Über dieses Buch:
Der gentechnisch optimierte Mensch, befreit vom Aggressionstrieb und geheilt von vielen Krankheiten – heilvolle oder gefährliche Vision?
In ihrem dritten Fall geraten Bea und Marc Philips ins Fadenkreuz der Firma GENOM, die sich genau das auf ihre Fahnen geschrieben hat – und ihre Gegner gnadenlos auszumerzen versucht. Schnell stellt sich heraus, dass ihr Erzfeind Gregori Romanescu, einst gefürchteter Chef der sogenannten ‚Immaculati‘ erneut seine Finger im Spiel hat.
Als Marc entführt wird, beginnt für Bea eine lange, leidvolle Spurensuche. Sie führt nicht nur um die halbe Welt, sondern auch zu der Erkenntnis, dass sogar der Vatikan mitmischt. Gelingt es ihr, gemeinsam mit ihrem neuen Freund Will Smith vom MI5, die Machenschaften von GENOM aufzudecken – und Marc wiederzufinden?
Genom - Gefährliche Visionen
aus der Serie: «Mr. und Mrs. Philips»
Copyright: © Jean P. und Esther Novalis.
2023 – publiziert von telegonos-publishing
www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website) Cover: Kutscherdesign. Covergestaltung unter Verwendung einer Vorlage von Adobe
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ISBN der Printversion 978-3-946762-66-9
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
«Wir haben zum ersten Mal die Möglichkeit, auf präzise Weise unsere Gene zu einem günstigen Preis und sehr verlässlich zu verändern ... Bodyhacker, die solche Entwicklung zu Hause vorantreiben, können Forschung betreiben, die ansonsten verboten ist.»
Stefan Lorenz Sorgner
«Schöner neuer Mensch»
1. Teil
Erstes Kapitel
Sarah MacKenzie
«Und so lassen Sie mich zum Abschluss meiner kleinen Laudatio einmal mehr unser vom Studierendenbeirat der Akademie ausgewähltes Stiftungsmotto zitieren: Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir unterlassen. Einige der hier Anwesenden waren dabei, als vor etwa zwei Jahren die terroristischen Schergen der Immaculati mit Waffengewalt in diesen altehrwürdigen Saal eindrangen und die Schülerinnen der damaligen Hauswirtschaftsschule entführten. Sie haben seinerzeit die Spitze des Eisbergs gesehen. Zusammen mit vielen anderen haben Sie dazu beigetragen, die Harriot-Steele-Stiftung zu gründen, welche es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Opfern von Missbrauch und Menschenhändlern zu helfen. Unsere Vorsitzende Charlotte Clement – in gleicher Funktion auch bei Solwodi tätig, nimmt gerade an einer Anhörung des Europäischen Parlaments in Straßburg teil, bei der es um die bessere Vernetzung bei der internationalen Fahndung nach diesen gewissenlosen Schurken geht, zu denen auch die Immaculati gehörten – oder muss man sagen gehören? Viele von ihnen konnten dingfest gemacht werden, aber es gibt Hinweise darauf, dass sie nach wie vor ihre schmutzigen Geschäfte betreiben. Gregori Romanescu, einer der Drahtzieher, vielleicht sogar der Kopf der Bande, wurde nie gefasst. Wir dürfen also nicht aufhören, das Gebot Molières zu befolgen! Das will uns insbesondere sagen, es nicht zu unterlassen, aufmerksam zu sein und nicht wegzuschauen, wo Menschen nur ein Spielball der Interessen von kriminellen Vereinigungen, aber auch von einzelnen Gewalttaten werden. Ich freue mich, dass sich diese Zielsetzung auch in der Verfassung unserer neu gegründeten Akademie wiederfindet. Ganz besonders aber freue ich mich darüber, dass wir in Dr. Sarah MacKenzie eine Frau gefunden haben, die nicht nur aus voller Überzeugung diese Werte vertritt, sondern alle Fähigkeiten mit sich bringt, unsere Akademie zu leiten und in eine gute, hoffnungsvolle Zukunft zu führen. Frau Direktorin, wenn Sie nun bitte nach vorne kommen!»
Marc Philips atmete innerlich auf, als er den letzten Satz zu Ende gesprochen hatte. Er hasste es, Reden zu halten, aber diesen Job hätte er schlecht ausschlagen können, wurde er doch von vielen als eine Art Gründervater der Stiftung verehrt.
Dabei war die Idee zur Gründung dieser Stiftung mehr oder weniger lediglich einem Schuldgefühl entsprungen. Harriot Steele, seine Jugendliebe und langjährige Vertraute, hatte den Kampf gegen die Immaculati mit dem Leben bezahlt und Bea, seine Ehefrau und große Liebe seines Lebens, war zweimal von den Immaculati entführt worden und konnte damals nur in allerletzter Sekunde vor dem Schlimmsten gerettet werden – nach einem abartigen Hexenprozess in Saintgarden Abbey.
Beides hätte er verhindern können, verhindern müssen! Daran änderte auch die immerwährende Beteuerung Beas nichts, dass ihn keinerlei Schuld treffe und seine Ansicht nur seinem gut gemeinten, aber völlig antiquierten patriarchalen Beschützerinstinkt entsprungen sei. Sie war seine gleichberechtigte Partnerin in der Detektei und hatte als solche in eigener Verantwortung gehandelt und auch Harriot war eine eigenständige, selbstbewusste und selbstverantwortliche Frau gewesen.
Ach Bea, dennoch ... – Marc, lass das! Konzentrier dich auf deinen Job. Der kann doch nicht so schwer sein. Ist doch ’ne attraktive Frau. – Bea! Höre ich da gewisse Untertöne?
Als der Applaus verklungen war, überreichte er Sarah MacKenzie den vorbereiteten Blumenstrauß und sagte, so würdevoll er konnte, in schottischem Gälisch: «Do bheatha dhan dutchaich, Miss MacKenzie!»
Bevor er noch zu weiteren Begrüßungsformeln ausholen konnte, unterbrach sie ihn und entgegnete: «Mr. Philips, als Repräsentant meines Arbeitgebers sage ich Ihnen mòran taing, als Direktorin der Akademie muss ich Ihnen leider eine Rüge erteilen. Die Anrede ‚Miss‘ ist unzeitgemäß und ziemlich patriarchalisch angestaubt.»
Für den Bruchteil einer Sekunde, die ihm jedoch unendlich erschien und vom erstaunten Schweigen des Saals begleitet war, spürte Marc, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, bevor er zur gewohnten Schlagfertigkeit zurückfand und freundlich lächelnd antwortete: «Ich nehme die Rüge an, weil meine Ansprache zu hart klang, Mzz MacKenzie. Ansonsten wählte ich diese Anrede, weil ich eine Lehrerin anredete. Das macht man doch noch immer so, oder?»
Die Antwort kam postwendend und Sarah MacKenzie hob dabei eine Augenbraue, wie es Mr. Spock alle Ehre gemacht hätte. «Das mag schon sein, Mr. Philips, aber ich bin ja doch nicht Ihre Lehrerin, oder?»
Chapeau, die Frau hat Klasse, ging ihm durch den Kopf, als er schließlich, nachdem er schmunzelnd klein beigegeben hatte, in der ersten Reihe saß und ihrer Antrittsrede lauschte. Dabei gab es da gar nicht so viel Spannendes zu lauschen, dafür jedoch umso mehr zu sehen, wie Marc sich selbstkritisch eingestehen musste. Wie sie sich bewegte! Das war Selbstsicherheit und Erotik pur in einem. Nicht die kleinste Geste war unbewusst, schon gar nicht, wie sie sich gelegentlich ihr Haar hinters Ohr strich. Oder unterlag er einer Sinnestäuschung?
Überhaupt, ihre beinahe schwarze, lockige Haarpracht hatte was – genauso wie ihr gesamtes Outfit. Es entsprach so gar nicht dem sonst eher gewohnten Graue-Maus-Äußeren des pädagogischen Personals: schwarzes, figurbetonendes Etuikleid, schwarze Stiefel und dazu eine taillenkurze rote Lederjacke. Die hatte Mut! Ob sie damit ein Zeichen setzen wollte?
Na, für dich vielleicht, mein Lieber? Vielleicht hat sie ja gerochen, dass du, gib’s zu einen klitzekleinen Hang hin zur Domina in dir verspürst. Ich sage nur Harriot Steele ...
Manchmal musste er innerlich den Kopf über sich selbst schütteln. Gerade zu den unpassendsten Gelegenheiten sprach er mit Beas Stimme zu sich selber – in letzter Zeit immer häufiger. Ob das so was wie Entzug war? Das passierte, seit ihre telepathischen Fähigkeiten erloschen waren. Es hatte so sehr dazugehört, ihr telepathisches Geflüster, dass es ihnen beiden manchmal einfach fehlte. Häufig bastelte er sich geradezu Ersatzdialoge zurecht.
Bea! Fängst du schon wieder mit deiner Eifersucht an? Damit hast du schon mal beinahe alles kaputtgemacht, erinnerst du dich? – Ach Marc, du bist so weit weg ... Bitte verzeih, das war nicht so gemeint. Ich liebe dich doch und ich wäre so gerne bei dir. – Hättest ja mitkommen können! – Marc! Das war jetzt böse und damit sind wir quitt.
In Wirklichkeit wäre dieses Gespräch vielleicht etwas anders verlaufen, aber ihr Geflüster war so mächtig gewesen, dass es immer noch nachhallte. Wie bei einer Sucht, wo plötzlich die Droge fehlt, war das. Als Ersatzdroge halfen die inneren Zwiegespräche ein wenig, zur Lösung von Kriminalfällen wohl kaum. Manchmal zweifelte Marc an seinem Verstand. Aber es tat gut. Ein bisschen näher war sie dann, wenn sie in Wirklichkeit, so wie jetzt, weit weg war. Bei ihr war das ähnlich, hatte sie ihm mal verraten. Was hätte er als Nächstes gesagt?
Meine einzige Domina bist du, und jetzt ist gut! Sei doch froh, dass ich dich an allem teilhaben lasse und bedenke, wie viele Fälle wir mithilfe unserer telepathischen Gabe schon gelöst haben! Willst du das aufs Spiel setzen?
Zwischenzeitlich hatten sie natürlich gelernt, wie zwei ganz normale Menschen zu kommunizieren. Früher hatten sie das Handy so gut wie nie gebraucht. Aber sagt man sich so was per Handy?
Nein, natürlich nicht, mein strenger Dominus, du! Aber dass ich nicht mitgekommen bin, war wirklich böse, böser jedenfalls als meine Eifersucht, denn die war gespielt. Ich kenn die Frau doch nicht einmal. Wollte doch nur, dass du mich mal wieder übers Knie legst!
Bea war einfach omnipräsent in ihm. Nicht auszuschließen war, dass er nicht nur innerlich die Augen verdreht hatte, denn die Rednerin legte eine kleine Pause ein und Marc wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn nicht nur angesehen, sondern ihm abermals einen rügenden Blick herübergeschickt hatte. Sollte ihm das etwas sagen? Diese Weiber!
Bea hatte natürlich recht. Ganz freiwillig war sie nicht mit nach Straßburg gefahren, hatte jedoch schließlich die einmalige Chance, die sich ihnen bot, als vorrangig angesehen. Das war sie nämlich in der Tat. Ihre Freundin Chantal, die als Dolmetscherin beim Europäischen Parlament arbeitete, hatte arrangiert, dass sie ebenfalls an besagter Anhörung teilnehmen konnte. Gewiss bekäme sie auf diese Weise Informationen aus erster Hand, die ihnen bei der Suche nach verschwundenen Menschen hilfreich wären und vielleicht sogar einen Anhaltspunkt über den Verbleib von Gregori Romanescu geben könnten.
Keine Bange, versuchte er sich selbst von seinen Grübeleien abzulenken, ich werde das bei nächster Gelegenheit nachholen! Ob er ihr auch gesagt hätte, dass er Sarah MacKenzie anschließend ins Hotel bringen würde ...?
Als Sarah MacKenzie ihre Rede beendet hatte, geschah etwas Außergewöhnliches.
Zweites Kapitel
Gregori Romanescu
«Miss MacKenzie, dürfen wir bitte etwas sagen?» Kaum war der Applaus verklungen, hatten die beiden Mädchen sich ein Herz gefasst und sich von ihren Sitzplätzen erhoben.
«Na, das habt ihr ja schon», reagierte die Angesprochene zwar sichtlich überrascht ob der unerwarteten Störung, aber dennoch gelassen lächelnd. «Also, was gibt’s?»
Die sichtliche Aufgeregtheit der Mädchen wurde vom einsetzenden Gemurmel des Saals zugedeckt. «Wir sind ..., ähm, wir kommen ...», begann die eine stotternd, bevor die andere – etwas forscher – weitersprach: «... von der Klosterschule in Saintgarden Abbey und wir wollten mal fragen, ob wir uns hier für die Akademie bewerben dürfen? Wir arbeiten an einem Forschungsprojekt, mit dem wir dort nicht weiterkommen. Im Gegenteil, wir werden unterdrückt.»
Zunächst etwas verwirrt in Richtung Stiftungsbeirat und Kollegium blickend, übte Sarah MacKenzie die Autorität ihres neuen Amtes schließlich auf ungewöhnliche, aber ganz souveräne Weise aus. «Wisst ihr was, ihr zwei? Kommt mal nach hier vorne, stellt euch vor, wie sich das gehört, und erklärt uns mit ein paar Worten, worum es geht.»
Die Bitte um Ruhe im Saal konnte sie sich sparen. Im Auditorium herrschte plötzlich gespannte Stille. Dass die Klosterschülerinnen damit nicht gerechnet hatten, war ihnen anzumerken. Beinahe entsetzt sahen sie sich an und nestelten nervös an ihren Schuluniformen herum, welche, das wurde spätestens für alle erkennbar, als die beiden, sich an den Händen haltend, endlich nach vorn kamen, nicht gerade dem entsprachen, was man bei Klosterschülerinnen erwartet hätte.
Übertroffen, um nicht zu sagen in den Hintergrund gedrängt, wurde diese Auffälligkeit allerdings von einer noch größeren Verblüffung, als die beiden, verlegen zu Boden blickend, neben der Direktorin standen und von dieser mit einem aufmunternden Blick aufgefordert wurden, ihr Anliegen vorzutragen.
Waren das etwa Zwillinge?
Oder suggerierte das lediglich die identische, vorsichtig formuliert, auffällige Schulmädchenuniform, bestehend aus verboten kurzen, grauen Faltenröckchen, weißen Blusen und weißen Kniestrümpfen, sowie der akkurate Pagenschnitt ihrer dunkelbraunen Haare und die leicht nerdhaften runden Nickelbrillen?
«Ich heiße Rita», trat die vorhin schon forschere Rednerin einen Schritt vor, knickste artig in Richtung des Stiftungsrates, wobei sie insbesondere Marc Philips mit dieser Geste fokussiert zu haben schien, « und das ist Lena!»
Nachdem auch Lena diesen antiquierten Obolus entrichtet hatte, der – da mochte man drauf wetten – als ein kleiner Bestechungsversuch an die Herren der Schöpfung zu verstehen war und von einem Unverständnis signalisierenden Augenverdreher der Direktorin quittiert wurde, begann Rita ihre Ausführung mit einer der Nebensächlichkeit ihres Outfits geltenden Entschuldigung.
«Bitte, sehr verehrte Damen und Herren, verzeihen Sie zunächst unsere unpassende Kleidung. Wir tragen das nicht freiwillig. Es ist, weil wir ... Man zwingt uns ...» Stotternd sah sie nun Hilfe suchend ihre Zwillingsschwester an, die auch sogleich einsprang.
«Wir müssen das anziehen, weil wir ..., wir sind nämlich ..., also Rita und ich lieben uns. Und das ist verboten.»
Nachdem nun das Unaussprechliche ausgesprochen war, übernahm wieder Rita das Ruder, um nunmehr das wirklich Unaussprechliche auszusprechen. Sie tat das erstaunlich sachlich. «Gleichgeschlechtliche Liebe ist bei uns verboten. Damit die anderen vor uns gewarnt sind, tragen wir diese Klamotten. Sie dienen der Kennzeichnung unserer Stigmatisierung. Demnächst sollen wir außerdem an einer Umerziehungstherapie teilnehmen.»
Als sie das gesagt hatte, fing Lena leise zu schluchzen an.
«Moment mal», unterbrach Sarah MacKenzie, die befürchtete, dass hier ein Fass aufgemacht wurde, das den Rahmen der Veranstaltung sprengen würde, «und Hand aufs Herz: Ist das der eigentliche Grund, warum ihr zu uns wechseln wollt?»
Betroffen und etwas ratlos wirkend blickten die beiden zu Boden. «Nein ..., ja ..., nein, doch», stotterten sie abwechselnd, «aber mit der Bewerbung und mit unserem Projekt, das war ehrlich und wirklich ernst gemeint.»
«Ich schlage vor», schaltete sich Marc Philips nun ein, «wir hören uns das jetzt mal an. Vielleicht lassen sich ja beide Motive miteinander verbinden. Aber kurz gefasst bitte!»
Er erntete einen dankbaren Blick und einen weiteren verschämten Knicks. Dafür, dass ihr Outfit eine Art Bloßstellung war, ein unliebsames Muss, wussten sie es lolitahaft kokettierend einzusetzen. Geschah das unbewusst? Äußerst bewusst war auf alle Fälle die knappe und zugleich präzise Vorstellung ihres Projektes.
Als unbegleitete Flüchtlinge aus Syrien nach einer wahren Odyssee in Inverness gestrandet, hatten sie schließlich im Rahmen eines kirchlichen Wiedereingliederungsprogramms Aufnahme in Saintgarden gefunden. Von Kindesbeinen an selber daran glaubend, dass sie Zwillinge waren, fanden sie schließlich heraus, dass sie aus unterschiedlichen Familien stammten. Als sie sich im Biologieunterricht mit Genetik und insbesondere mit den Thema Zwillingsforschung beschäftigten, wurde ihr Interesse daran geweckt, sich diesem Thema intensiver zu widmen. Dank eines über den Tellerrand schauenden, inzwischen entlassenen Biologielehrers lernten sie die enorme Tragweite und die Zukunftsorientiertheit des Aspektes DNA als Informationsspeicher kennen. Ihre Hausarbeit mit dem Thema Computer DNA war sogar für einen Landeswettbewerb eingereicht worden, wurde jedoch kurzfristig von der Schulleitung zurückgezogen, nachdem die beiden angeblich in die Klosterbibliothek eingebrochen waren. In Wirklichkeit hatten sie dort mit Erlaubnis ihres Lehrers für ihr nächstes Projekt recherchiert. Dabei waren sie versehentlich auf eine geheime Akte gestoßen, die nicht für fremde Augen und Ohren bestimmt war – schon gar nicht für ihre.
«Bitte, bitte, dürfen wir hierbleiben?», unterbrach Lena urplötzlich die Ausführungen von Rita, als die ein wenig ins Stocken geraten war. «Die prügeln uns, wenn das rauskommt und außerdem ..., und ..., also heute kommen wir mit dem Bus nicht mehr zurück. Auf einem Teilstück fährt so spät keiner mehr.»
«Keine Angst, Herrschaften», ertönte da eine dunkle, durchdringend laute Stimme aus einer der – von allen unbemerkt geöffneten – Saaltüren. «Die beiden fahre ich höchstpersönlich zurück. Sie werden Sie ganz gewiss nicht mehr belästigen. Verzeihen Sie bitte vielmals die Störung Ihrer Feierlichkeiten!»
Entsetzt hielten sich Lena und Rita reflexartig an den Händen und versuchten, sich hinter die nicht minder erschrockene Sarah MacKenzie zu verschanzen, da der in schwarzer Priestersoutane gekleidete Eindringling mit großen Schritten zielstrebig quer durch den Saal auf sie zukam.
Als es Marc Philips wie Schuppen von den Augen fiel, wer der Eindringling war, hatte der schon die Bühne erreicht und versuchte, die beiden Mädchen hinter Sarah MacKenzie wegzuzerren. Die wusste das allerdings zu verhindern und konnte sogar mit einem kleinen Schubser dafür sorgen, dass es dem in Windeseile zur Hilfe gesprungenen Marc ein Leichtes war, den Gottesmann mit einem gezielten Kinnhaken zu Boden zu strecken, wo er von drei ebenfalls herbeigeeilten Helfern fixiert wurde.
«Das Spiel ist aus, Gregori Romanescu! Bei uns wird niemand wegen seiner sexuellen Orientierung bestraft!» Das Handy noch in der Hand haltend, mit dem er die Polizei alarmiert hatte, umarmte Marc die Mädchen fürsorglich an den Schultern und ergänzte: «Im Gegenteil, er erfährt unsere volle Unterstützung, zumal dann, wenn es dazu beiträgt, Ihre kriminellen Machenschaften endgültig zu beenden. Den perfekten Menschen, den Sie züchten wollen, wird es nicht geben, dafür aber weiterhin Menschen, die in ihrer Unvollkommenheit füreinander einstehen.»
Schweißgebadet schreckte Bea hoch. Ihr Herz pochte, bis der Schutz des erwachten Morgens sie beruhigte. Nur ein Traum ...
Drittes Kapitel
GENOM
Im Schutze des sich erst ganz allmählich, dann jedoch frenetisch ausbreitenden Applauses stürmten zwei sich als Greenpeace-Aktivistinnen outende junge Frauen nach vorn auf die Bühne. Mit eingeübter Schnelligkeit breiteten sie ein Banner aus, auf dem in großen Buchstaben zu lesen war:
KEINE EXPERIMENTE MIT MENSCHLICHEM ERBGUT. STOPPT GENOM!
Sarah MacKenzie blieb gelassen und hob beschwichtigend ihre Hände, um dem entstehenden Tumult Einhalt zu gebieten, als auch schon eine der beiden sich sehr ähnlich sehenden Frauen lautstark das Wort ergriff.
«Wir sind der Meinung, dass es einer ‚Akademie für zukunftsorientierte Kommunikation‘ gut zu Gesichte steht, klare Position zu beziehen, wenn es um die Manipulation des Erbgutes geht, sei es mit dem Ziel der Menschenzüchtung oder auch ‚nur‘ der Verwendung des Erbgutes als gigantischem Datenspeicher. Letztlich dient beides nur einem Zweck: der Manipulation unserer natürlichen Lebensumwelt und ihre Kontrolle durch eine von wem auch immer gesteuerte künstliche Intelligenz!»
Als sie kurz Atem holte und leicht verblüfft in den Saal schaute, so als ob sie gar nicht mit der ihr gezollten Aufmerksamkeit gerechnet hatte, entschloss sich Marc Philips zu intervenieren und der neuen Direktorin zu helfen – obwohl die kaum den Eindruck machte, dass sie der Hilfe bedurfte. «Zu Gesichte steht uns ganz gewiss, die Themen unserer Zeit aufzugreifen», verkündete er etwas pathetisch, nachdem er sich von seinem Stuhl erhoben hatte. «Doch sprengt Ihr Anliegen den Anlass des heutigen Tages, meine Damen. Vielleicht können Sie das zu gegebener Zeit noch einmal vortragen.»
Ein wenig altväterlich kam ihm das selber vor, was er da ausgesprochen hatte, aber ihm war nichts Passenderes eingefallen. Sarah MacKenzie schon. «Mr. Philips, die Zeit ist dann gegeben, wenn man sie gibt, auch wenn der Anlass nicht gegeben ist.»
Sie zwinkerte ihm freundschaftlich zu und fuhr, an die Aktivistinnen gewandt, fort: «Bevor wir Sie, wie Mr. Philips vorgeschlagen hat, gewiss zu einem Vortrag einladen werden, geben Sie uns bitte einen konkreten Hinweis, einen Beleg, der mehr als Vermutung ist. Wir sind eine wissenschaftliche Institution. Grundlage unserer Arbeit sind Fakten. Haben Sie etwas, das uns deutlich macht, was uns, über dystopische Szenarien hinausgehend, wirklich bedroht?»
Damit hatten die beiden offenbar nicht gerechnet. Ein paar Sekunden schauten sie sich gegenseitig fragend an. Verunsicherte sie die atemlose Stille des gespannt wartenden Auditoriums? Endlich griff diejenige, die vorher geschwiegen hatte, in die Innentasche ihres Parkas, holte ein Blatt Papier heraus, faltete es auseinander und starrte mit zusammengepresstem Mund darauf, so als ob Zweifel in ihr keimten.
«Na los», drängte sie die Erste, «wenn nicht jetzt, wann dann?»
Mit erregter, beinahe bebender Stimme las die Angesprochene ohne weitere Erläuterung vor, was auf dem auseinandergefalteten Blatt Papier stand:
‚Achtung! GENOM wird in Kürze aktiviert. Alle beteiligten Organisationen und Personen erhalten dazu noch eine präzise Info. Bis dahin gilt: Verteilen Sie folgenden Aufruf so breitflächig, wie es eben geht. Nutzen Sie Zeitungen und Zeitschriften, Social Media, TV, Radio und alle ihnen sonst noch zur Verfügung stehenden Informationskanäle – und seien es Flugblätter.‘
Einen Moment vergewisserte sie sich der Aufmerksamkeit der Zuhörenden, bevor sie den eigentlichen Aufruf vortrug:
GENOM
Genetically Ethical Network of Mankind
Freiwillige Testpersonen für ein zukunftsweisendes Projekt zur Erhaltung der Menschheit gesucht. Hohe Aufwandsentschädigung garantiert!
Die globale Bedrohung durch Hunger, Krieg, Klimakatastrophe und Flüchtlingsströme als deren Folge ist nur dadurch abwendbar, dass der Mensch sich ändert. In unseren Genen ist immer noch ein seit Urzeiten fest verankertes Aggressionspotenzial aktiv. Bei weiterhin wachsender Weltbevölkerung wird uns das zum Verhängnis, denn je mehr Individuen sich denselben Raum teilen, desto aggressiver werden sie. Das ist ein genetisches Grundgesetz. Wir können nichts dafür, sagen die Biologen.
Können wir doch, sagen wir! Denn erstmalig in unserer wechselvollen Geschichte sind wir in der Lage, das durch einen kleinen Eingriff zu ändern. Das umzusetzen ist das Ziel von GENOM. Helfen Sie uns dabei. Wir beabsichtigen, das aggressive Gen durch ein friedliebendes zu ersetzen. Es ist nur ein kleiner Eingriff, frei von jeglichen Nebenwirkungen, das garantieren wir. Ein kleiner Schritt für den Einzelnen, aber ein großer Sprung für die Menschheit.
Melden Sie sich unter der unten angegebenen, kostenfreien Hotline. Wir garantieren schnelle Bearbeitung und Überweisung eines Vorschusses von 100,- € bei Unterzeichnung des Ihnen unmittelbar zugehenden Kooperationsvertrages. Unser Projekt wird wissenschaftlich begleitet von der Universität St. Kliment Ohridski in Sofia.
Hochachtungsvoll GENOM 0805000331112
«Dann steht da noch was ganz Merkwürdiges», ergänzte sie. «Tag X für den Start der Propagandaaktion ist, wenn die Jungfrauen barfuß die unreifen Nüsse pflücken. G.R.»
G.R.? Bea! G.R. hat die gesagt. Das ist doch ... Kann das sein?
Marc Philips hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl, auf dem er zwischenzeitlich wieder Platz genommen hatte. Schnellen Schrittes hechtete er nach vorn und riss der sichtlich überraschten Frau das Papier aus der Hand.
«Woher habt ihr das?!», schrie er wie von Sinnen und starrte auf das Blatt, als berge es möglicherweise weitere Details. Miss MacKenzie versuchte, ihn und die beiden jungen Frauen, die nur noch verdattert dastanden, zu beruhigen, als die Saaltür ruckartig geöffnet wurde. Ein Mann im grauen Trenchcoat, der sich als Scotland-Yard-Beamter ausgab, kam auf sie zu und schnauzte in barschem Ton: «Das möchte ich auch gerne wissen und werde es gleich auch ganz bestimmt beim Verhör auf dem Revier erfahren. Los, mitkommen!»
Marc, der ist nicht von Scotland Yard! Marc hatte das Gefühl, Beas empathische Wahrnehmung zu spüren und sie deckte sich mit seiner Ahnung. Schützend stellte er sich vor die Frauen und entgegnete, nun wieder gewohnt gelassen: «Moment mal: Dienstmarke, Haftbefehl oder mindestens Durchsuchungsbeschluss. Also bitte!»
Pass auf!!
Bea?? Der Aufschrei der inneren Stimme! Hatte Sarah MacKenzie die auch gehört? Ehe er es sich versah und selbst reagieren konnte, folgte ihre Blitzreaktion – und ein Schuss. Ihr beherzter Tritt, der offenbar einem anderen Ziel gegolten hatte, traf den Arm des Scotland-Yard-Mannes, als der gerade statt eines Ausweises einen Revolver aus seinem Trenchcoat hervorholte. Er knickte ein, krachte auf seine Knie, schaffte es aber noch, während er, von der eigenen Waffe tödlich getroffen zur Seite kippte, einen weiteren Schuss abzugeben.
Bevor Marc Philips, der einen stumpfen Schmerzensschrei von sich gab und sich krümmte, zusammenbrechen konnte, wurde er von den Aktivistinnen und Sarah MacKenzie gestützt und mit Hilfe zweier herbeigeeilter Kollegen vorsichtig zu Boden gelegt.
Maaarc ...!
Viertes Kapitel
Ein Voyeur?
«Chantal, ich will das nicht mehr! Das mit diesen Träumen macht mich wahnsinnig. Ich weiß manchmal nicht mehr, was Traum und was Realität ist!»
Chantal nahm ihre Freundin tröstend in die Arme und überlegte, was sie Bea sagen sollte. Gewiss, diese Träume, die nicht nur vorausschauenden Charakter hatten, sondern bestimmte Geschehnisse tatsächlich angedeutet hatten, waren bei Bea nichts Neues. Diesmal allerdings unterlag sie doch einem gehörigen Maß an Projektion, zu der sich zwei weitere emotionale Aspekte gesellten: ihre unnötige, immer mal wieder aufkeimende Eifersucht und die mädchenhafte Schwärmerei für ihren großen Helden. Seit den Zeiten ihrer ersten Verliebtheit hatte sich das kaum verändert.
«Bea, denk doch mal nach», begann Chantal vorsichtig. «Deine Fähigkeit in allen Ehren, auch wenn du sie gelegentlich verfluchst, aber das hier ist ja offensichtlich ... na ja, Wunschtraum ist nicht das richtige Wort, aber ein bisschen schon, oder? Der, den ihr seid Monaten sucht, wird zur Strecke gebracht, und von wem? Na klar, von Marc, deinem Super-Hero, nur dass er dazu nicht deine, sondern die Hilfe einer anderen hat. Wenn da nicht mal wieder der kleine Stachel Eifersucht ...»
«Du bist gemein!», unterbrach Bea die Traumdeutung ihrer Freundin und riss sich abrupt los. Mit einem Satz schwang sie sich aus dem breiten mit Chantal geteiltem Bett und ging erregten Schrittes bis vor die lange Fensterfront der Penthousewohnung. Wütend und mit verschränkten Armen starrte sie in den strahlend blauen Frühlingshimmel, der sich über der Straßburger Altstadt wölbte. Im Prinzip hatte Chantal ja recht, aber ihre Sorge spürte sie nicht. Oftmals hatten sich ihre Träume doch bewahrheitet, wenn auch irgendwie umgekehrt. Genau das war ja das Problem. Während im Hintergrund Chantal, die stets Geduldige, bei der Zubereitung des Frühstücks zu hören war, entspannte sie sich allmählich und musste, während ihre Blicke der Silhouette der Altstadt folgten, an ihre Straßburger Zeit zurückdenken.
Gemeinsam waren sie hierhergekommen, Chantal mit ihrem neuen Job als Dolmetscherin im Europäischen Parlament und sie als frisch gebackene Filialleiterin der Straßburger H&M-Filiale. Gemeinsam hatten sie sich diese tolle Penthousewohnung ausgesucht und genauso gemeinsam waren sie irgendwann zu dem Entschluss gekommen, dass es besser war, nicht zusammenzuleben, wenn sie beste Freundinnen bleiben wollten. Zwar war ihr auch lange vorher schon klar gewesen, dass Chantal bisexuell war, aber die Nähe des Zusammenlebens hatte zu Tage befördert, dass Chantal mehr als nur freundschaftliche Nähe suchte.
Das zu thematisieren, damit umzugehen und dennoch befreundet zu bleiben, vielleicht sogar intensiver als zuvor, war ein aufreibender, jedoch letztlich fruchtbarer Prozess gewesen, in dessen Konsequenz sie ihren Job in der Modebranche aufgegeben hatte, um einen uralten Traum zu verwirklichen: Private Ermittlerin zu werden.
Inzwischen war daraus nicht nur das Detektivbüro Philips & Partner geworden, sondern sie hatte den Mann ihres Lebens gefunden. Sie liebte ihn über alles, aber gelegentlich brachte sie seine immerwährende machohafte Beschützerrolle an ihre Grenzen. Er kämpfte an der Front, sie bildete die Nachhut. Das hatte er sogar, scherzhaft gemeint, selber mal gesagt, um zu betonen, dass die Nachhut angeblich eine viel wichtigere Aufgabe hätte. In Wirklichkeit hatte er sie beschwichtigen wollen. Einen triftigen Grund dafür gab es immer – so auch jetzt. Saintgarden Abbey sei für sie ein Ort der Traumatisierung, nach allem, was damals passiert war. Damals, als diese Schweinehunde sie dort zusammen mit den anderen entführten Frauen in einem Hexenprozess gedemütigt hatten und sie nur knapp weiterer Folter, Vergewaltigung und vielleicht sogar dem Tod entgangen war. Ja, das war heftig gewesen, aber bearbeitet! Er hätte sie ruhig mitnehmen können, um der Fährte zu folgen, die sie entdeckt hatten und die ein weiteres Mal nach Saintgarden führte.
Aber nein, er musste wieder den Helden spielen, während sie in sicheren Gefilden im Hintergrund ermitteln durfte. Dass er es sich bei dieser Gelegenheit nicht nehmen ließ, die neue Direktorin der Harriot-Steele-Akademie persönlich ins Amt einzuführen, stand noch auf einem anderen Blatt. Einmal mehr war sie außen vor.
«Ist es denn nicht okay, so wie es ist? Er meint es doch nur gut, dein edler Gebieter.» Bea zuckte erschrocken zusammen. War sie so versunken gewesen? Chantal stand plötzlich neben ihr und strich zärtlich über ihre Schultern. Bea verdrehte die Augen. Dein edler Gebieter ...
Chantal durfte das. Sie war halt ihre beste Freundin und wusste so ziemlich alles von ihr, auch das von ihrem erotischen Spiel. Aber dennoch, das war ja wirklich nichts Schlimmes und bedurfte mitnichten der Erwähnung – und jetzt gerade schon gar nicht. Fehlte nur noch, dass sie das mit den Schulmädchen im Traum als Projektionselement aus dieser Ecke entlarvte.
«Fängst du jetzt auch schon an, Gedanken zu lesen?», entgegnete sie, das Ganze ignorierend. Blöde Frage, konstatierte sie innerlich und erhielt prompt die Retourkutsche.
«Dazu bedarf es kaum solcher Fähigkeiten, meine Liebe. Das sieht doch ein Blinder, dass du zwischen Sehnsucht und Wut hin- und herschwankst.» Abermals nahm Chantal sie in die Arme und fügte noch hinzu: «Komm, lass uns frühstücken und zieh dir endlich was Gescheites an. Sonst werd‘ ich doch noch schwach.»
«Chantal!», rief Bea entsetzt aus – nicht wegen der nicht ernst gemeinten Anmache, sondern weil ihr gerade bewusst wurde, dass sie halb nackt am Fenster stand. Sie war nur mit diesem Hauch von Nichts bekleidet, den Marc ihr unbedingt hatte schenken müssen – in jenem Dessousladen. Auf der Suche nach Yvonne und Sven hatten sie seinerzeit alle Orte aufgesucht, an denen die beiden gewesen waren oder gewesen sein mochten, um sich optimal in sie hineinfühlen zu können. Ein bisschen übertrieben war das schon gewesen, besonders diese Sache, zumal ihr Marc bei dieser Gelegenheit des Weiteren unbedingt diese Lederriemchen-Bondage-Dessous aufgeschwätzt hatte.
Marc, was hast du nur mit mir angestellt! Marc?
Dieses Seidenshorty mochte sie allerdings sehr. Sie trug es gerne, wenn er nicht da war. Er war dann ein wenig näher. Direkt auf der Haut ...
Während Bea wie ertappt zurückwich, war ihr auf einmal, als hätte sie einen kleinen, aber ungewöhnlich hellen Blitz gesehen. «Chantal, hast du das ...?»
Bestätigend nickte die gleichermaßen erschrockene Freundin und zog sie zwei Schritte nach rechts hinter den zur Seite gezogenen Vorhang. «Was war das? Ein Voyeur? Wäre ja nicht verwunderlich!»
«Quatsch, vielleicht nur ein Lichtreflex», gab Bea, sich selbst beruhigend, zurück, denn mit der Gefahr eines Racheaktes durch die übrig gebliebenen Immaculati oder gar Romanescu selber lebten sie nun seit zwei Jahren. «Schien von dem Dachgarten da nebenan zu kommen. Hast du noch Jeans Fernglas?»
Überrascht und mit großen Augen dreinschauend reagierte Chantal dennoch unverzüglich. Das Relikt aus jener Zeit des Zusammenlebens mit dem Schriftsteller lag – beinahe griffbereit – in einer Schublade der Anrichte, die zwischen der langen Fensterfront und dem kleinen französischen Seitenbalkon stand. Den Sichtschutz der nur halb geschlossenen Lamellenjalousie ausnutzend hatte Bea die Lage mit dem zwischen zwei Lamellen geschobenen Glas schnell sondiert und konnte gerade noch registrieren, wie eine dunkle Gestalt im Aufzugsschacht des Daches verschwand.
Bea reagierte blitzschnell, instinktiv und überlegt zugleich. «Ruf sofort Roger an», kommandierte sie, «und sag ihm, was passiert ist. Dann informierst du Charlotte und rührst dich hier nicht von der Stelle, ist das klar?»
Marc, bei dir alles klar? Marc, sag doch was!
Schon war sie in Jeans und Sneakers, stopfte das Seidenhemdchen einfach hinein und sauste hinaus ins Treppenhaus. Den Fahrstuhl ignorierte sie, weil er nicht da war, und raste stattdessen die fünf Stockwerke hinunter. Ihre einzige Chance war der Überraschungseffekt. Entweder der Beobachter wähnte sich in Sicherheit und rechnete nicht damit, dass ihm jemand auf den Fersen war – oder er war halt weg oder wohnte in dem Haus. Aber das hätten sie schnell ermittelt. Die Gedanken jagten ihr durch den Kopf, während sie, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen herunterhastete. Eine Waffe zu tragen, hatte sie stets abgelehnt. Also vielleicht demnächst doch?
Marc, wir wollten eigentlich nur noch alles zusammen machen, weißt du noch? Marc, was soll ich machen, wenn der ...? – Mädchen, du kannst Karate, also bitte! Nein, das war nicht Marc, das war ihre innere Stimme.
Als sie die Haustür aufriss, glaubte sie, einen Schuss gehört zu haben. Erschrocken wich sie zurück, den Türgriff noch in der Hand. Was war das denn? Das war ... Oh Gott! Maaarc ...!
Im nächsten Moment zerbarst die Glasscheibe der Tür mit einem lauten Knall und ein stechender Schmerz durchzuckte ihre linke Schulter. Alles begann sich zu drehen. Taumelnd versuchte sie, sich an der Tür festzuhalten, bevor sie sich reflexartig zu Boden fallen ließ. Dann senkte sich Schwärze auf sie hinab.
Fünftes Kapitel
Hal
«Hallo Marc, mein Name ist Hal. Herzlich willkommen in der schönen neuen Welt. Schau dich um und lass es dir gut gehen. Ich bin dein persönlicher Guide. Du siehst mich nicht, aber du kannst mich hören. Ich bin in deinem präfontalen Kortex implantiert und erfülle dir jeden Wunsch. Alle deine Vorstellungen werden Wirklichkeit, du musst es nur denken. Nimm dir alle Zeit der Welt, und wenn du eine Frage hast, frag mich. Ich weiß alles.»
«Warum bin ich hier?», fragte Marc und seine Frage kam ihm dumm vor, kaum dass er sie ausgesprochen hatte, denn er wusste natürlich, warum er hier war. Doch Hal gab nicht die Antwort, die er erwartet hatte.
«Du bist hier, lieber Marc, weil du mit deiner großzügigen DNA-Spende dazu beigetragen hast, die neue Welt zu bauen. Du hast es verdient. Genieße es!»
Zeit sich zu wundern fand Marc gar nicht, denn kaum, dass Hal zu Ende gesprochen hatte, fand er sich inmitten grüner Auen und sanfter Hügel wieder, über die sich ein strahlendblauer Postkartenhimmel wölbte. Ihm wurde ganz warm ums Herz, wusste er doch unmittelbar, dass er angekommen war. Das waren die Highlands, seine Heimat!
«Ja, du bist zuhause», hörte er wieder Hals Stimme. «Schau, dahinten ist die Burg Loed. Wenn du willst, kannst du noch weit mehr sehen.»
«Was muss ich dafür tun?», wunderte sich Marc und fühlte, wie Tatendrang in ihm heranwuchs.
«Breite deine Arme aus und flieg», erläuterte Hal. «Es ist ganz einfach, und wenn du irgendwo landen möchtest, schließe sie langsam.»
Ich bin in einem Traum, wurde es Marc plötzlich klar. Das ist doch alles nicht real.
Das ist einer dieser Träume, wie du sie häufig hattest. Du? Wo bist du? – Ich fliege auch. Es ist schön, probier es! Wir sind mal zusammen geflogen, weißt du noch? – Ja, ich erinnere mich, aber ich glaube, das war nur ein Traum. – Nein, das war kein Traum! Los, versuch’s, vielleicht treffen wir uns ja wieder!
Und wenn es nun doch kein Traum war? Langsam breitete er die Arme aus und begann zu schweben – zunächst nur ganz knapp über dem Boden.
«Du kannst es steuern», meldete sich jetzt wieder Hal zu Wort. «Spiel ein wenig, ganz sachte. Vertrau nur, du hast das schnell raus.»
Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog über stille Lande, als flöge sie nach Haus. Das hatte sie ihm mal vorgelesen. Ganz zauberhaft schön war das gewesen und auf einmal wusste er, wie es geht. Loslassen musste er, nur loslassen.
Schon hatte er Phillips Manor überquert, sah sich selbst seinen Eltern zuwinken, und ehe er es sich versah, lag Inverness vor ihm.
Da! Tomnahurich, wo meine Elfenschwester liegt und wir gemeinsam am Grab standen. Dort die Harriot-Steele-Schule, jetzt auch Akademie, wo sie dich damals nach Harriots Trauerfeier zum zweiten Mal entführten. Jetzt gibt es eine neue Direktorin, Sarah MacKenzie. Sie hat mit das Leben gerettet. Oder lebe ich vielleicht gar nicht mehr? Sagt man nicht, das ganze Leben rauscht am Ende noch mal an einem vorbei. Ein wahrlich gigantischer Rausch ist das!
Als er auf Saintgarden Abbey zuflog, war ihm, als müsse er anhalten und nach dem Rechten sehen. Die Spur führte hierher. Seine Spur. Die Spur der Inkarnation des Bösen!
Vorsichtig schloss er seine Arme und landete mitten im Kreuzgarten. Ein Schatten huschte da hinter eine der Säulen des Kreuzgangs.
«Halt! Wer bist du? Zeig dich!»
«Keine Angst, ich bin es, Sarah! Ich bin auf deiner Seite.»
Das konnte doch nicht wahr sein! Sarah MacKenzie war doch eben noch ...
«Hal! Was soll das? Hal? Computerprogramm sofort beenden. Sofort!»
Sechstes Kapitel
Love Island
«Wirklich sofort?» XA17 hatte sich getraut, die Frage zu stellen, die wohl allen auf den Lippen lag – nach der Erläuterung und dem Startsignal von XX1.
«Sofort und unverzüglich, wenn wir auf der Liebesinsel gelandet sind», gab diese milde lächelnd zur Antwort und nahm dann selber Platz, um sich anzuschnallen. Der kleine Düsenjet der Firma GENOM begann mit dem Landeanflug. Ihr Ziel, die Liebesinsel, lag schon in Reichweite.
Tatsächlich hatte es sich ein wenig so angehört, als sollten sie schon jetzt Hand anlegen für die erste Samenspende, galt es doch herauszufinden, unter welchen äußeren Bedingungen das bestmögliche Resultat zu erzielen sei – in der Luft, zu Wasser, zu Lande, unter freiem Himmel, im Bett, vor Publikum, alleine, unter Zuhilfenahme diverser Stimuli und so weiter. Jedes Paar sollte für sich herausfinden, welche Gegebenheiten am geeignetsten wären – zwanglos, ohne Zeitdruck, ohne Erfolgsdruck. Deswegen erhielten auch alle das gleiche Honorar. Zur Anregung und Erheiterung gäbe es irgendwann einen kleinen Wettbewerb. Dessen Gewinnerpaar würde eine ganz besondere Auszeichnung von GENOM erhalten. Wie alles andere sollte allerdings auch das nur der wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Genoms und seiner Optimierung für eine ungewisse Zukunft der Menschheit dienen.
YD23 beugte sich über sie, um aus dem kleinen Bordfenster zu sehen. Aber das war nur ein Vorwand, wie XA17 unmittelbar durchschaute. Der war schon die ganze Zeit über ziemlich heiß gewesen. Nun schob er seine Hand unter ihren kurzen weiten Rock und säuselte: «Also, was mich anbelangt, hätte es auch wirklich sofort sein können.»
«YD23, bitte!», wehrte sie seine unverhohlene Aufdringlichkeit ab. «Wenn das jemand sieht!» Ihr Einwand hatte wenig Gewicht, musste sie sich eingestehen, denn Ebensolches würde ohnehin unweigerlich auf sie zukommen, vielleicht sogar zur Regel werden. Die angedeuteten Programmpunkte waren ziemlich eindeutig – und sie hatten sich schließlich darauf eingelassen, galt es doch, einen kleinen Beitrag zur Rettung der Menschheit zu leisten.
YD23 lehnte sich seufzend in seinen Sitz zurück und wenige Sekunden später setzte die Maschine auf.
XX1 hielt Wort. Noch während des Begrüßungscocktails in der VIP-Lounge des kleinen Airports, der auf dem Plateau des höchsten Berges von Love Island lag, startete das erste Experiment. Es galt der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2023
ISBN: 978-3-7554-4662-0
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