Als die Maschine mit der dortigen Stromspannung Probleme hatte, musste Andreas Pitz mit zwei Kollegen nach Kriwoj Rog fahren. Über eine Woche waren die Männer vor Ort, um die Maschine so umzubauen, dass es kaum noch Ausfälle gab. Für die Firma ging mit dieser Aktion ein Teil des kalkulierten Gewinnes verloren.

 

Im letzten Herbst hatte der Chef dann einen Bergbauzulieferer in Polen gekauft. Mit diesen billigeren Arbeitskräften wollte er zumindest Teile der für die schlesischen Bergwerke bestimmten Produktion vor Ort fertigen. Bislang hat sich das als richtige Entscheidung erwiesen. Die Polen arbeiten gut. Nicht nur, dass sie nach den Plänen aus der Zentrale Bauteile passgenau für die im Saarland entwickelten Maschinen fertigen. Sie haben offensichtlich auch einen „besseren Draht“ zu den Gruben im Donez-Becken. So kam ein neuer Auftrag aus der Ukraine über Zabrze in die Entwicklungsabteilung nach Völklingen. „Unsere Investition in Polen sichert Arbeitsplätze auch bei uns“ ist seitdem einer der Lieblingssätze von Josef Brück. Vor allem brauchen jetzt keine Monteure mehr aus dem Saarland nach Polen zu fliegen, um Mängel zu beseitigen oder bei der Inbetriebnahme der doch gewaltigen und komplizierten Maschinen zu helfen. Das besorgen die polnischen Kollegen kostengünstig und schnell.

 

„Ich geh’ jetzt nach unten. Wenn alles klappt, bin ich in einer Stunde wieder da“, sagt Andreas Pitz zu seiner Sekretärin. „Dann schreiben wir den Bericht und morgen kommen Sie halt etwas später.“ „Jawohl, Herr Oberingenieur!“ Wenn ihn Sigrid Konz so anspricht, ist sie wirklich sauer. „Es tut mir leid“, schiebt Andreas Pitz hinterher, „aber der Chef will morgen Ergebnisse sehen.“ Er geht ins Labor, um elektrische Messtests mit der neuen Maschine für das polnische Bergwerk zu machen. „Fangen wir an“, sagt er zu seinen Mitarbeitern. Armin Adler bedient die Maschine, Hans-Georg Kretschmann sitzt am Computer und Andreas Pitz ruft die verschiedenen Programmsimulationen auf. Es scheint alles in Ordnung zu sein. Sie kommen zügig voran.

 

„Ich hab’ gehört, dass wir noch mehr Arbeit nach Polen verlagern“, sucht auf einmal Hans-Georg Kretschmann das Gespräch mit Pitz. „Weiß ich nicht“, sagt Andreas, seine Augen weiterhin auf die Messreihen im Computer gerichtet. „Slawomir war vor zwei Wochen beim Chef. Da ging es wohl um neue Aufträge. Aber dass wir dafür ’was abgeben?“ Slawomir Barteczko ist der Geschäftsführer der Partnergesellschaft in Zabrze. Er kommt jedes Quartal nach Völklingen, „um Bericht zu erstatten“. Mit dem Chef Josef Brück kommt der frühere Allein-Eigentümer des polnischen Maschinenbauers gut hin. Er hat sich im Zuge der EU-Erweiterung einen deutschen Partner gesucht, um Know-How und Aufträge nach Polen zu holen. Bislang wurden schon zwei polnische Mitarbeiter in Völklingen auf westliche Standards geschult. Im Austausch haben die Polen einem leitenden Techniker aus Völklingen in Zabrze ihre Arbeitsweise vermittelt.

 

Durch den Lärm der Maschine brüllt Armin Adler, dass er von einer Sekretärin gehört habe, dass das polnische Werk modernisiert wird. Adler ist Betriebsratsmitglied, kommt mit vielen Mitarbeitern ins Gespräch. Von daher kennt er alle Gerüchte. „Dann würde auch eine Auftragsverlagerung Sinn machen“, meint er skeptisch. „Was wollen wir denn verlagern?“, fragt Pitz zurück. „Da kommt doch nur die Produktion in Frage.“ „Genau das“, stellt Adler fest. „Und das bedeutet Entlassungen!“ „Aber unsere Auftragsbücher sind doch voll! Wir machen nicht umsonst unsere Überstunden. Es könnte nicht besser laufen. Und bisher hat noch niemand etwas von ‚Verlagerung’ gesagt“, stellt Pitz klar. „Gesagt noch nicht“, meint Kretschmann, „aber unsere polnischen Kollegen haben angedeutet, dass bei Ihnen fleißig gebaut wird. Nach dem EU-Beitritt sind sie ‚Inland’ und bei ihrer Kostenstruktur um einiges günstiger als wir.“ „Brück ist Unternehmer“, hier spricht der Gewerkschaftler aus Adler, „und Unternehmer unternehmen ’was. Am liebsten erhöhen sie ihre Gewinne. Und dazu sparen sie. Am Arbeitnehmer!“

 

Für Andreas Pitz sind die Ängste seiner Kollegen neu. Er kann - und will - nicht glauben, dass Brück Teile seines Unternehmens nach Osten verlagert. „Wir sind gut. Und wir können etwas“, sagt er beruhigend zu seinen Kollegen. „Es sind schon einige Firmen in die Tschechei gegangen.“ Er macht eine kleine Pause. „Und sie sind wieder zurück gekommen, weil die Qualität nicht mehr gestimmt hat.“ Über 300 Mitarbeiter beschäftigt Brück in Völklingen. Halb so groß ist die Schwesterfirma in Polen. „Wenn uns die Polen übernehmen wollen, müssen sie noch ganz schön wachsen“, meint Pitz. „Deswegen ist ja auch der Barteczko so oft hier“, wirft Adler ein. Pitz kommt ins Grübeln. Irgendwie stimmt das schon. Der polnische Geschäftsführer ist zwar immer mal wieder im Saarland gewesen. Aber bei genauem Nachdenken ist er seit Jahresanfang ein bisschen zu oft in Völklingen. Und auch sein Chef war - wenn Pitz Gesprächstermine wollte - „gerade mal in Polen“.

 

„Fertig!“, Kretschmann betätigt die Druckertaste. Pitz holt drei Seiten Messergebnisse von der Auswurfplatte, wirft einen prüfenden Blick auf die Papiere und lobt seine Mitarbeiter: „Prima Jungs, so muss das laufen. Dann bauen auch wir die Maschinen und nicht die Polen!“ Guter Dinge geht Andreas Pitz nach oben in sein Büro. „Alles bestens, Frau Konz“, ruft er gut gelaunt seiner Sekretärin zu. „Hier sind die Ergebnisse! Bringen Sie sie bitte für den Chef ‚in Form’.“ Er geht in sein Büro. Vor seinem Schreibtisch dreht er um. Andreas geht noch einmal ins Sekretariat: „Ach, was ich Sie noch fragen wollte: Haben Sie davon gehört, dass von unserer Produktion etwas nach Polen gehen soll?“ „Nein“, entgegnet sie, „das ist mir neu.“

 

Als Sigrid Konz am nächsten Tag in der Kantine sitzt, erzählt sie einer Kollegin, dass ihr Chef davon gesprochen habe, dass Teile der Produktion nach Polen gingen …

 

 

Der stumpfe Kirchturm des Straßburger Münsters ist am Horizont zu sehen. Die Autostraße verlässt die Vogesen-Höhen. „Das war doch wieder eine gute Idee, über Fastnacht wegzufahren.“ Liselotte Pitz schaut ihren Mann von der Seite an. Sie erwartet erneut zustimmendes Einverständnis für ihre Entscheidung, für ein paar Tage gemeinsam mit der Tochter ein Wellness-Hotel im Schwarzwald zu besuchen. Die zwölfjährige Isabella war zwar zunächst nicht sonderlich davon begeistert, „zusammen mit den ‚Alten’“ ein „Schönheitshotel“ zu besuchen. „Das brauche ich doch gar nicht. Ich bin doch schön!“, sagte sie kess, als Lieselotte vor einer Woche die Familie mit ihrer Idee überraschte. Auch Andreas Pitz verspürte zunächst wenig Lust, „als Mann in ein ‚Weiberhotel’“ zu fahren.

 

Aber Isabella wurde schließlich mit einem dem Hotel benachbarten Reiterhof überzeugt. Dort könnte sie während des Aufenthaltes Reitunterricht nehmen. Für Andreas gab es schließlich gar keine Alternative: Sein Chef hatte im Gegensatz zu früheren Jahren zu Fastnacht eine Urlaubssperre verhängt. Lediglich Rosenmontag sollte für die Mitarbeiter frei sein. Faschingsdienstag müssten wieder „alle Mann arbeiten“. Die Auftragslage sei so gut, war die Begründung von Josef Brück, dass auf keinen Mitarbeiter zu verzichten sei. Nur wenn alle arbeiteten, könnten die bestellten Maschinen vereinbarungsgemäß ausgeliefert werden. Andreas Pitz war deswegen verärgert. Normalerweise machte er zu Fastnacht mit der Familie eine Woche Ski-Urlaub. Jetzt hätte er zu Hause bleiben müssen. Und dann kam auch noch seine Frau mit der Idee eines Wellness-Urlaubs. „Das kann Dir gar nicht schaden, Andreas. Bei Deinen dauernden Überstunden machst Du Dich noch kaputt!“, so hatte sie ihn praktisch „gezwungen“, auf ihren Vorschlag einzugehen.

 

Andreas folgt der Beschilderung „Place Kléber“. Er stellt den Wagen in der Tiefgarage nahe dem Straßburger Münster ab. „Mittagszeit, Essenszeit“, sagt er zu Frau und Tochter gewandt. „Liesel, wo gehen wir hin?“ „Nach ‚La Petite France’, in die Altstadt“, entscheidet Lieselotte und sieht die Enttäuschung in Isabellas Augen. „Ich wollte lieber zu MacDo“, sagt die Kleine mit Trotz in der Stimme. „Erst gesagt, erst gemacht“, ungerührt besteht Lieselotte darauf, „ein typisches Restaurant“ zu besuchen. „Im Elsass isst man Sauerkraut!“ Andreas mag Sauerkraut. Deswegen hat er nichts gegen die Entscheidung seiner Frau einzuwenden. Zielsicher führt Lieselotte Pitz die Familie zur Ill, um in einem der in einem Fachwerkhaus untergebrachten Restaurants mit Blick auf die vorbei fahrenden Ausflugsschiffe zu speisen. Mit einem Eis-Crêpe als Nachtisch ist auch Isabella wieder mit der Restaurant-Auswahl versöhnt.

 

Auf dem Rückweg zum Auto schauen die Drei noch in die Kathedrale. Lieselotte erklärt ihrer Tochter die astronomische Uhr. Andreas zündet vor der Heiligenfigur von St. Antoine eine Kerze an. „Für unser Glück“, sagt er, „damit alles so bleibt, wie es ist.“

 

Als sie den Rhein überqueren, beginnt es zu schneien. Auf den Schwarzwaldstraßen hoch nach Freudenstadt liegt bereits eine gute Schneeschicht. Andreas fährt vorsichtig. Für den Mercedes-Geländewagen sind weder Wetter noch Straße ein Problem. Sie kommen gut voran. Trotzdem beginnt bereits die Dämmerung, als die Familie ihre Zimmer im Hotel Engel bezieht. Während Lieselotte das Hotel erkundet, begleitet Andreas seine Tochter zum benachbarten Reiterhof. Isabella wollte schon einmal „ihr“ Pferd sehen. Die Reitlehrerin, die sie im Stall treffen, weiß schon, dass Isabella anderthalb Tage zu Besuch ist. Sie bringt das Mädchen zu „Bonny“, einem „braven Haflinger“. Das Pferd gefällt Isabella. Willig lässt sich das Pferd von der Zwölfjährigen streicheln.

 

Im Ambiente eines griechischen Tempels liegen Lieselotte und Andreas im weißen Frotteebademantel auf dem einer Liege nachempfundenen warmen Stein von „Wolke 7“. „Wolke 7“ ist das

Wellness-Paradies im Hotel Engel. Sphärische Musik klingt dezent aus den Lautsprechern über den riesigen Fenstern, die aus der wohlig-warmen Umgebung eines Badehauses einen weiten Blick in die verschneite Schwarzwaldlandschaft erlauben. Seit dem späten Morgen genießen die beiden ein „Beauty-Programm“. Noch gestern Abend hatte Lieselotte für sich und ihren Mann Massagen bestellt und Sauna und Solarium reserviert. Lieselotte genießt das Verwöhnen etwas mehr, ihr Mann etwas weniger.

 

Zur Einstimmung ging es gleich nach dem Frühstück in das wohltemperierte Wasser eines Whirlpools. In Erinnerung an einen Urlaub in Portugal fand Andreas das gemeinsame Bad mit seiner Frau im „Blubberwasser“ erfrischend. Etwas genervt fühlte er sich während der Behandlung beim Masseur. Der fordert Andreas immer wieder auf, sich doch zu entspannen. „Ich habe keine Ruhe für solche Dinge“, sagte Andreas zu seiner Frau. Aber dennoch folgte er Lieselotte danach brav ins Solarium. Andreas sah aber keinen Sinn darin, als „eher dunkler Typ“ auch noch künstliche Sonne zu ertragen. So war er froh, als es in die Wärmegrotte ging. Von exotischen Düften umnebelt ließen sich die Farblichteffekte mit Lieselotte genießen. Auch die Regenwaldmassage entspannte Andreas: Dicke, warme Wassertropfen perlten von seinem Körper, als er mit Lieselotte den grün dekorierten Rieselgang zu Papageien-Geschrei durchquerte. Von der Ayurveda-Gesichts-Massage hielt Andreas allerdings ebenso wenig wie vom Kaltwasserbecken  nach der Sauna. „Liesel, ich bin ein Warm-Duscher“, räumte er lächelnd gegenüber seiner Frau ein. Natürlich weiß sie, dass Andreas kein Sauna-Gänger ist. Sie fand es daher sehr entgegenkommend, dass er ihr die Freude gemacht hatte, sie in die Schönheitsfarm zu begleiten.

 

Entspannt liegen die beiden im offenen Bademantel auf dem beheizten Mosaik. „Schön ist es hier“, haucht Lieselotte. „Wir sollten solche Kurzreisen öfter machen.“ Andreas schaut nach draußen. Das gleißende Sonnenlicht wird vom frisch gefallenen Schnee der vergangenen Nacht reflektiert. Der blaue Himmel lässt aus der Wärme des Badehauses vergessen, dass es draußen eisig kalt sein muss. Morgen früh wollen sie noch auf die Loipe gehen. Dann fahren sie wieder nach Hause.

 

„An was denkst Du?“, fragt Lieselotte ihren gedankenverloren vor sich hinblickenden Mann. Seit einigen Wochen gibt es Gerüchte im Betrieb. Es ist die Rede davon, einen Produktionsbereich nach Polen zu verlagern. Das würde Entlassungen im Saarland bedeuten. „Es gibt Probleme bei uns im Betrieb“, sagt Andreas. „Eine Abteilung wird geschlossen. Wir haben zwar genug zu tun. Aber wir sind zu teuer. Sagt der Chef.“ Andreas erklärt seiner Frau, dass die polnische Beteiligungsgesellschaft wirtschaftlicher als das Völklinger Werk arbeitet. „Eine Arbeitsstunde in Deutschland kostet fünf Mal mehr als eine Arbeitsstunde in Polen! Da können wir noch so gut arbeiten. Wenn wir unsere Kosten über eine Mischkalkulation nicht drücken können, bleiben wir ‚auf der Strecke’.“ Lieselotte greift nach dem Arm ihres Mannes. „Und die Qualität?“, fragt sie. „Die Polen sind nicht schlecht“, räumt Andreas ein. „Was die nicht können, lernen die schnell. Nicht umsonst hat sich Barteczko einen deutschen Teilhaber gesucht. Außerdem“, so fährt er fort, „sind die Abnehmer im Osten nicht an der ‚ganz großen Qualität’ interessiert. Denen reicht es, wenn gute Maschinen gut funktionieren.“ 

 

„Und um welche Abteilung geht es?“, fragt Lieselotte nach Weile des die Atmosphäre genießenden Schweigens. „Das weiß man noch nicht so genau“, sagt Andreas. „Mal sind es die Steinbruchleute, dann ist es die Erz-Abteilung. Auch von meiner Abteilung war schon die Rede.“ „Die Steinkohle-Abteilung!“, entfährt es Lieselotte ganz erstaunt. Sie richtet sich auf. „Das geht doch nicht! Steinkohle und das Saarland gehören zusammen. Eure Firma hat doch ihr gesamtes Know how mit den Saarbergwerken entwickelt!“ „Eben!“ Andreas klingt nicht mehr so überzeugend. „Im Saarland gibt es gerade mal noch zwei Gruben. Und das auch nicht mehr allzu lange. Kohle kommt jetzt aus Polen! Dann werden auch dort die neuen Maschinen entwickelt und gebaut!“

 

Lieselotte schaut auf ihren die Wärme sichtlich genießenden Mann. Entspannt liegt er trotz des ernsten Themas auf der Liege. „Die Polen sind nicht schlecht“, wiederholt Andreas in Gedanken versunken. „Erst vor ein paar Tagen haben Sie einen neuen Auftrag von einer Kohlengrube in Sibirien ‚an Land gezogen’. Und mit Kemerowo wollte Brück schon immer ins Geschäft kommen.“ Lieselotte zieht ihren Mann am Arm: „Komm, wir gehen in den Whirlpool!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Guten Morgen“, freundlich begrüßt Lieselotte Pitz ihre Sekretärin. Sandra Bachnik sitzt bereits seit acht Uhr im Büro. Die examinierte Krankenschwester Lieselotte Pitz leitet seit ihrem Qualifizierungsabschluss als Pflegedienstleiterin vor fünf Jahren die Ambulante Seniorenpflege der Caritas in Dillingen. Der gut funktionierende Altenpflegedienst ist eine gemeinnützige GmbH mit 28 Mitarbeiterinnen. Pitz ist praktisch die Geschäftsführerin des kleinen Unternehmens. Formell wird die Ambulante Seniorenpflege vom Personaldirektor im nahe gelegenen von der Kirche getragenen Krankenhaus als kaufmännischem Geschäftsführer geleitet. Da der aber dort genug zu tun hat, muss sich Lieselotte Pitz nur immer mal wieder mit ihrem Chef absprechen.

 

So war es auch heute Morgen. Mit Joachim Papierok hat sich Lieselotte Pitz beraten. Zur Mittagszeit stehen Bewerbungsgespräche an. Der Betrieb soll weiter wachsen. Die Ambulante Seniorenpflege will eine der vom saarländischen Sozialministerium vorgesehenen Dienstleistungsagenturen werden, um die vielfach anzutreffende Schwarzarbeit bei Haushalten zu reduzieren. Da die Altenpflegerinnen bei der ambulanten Betreuung älterer Menschen ohnehin oft genug hauswirtschaftliche Dienstleistungen erbringen, lag es nahe, diesen Servicebereich auszubauen und sozialversicherungspflichtig beschäftigt Putzfrauen, Bügelhilfen, Köchinnen, Krankenhilfen oder Wasch-Hilfen Privathaushalten anzubieten. Nach Lieselottes Ansicht bringt ein solcher Service allen Seiten Vorteile: Die Haushalte beschäftigen keine „Schwarzarbeiter“ mehr. Die Haushaltshilfen sind in das soziale System integriert. Das bedeutet, dass sie Rentenansprüche erwerben, krankenversichert sind, eine Unfallversicherung haben und sogar Ansprüche für eine eventuelle Arbeitslosigkeit aufbauen. Außerdem erhalten die Haushalte unabhängig von Ferien oder Krankheit ihrer „Perle“ die Gewähr einer regelmäßigen Dienstleistung, weil nicht die Person, sondern die Leistung gekauft wird. Sollte die gewohnte Arbeitshilfe krank sein, kommt eine Vertreterin. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil ist außerdem, dass diese Dienstleistungen steuerlich absetzbar sind.

 

Fünf Frauen will Lieselotte Pitz zunächst einmal einstellen. Hinzu kommt eine weitere ausgebildete Krankenschwester. Nach einer Änderung des Pflegedienstgesetzes muss ein fachlich qualifizierter Ansprechpartner bei Altenpflegediensten rund um die Uhr zur Verfügung stehen. 15 Frauen hat Sandra Bachnik für ihre Chefin eingeladen. Dabei brauchten sie nicht einmal eine Anzeige zu schalten. Immer wieder gehen bei der Ambulanten Seniorenpflege unaufgefordert Bewerbungen von Hauswirtschafterinnen wie Altenpflegerinnen ein. Bekannte von Mitarbeiterinnen bewerben sich ebenso wie Menschen, die die Autos des Altenpflegedienstes sehen und denken, dass sie hier bei einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung einen sicheren Arbeitsplatz finden können. Stolz ist Lieselotte Pitz darauf, dass sie - im Gegensatz zu vielen anderen Pflegediensten - kaum Personalfluktuation hat. Wer bei ihr arbeitet, arbeitet gern. Pitz nimmt sich nicht nur die Zeit, mit ihren Mitarbeiterinnen zu feiern, sie „geigt“ ihnen auch gelegentlich die Meinung. Dies aber so, dass die Mitarbeiterin etwas lernt und weiß, wie sie sich in Zukunft verbessern kann. „Zufriedene Mitarbeiter haben zufriedene Kunden“, sagt Pitz. „Und zufriedene Kunden vermitteln Freude bei der Arbeit!“

 

„Gut, dass Sie da sind“, ruft Sandra Bachnik zu ihrer Chefin. „Eine Frau hat heute Morgen schon angerufen, dass sie nicht vorbeikommen könne. Ihr Kind sei krank geworden.“ Lieselotte Pitz stellt ihre Tasche auf den Schreibtisch. Die Ambulante Seniorenpflege ist eigentlich nur ein großes Büro: Im Eingangsbereich sitzt die Sekretärin, dann kommt eine Art Besprechungszimmer. Hier holen sich die Mitarbeiterinnen auch ihre Informationen vom Einsatzbrett, an dem die Dienstpläne hängen. Nur durch eine große, zumeist offen stehende Schiebetür getrennt hat dann auch schon Lieselotte Pitz ihren Schreibtisch im Nachbarzimmer stehen. „Machen Sie mit der Frau einen neuen Termin aus!“, ruft Pitz ihrer Sekretärin zu. Sie mag Frauen mit Kindern. Für diese Arbeit sind sie die besten Mitarbeiterinnen. Sie fallen zwar gelegentlich wegen der Kinderbetreuung aus. Aber ansonsten sind sie zuverlässig. Sie wissen, was in einem Haushalt zu tun ist und auch bei der Altenpflege sind sie beliebte Ansprechpartnerinnen, weil sie die Geduld mitbringen, die hin und wieder bei der Seniorenbetreuung notwendig ist.

 

Heute wird es für Lieselotte Pitz wieder kein Mittagessen geben. Sie hat sich für die 14 Gespräche mit den Bewerberinnen jeweils 15 Minuten eingeräumt. Die grundlegenden Daten der Frauen kennt Pitz aus den vorliegenden Schreiben. Die Vorstellungsgespräche sollen nur noch zeigen, ob sie ins Team und zur vorhandenen Mitarbeiterstruktur passen. „Bringen Sie mir eine Salatschale mit, wenn Sie in die Mittagspause gehen“, bittet Lieselotte ihre Sekretärin. Es ist elf Uhr. Die erste Bewerberin steht in der Tür.

 

Katrin Reis ist 36 Jahre alt, verheiratet und hat zwei schulpflichtige Kinder. Ihr Mann ist Koch in der Hütten-Kantine. Sie hatte vor ihrer Hochzeit im Gästehaus der Hütte im Service gearbeitet. Ihre Berufstätigkeit gab sie mit der Geburt des ersten Kindes auf. Jetzt sucht sie einen beruflichen Neustart als Altenpflegehelferin. Lieselotte Pitz unterhält sich freundlich mit der Frau, die aber nur morgens arbeiten will. „Nachmittags muss ich wegen der Kinder zu Hause sein!“ Das passt nicht zu den Anforderungen bei der Ambulanten Seniorenpflege. Hier sollen alle Mitarbeiter morgens, nachmittags und abends einsetzbar sein. Selbst ein Entgegenkommen auf die Frühschicht hätte nicht gepasst, weil die Dienste bereits um sechs Uhr beginnen. Katrin Reis könnte aber frühestens nach dem Schulbeginn ihrer Kinder arbeiten.

 

Die nächste Kandidatin ist eine Frau, auch Mitte 30. Nach einer Krebserkrankung geht es ihr wieder besser. Als gelernte Altenpflegerin will sie in den Beruf zurück, zunächst allerdings nur halbtags. Dagegen hat Lieselotte Pitz nichts einzuwenden. Nach ihrer Ansicht arbeiten Halbtagskräfte ohnehin effektiver als Ganztagsbeschäftigte. Pitz legt die Papiere der neuen Kollegin für die Sekretärin bereit.

 

Dann kommt die Krankenschwester. „Sie wissen bestimmt auch schon“, beginnt sie das Gespräch mit Lieselotte, „dass unser Krankenhaus geschlossen werden soll.“ Entsprechend den neuen Anforderungen der Gesundheitsreform will die Rumlicher Schwesternschaft eines ihrer saarländischen Krankenhäuser schließen. „Ich habe davon gehört“, räumt Pitz ein. „Aber es muss ja nicht so kommen“, tröstet sie die Bewerberin. „Ich möchte aber auch weg von Stress und Mobbing in dem Haus“, fährt die etwa 50-Jährige fort. „In der Altenpflege sehe ich eine Zukunft“, sagt Gerda Kerner. „Ich mag nicht mehr in einer großen Organisation arbeiten. So eine kleine Station wie Ihre würde mir gefallen.“ Lieselotte Pitz fragt nach den beruflichen Einsatzfeldern der Krankenschwester und stellt fest, dass Gerda Kerner wie sie Kinderkrankenschwester ist. Sie hatten - um ein Jahr versetzt - sogar die selben Ausbilderinnen in der Schwesterschule. Angeregt unterhält sich Pitz mit ihrer Besucherin. „Dann fangen Sie zum 1. Mai bei uns an!“, sagt sie schließlich. Die nächste Bewerberin wartet schon vor der Tür.

 

Die Frau ist mindestens 60 Jahre alt. Sie spricht wenig, scheint aber sichtlich erfreut zu sein, dass sie dieses Vorstellungsgespräch hat. Lieselotte Pitz fällt es schwer, die krakelige Handschrift im Bewerbungsschreiben und den Lebenslauf zu lesen. So lässt sie sich erzählen, dass Anneliese Hartz nach früheren Beschäftigungen in der Gastronomie, im Hotel und in mehreren Altenheimen nach der Frühpensionierung ihres Mannes wieder darauf angewiesen ist, etwas Geld dazu zu verdienen. Obwohl die Frau nicht den rüstigsten Eindruck vermittelt will es Lieselotte mit ihr als Hausarbeitshilfe versuchen. Als sie ihr das sagt, strahlen die Augen von Anneliese Hartz auf.

 

So geht es über die Mittagszeit hinweg. Ohne Pause kommen die Bewerberinnen wie bestellt. Lieselotte Pitz unterhält sich mit den Frauen, bringt Berufliches wie Privates zur Sprache. Einer Frau, die in Kürze in den Hochwald umziehen will, rät sie von der Stelle ab, da sich die Beschäftigung im Saartal wegen der Anfahrt nicht mehr lohnen würde. Eine Frau ohne Auto kann sie auch nicht einstellen, weil zu Früh- oder Spätschicht noch nicht genügend öffentliche Verkehrsmittel unterwegs sind. Schließlich hat Lieselotte Pitz noch drei Frauen als Hausarbeitshelferinnen ausgewählt. Anfang April sollen sie ihre Arbeit aufnehmen.

 

Unverständlich ist Lieselotte als selbstständiger Frau der Neuzeit die Feststellung einer Bewerberin, dass sie erst ihren Mann fragen müsse, ob sie die Stelle annehmen dürfe. Bei den anderen Frauen war sofort sichtliche Freude zu bemerken, wenn ihnen Lieselotte mitteilte, dass sie eingestellt würden. Dagegen wollte Ottilie Krämer erst einmal mit ihrem Mann über eine neue Berufstätigkeit sprechen. „Aber deswegen sind Sie doch da“, hatte Pitz eingeworfen. „Ihr Mann weiß doch, dass Sie wieder arbeiten wollen! Oder etwa nicht?“ „Doch, doch. Aber ich muss ihn halt fragen.“ Lieselotte Pitz fühlt sich in die 50er Jahre zurück versetzt. Von ihrer Mutter weiß sie, dass damals die Frauen ihre Ehemänner zu fragen hatten, wenn sie arbeiten wollten. Sie mag nicht glauben, dass es das heute noch gibt.

 

„Was machen wir mit der Mutter?“, fragt Sandra Bachnik, als sie von Lieselotte Pitz die Unterlagen der erfolgreichen Bewerber erhält, um die Arbeitsverträge auszuschreiben. „Welche Mutter?“ Mit der Frage fällt es Lieselotte wieder ein. „Ach, die Frau, die heute nicht kommen konnte.“ Nach kurzem Nachdenken bittet Lieselotte Pitz ihre Sekretärin, trotzdem einen neuen Termin mit der Frau abzusprechen. „Wenn alles gut läuft, nehmen wir die auch noch!“, sagt sie zuversichtlich.

 

Lieselotte geht zu ihrem Schreibtisch, holt ihre dick bepackte Tasche und verabschiedet sich von ihrer Sekretärin. „Tschüs. Morgen komme ich wieder später. Morgens bin ich bei der Saarländischen Pflegegesellschaft. Mittags esse ich mit Herrn Papierok in der Krankenhauskantine, um ihn über meine Gespräche zu informieren und am Nachmittag beginnen wir dann mit der Lohnabrechung.“ Für Lieselotte Pitz war das ein „guter“ Tag. Unzufrieden war sie eigentlich nur mit Elena Babitski. Die Deutschrussin hatte nichts gelernt, sprach nur schlecht Deutsch und benahm sich im Büro, als ob sie einen Anspruch auf die Stelle hätte. „Ich kann dieses Anspruchsdenken nicht leiden“, dachte sich Lieselotte, als sie in ihr Cabrio stieg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es rumpelt und poltert in der Kegelbahn vom „Prellbock“. Der „Prellbock“ ist die Arbeiterkneipe im Stadtteil Fenne. Früher war das Gebäude ein Bahnhof. Seitdem die Kokerei geschlossen ist, gibt es auch keinen Bahnhof mehr. Holger von Rüden hat die Kneipe gepachtet. Auf der Kokerei war er einst Revisionsingenieur. Als er entlassen wurde, war er zu alt, um einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Da hat er etwas Neues angefangen. Seit 15 Jahren ist er „Kneipier“ - und es gefällt ihm.

 

„Noch’n Bier?“ ruft er in die lärmerfüllte Kegelbahn, die er seinerzeit „mit Kumpels“ im Güterschuppen des alten Bahnhofs eingerichtet hat. „Klar, eine Runde auf Paul!“, tönt es zurück. Aber es ist nicht Paul, der da ruft. Doch das stört Holger nicht. Er weiß, dass er sich auf „seine“ Leute verlassen kann. Er geht zurück zur Theke, zapft sieben frische Pils.

 

Durch die offen stehende Tür kommt Andreas Pitz in den „Prellbock“. „Spät dran!“, stellt Holger gegenüber dem Kegelbruder fest. „Die anderen spielen schon fast eine Stunde.“ Pitz guckt mürrisch in die Runde. Am Fenster - mit Aussicht auf die Gleisanlagen - sitzen zwei Männer beim Bier. „Bald gehör’ ich zu Euch!“, stößt er hervor. Und weiter geht es: „Scheiß Laden!“ hört Holger, als Andreas an der Theke vorbei kommt. „Eh eh eh“, sagt der Wirt vorwurfsvoll. „Nicht Deine Kneipe, meine Firma!“, bekommt er daraufhin zu hören. „Jetzt ist es auch bei uns soweit: Personalabbau!“ Pitz geht weiter in den Anbau zur Kegelbahn.

 

Gleich wird er ob seiner Verspätung begrüßt: „Na, wieder Überstunden gemacht? Einmal muss doch Schluss sein.“ Und im Ton der aus etwas Alkoholgenuss resultierend guten Laune geht es dozierend weiter: „Jeder hat ein Recht auf Freizeit! Auch der Herr Oberingenieur!“ Die „Jungs“ - alles gestandene Männer zwischen Anfang 40 und Ende 50 - sind guter Dinge. Sie trainieren für ein Wettkegeln am kommenden Wochenende und bislang fielen „alle Neune“ öfter als man es erwarten konnte. „Scheiß Laden“, sagt Pitz wieder. „Nix Überstunden - Betriebsversammlung!“

 

Holger von Rüden drängt sich an den Tisch, bringt sieben Bier. „Ach, jetzt hab’ ich Deins vergessen“, stellt er mit Blick auf Andreas fest. „Aber: kommt sofort“, verspricht er. Andreas Pitz greift nach dem nächst stehenden Bier, setzt es an und trinkt es in einem Zug leer. „Boar!“ Seine Kumpels staunen. „Was gibt’s?“ Die Männer kegeln seit 13 Jahren zusammen. Da kennen sie ihre Eigenheiten und Gewohnheiten untereinander. Hier auf der Kegelbahn wurden schon Dinge besprochen, die zu Hause niemand zu wissen brauchte. Und man hat sich hier im Kreise der Freunde beraten, was zu Hause zu laufen hatte. Die acht Kegelbrüder wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können. Da weiß man aus dem Verhalten einzelner sofort Schlüsse zu ziehen. Und bei Andreas stimmt heute etwas nicht.

 

„Was gibt’s?“ Auf der Kegelbahn wird es ruhig. Die Männer setzen sich um den Tisch, wollen hören, was Andreas bewegt. „Scheiß Laden!“ stößt er noch einmal hervor. „Bei uns werden jetzt auch Mitarbeiter entlassen, mindestens 32!“ Das lässt er erst einmal wirken. Dann fährt er fort: „Bei uns wird die Steinkohle-Abteilung geschlossen! Bis Jahresende soll alles ‚sozialverträglich’“ - hier hören die Kumpels einen spöttischen Unterton - „abgewickelt werden. Versetzt wird keiner! Wir sind zu teuer, sagt der Chef.“

 

Damit greift er zu dem Bier, das der Wirt gerade hereinbringt. „Eh, das war für mich!“, sagt Paul. Und zu Holger gewandt bestellt er: „Noch einmal zwei Bier!“ Die Jungs nehmen einen tiefen Schluck aus ihren Gläsern, dann fährt Andreas fort: „In meinem Alter“ - er ist 52 - „krieg ich doch keinen neuen Job mehr! Zu alt zum schaffen und zu jung für die Frührente!“ Er macht wieder eine Pause. Man merkt, dass er sich offensichtlich nicht erst seit heute mit diesen Vorgängen in seiner Firma auseinandergesetzt hat. „Du kriegst doch eine Abfindung!“, wirft Walter ein, „dann Arbeitslosengeld. Da wartest Du doch locker auf Deine Rente!“

 

Andreas Pitz sieht das nicht so: „Arbeitslosengeld“, schnauft er gering schätzend. „Ein Jahr lang 67 Prozent vom Nettogehalt und dann Sozialhilfe!“ „Das heißt jetzt Hartz IV“ wirft in seinem dozierenden Tonfall Horst Stolz ein. Horst ist Lehrer und der einzige Beamte in der Runde. „Scheiß egal“, Andreas tobt. „Ich kriege doch eh’ keine neue Stelle. Dann bin ich langzeitarbeitslos und dann geht’s ans ‚Eingemachte’: Bei meinem Haus und den Ersparnissen, dem Einkommen von meiner Frau, da krieg’ ich doch nichts mehr! Jahrzehnte lang eingezahlt - und dann: Nichts!“

 

Sichtlich kommen die Männer ins Grübeln. Es ist still auf der Kegelbahn, als Holger zwei Bier bringt. Schließlich plädiert Richard als Optimist für gute Laune: „Wart’s ab, so schlimm wird das schon nicht kommen. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Du weißt doch: Bei uns werden dauernd Leute entlassen.“ Richard Bernward ist Vorsitzender des Kegelclubs. Er arbeitet als Elektrosteiger Untertage für die Deutsche Steinkohle AG.

 

In den letzten 15 Jahren hat er drei Mal seinen Arbeitsplatz gewechselt. Als die Grube Reden in den 80er Jahren geschlossen wurde, ging es für ihn zur Nachbargrube nach Göttelborn. Als auch dort die Lichter ausgingen, fand er weitere Beschäftigung auf der Grube Karlsbrunn. Trotzdem ist ihm für die Zukunft nicht bange, obwohl diese Grube bis 2006 geschlossen werden soll. Dann gibt es im Saarland noch eine Grube - und auch die soll bis 2010 dicht gemacht werden.

 

„Du hast gut reden“, wirft Pitz vorwurfsvoll ein, „Dein Laden kümmert sich um seine Leute! Da gibt’s Versetzungen, Umschulungen oder Hilfen zur Selbstständigkeit!“ Er nimmt noch einmal einen tiefen Zug aus dem Bierglas. „Ich krieg’ ’ne Abfindung - und dann kann ich gehen. Ob ich noch etwas anderes finde oder nicht interessiert bei uns keinen Menschen. Fast 25 Jahre habe ich für meinen Laden gearbeitet - und jetzt geht’s ab!“ Immer wieder unterbricht er seinen Redefluss, so als ob jedes Wort bei seinen Kumpels nie wieder zu vergessen sei.

 

Bernward setzt wieder ein: „Du hast doch noch ein gutes halbes Jahr vor Dir. In der Zeit kannst Du Dir ganz entspannt etwas Neues suchen. Als Abteilungsleiter weißt Du doch etwas! Du besitzt Teamgeist, kannst Leute führen! Und Du kannst etwas! Dazu kommt Dein spezielles Wissen für den Bergbau!“ „Und wer braucht das?“, fragend schaut sich Pitz um. „Außerdem bin ich zu alt!“ Müde scheint er in sich zusammen zu sacken.

 

Auch die anderen Kegelbrüder sind still, scheinen nachzudenken. Die gute Laune eines erfolgreichen Kegelabends ist dahin. „Da, schieb die Kugel!“ Richard reicht Andreas eine Kugel, der steht tatsächlich auf, bringt die Kugel auf die Bahn. Sie läuft in leichten Abweichungen der geraden Linie etwas hin und her - und verschwindet in der Rinne. „Scheiße“, zischt es aus Andreas. „Ich bin zu alt! Ich bin nicht mehr in Form!“ Betreten schauen die Kegelbrüder in ihre Gläser. Wie sollen sie Andreas Pitz wieder aufmuntern?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Guten Morgen, Chef“, freundlich begrüßt Sigrid Konz ihren Abteilungsleiter. Auch Andreas Pitz ist guter Dinge. Inzwischen hat er den Schock verdaut, dass die Steinkohle-Abteilung nach Polen verlagert werden soll. „Bis Jahresende“, so seine Einstellung, „ist noch lange Zeit. Da wird sich schon noch etwas ergeben!“ Im Augenblick läuft es in der Maschinenfabrik bestens. Immer wieder kommen neue Aufträge aus dem Osten. Vielleicht findet sich auch noch für ihn und seine Männer eine Umsetzungsmöglichkeit. Zumindest hat der Chef diese Chance letzthin bei einer Besprechung angedeutet.

 

„Sie sollen zum Chef kommen“, sagt die Sekretärin. „Ja, ich guck’ g’rad noch, wie’s unten läuft“, entgegnet Andreas Pitz. „Ich hatte den Eindruck, dass er Sie lieber gleich sehen will“, schiebt Sigrid Konz nach. Mit einem Ton, der auch Pitz klar macht, dass es besser ist, erst zum Chef und dann zu den Mitarbeitern zu gehen. Er grummelt vor sich hin und geht nach oben. „Der Chef wollte mich sehen“, sagt er zur Sekretärin von Josef Brück. „Dann gehen Sie gerade durch!“

 

„Guten Morgen, Herr Brück“, freundlich begrüßt Pitz seinen Chef. „Guten Morgen, Andreas.“ In der Firma Brück nennt der Chef seine Mitarbeiter zumeist beim Vornamen. Er aber ist „Herr Brück“. „Setz Dich!“, fordert er seinen Abteilungsleiter auf. „Wie Du weißt haben wir ein paar Probleme“, setzt Brück an. „Weniger mit der Auslastung als mit der Wirtschaftlichkeit.“ „Deswegen hatten wir ja auch letzthin die Betriebsversammlung“, signalisiert Pitz Verständnis. Er spürt schon ein Magengrimmen, bemerkt, dass dies kein angenehmes Gespräch werden dürfte.

 

„In Deiner Abteilung arbeiten 32 Leute“, beginnt Brück mit Fakten. „Einige von denen sind schon ganz schön lange bei uns. Nicht nur, dass es mir Leid täte, die zu entlassen. Mit langen Kündigungszeiten würde sich die Auflösung der Abteilung hinziehen. Die Firma muss aber“, so erläutert Brück an seinem großen, mit aufgestapelten Papieren übersäten Schreibtisch sitzend, „möglichst schnell wirtschaftlicher arbeiten. Nur dann können wir uns am Markt behaupten!“ Andreas weiß nicht so genau, worauf der Chef hinaus will. „Was wollen Sie mir sagen?“ Andreas Frage klingt eine Spur zu aggressiv dafür, dass in dem patriarchalisch geführten Familienbetrieb mit Josef Brück nur einer das Sagen hat.

 

„Wir haben keine Zeit, Ihre Abteilung bis Jahresende mitzuschleppen!“ Brutal hat Josef Brück die noch in der Betriebsversammlung angedeutete Übergangsphase von einem halben Jahr zur Schließung der Steinkohle-Abteilung gestrichen. Gegenüber Andreas Pitz hebt der Unternehmer hervor, dass es bei der angesprochenen  „Sozialverträglichkeit“ bleiben wird, bleiben muss. „Langjährige Mitarbeiter werden wir behalten und in die Abteilungen versetzen, in denen es zur Zeit Engpässe bei den Beschäftigten gibt“, sagt Brück. Das versetzt Pitz einen Stich ins Herz. Er kam erst vor vier Jahren ins Unternehmen. Jahrzehntelang war er bei den Saarbergwerken beschäftigt gewesen. Als dort eine Grube nach der anderen geschlossen wurde, schlug das Unternehmen seinen Mitarbeitern vor, sich auf perspektivisch bessere Arbeitsplätze zu bewerben. Pitz gehörte zu denen, die das Ende des Saarbergbaues nicht als Betroffene miterleben wollten. Er nutzte das Angebot der Firma, sich über eine Zusatzqualifikation im Maschinenbau für einen neuen Arbeitgeber „fit“ zu machen. Über die betriebsinterne Arbeitsvermittlung kam er dann zum Bergbauzulieferer Brück. Dort wurde ihm gleich eine Führungsposition angeboten. Da er sich auch einkommensmäßig nicht verschlechterte, war Pitz der Meinung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Der Bergbau“, so erzählte er damals nach lange überlegender Diskussion seiner Frau, „wird in Deutschland mittelfristig eingestellt. Aber die zunehmende Nachfrage nach guten deutschen Industrieprodukten wird dafür aus dem Ausland zunehmen.“ Grundsätzlich war das wohl richtig. Aber Pitz hatte anscheinend vergessen, dass auch die Ausländer irgendwann diese Maschinen selber bauen wollen - und können.

 

 

 

 

Brück riss Pitz aus seinen Gedanken: „Die zuletzt eingestellten Mitarbeiter müssen gehen!“ Brück macht eine kleine Pause. Pitz merkt, dass er aschfahl wird. „Aber das ist keine Katastrophe“, fährt der Unternehmer fort, als er die Panik-Reaktion von Andreas sieht. „Sie kriegen eine Abfindung!“ „’Sie’, bin ich das, oder wie viele sind das?“ fragt sich Andreas in Gedanken. Wie in Trance hört er den Chef weiter sprechen: „14 Leute werde ich versetzen, vier können in befreundete Unternehmen wechseln und zwei gehen nach Polen.“ Die Zahlen schwirren durch Andreas’ Kopf. Wenn der Chef das alles schon so gut weiß, muss er auch schon vorher mit einigen Mitarbeitern die Lage sondiert haben. Er fühlt sich übergangen, spürt Wut in sich aufsteigen. „Von 12 Mitarbeitern müssen wir uns leider trennen“, ungerührt überschüttet Josef Brück seinen Abteilungsleiter mit den Informationen seiner Entscheidungen. Jetzt kommt er zur Sache: „Leider gehören auch Sie zu den Mitarbeitern, von denen wir uns trennen müssen!“ Andreas merkt förmlich, wie er im Stuhl vor Brücks Schreibtisch in sich zusammen sackt. „Die Kündigungen gehen jetzt für Ende April raus. Ich wollte Ihnen das aber nach unserer doch immer guten Zusammenarbeit persönlich sagen.“ „Darauf kann ich pfeifen“, liegt es Andreas auf der Zunge. Aber er ist stumm. Und der Chef redet und redet: „Mit dem Betriebsrat habe ich die Angelegenheit schon geklärt. Kündigungen aus betriebsbedingten Gründen unterliegen dem unternehmerischen Entscheidungsspielraum. Niemand kann mich zwingen, eine unrentable Produktlinie auf die Gefahr, dass das Gesamtunternehmen leidet, fortzuführen.“

 

Brück macht mal wieder eine Pause. Er scheint auf eine Reaktion von Pitz zu warten. Aber es kommt nichts. Andreas Pitz ist schockiert. Vielleicht wäre er doch besser wie sein Keglerfreund Richard Bernward bei der Deutschen Steinkohle geblieben und mit zunehmendem Unternehmensabbau von Grube zu Grube und vielleicht später auch als „Montage-Arbeiter“ ins Ruhrgebiet gewechselt. Die Zeit bis zur Stilllegung der Saar-Gruben hätte für ihn allemal noch bis zur Pensionierung gereicht. Jetzt hat er nichts mehr: keine Arbeit, kein Einkommen. „Ihre Abfindung“, Brück wendet sich direkt an Pitz, „liegt bei fast fünf Jahren, die Sie jetzt bei uns sind, bei 10.545 Euro.“ Rasend schnell überfliegt Andreas Pitz den Betrag. „Das reicht gerade mal für drei Monate“, vergleicht er die Abfindung mit seinem gewohnten Einkommen. Pitz sagt immer noch nichts. Die Aussicht seiner Kündigung scheint ihm die Sprache verschlagen zu haben.

 

Brück will ihn aufmuntern: „Sie sind doch ein vitaler Erfahrungsträger. Leute wie Sie finden immer eine neue Beschäftigung. Das haben Sie doch gezeigt, als sie die ‚Steinkohle’ verlassen haben. Sie sind doch gut!“ „Warum behalten Sie mich dann nicht?“ Nach dieser unbeantwortet bleibenden Frage verlässt Andreas Pitz das Büro seines Arbeitgebers.

 

 

 

Ende März erhielt Andreas Pitz sein Kündigungsschreiben: „Mit dem Ausdruck des Bedauerns müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir Ihnen aus wirtschaftlichen Gründen kündigen müssen.“ Der Auszubildende aus der Personalabteilung brachte dem inzwischen bekannten Dutzend zu kündigender Mitarbeiter das Entlassungsschreiben des Chefs zum Arbeitsplatz. Alle mussten sie den Empfang des Briefes unterschreiben. Der Chef hatte sich seine Kandidaten gezielt ausgewählt: So brauchte er möglichst wenig an Abfindungen zu zahlen. Außer Andreas gab es nur noch zwei Mitarbeiter, die mehr als 10.000 Euro erhielten.

 

„Wir bedauern die Trennung sehr“, hieß es zu Andreas’ bitterem Lächeln weiter in dem Schreiben, mit dem die Beschäftigten aufgefordert wurden, „dennoch ihre volle Arbeitskraft bis zum Vertragsablauf der Firma zur Verfügung zu stellen.“ Zwei Mitarbeiter aus der Abteilung von Andreas Pitz wurden prompt krank. Sie brachten „gelbe Scheine“. Danach waren sie zunächst einmal bis Ostern krank geschrieben. Das erleichterte die Arbeit in der unter Volldampf stehenden Abteilung nicht gerade. Außerdem hatte sich die Stimmung unter den bisher vollen Einsatz zeigenden Männern deutlich verschlechtert. Zumindest seine elf Kündigungskollegen äußerten bei jeder Anordnung von Überstunden ihren Unmut: „Warum sollen wir noch arbeiten? Es geht doch eh’ alles den Bach ’runter.“ Bei zweien seiner Mitarbeiter vermied es der ebenfalls demotivierte Abteilungsleiter nach Möglichkeit, sie überhaupt noch zu Mehrarbeit einzuteilen. Es hatte sich gezeigt, dass das nichts brachte.

 

Nach der nach Meinung von Pitz „schönen“ Floskel des Chefs, „wir danken für Ihren Einsatz und wünschen Ihnen für Ihren weiteren Berufsweg alles Gute“ folgte der schon fast sarkastische Hinweis, sich umgehend nach Kenntnis der Kündigung beim Arbeitsamt zu melden, um Nachteile beim Bezug von Arbeitslosengeld zu vermeiden. „Danke für den Tipp“, dachte sich Andreas böse beim Lesen des Briefes. Erst wollten die Männer in einer ersten, wieder aufflackernden Wut über die Kündigung gemeinsam an einem Vormittag zum Arbeitsamt gehen. Aber die Personalabteilung bemerkte zu den von Andreas Pitz gemeinsam eingereichten Gesuchen zur Arbeitsfreistellung, dass es „aus produktionstechnischen Gründen“ nicht möglich sei, allen betroffenen Arbeitnehmern zur gleichen Zeit den Arbeitsamtsbesuch zu gestatten. Prompt wurde ein Kollege an dem zunächst ins Auge gefassten Tag „krank“: Er verspüre ein starkes Unwohlsein, rief Wolfgang Becker morgens an, das ihm an diesem Tag ein Erscheinen im Betrieb nicht erlaube. Zum Monatswechsel gingen dann jeden Morgen nur zwei der von künftiger Arbeitslosigkeit betroffenen Mitarbeiter der Firma Brück zum Arbeitsamt.

 

Der Chef tobte. „Und von Dir kann ich auch nichts mehr erwarten“, hatte er Pitz vorgeworfen. So wie es aussah, konnte die Firma einen Liefertermin nicht halten. Da half es auch nichts mehr, Mitarbeiter anderer Abteilungen als Aushilfen zu Andreas Pitz zu versetzen. Lediglich die Verlagerung von Teilproduktionen von ohnehin bald in Polen fertig zu stellenden Maschinen nach Zabrze brachte eine gewisse Entlastung. „Morgen früh gehe ich zum Arbeitsamt“, informierte Pitz seinen Chef ungerührt ob dessen schlechter Laune. „Dann habe ich zwei Wochen Urlaub und den Resturlaub nehme ich zum Monatsende“, schickte der Ingenieur hinterher. Ostern bedeutete für Pitz, mit acht Urlaubstagen 16 freie Tage am Stück zu haben! Diese Osterferien hatte sich Pitz schon zu Jahresanfang genehmigen lassen und ein Zimmer in einem keineswegs preiswerten Hotel in der Toskana reserviert. Josef Brück hatte sich überlegt, die Urlaubsgenehmigung zurückzuziehen. Als er aber von Pitz erfuhr, was er an Entschädigung für das zu stornierende Hotel zahlen sollte, verzichtete er auf ein Urlaubsverbot. „Zehn Tage stehen Dir ohnehin noch zu“, hatte er dann gespielt großzügig gesagt. „Die kannst Du auch zu Ostern nehmen!“ Pitz konnte sich daraufhin nicht verkneifen, zu wiederholen, dass er auch noch zum Monatsende einen Urlaubsanspruch hat: „Die letzten zwei Tage nehme ich dann, bevor ich gehe!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit dem Auto war Andreas Pitz nach Saarbrücken gefahren. Unter dem großen gelben Gebäude der Arbeitsagentur befand sich praktischerweise eine riesige öffentliche Tiefgarage. So kam Pitz trotz starken Regens trockenen Fußes ins Amt. Im Kellergeschoss stand er vor dem Aufzug. Es gab keine Schilder. Wo sollte er hin? Also fuhr er erst einmal ins Erdgeschoss, ging ins Gebäudefoyer und studierte die Hinweistafel. Aber das brachte ihn auch nicht sonderlich weiter. Etwas hilflos schaute er sich um. Zur linken Seite des Eingangsbereiches gab es zwar einen großen, wie einen Warteraum aussehenden „Glaskasten“, es gab sogar Theken, Sitzbänke und Informationstableaus. Aber es war niemand in diesem Raum. Kurz entschlossen sprach Andreas Pitz die ihm zunächst vorbeilaufende Person an: „Hallo, wissen Sie, wo man sich hier arbeitslos melden kann?“ „Ja, oben!“ Der Mann in Jeans, blauem Pullover über einem sicher nicht billigen Polohemd, schwarzer Lederjacke und goldfarbener Brille zeigt in das Atrium des architektonisch interessanten Gebäudes: zwei Aufzüge aus Glas bewegen sich wie in einem guten Hotel auf und ab. Der Mann lässt sich nicht aufhalten. Andreas ruft ihm hinterher: „Wo oben?“ „Kommen Sie mit!“, fordert ihn er Fremde auf, seine Schritte werden langsamer.

 

Die beiden Männer gehen zum Aufzug, der sich an einer der Stirnseiten des Atriums befindet. Andreas Pitz schaut sich staunend um. Fünf Etagen hoch gibt es zwei Büro-Flügel, miteinander verbunden in zwei Quer-Etagen. Darüber befinden sich an den imposanten Stirnseiten des Gebäudekomplexes riesige Glasflächen. Gleich hinter dem Aufzug befindet sich sogar ein Restaurant. „Das ist die Kantine der Arbeitsagentur“, erläutert Andreas’ Begleiter. „Da kann aber auch jeder zum Essen hingehen. Das ist nicht einmal schlecht!“ Der Aufzug kommt. Die beiden steigen ein. Der Mann drückt für die dritte Etage. Andreas schaut aus dem gläsernen Aufzug in das Atrium hinunter. Erst jetzt nimmt er bewusst die Kunstobjekte war, die sich verteilt im Raum befinden: zwei hochkant stehende Schienen, gewaltige Basalt-Stelen, die bis unter das Glasdach des Raumes zu reichen scheinen und ein riesiger eiförmiger mit Holzplättchen bestückter Klotz. „Dafür haben sie Geld“, sagt der Mann, der etwas amüsiert Andreas Pitz mustert. Der Aufzug hält. Über die Verbindungsbrücke zwischen den beiden Gebäudeflügeln geht der Mann nach rechts in einen Flur, der sich alsbald zu einer Wartezone öffnet. Andreas Pitz ist ihm gefolgt.

 

Hier sieht es aus, wie er sich eine Arbeitsamtsanmeldung vorstellt: Bänke aus gepolsterten Lochblechen, dazwischen Ablagen für Zeitschriften. An der Wand eine weiße Kunststofftafel für Aushänge von Weiterbildungsinstitutionen, in der Ecke ein Regal mit Informationsschriften der Arbeitsverwaltung und in Thekennähe zwei Computer. An einem sitzt ein jüngerer Mann. Ein „prüfender Blick“ von Andreas zeigt, dass sich der Mann Arbeitsangebote im Stelleninformationssystem der Arbeitsverwaltung anschaut. Andreas’ Begleiter steht an der Theke, unterhält sich mit der tief dahinter sitzenden Frau. Andreas schaut aus dem Fenster hinunter ins Atrium. So viele Leute sind hier nicht. Ihn wundert ohnehin, dass auch hier oben so wenige Menschen sind. „Dabei soll es so viele Arbeitslose geben“, denkt er sich noch.

 

Die Theke wird wieder frei. Andreas schaut sich um. Der Mann am Computer macht keine Anstalten, sich zu bewegen. Zögerlich geht Andreas Pitz nach vorne. Tief hinter der Theke sitzt eine jüngere Frau. Zierlich, dennoch groß macht sie mit gepflegten langen Haaren einen freundlichen Eindruck. Mit wachen Augen schaut sie Andreas Pitz an. „Guten Tag“, sie erwidert seinen Gruß. Andreas legt eine Mappe auf die Theke. Mehr als einen halben Meter entfernt sitzt die Arbeitsamtsangestellte von Andreas entfernt schräg vor ihrem Computer. Er schaut nach unten. „Ich wollte mich arbeitslos melden“, sagt er leise. „Beruf?“ klingt es fragend-fordernd. „Ingenieur“, sagt Andreas Pitz. Er öffnet seine Mappe und reicht ihr ein Papier über den Tisch. „Gut, dann sind Sie bei mir richtig!“, hört er die Arbeitsamtsmitarbeiterin sagen. „Am 1. Mai werde ich arbeitslos.“ Die Frau streckt sich, nimmt das Kündigungschreiben mit einem prüfenden Blick an sich. „Waren Sie schon einmal arbeitslos?“, fragt sie. „Nein.“ „Dann lege ich eine Akte für Sie an“, sagt sie und überträgt ein paar Informationen aus dem Kündigungsschreiben in ihren Computer. „Ganz schön schnell“, denkt sich Andreas, der ihre feingliedrigen Finger betrachtet. „Sie wohnen noch in Karlsbrunn?“, fragt die Frau. „Ihr Geburtsdatum?“ Andreas bestätigt vorliegende Informationen und gibt alle gewünschten Daten an.

 

„Ich drucke Ihnen jetzt eine Besucherkarte aus“, sagt sein Gegenüber. „Die bringen Sie bitte bei allen weiteren Besuchen mit.“ Sie entnimmt das Papier dem auf ihrem Schreibtisch stehenden  Drucker. „Hier steht Ihre Kundennummer“, zeigt sie Andreas Pitz. „Außerdem finden Sie unsere Sprechzeiten aufgelistet, Zimmer und Telefon Ihres Ansprechpartners und wenn Sie Fragen zu Ihrem Arbeitslosengeld haben auch die Telefonnummer eines Mitarbeiters aus der Leistungsabteilung.“ „Das klingt alles sehr routiniert“, denkt sich Andreas bei der Übernahme des Papiers. Fast ohne Pause fährt die Mitarbeiterin fort: „Ich gebe Ihnen jetzt noch eine Arbeitsbescheinigung. Die geben Sie bitte Ihrem Arbeitgeber, lassen sie ausfüllen und bringen Sie wieder vorbei.“ Andreas denkt an seinen Urlaub. „Kann ich Ihnen das Formular auch zuschicken?“, unterbricht er den Redefluss. „Ja, das kann auch Ihr Arbeitgeber für Sie veranlassen. Wenn Sie sich bewerben, zahlt die Arbeitsagentur pauschale Bewerbungskosten von fünf Euro.“ Bei der Gelegenheit erhält Andreas ein weiteres Formular. „Das füllen Sie bitte aus“, sagt sie dazu. „Sie schreiben hier alle Adressen der Firmen auf, bei denen Sie sich beworben haben. Ist das Papier voll, geben Sie es hier ab. Dann werden Ihnen 75 Euro überwiesen. Alles klar?“ Fragend schaut die Arbeitsamtsmitarbeiterin Andreas Pitz an. Der nickt: „Ja!“ „Gut“, bestätigt die Frau hinter der Theke. „Ihr zuständiger Berater ist Walter Kinsinger. Ich habe einen Vermerk im Computer gemacht. Er wird Sie dann anschreiben und zu einem Gespräch einladen.“ Wieder unterbricht Andreas den Redeschwall: „Wann wird das sein?“ „Das kann dauern“, bekommt er zu hören. „Wir haben viel zu tun. Frühestens Ende April, eher Anfang Mai bekommen Sie Ihren Termin!“ „Aber dann bin ich doch schon arbeitslos“, wirft Andreas ein. „Das macht nichts!“, klingt es hinter der Theke. „Sobald Ihre Arbeitsbescheinigung bei uns eingegangen ist, werden die Leistungen berechnet. Das erste Arbeitslosengeld gibt es ohnehin erst Ende Mai.“

 

Andreas verlässt die Arbeitsagentur. Im Aufzug genießt er noch etwas die Aussicht durch die riesige Glasfront auf die Stadt. Es regnet noch immer. Mit ihm geht es abwärts. Er fährt geradewegs bis in den Keller zur Tiefgarage. Er startet seinen Wagen und fährt in die Firma. „Wo waren Sie heute Morgen?“, fragt ihn die Sekretärin. „Der Chef hat Sie schon gesucht!“ „Ich war dort, wo Sie schon vor zwei Tagen waren“, entgegnet Pitz seiner Sekretärin mit einer gewissen Lässigkeit. Auch Sigrid Konz wird wie ihr direkter Vorgesetzter die Firma Ende April verlassen müssen. Für sie hätte es noch schlimmer kommen können. Auch ihr Mann arbeitet in der Maschinenfabrik Brück für die Steinkohle-Abteilung. Glücklicherweise wird er ab Mai in der Produktion der Steinbruch-Abteilung übernommen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wohlig warm umspielt das türkisfarbene Wasser die Körper von Andreas und Lieselotte. Mit 37 Grad entspricht das Wasser Körpertemperatur. Die Schwefelquelle von Saturnia hat nicht diesen unangenehm stechenden Geruch vieler Thermalbäder. Unter freiem Himmel gelegen kann der spezielle Geruch abziehen und die Badenden genießen das angenehm temperierte Wasser. Während Andreas an einem das etwa 200 Quadratmeter große Naturbecken teilenden Tau in der Mitte des unbekannte Tiefen aufweisenden ehemaligen Vulkanschlundes hängt, schwimmt Lieselotte ein paar Runden. Es ist früher Abend. Der volle Mond steht am Himmel, der tiefblau bereits einige Sterne funkeln lässt. Andreas schaut auf die benachbarte Hügelkette. Der Horizont wird bestimmt von der malerisch-typischen Silhouette einer toskanischen Bergsiedlung: Im Dunkel der Nacht leuchten einzelne Fenster, der Mondschein lässt gegen das Blau des Himmels Konturen erkennen. Überragt wird der Ort von einem Kirchturm und den Resten einer nach Jahrhunderten zerstörten Festung. Aus dem Dunst aufsteigender Warmwassermassen schwimmt Lieselotte auf ihren Mann zu. Sie liegt auf dem Rücken. Nur wenige Bewegungen halten sie über Wasser. Auch sie genießt jetzt die Ansicht des nächtlichen Sternenhimmels im hellen Mondschein.

 

Seit drei Tagen weilen Andreas und Lieselotte Pitz in der Toskana. Ihre Tochter Isabella haben sie am Sonntag mit einem Jugendreiseveranstalter in die Osterferien fahren lassen. Sie verbringt 14 Tage auf einem Reiterhof in Altenholtz. In den letzten Sommerferien war Isabellas Freundin Su auf dem Reiterhof in Schleswig-Holstein gewesen und hatte ihr ganz begeistert von den vielen Pferden, den netten Reitlehrerinnen und Ausritten zur Ostsee erzählt. Seitdem lag Isabella ihren Eltern bei jeder Gelegenheit in den Ohren, auch auf dem Ponsheimerhof Ferien machen zu dürfen. Bei der Ferienplanung Anfang des Jahres hatte sich die Familie darauf geeinigt, dass Isabella in den Osterferien allein Ferien machen dürfe, wenn sie dafür im Sommer mit ihren Eltern wegfahren würde.

 

Daraufhin überzeugte Lieselotte ihren Mann, zu Ostern mit ihr nach Rom und in die Toskana zu fliegen. Der Billigflieger Ryanair hatte gerade Fünf-Euro-Tickets in die italienische Hauptstadt angeboten. Für Lieselotte war das ein Schnäppchen. So konnte sie ihren Mann leicht von der „Notwendigkeit“ eines Italien-Urlaubs überzeugen. Allerdings sollte der vierzehntägige Aufenthalt dann doch nicht mehr ganz so billig werden, weil sie zwar in Rom in der besonderen Atmosphäre eines Pilger-Klosters übernachten wollte, aber in Saturnia all’ das bisher Ersparte von einer mehr als teuren Hotelanlage verschlungen wurde. Das kleine toskanische Dorf hatte eigentlich nur ein Hotel, die „Terme di Saturnia“. In der Tageszeitung hatte Lieselotte Pitz - gleich neben der Anzeige von Ryanair - gelesen, dass italienische Filmstars und Künstler, auch einige Industrielle, den ehemaligen Gutshof direkt an der Thermalquelle gerne zur Entspannung aufsuchen. Es gebe in dieser Einsamkeit im Hinterland von Grosseto bei so unbekannten Gemeinden wie Manciano oder Castel del Piano keinen Trubel, keine Touristen, nur Ruhe. Irgendwie sprachen sie Text und Foto eines elegant im Tal liegenden Hotels an und so überrumpelte sie ihren Mann mit einer Buchung, von der Andreas erwartet hatte, dass sie genauso preiswert wie die vorherigen Reservierungen war. Als er schließlich vom Preis erfuhr und meinte, dass es in Montecatini genau so warmes Wasser gebe, sprach Lieselotte von dem besonderen Flair der Terme di Saturnia, von der Ruhe und der Stille und davon, dass man ja - als sie das Hotel Mitte Januar gebucht hatte - nicht sparen müsse.

 

Lieselotte plätscherte hinter Andreas im warmen Wasser. „Eine herrliche Nacht“, hörte er sie sagen. Andreas drehte sich im Wasser um, stützte seine Ellbogen auf das nun hinter ihm befindliche Tau. Die Beine bewegte er langsam auf und ab, so dass er fast waagerecht im Wasser hing. Außer den beiden war niemand in dem von weißen Dunstschwaden überlagerten Wasserbecken. Es herrschte eine unwirkliche Atmosphäre. Durch die wabernden Nebel des leise vor sich hinblubbernden warmen Wassers konnte Andreas die direkt am Ufer befindlichen bodentiefen Glasscheiben zum Restaurant des Hotels, in großen Torbögen etwas zurückgesetzt, mehr erahnen als sehen. Braune Natursteine und orangefarbene Fensterläden prägten das dreistöckige Haus, an das sich eine riesige Freibadanlage anschloss. Dorthin ergoss sich das türkisblaue Thermalwasser nach Verlassen des allein den Hotelgästen vorbehaltenen Quellbeckens. „Normalerweise“, so hatte sich Andreas schon vor Tagen gewundert, „müssen hier Hunderte von Menschen Ferien machen.“ Jetzt war das Hotel nur spärlich besucht. Wenn Andreas und Lieselotte tagsüber im Wasser badeten, befanden sich allenfalls 15 weitere Gäste in dem Naturbecken. Dagegen war das Restaurant abends immer gut besucht. Aber vielleicht machten die anderen Hotelgäste Ausflüge in die - so hatte Andreas festgestellt - „unbedeutende Umgebung“. Nach dem Stress in der Firma fand Andreas Pitz die toskanische Einsamkeit und das entspannende Baden wie auch die nichts entdeckenden Spaziergänge mit Lieselotte genau richtig: Er musste sich erholen. Und das konnte er hier. Ohne Stress und Hektik. So konnte er auch verstehen, dass sich hier Stars und Sternchen erholen sollten. Sehr zum Verdruss seiner Frau gab es aber im Gegensatz zu dem Text in der Zeitung keine prominenten Gäste. Auf jeden Fall keine, die sie kennen sollten.

 

„Das wird unser letzter teurer Urlaub gewesen sein“, sagt Andreas von leichter Sehnsucht gedehnt, als Lieselotte wieder einmal an ihm vorbeiplätschert. Sie richtet sich im Wasser auf. „Ich weiß, Andreas, wir müssen sparen, wenn Du arbeitslos wirst.“ Lieselotte und Andreas Pitz haben die täglichen Spaziergänge bereits genutzt, ihre neue Situation zu analysieren. „Wenn wir zurückkommen, werde ich das Schiff stornieren“, sagt Andreas zu Lieselotte. Sie schwimmen beide durch das warme Schwefelwasser, hinaus in den Dunst. Sie sehen kein Land. Im Sommer wollten sie mit Isabella ein Kajütboot mieten und über die so genannte Sauerkraut-Tour saarabwärts nach Trier, über die Mosel nach Metz, durch den Rhein-Marne-Kanal nach Straßburg und über das Schiffshebewerk in Arzviller in den Saar-Kohlen-Kanal zurück nach Saarbrücken schippern. „Schade“, stellt Lieselotte fest, „das wäre bestimmt auch für Isabella sehr schön geworden.“ „Ja, Liesel“, hängt Andreas an, „aber wir können auch mit dem Auto schöne Ausflüge in die Umgebung machen.“ Still schwimmen die beiden ihre Runde entlang der Hotelterrasse. „Ich kann mich ja jetzt immer um Isabella kümmern“, stellt Andreas für sich selbst erstaunt fest. „Ich bin ja dann zu Hause!“ „Wir werden Frau Braun nicht mehr so oft brauchen“, bemerkt Lieselotte. Gertrud Braun ist die Haushaltshilfe der Familie, die auch des öfteren zur Betreuung des zwölfjährigen Kindes eingesetzt war.

 

„Meine Finger werden ‚rillig’“, stellt Andreas fest. „Komm Liesel, wir trinken noch einen Schlummertrunk!“ Die beiden verlassen das Becken. In der Umkleide ziehen sie ihre flauschig-weißen hoteleigenen Bademäntel an, schlüpfen in die weißen Badesandalen des Hotels und schlurfen über die aus rohen Steinen gestaltete Terrasse in die Bar. Der Pianist in der Ecke spielt leise für die wenigen Hotelgäste, die sich an zwei Tischen dezent unterhalten. „Gehen wir zur Theke“, sagt Lieselotte. Sie stellt die weiße Frotteetasche mit den Handtüchern und den nassen Badesachen auf den Boden. Während sie sich auf den Hocker schwingt, bestellt Andreas: „Vorrei due Limoncello, per favore.“ Der Limonenlikör hat sich in den paar Tagen, die sie hier sind, zu ihrem Lieblingsgetränk entwickelt. „Von den über 7.000 Mark, die wir bisher als Familieneinkommen haben, werden wir demnächst schätzungsweise 2.000 Mark weniger haben und einsparen müssen“, denkt  Andreas laut und kommt damit wieder auf das Problemfeld der Familie zu sprechen. Obwohl es den Euro bereits über zwei Jahre gibt, rechnen die beiden noch immer in D-Mark, wenn es um ihr Geld geht. „Das ist noch nicht weiter schlimm“, stellt Lieselotte fest. „Für unseren Lebensunterhalt reicht das allemal. Wir können nur nicht mehr so viel sparen und sollten darauf achten, unsere Ausgaben zu reduzieren.“ „Wir müssen sparen!“, stellt Andreas fest. „Wir müssen so lange sparen“, wiederholt er einzelne Worte betonend, „bis ich als ‚vitaler Erfahrungsträger’ einen neuen Job habe!“ Sein Chef hatte ihn zuletzt als vitalen Erfahrungsträger bezeichnet. Das Wort hat Andreas gefallen. „Erst wenn wir wissen, wie es weitergeht, können wir auch so weiterleben wie bisher!“ Andreas trinkt seinen Likör aus. „Trinken wir noch einen?“, fragt er seine Frau. Lieselotte nickt. Andreas hebt sein Glas Richtung Kellner: „Ancora una volta! Per favore.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit leiser Musik meldet sich der Radiowecker. Es ist 6.30 Uhr. Lieselotte Pitz wendet sich ihrem Mann zu. „Guten Morgen, Schatz“, sagt sie liebevoll. „Zeit zum Aufstehen!“ Andreas Pitz grummelt vor sich hin. Er dreht sich um, nimmt seine Frau in die Arme und hält sie fest. Lieselotte schmiegt sich an Andreas, genießt seine Körperwärme. Sie schaut zum Fenster. „Das wird wieder ein schöner Tag“, stellt sie mit Blick auf einen leuchtend blauen Himmel fest. „Ich muss gar nicht aufstehen, Liesel“, meint Andreas mit verschlafener Stimme.

 

Zwei freie Tage Ende April waren noch Resturlaub für Andreas Pitz. So hatte er sie auch als ihm zustehende Freizeit empfunden. Während seine Frau morgens aufstehen musste, um zu ihrer Arbeit zu fahren, hatte er es genossen, im Bett liegen bleiben zu können. Tagsüber widmete er sich dann Haus und Garten, räumte hier etwas auf, las dort einige Zeitschriften und freute sich, an den Nachmittagen Zeit für seine Tochter Isabella zu haben. So war es auch noch Anfang Mai - nur das gute Gefühl war weg. Seit dem 1. Mai war Andreas Pitz ohne Arbeit.

 

Aber irgendwie war es doch ganz schön, einmal Zeit für all die Dinge zu haben, die in der Hektik des Alltags liegen blieben. In den ersten Maiwochen hatte Andreas den Garten „auf Vordermann“ gebracht. „So schön aufgeräumt war es hier noch nie!“, stellte selbst die kleine Isabella verwundert fest. Und auch im Haus sorgte Andreas dafür, dass jegliche Unordnung verschwand. Gertrud Braun, die Haushaltshilfe der Familie meinte schon, dass es für sie nicht mehr viel zu tun gebe. Lieselotte hatte ihr dann vermittelt, dass sie „bis auf weiteres“ nur noch als Putzhilfe für die großen Reinigungsarbeiten zu kommen brauche. Ihr Mann sei ja jetzt zu Hause und könne sich um die Kleine kümmern. „Und wenn er schon zu Hause ist, kann er auch gleich ein paar Hausarbeiten erledigen.“ So aufgefordert spülte Andreas Geschirr. Er bügelte die Wäsche. Sogar mit der Waschmaschine hatte er sich nach Lieselottes Einweisung angefreundet. Aber am liebsten erledigte er Einkäufe. Zumeist am Nachmittag, damit er gemeinsam mit Isabella ins Einkaufszentrum fahren konnte. Die beiden hatten Zeit, sich zu unterhalten, trieben ihre Späße und beschlossen ihre Einkäufe immer mit einem Besuch in Dantes Eisdiele. Aber Andreas liebte es auch, das Haus zu verlassen, andere Menschen zu sehen.

 

Mit seinem Kegelfreund Horst Stolz traf er sich zwei Mal die Woche nachmittags zum Joggen. Als Lehrer hatte Horst zumeist nachmittags frei und so liefen die beiden älteren Herren jeweils eine Stunde am Wildgehege vorbei Richtung Cité Hochwald. Ihr je nach Auswahl der Wege acht bis zehn Kilometer langer Rundkurs führte hinüber ins nahe gelegene Frankreich. Dort wurde es ihnen schon bald zur Angewohnheit, in der Brasserie Jeanne d’Arc einen Pastis zu trinken. Sie lästerten „über Gott und die Welt“, vor allem über Andreas Entlassung und Regierungsbestrebungen, die Arbeitszeit für Lehrer zu erhöhen. Und wenn Andreas dann wieder zu Hause war, musste er sich - wie sein Lehrer-Freund - erst einmal eine halbe Stunde hinlegen.

 

Lieselotte war schon im Badezimmer. Andreas hört das Wasser der Dusche wie einen erfrischenden Regenschauer herniederprasseln. „Andreas, Du hast heute Deinen Termin beim Arbeitsamt!“, ruft Lieselotte aus der Dusche. „Aber doch erst um neun Uhr!“, stöhnt Andreas. Er hatte sich in kürzester Zeit daran gewöhnt, erst aufzustehen, wenn Frau und Kind das Haus verlassen hatten. Dann setzte er sich an den von ihm jeden Abend vorbereiteten Frühstückstisch, startete entspannt in einen „neuen, ereignislosen Tag“, wie er seine Hausmannstätigkeit bezeichnete. Später räumte er den Tisch ab, verstaute das Geschirr in der Spülmaschine und sorgte für einen ordentlichen Tagesablauf. Für ihn bedeutete das, zunächst einmal die von Lieselotte auf dem Wohnzimmertisch abgelegte Zeitung zu lesen. Mit zunehmender Wärme genoss er die Frühlingssonne auf der Terrasse. Zu seiner Zeitungslektüre trank Andreas jeden Morgen eine frisch gepresste Grapefruit.

 

„Es ist sieben Uhr. Die Nachrichten.“ Andreas hört den Radiosprecher. Er dreht sich im Bett um. Lieselotte schaut aus dem Badezimmer. „Aufstehen, Andreas“, fordert sie ihren Mann in unverschämt guter Laune auf. Sie lässt den Fön brummen. „Du musst heute in die Stadt fahren!“ „Mensch Liesel, wie soll man da noch schlafen?“, fragt Andreas. Normalerweise stören ihn die morgendlichen Geräusche seiner Frau nicht. Er zieht sich üblicherweise die Bettdecke über den Kopf und döst vor sich hin. Jetzt steht er auf, drückt seiner Frau im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange und steigt in die noch von warmem Wasserdampf erfüllte Duschkabine. Durch das große Badezimmerfenster dringt das Licht der Morgensonne in den Raum. Andreas summt leise vor sich hin.

 

Als er wenig später noch mit warmer Haut gut gelaunt in den Spiegel über dem Waschbecken schaut, lächelt Andreas seine Frau an. „Lieselotte sieht einfach gut aus“, denkt er sich. Saftige rote Lippen und das gerade gewaschene blond glänzende Haar strahlen eine Frische aus, die von dem Duft der Zahncreme unterstrichen wird. „Hier steht Dein ‚vitaler Erfahrungsträger’.“ Andreas grinst in sein Spiegelbild. Lieselotte liebt die Späße ihres Mannes. Sie legt die Hand auf seine nackte Schulter, zieht seinen Kopf zu sich und drückt ihm einen Kuss auf den Mund. Dann schauen die beiden in den Spiegel. „Wir sind doch ein schönes Paar“, sagt der halbnackt neben Lieselotte stehende Andreas. Sie versetzt ihm einen Klaps aufs Gesäß. „Mach Dich fertig, Andreas. Wir frühstücken gemeinsam!“

 

Als Andreas in die Küche kommt, verabschiedet sich Isabella bereits. „Mein Bus kommt gleich, ich muss gehen. Tschüs Papa.“ Lieselotte gießt etwas Kaffee in Andreas’ Tasse. Er schüttet Milch hinterher und lässt zwei Zuckerstücke in die Tasse plumpsen. Lieselotte hat bereits ein Käsebrot mit Isabella gegessen. Während sich Andreas ein Marmeladebrot zubereitet, legt sie eine Scheibe Schinken auf die schon mit Butter bestrichene Brotscheibe. „Ich bin gespannt, was mir der Mensch vom Arbeitsamt erzählen wird“, sagt Andreas. „Ich will doch hoffen, dass er Dir ein paar Stellenvorschläge machen kann“, entgegnet Lieselotte. „Bei mir kommt heute auch wieder eine Haushaltshilfe vorbei, die sich schon vorigen Monat vorstellen wollte.“ „Eigentlich sind Ingenieure gesucht“, meint Andreas zuversichtlich. „Ich rechne schon damit, mich jetzt ein paar Mal vorstellen zu müssen.“ „Und wer macht dann unseren Haushalt?“, fragt Lieselotte mit spaßunterlegter Stimme. „Wenn ich wieder arbeite, liebste Liesel“, setzt Andreas an, „können wir uns Frau Braun wieder öfter leisten.“

 

„Du trinkst doch auch einen Saft?“ Ohne die Antwort abzuwarten schiebt Andreas drei Grapefruits in die Saftpresse. „Zu Himmelfahrt könnten wir eine Radtour machen“, gegen den Lärm der Saftpresse anschreiend schaut Andreas seine Frau fragend an. „Keine schlechte Idee“, überlegt sie. „Wir fahren mit dem Zug nach Siersburg, die Nied entlang hoch zur Tropfsteinhöhle und lassen die Räder zurück bis Dillingen rollen.“ Vergangenes Jahr hatte die Familie den Feiertag noch genutzt, für vier Tage nach Paris zu fahren. Inzwischen waren Lieselotte und Andreas stillschweigend übereingekommen, ihre bisher alltäglichen Annehmlichkeiten des Lebens zwar nicht direkt zu hinterfragen, aber ihre Gewohnheiten doch der Situation von Andreas’ Arbeitslosigkeit anzupassen.

 

„Oh, schon Viertel nach Acht!“ Lieselotte schaut auf die Uhr an der Wand. Schnell trinkt sie ihren Grapefruitsaft. „Andreas, ich muss gehen. Um Neun will ich im Büro sein.“ Sie drückt ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. „Tschüs, bis heute Abend. Und ruf’ mich an, wenn sich etwas ergibt!“ Die Tür fällt hinter Lieselotte ins Schloss. Im Haus ist Ruhe. Andreas hört noch, wie Lieselotte ihren Wagen startet und davon fährt.

 

Andreas Pitz hat seinen Wagen am Drogenhilfezentrum abgestellt. Hier gibt es einen kostenfreien Park-and-Ride-Parkplatz. Die Sonne scheint, es ist nicht kalt und „laufen ist doch gesund“. In letzter Zeit merkt Andreas immer wieder, dass er wie auch Lieselotte unwillkürlich darüber nachdenkt, wo und wie man sparen kann. Manchmal fragt er sich aber auch, ob es so sinnvoll ist, hier fünf Euro Parkgebühren zu sparen, solange andererseits noch immer aus Gründen der Bequemlichkeit Frau Braun für sieben Euro pro Stunde das Haus sauber macht. „Aber irgendwo muss man anfangen“, sagt sich Andreas dann in Gedanken.

 

Andreas Pitz geht Richtung Stadt. Eine Gruppe älterer Leute kommt ihm entgegen. Die Frauen, irgendwie modisch und doch nicht der Zeit entsprechend gekleidet, wirken klein und kräftig wie Bäuerinnen beim Sonntagsausflug in die Stadt. Die Männer laufen mit Hut und Mütze und trotz Sonnenwärme in dicken Jacken unsicher hinterher, wie Touristen in einem fremden Land. Etwas amüsiert schaut Andreas auf die Gruppe. Dann fällt ihm ein, dass sich hinter dem Drogenhilfezentrum ein Wohnheim für Russlanddeutsche befindet. Andreas schaut auf die Uhr. Wenn er pünktlich im Arbeitsamt sein will, muss er schneller gehen.

 

Andreas beschleunigt seine Schritte. Vorbei am seit einigen Jahren geschlossenen Stadtbad geht er zum Bahnhof. Er durchquert das Einkaufszentrum ohne die einladenden Dekorationen der Geschäfte zu betrachten. Noch zwei Straßenkreuzungen, dann steht er am Arbeitsamt. Hoch ragt der fünfstöckige in gelben Klinkersteinen gebaute Block neben der Kongresshalle auf. „Hier steht ja noch immer Arbeitsamt“, denkt sich Andreas, als er die großformatige Beschilderung am Hauseingang sieht. Und er muss lächeln: „Hier wäre gar kein Platz für ‚Arbeitsagentur’“. Das Wort „Arbeitsamt“ passt genau zwischen einen Hausvorsprung und den viertürigen Eingangsbereich des Hauses.

 

Wie schon Ende März stehen Arbeit Suchende vor der Tür. Irgendwer hat seinen Hund an dem Geländer der Behindertenauffahrt festgebunden. Das Tier liegt geduldig am Boden und wartet, dass es wieder abgeholt wird. Andreas Pitz betritt das Atrium. Er geht an der Kantine vorbei Richtung Aufzug. Aus der Liftkabine kommen sechs Leute. Andreas tritt ein, drückt die dritte Etage und schaut aus der gläsernen Kabine fasziniert auf das unter ihm liegende Atrium. In Höhe der dritten Etage kann er durch die riesige Fensterfront an der Stirnseite des Gebäudekomplexes in die Stadt schauen. Andreas verlässt den Aufzug. Auf der die beiden Gebäudeflügel verbindenden Brücke lehnt er sich ans Geländer und schaut nach unten. Klein sind die Menschen. „Arbeitsame Ameisen.“ Andreas schaut auf seine Armbanduhr. Es ist neun Uhr.

 

Er lenkt seine Schritte Richtung Warteraum. Die beiden Computer sind besetzt. Arbeit Suchende schauen nach, was sich im Internet tut. An der Theke steht niemand. Andreas geht nach vorne. „Guten Tag, ich habe einen Termin bei meinem Berater.“ „Ihr Name?“ fragt die Frau, die tief hinter der Theke vor einem Computer sitzt. „Pitz, Andreas Pitz.“ Sie tippt den Namen ein. „Ihr Geburtsdatum!“ Fordernd schaut sie Andreas an. „16. Juni ’52“, sagt er leise. „Ach“, die Arbeitsamtsmitarbeiterin schaut nach oben, „da haben Sie ja mit mir Geburtstag!“ „Bis zur Wiedervereinigung war das ein ‚guter’ Tag“, meint Andreas. „Der nächste Tag war immer ein Feiertag!“ „Ja“, sagt die Frau hinter der Theke offensichtlich guter Dinge, „da konnte man immer bis zum nächsten Tag feiern!“ Sie macht eine kleine gedankliche Pause. Dann wird sie wieder „amtlich“: „Sie gehen in Zimmer 3053. Herr Kinsinger erwartet Sie schon“, sagt die Frau mit einem schnellen Blick auf die im Computer eingeblendete Uhrzeit. „Wo ist das?“, fragt Pitz. „Hier um die Ecke“, zeigt die Frau hinter der Theke auf den aus dem Warteraum abgehenden Flur. „Sie gehen bis zum Treppenhaus, dann kommt eine Wartezone und dort ist das Zimmer dann auf der linken Seite.“ Die letzten Worte kommen nur noch zögerlich. „Nein“, verbessert sie sich, „Herr Kinsinger sitzt rechts.“ Sie legt den Kopf schräg, denkt sichtlich nach. „Aber schauen Sie selber!“, sagt sie schließlich.

 

Pitz geht nach hinten. Fast am Ende des langen Flures befindet sich das Büro von Kinsinger auf der rechten Seite, mit Blick in das Atrium des Hauses. Die Tür war offen. Andreas Pitz schließt die Tür hinter sich. „Guten Tag“, begrüßt er seinen Ansprechpartner. „Mein Name ist Pitz. Ich habe einen Termin bei Ihnen.“ „Ah ja, guten Tag.“ Kinsinger schaut von seinem Computer hoch. „Nehmen Sie doch Platz!“ Er zeigt auf die vor dem mit Papieren voll liegenden Schreibtisch stehenden Stühle. Andreas Pitz setzt sich. „Haben Sie Ihre Besucherkarte dabei?“, fragt Kinsinger. „Ja“, sagt Andreas und reicht das Papier über den Schreibtisch. Kinsinger schaut sich die Kundennummer an und ruft Pitz’ noch jungfräuliche Akte im Computer auf. „Sie sind Ingenieur“, stellt er fest. „Elektroingenieur mit einer Zusatzausbildung für Maschinenbau. Das klingt doch nicht schlecht!“

 

Das etwas flaue Gefühl, mit dem sich Andreas vor seinem Berater niedergelassen hat, weicht einer gewissen Erleichterung. „Sie sind 52 Jahre alt.“ Mit einem Blick in den Computer korrigiert sich der Arbeitsamtsberater: „Sie werden erst 52!“ „Ja“, sagt Andreas dazu. „Dann können Sie doch auch einiges!“ „Sicherlich!“ Andreas erzählt von der Firma Brück, dass er dort für die Steinkohle-Abteilung Maschinen getestet hat. Er erzählt von der Deutschen Steinkohle AG, den früheren Saarbergwerken, wo er unter Tage Bergbaumaschinen gewartet, repariert und auch gefahren hat. „Nicht schlecht“, stellt der Mann von der Arbeitsagentur anerkennend fest. „Aber warum sind Sie nicht beim Bergbau geblieben? Da hatten Sie doch einen sicheren Arbeitsplatz.“ Andreas Pitz erzählt von der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wolfgang Willems, dtu@aol.com
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2009
ISBN: 978-3-86479-030-0

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