Liebe nach Rezept
Insulaner küssen besser
Roman
September 2017
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„Männer konnten so stur sein … oder Idioten, wahlweise beides.
Wann kam er denn endlich zu ihr rüber, um sie zu küssen?
Und wieso um alles in der Welt gab es für die Liebe kein Rezept, das sie einfach nachkochen konnte?“
„Gute Arbeit, Ladys! Ich hoffe, es hat Ihnen ein wenig Spaß gemacht und …“
Luisa sah sich um. Niemand der anwesenden Damen hörte ihr mehr zu.
Sie lächelte zufrieden, denn das hieß, dass sie ihren Job gut gemacht hatte. Erschöpft wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab und lehnte sich gegen den Tresen.
Ihr Rücken schmerzte, doch das war ihr herzlich egal.
Einige Augenblicke sah sie auf die Gäste, die es sich bei Kerzenschein und angeregter Unterhaltung schmecken ließen.
Heute wurde eine Geburtstagsfeier in der Event-Küche ausgerichtet. Ein besonders prachtvoller vierzigster Geburtstag, ausschließlich Frauen, fünfundzwanzig an der Zahl. Und was für Frauen! Selbstbewusst, attraktiv, teuer gekleidet.
Am liebsten hätte sie sich selber dazugesetzt und ihren Geschichten gelauscht, denn beim „Live-Cooking“, waren die Damen alles andere, als aufmerksam.
Jetzt ein Drink, die Füße hochlegen und mit den anderen Frauen über die imaginären Vorzüge des ein oder anderen Hollywoodstars diskutieren, das wäre es! Klischees können manchmal so schön sein. Aber das war Luisa leider nicht vergönnt.
Sie pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. Es musste weitergehen.
Als es vorhin bei der Zubereitung des Vier-Gänge-Menüs darum gegangen war, das Gemüse für den Salat zu schneiden, hatte Luisa verzweifelt auf die Uhr geschaut und um die Einhaltung ihres Zeitplanes gebangt. Jede Kindergartengruppe konnte versierter mit Messern umgehen. Schlimmer war es sogar noch geworden, als das Fleisch zubereitet werden musste. Nur eine einzige der fünfundzwanzig Frauen hatte sich bereit erklärt, sich dieser Aufgabe zu stellen. Bewaffnet mit Einmalhandschuhen hatte sie das kostbare Filet malträtiert, unter den angewiderten Blicken der anderen Frauen.
Kann denn mittlerweile niemand mehr richtig kochen?
Lisa schüttelte amüsiert den Kopf. Na, es hatte ja trotzdem alles geklappt. Wie immer eigentlich.
Enno und sie waren ein eingespieltes Team.
Immerhin war er der Chef der Event-Küche „Kochen chez Enno“, die angesagteste Location in ganz Hamburg.
Sie waren oft über Wochen hin ausgebucht. Und das schrieb Luisa sich ebenfalls zu. Nun ja, zumindest zu einem kleinen Teil.
Gutbetuchte Hamburger konnten sich hier für ihre Partys eine Küche samt Koch mieten, die Partygäste wurden in Gruppen aufgeteilt und kochten gemeinsam das Menü – angeleitet von Luisa oder dem zweiten Koch, Paul.
Anschließend wurde das Essen dann in gemütlicher Atmosphäre genossen. Auch Firmen nahmen das Angebot gern für ihre Weihnachtsfeiern oder andere Betriebsfeste wahr. Für den Service waren zwei Kellnerinnen zuständig, in der Regel hübsche Studentinnen. Heute waren es Mia und Sophie. Sie schenkten gerade Wein nach. Nicht zum ersten Mal frage sich Luisa, was wohl ihre Großmutter zu dieser Art von Restaurant gesagt hätte.
Sie hatte ein kleines Lokal in Hamburg-Barmbek geführt, die Gäste waren meist einfache Arbeiter aus der Umgebung gewesen und es war schmackhafte, ehrliche Hausmannskost serviert worden.
Luisa war quasi in der Restaurantküche ihrer Oma groß geworden, und so hatte es auch niemanden verwundert, als sie später unbedingt Köchin werden wollte. Nein, Oma Josie hätte nur den Kopf geschüttelt über Leute, die – obwohl sie hoch aufgerüstete Küchen mit den teuersten Geräten ihr eigen nannten – ihre armen Gäste in angemietete Küchen schleppten, damit diese dort ihr Essen selbst kochten.
Ja, die Zeiten ändern sich, Omilein, dachte Luisa und blickte sich suchend nach Enno um. Die moderne Küchenzeile wurde nur durch eine Theke von dem großen Gastraum mit den hohen Decken und den bodentiefen Fenstern getrennt. Gleich dahinter stand ein sehr langer, rustikaler Holztisch, an dem die Gäste saßen. Und dort, am Tischende, stand Enno und unterhielt sich mit dem Geburtstagskind, während er Wein nachschenkte.
Mein Gott, er sieht so gut aus, dachte sie und ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer. Enno war nämlich nicht nur ihr Chef, sondern auch ihr Verlobter. Manchmal konnte Luisa es gar nicht glauben, dass sie mit so einem tollen Mann zusammen war. Sie grinste in sich hinein. Es gab Zeiten, da wurden diese kleinen Disney-Fantasien von Mädchen halt doch wahr.
Gut, anstatt einer Prinzessin war sie Köchin, das Schloss war auch gerade einmal eine gemütliche Altbauwohnung in der Speicherstadt, magische Kräfte konnte sie auch nicht ihr eigen nennen, aber den Prinzen … den hatte sie bekommen. Samt Leben, was zwar hart war, aber sie zufrieden stellte.
Er kam aus einer sehr reichen, echt hanseatischen Familie aus Hamburg-Blankenese, sah umwerfend aus (auch wenn ihre beste Freundin Adriana behauptete, dass er in letzter Zeit etwas Fett angesetzt hatte) und war zudem auch sehr erfolgreich (was er laut Adriana hauptsächlich seiner reichen Familie zu verdanken hatte, aber Luisa wusste nur zu gut, wie hart Enno arbeitete).
Sie selbst fand sich im allgemeinen und besonders an guten Tagen zwar auch ganz passabel, aber mit mittlerweile fast dreiunddreißig Jahren und dem einen oder anderen Pfündchen zu viel – wenn auch an den richtigen Stellen, wie Enno nicht müde wurde zu betonen - kam ihr Selbstbewusstsein doch schon mal ins Wanken.
Nur bei ihrer geliebten Kocherei zweifelte sie nicht an ihren Fähigkeiten. Sie wusste, dass sie gut war in ihrem Job. Luisa beobachtete, wie Enno an dem langen Holztisch entlang ging, hier und da nachfragte, ob alles in Ordnung sei, etwas Wein nachschenkte und ganz einfach ein perfekter Gastgeber war.
Dieser Mann war so selbstsicher!
Es entging ihr nicht, wie die Frauen auf ihn reagierten, ganz automatisch flirteten sie mit ihm.
Tja Ladies, Pech gehabt, dieser Mann gehört mir, frohlockte sie und begann, ihren Arbeitsplatz aufzuräumen. Um den Abwasch konnten sich Mia und Sophie ausnahmsweise nachher alleine kümmern, wozu war man schließlich die Freundin ... pardon, Verlobte des Chefs? Auch daran musste sie sich noch gewöhnen.
Luisa sehnte sich nach ihrer Couch, einem guten Glas Wein und Enno an ihrer Seite. Sechs Koch-Events an sechs Tagen in Folge waren einfach zu viel. Sie strich sich gerade ihre blonden Locken von der Stirn, als sie eine Hand auf ihrer Hüfte spürte.
„Na mein Engel, das hast du wieder großartig hingekriegt mit diesen verwöhnten Großstadt-Tussies“, raunte ihr Enno ins Ohr.
„Ja, einfach war es heute wirklich nicht“, stimmte Luisa ihm zu und drückte seine Hand. „Lass uns heute etwas früher schlussmachen. Ich bin total kaputt.“
„Okay“, antwortete Enno, „dann sehe ich mal zu, dass ich hier fertig werde. Ich gehe schnell raus zum Lieferwagen und hole die restlichen Kisten vom Großmarkt.“ Er gab ihr noch heimlich einen leichten Klapps auf den Allerwertesten und verschwand durch den Hinterausgang nach draußen.
Routiniert und konzentriert fuhr Luisa mit ihrer Arbeit fort, legte die Kochutensilien wieder an Ort und Stelle und ging den Menüplan für Freitag durch. Morgen hatten sie zum Glück keine Buchung reinbekommen. Paul war zurzeit im Urlaub, daher musste sie seine Schichten übernehmen und freute sich umso mehr über einen freien Tag. Sie sah hinüber zu der Geburtstagsgesellschaft. Mit jedem neuen Glas Wein wurde das Stimmengewirr lauter und die Stimmung ausgelassener.
Sie blickte auf die Uhr: Zeit fürs Dessert. Luisa öffnete den Kühlschrank und holte die kleinen Schälchen mit der Mousse au Chocolate heraus, welche selbstverständlich auch von den Gästen zubereitet worden war.
„Sophie, Mia, ihr könnt jetzt das Dessert servieren“, rief sie und begann, die Schälchen auf drei Tabletts zu verteilen. Mit hochrotem Kopf kam Sophie an die Theke.
„Ihr? Ich bediene hier seit mindestens zwanzig Minuten alleine. Mia wollte nur mal kurz aufs Klo. Ich habe keine Ahnung, wo sie bleibt!“ Wütend knallte sie ein Tablett mit gebrauchtem Geschirr auf den Tresen.
„Vielleicht ist ihr nicht gut? Ich schaue gleich mal nach ihr“, antwortete Luisa und schnappte sich eines der Tabletts mit dem Nachtisch und ging hinüber zum Tisch. Sophie folgte ihr mit einem weiteren Tablett.
„Meine Damen!“, rief sie. „Es ist Zeit für das Dessert! Die Gruppe Nummer 5, welche für das Dessert zuständig war, hat eine perfekte Mousse au Chocolate gezaubert. Guten Appetit!“
Unter Applaus und lautem Gejohle wurde der Nachtisch in Empfang genommen. Sie feierten sich, als ob sie ein Mittel gegen eine seltene Krankheit gefunden und nicht etwa bloß Eier, Milch und Schokolade miteinander verrührt hatten. Luisa schaffte es, sich umzudrehen und erst dann die Augen zu verdrehen. Sie bat Sophie, den Kaffee zu servieren und machte sich auf den Weg in die Damentoilette, um nach Mia zu schauen.
Der Waschraum war leer und die beiden Türen zu den Toiletten standen offen. Hier war Mia definitiv nicht. Vielleicht war sie kurz vor die Tür gegangen? Wie aus dem Nichts beschlich Luisa plötzlich ein ungutes Gefühl und ihr Magen krampfte sich zusammen. Wo war Enno eigentlich? Sie war so vertieft in ihre Arbeit gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass er noch nicht zurückgekommen war.
Wie lange konnte es denn dauern, die paar Kisten aus dem Lieferwagen zu holen? Zögernd ging sie zum Hintereingang. Was soll der Quatsch, versuchte sie sich zu beruhigen, es gibt bestimmt eine ganz normale Erklärung. Du siehst Gespenster, die arme Mia brauchte bestimmt nur frische Luft. Luisa öffnete die schwere Tür, ging nach draußen und sah sich um.
Vor dem Hintereingang war niemand zu sehen. Langsam ging sie in Richtung Lieferwagen. Die beiden Hecktüren waren nur angelehnt. Sie blieb stehen und horchte.
Nichts.
Doch, da, ein unterdrücktes Kichern kam aus dem Inneren des Wagens. Luisa wurde schlecht. Mia hilft ihm bestimmt nur, bitte lieber Gott, mach, dass Mia ihm nur beim Ausladen hilft, dachte Luisa verzweifelt. Sie musste sich zwingen, die letzten Schritte zum Wagen zu gehen. Langsam öffnete sie eine der Hecktüren. Im Schein der Straßenlaterne konnte sie erst nicht viel erkennen, doch dann sah sie etwas Helles aufblitzten – das blanke, wohlgeformte Hinterteil von Mia!
„Nein!“, rief sie und ihre Stimme hallte über den leeren Hinterhof. Mia fuhr mit einem Schrei herum, hinter ihr kam Enno zum Vorschein. Er taumelte und riss einen Pappkarton voller Tomatendosen mit sich zu Boden.
Die extra fein pürierten, dachte Luisa noch. Es schepperte ohrenbetäubend.
„Luisa!“ rief Enno. „Luisa, warte!“
Doch sie hatte sich bereits umgedreht und sich die Schürze mit der Aufschrift „Kochen chez Enno“ vom Leib gerissen. Dann rannte sie los, hinein in die dunkle Nacht.
„Ich will nicht mehr leben!“
Luisa lag, den Kopf in einem Kissen vergraben, auf dem Bett ihrer Freundin Adriana und weinte bitterlich. „Ich kann nicht, ich will nicht!“
Adriana saß hilflos auf der Bettkannte und streichelte Luisas Rücken.
„Ach Luisa-Schätzchen, ich weiß, dass Enno Mist gebaut hat, und es war bestimmt furchtbar, ihn mit dieser, dieser Sophie ….“
„Es war Mia! Es war diese Schlampe Mia, dieses hinterhältige, gemeine Biest!“, schrie Luisa.
„Gut, mit Mia, ihn so mit Mia…“
„… dieser hinterhältigen Schlampe …“
„… ihn mit Mia, dieser hinterhältigen Schlampe zu sehen. Aber meinst du nicht, dass du wenigstens mal mit ihm sprechen solltest? Er hat schon gefühlte einhundert Mal auf meinen Anrufbeantworter gesprochen.“
Luisa sah verständnislos zu ihrer Freundin hoch.
„Mit ihm sprechen? Warum denn? Damit er mir sagen kann, dass es nicht das war, wonach es aussah oder was? Dass Mia über eine Kiste gestolpert ist, ihr dabei der Rock hochgerutscht und sie dann auf ihn gefallen ist?“ Zornig schmiss Luisa das Kissen an die Wand. „Ich will diesen Scheißkerl nie, nie, nie mehr wieder sehen!“
„Das kann ich ja verstehen“, beschwichtigte Adriana sie, „aber ich denke, dass man auch mal einen Fehler machen darf, und du könntest doch versuchen, es so nach dem Motto einmal ist keinmal oder so ähnlich zu sehen.“
Luisa schnaubte. „Dass ich nicht lache, einmal ist keinmal - weißt du nicht mehr, er ist gleich am Anfang unserer Beziehung noch einmal mit seiner Ex ins Bett gehüpft, erinnerst du dich nicht?“
Adriana verdrehte die Augen. „Meine Güte Luisa, dass ihr Deutschen immer alles so genau nehmen müsst, das ist drei Jahre her, und ihr kanntet euch gerade mal eine Woche. Da ist man doch quasi noch Single.“
„Ach, so siehst du das also?“ Wütend funkelte Luisa ihre beste Freundin an. Sie liebe die heißblütige, brasilianische Ader ihrer Freundin, aber würde nie verstehen können, dass sie manche Dinge so locker nahm. „Ich war bis über beide Ohren verliebt, es war Liebe auf den ersten Blick, zumindest für mich, und dann das! Das hat höllisch wehgetan damals, das kann ich dir aber sagen.“ Luisa richtete sich auf und tippte ihrer Freundin hart mit dem Zeigefinger gegen die Brust. „Und wie kommt es eigentlich, dass du diesen Scheißkerl so verteidigst? Du magst ihn doch nicht einmal besonders!“
Adriana zuckte mit den Schultern. „Ist doch egal, wie ich ihn finde. Du bist doch mit ihm zusammen, und wenn er dich glücklich macht – Entschuldigung, machte - ist es doch gleichgültig, ob ich ihn besonders sympathisch finde.“ Sie seufzte auf. „Gut, er sieht aus wie ein englischer Großgrundbesitzer, mit seinen beigen Cordhosen und diesen albernen Tweedjacken. Und dass er immer so tut, als ob er sich alles ganz allein erarbeitet hat, dabei hat er doch stets Geld von Papi bekommen. Der hätte mal in einer Favela in Brasilien groß werden sollen, da läuft der Hase aber anders.“ Adriana war jetzt richtig in Fahrt. „Und habe ich dir schon gesagt, dass ich finde, dass er in letzter Zeit ganz schön zugelegt hat?“
„Ja doch, das hast du mir mindestens schon zehnmal gesagt!“, rief Luisa ungeduldig. „Siehst du, du findest ihn blöd, aber trotzdem machst du dich für ihn stark.“
Adriana nahm Luisas Hände und drückte sie.
„Schätzchen, weil er dich bis jetzt immer glücklich gemacht hat. Ich bin mir auch sicher, dass er dich liebt. Ich glaube bloß generell nicht an Treue bei Männern, das weißt du doch, deshalb überrascht mich das jetzt auch alles nicht so sehr.“
Luisa zog ihre Hände weg. „Er macht mich aber nicht mehr glücklich!“, rief sie und ließ sich wieder zurück auf das Bett fallen. „Er macht mich so furchtbar, furchtbar unglücklich“, fügte sie nach einer kurzen Pause leise hinzu und fing wieder an zu weinen. „Adriana, hör mal, es tut mir leid, dass du jetzt meine ganze Wut abbekommst, meinen ganzen Frust, ich weiß nur einfach gar nicht mehr, wo oben und wo unten ist und….“ Der Rest des Satzes ging in einem lauten Schluchzer unter.
„Ich weiß, meine Liebe, mach‘ dir deswegen keine Sorgen, das halte ich aus, du kennst mich doch, mich erschüttert nichts so schnell.“
Luisa musste wider Willen lächeln.
„Trotzdem ist es ungerecht, eigentlich müsste ich das alles Enno an den Kopf werfen, ich könnte es im Augenblick nur einfach nicht ertragen, ich zu sehen.“
„Na klar, das verstehe ich doch“, sagte Adriana.
Eine Weile schwiegen sie, dann sagte Adriana zögernd: „Weißt du, vielleicht hat Enno einfach auch sowas wie Torschlusspanik wegen Eurer Hochzeit und wollte es sich noch einmal beweisen, wissen, ob er es noch drauf hat, das könnte doch sein.“
Luisa wollte schon wieder in die Luft gehen, besann sich jedoch noch rechtzeitig eines Besseren. Ihre Freundin konnte nun wirklich nichts für diesen ganzen Schlamassel und versuchte nur, nach Erklärungen zu suchen. Luisa bemühte sich daher, ihrer Stimme einen halbwegs ruhigen Klang zu verleihen, als sie ihr antwortete.
„Das könnte sicher ein Grund sein, aber das ist ja trotz allem keine Rechtfertigung für so ein Verhalten. Und wenn er Panik vor der Hochzeit hatte, hätte er doch ruhig mal mit mir reden können - mein Gott, die Hochzeit! Was wird denn nun aus der Hochzeit?“ Sie schlug die Hände vors Gesicht.
„Ach, ihr habt doch noch nicht einmal Einladungen rausgeschickt“, wollte Adriana sie beruhigen. Luisa sah sie zwischen den Fingern hindurch an.
„Aber eine schicke Save-the-Date Karte“, jammerte sie.
„Gut, eine schicke Save-the-Date Karte, aber ansonsten entstehen euch doch gar keine Kosten für irgendwelche Absagen von….“ Weiter kam sie nicht.
„Kosten? Wer redet denn hier von Kosten? Ich bin fast dreiunddreißig Jahre alt und werde jetzt wahrscheinlich nie heiraten, das ist der Punkt!“ Luisa schnappte sich das Kissen vom Boden und vergrub wieder ihr Gesicht darin.
„Also noch ein Grund, dich mit Enno zu versöhnen!“ Adriana klatschte aufmunternd in die Hände. „Komm, ich hole dir das Telefon.“ Sie warf ihre schwarzen Locken in den Nacken und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer.
„Nein, Adriana, es tut mir leid, ich kann jetzt nicht mit Enno sprechen. Ich sehe die beiden die ganze Zeit vor mir, wie sie da im Lieferwagen….“ Sie schüttelte den Kopf, um das Bild schnell wieder aus ihrem Kopf zu bekommen. „Vielleicht schaffe ich es ja morgen, ihn zurückzurufen. Oder übermorgen.“
„Ist okay, Schätzchen, lass dir noch ein bisschen Zeit, ich will dich auch gar nicht drängen, mir würde es wahrscheinlich ähnlich gehen, wenn ich so darüber nachdenke.“
Luisa bezweifelte das zwar, weil Adriana stets das Oberwasser in jeder Beziehung behielt und sowieso gern ging, bevor es allzu ernst werden konnte, aber sie sagte nichts.
„Soll ich Ben anrufen und ihn bitten, nach dir zu sehen? Ich muss jetzt zurück ins Büro.“
„Oh, das ist eine tolle Idee“, sagte Luisa erleichtert. Sie konnte gerade mit ihren Gedanken nicht gut allein sein, da tat Gesellschaft gut. „Danke, dass du Deine Mittagspause für mich Heulsuse geopfert hast!“
„Ach, die Alternative wäre ein Lunch mit dem lüsternen Senior-Chef gewesen, da fiel mir die Wahl recht leicht!“
„Na warte!“, rief Luisa lachend und schmiss ein Kissen nach ihrer Freundin, die jedoch geschickt auswich und sich hinter der halboffenen Tür verschanzte.
„Da, Luisa, ich habe eben ein Lachen gesehen, ein echtes Lachen, gib es ruhig zu!“
„Los, du verrückte Nudel, ab zu deinem lüsternen Senior-Chef, wir sehen uns heute Abend. Und - Adriana?“
„Ja?“ Adrian steckte noch einmal den Kopf ins Zimmer hinein.
„Danke. Für alles.“
Adriana lächelte und warf ihr eine Kusshand zu.
„Dafür nicht, Süße, jederzeit und immer wieder gern. Versuche doch, noch ein bisschen zu schlafen. Bis heute Abend.“
Und damit schloss sie die Tür hinter sich.
Luisa schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Sie war nach dem Gespräch mit Adriana von deren Bett auf das gemütliche Sofa im Wohnzimmer umgezogen und anscheinend eingeschlafen.
Es hatte angefangen zu regnen, und man hörte nur die dicken Tropfen gegen die Scheiben prasseln, ansonsten war es sehr still in der Wohnung. Luisa sah auf die Uhr.
16:15 Uhr. Wo war Adriana? Ach ja, sie hatte zurück ins Büro gemusst. Vorhin hatte sie ihre Mittagspause geopfert, um schnell mal nach ihr zu sehen. Luisa war ihr so dankbar!
Adriana hatte die halbe gestrige Nacht mit ihr durchwacht, sie getröstet und im Arm gehalten. Luisa kamen wieder die Tränen, als sie an den furchtbaren Abend dachte. Nachdem sie Enno und Mia in flagranti erwischt hatte, war sie ziellos losgelaufen, einfach losgelaufen, nur in ihrem Kochoutfit. Es war empfindlich kalt gewesen, eine Hamburger Frühlingsnacht ist nicht zwangsweise milde. Irgendwann stand sie vor ihrer Wohnungstür in der Speicherstadt des Hamburgerer Hafens, immerhin eine halbe Stunde Fußmarsch vom Chez Enno entfernt. Natürlich hatte sie keinen Schlüssel dabei gehabt, daher klingelte sie bei der alten Frau Müller im Parterre, wo sie und Enno einen Ersatzschlüssel deponiert hatten.
Es war ihr völlig egal gewesen, dass die arme Frau bereits im Bett gelegen hatte. Ohne großartig eine Erklärung abzugeben, hatte sie nach dem Schlüssel verlangt und war hinauf in ihr gemeinsames Appartement gestürmt. Sie hatte furchtbare Angst gehabt, dass Enno sie hier suchen würde, sie hatte ihm auf keinen Fall begegnen wollen. Schnell hatte sie ein paar Sachen zusammengesucht, alles in ihre Sporttasche gestopft, ein Taxi gerufen und war wieder nach unten gerast.
Der Wagen hatte sie bei Adriana in Hamburg-Ottensen abgeliefert. Sie hatte Sturm geklingelt, der verblüfften Adriana gesagt, dass sie das Taxi bezahlen solle und sich dann auf deren Bett geworfen. Erst da hatte sie angefangen zu weinen.
Und nun saß sie hier in dieser leeren Wohnung und war mit ihren quälenden Gedanken allein. Sie sah auf den Anrufbeantworter. Die kleine Lampe blinkte wie wild. Enno hatte sich natürlich gleich gedacht, dass sie zu Adriana geflohen war. Auf ihrem Handy hatte er es sicher zuerst versucht, das lag jedoch noch in ihrer Tasche im Chez-Enno, eingeschlossen in ihrem Spint. Soll er doch warten, bis er schwarz wird, dachte Luisa und stand mühsam auf.
Sie fühlte sich um hundert Jahre gealtert. Luisa durchquerte den Wohnraum und ging in die offene Küche. Dort schenkte sie sich ein Glas Leitungswasser ein, nahm einen Schluck und lehnte sich an die Küchenzeile. Sie sah sich in der Altbauwohnung um. Adriana hatte wirklich einen tollen Geschmack. Obwohl die Wohnung sehr modern eingerichtet war, strahlte sie eine ungeheure Gemütlichkeit aus. Günstig war das alles sicher nicht gewesen, mutmaßte Luisa. Aber Adriana konnte es sich leisten, sie arbeitete in dem renommierten Architekturbüro Hermanns und Söhne und verdiente wirklich ausgesprochen gut.
Sie bauten Bürohäuser und ähnliche Ungetüme, und Luisa hatte Adriana bereits einmal auf einer Großbaustelle in Aktion erleben dürfen. Es war herrlich gewesen, die Bauarbeiter hatten beim Anblick dieser hübschen, zierlichen Brasilianerin nicht damit gerechnet, von ihr ordentlich den Marsch geblasen zu bekommen.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Luisa erstarrte. Was, wenn das Enno war? Sie wollte ihn nicht sehen. Es klingelte wieder. Ich mache einfach nicht auf, soll er doch da unten verrotten, dachte sie. Nach einem weiteren Klingeln wurde es ruhig, dann schrillte plötzlich das Telefon. Luisa zuckte zusammen.
Nach dem fünften Klingeln ging der Anrufbeantworter an. „Luisa, Luisa-Herzchen, bist du da? Hier ist Ben! Luisa, es regnet in Strömen, bitte mach doch auf! Ich habe meine neuen Schuhe an, die sind gleich ruiniert, Luisa bitte!“
Ben!
Den hatte sie ganz vergessen. Er hatte ja versprochen, vor seiner Schicht in der Bar noch bei ihr vorbeizuschauen. Adriana hatte ihn angerufen und ihn ausführlich über die Geschehnisse informiert. Sie eilte zur Wohnungstür, öffnete diese und drückte gleichzeitig auf den Summer für die Haustür. Schnelle Schritte waren im Treppenhaus zu hören und dann stand Ben auch schon vor ihr.
Er sah wie immer entzückend aus.
Seine großen blauen Augen strahlten in einem überraschend jungenhaften Gesicht, wenn man bedachte, dass er genauso alt war wie Luisa. Seine strohblonden Haare trug er zu einem modernen Undercut geschnitten und gekleidet war er – wie immer – für einen Mann ein bisschen zu gut.
Perlen vor die Säue, dachte Luisa nicht zum ersten Mal, denn Ben liebte ausschließlich Männer. Was war das bloß für eine Verschwendung! Sie schloss die Tür hinter ihm. Ben breitete die Arme aus.
„Hier bin ich, wie von dir bestellt, um dich von deinem traumatischen Erlebnis abzulenken. Lass dich mal in den Arm nehmen, Süße.“ Luisa lehnte ihren Kopf an Bens Schulter und er legte die Arme um sie. Sofort fing sie wieder an zu weinen. Es war so schön, dass er da war.
„Schhhh, Süße, es wird alles wieder gut, das verspreche ich Dir.“ Er führte sie zum Sofa, drückte sie in die weichen Kissen, zog seinen nassen Mantel aus und legte ihn über einen Stuhl. Dann setzte er sich neben sie und nahm sie wieder in den Arm.
„Weißt du noch, damals in der zehnten Klasse - das war, glaube ich, zu der Zeit, als ich meine Haare pink gefärbt hatte - da warst du mit diesem Boris zusammen, der immer diese furchtbaren Klamotten trug.“
„Der trug keine furchtbaren Klamotten, der hat sich nur einfach ganz normal angezogen“, murmelte Luisa in seine Schulter hinein.
„Wie dem auch sei“, entgegnete Ben, „aber als dieser schlecht angezogene Boris mit der magersüchtigen Heidi rumgeknutscht hat, da dachtest du auch, dass die Welt untergehen und du nie drüber hinwegkommen würdest. Und Schwupps, zwei Wochen später warst du mit diesem süßen - wie hieß er doch gleich, diesem schwarzhaarigen …“
„Marcel.“
„Richtig, und Schwupps warst du mit Marcel zusammen und verliebt bis über beide Ohren!“
„Du kannst das alles hier doch nicht mit einer Jugendliebe vergleichen! Mensch Ben, ich wollte Enno heiraten! Mit sechzehn steckt man sowas doch viel besser weg, da verliebt man sich alle naslang in jemand anderen. Aber ich bin jetzt fast zwanzig Jahre älter“. Sie schluchzte. „Ich werde nie wieder jemandem vertrauen können, und falls doch, dann dauert das bestimmt noch Jahre, und dann bin ich vierzig, und dann bin ich richtig alt und Kinder kann ich mir dann auch abschminken.“ Sie schluchzte erneut.
„Das ist doch Quatsch!“ Ben zog ein Kosmetiktuch aus einer Pappschachtel, die auf dem Couchtisch stand und reichte es ihr. „Man kann doch heute locker mit Anfang vierzig noch Kinder bekommen“, versuchte er sie zu trösten.
„Das ist mir total egal, ich will einfach keine alte Mutter sein, auch wenn das biologisch oder mit medizinischer Hilfe möglich ist.“ Sie putze sich geräuschvoll die Nase.
„Süße, könnte es sein, dass du so wahnsinnig an diesem Familiending hängst, weil du ohne Mutter aufgewachsen bist?“
Ben streichelte ihr über das widerspenstige blonde Haar.
„Ach Ben, ich war doch erst ein halbes Jahr alt, als sie starb. Ich kann mich doch gar nicht an sie erinnern. Und ich habe im Übrigen auch nichts vermisst, meine Oma war immer für mich da und Paps ja sowieso.“
„Ich weiß, Oma Josie war schon eine tolle Frau.“ Er lächelte. „Sie war die erste, die gemerkt hat, dass ich anders war als die anderen Jungen.“
Ben und Luisa kannten sich seit Kindergartentagen, hatten in derselben Straße in Hamburg-Barmbek gewohnt und ihre ganze Schulzeit miteinander verbracht. Einmal hatte es so ausgesehen, als ob Ben sitzenbleiben würde. Luisa hatte nächtelang mit ihm gelernt und dann hatte er es glücklicherweise doch noch in die zehnte Klasse geschafft.
„Ich meine ja nur“, nahm Ben den Faden wieder auf, „du weißt schon, dieses ganze Mutter, Vater, Kind-Ding, du hast schon im Kindergarten dauernd diese Bilder gemalt.“
„Ja, natürlich“, sagte Luisa und richtete sich auf, „weil die anderen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2984-8
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