Cover

Utopia

 

Gefährliche Träume

 

 

 

von Esther Novalis und Jean P.

 

 

 

telegonos-publishing

 

 

Über dieses Buch:

Nach den nervenaufreibenden Ermittlungen im Falle der sogenannten Immaculati ist im Detektivbüro Philips & Partner der Alltag eingekehrt. Marc und Bea bekommen den Auftrag, die seit mehr als einem Jahr verschwundene Chefreporterin der Gazzetta, Yvonne Stern, und deren Mann Sven Wolf zu suchen.

Während sie dabei sind, sich in den Fall einzuarbeiten, entdecken sie verblüffende Ähnlichkeiten zwischen den Verschwundenen und sich selber. Marc wird von heftigen Visionen und Träumen geplagt, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Alles scheint schließlich darauf hinzudeuten, dass auch Yvonne Stern auf der Suche nach dem ominösen Utopia-Projekt war, das Bea und Marc schon im Zusammenhang mit den Immaculati Rätsel aufgab. Als Marc einer konkreten Spur an die polnische Ostseeküste folgt, weiß er noch nicht, dass er den ersten Schritt in eine skurrile Welt getan hat. Ein Trip in die Abgründe menschlichen Tuns nimmt seinen Anfang.

 

Utopia – Gefährliche Träume

aus der Serie: «Mr. und Mrs. Philips»

Copyright: © Jean P und Esther Novalis.

2022 – publiziert von telegonos-publishing

www.telegonos.de

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Cover: Kutscherdesign. Covergestaltung unter Verwendung einer Vorlage von Adobe, Bilder im Buchinneren: Adobe/Pixabay

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN der Printversion: 978-3-946762-65-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

«Einerseits ist der Mensch mit vielen Tierarten insofern verwandt, als er mit seinen eigenen Artgenossen kämpft. Andererseits jedoch ist er unter den Tausenden von Arten, die Kämpfe ausrichten, der Einzige, bei dem diese Kämpfe zerstörend wirken. Die menschliche Spezies ist als einzige eine Spezies von Massenmördern, und der Mensch ist das einzige Wesen, das seiner eigenen Gesellschaft nicht angepasst ist.»

 

Nicolas Tinbergen - zit. in Science 160, Juni 1968

Of War and Peace in Animals and Men S.1411-1418.*

 

 

 

 

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Einiges von dem, was auf Sie zukommt, ist schwer erträglich. Wir wechseln darum immer mal die Erzählebenen. Auch im ‚richtigen‘ Leben ist das Unerträgliche nur dadurch aushaltbar, das wir gelegentlich Erträgliches erleben.

 

Wir wünschen spannende Lektüre.

 

Esther Novalis und Jean P.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dystopia

altgriechisch δυς: schlecht τόπος: Ort

(Düsternis, Finsternis)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Farben der Finsternis

 

1

 

Erstes Kapitel

XA23

 

«Als ob ich so etwas nicht vermutet hätte», sagte XX1 freundlich, ja beinahe fürsorglich zu ihr, nachdem sie die Untersuchung beendet hatte. «Du hast Grund zur Freude XA 23, denn ab sofort gehörst du zu den ganz besonders Auserwählten.»

Was ganz besonders bedeutete, war ihr nicht klar, aber der wahre Grund zur Freude schon. Für einen Moment war sie regelrecht überwältigt und wusste sich nicht zu erklären, wie dieses Gefühl entstand. Während der Quarantäne hatte XX1 ihr erklärt, dass es schon normalerweise das Größte für eine Frau sei, wenn ein Kind in ihrem Bauch heranwuchs. Für die Auserwählten sei es jedoch noch weitaus bedeutender, sicherten sie damit doch den Fortbestand der Menschheit.

«Ab morgen bekommst du andere Pillen», erläuterte XX1. «Diejenigen, die du bis jetzt genommen hast, waren wichtig, um deinen Körper und deinen Geist auf deine Aufgabe vorzubereiten. Für das heranwachsende Kind in deinem Bauch sind sie aber zu stark.»

In den darauffolgenden Tagen wurde sie schrittweise aus der Quarantäne entlassen. Die Quarantäne mussten alle durchlaufen, die ins Camp der Auserwählten kamen. Sie diente der Einstimmung und inneren Festigung. Jetzt aber würde sie am Gemeinschaftsleben teilnehmen, zunächst dem des Frauenhauses, später auch dem der Schule. In der Schule ginge es um die Vorbereitung auf die Reise nach Utopia. Utopia war der Name der Welt, in der sie, die Auserwählten, eine neue Zivilisation gründen sollten.

Sie musste sich nun ein Zimmer mit einer anderen Auserwählten teilen. Ihr Name war XA13. XA13 war schon länger im Camp und wusste viel zu erzählen. Manches davon kannte sie bereits aus ihrer Vorbereitungszeit während der Quarantäne, anderes wiederum war ihr neu und irritierte sie. Doch das lag wohl daran, dass XA13 leicht wirr im Kopf war. Anders war es ja wohl kaum zu erklären, wie sie sich damit brüstete, dass sie schon den vierten Kerl abgelehnt hatte. Bis jetzt hätte es ihr noch keiner richtig besorgt und so lange das nicht der Fall war, könnten die ihr anbieten, was sie wollten.

Was ‚besorgt‘ bedeutete, wagte sie XA13 nicht zu fragen, war ihr doch schon schleierhaft, wieso sie überhaupt jemanden ablehnen konnte. Ihres Wissens nach erfolgte die Paarbildung durch die Leitung des Utopia-Projektes, vertreten – in ihrem Camp – durch XX1, der Direktorin des Frauenhauses, und XY1, dem Direktor des Männerhauses. Sie bedienten sich dabei wissenschaftlich fundierter Kenntnisse. Ausschlaggebend war die bestmögliche Passung des Genoms. Schließlich sollten nur gesunde, kräftige und überlebensfähige Kinder für Utopia gezeugt werden. Das konnte ja wohl kaum davon abhängig gemacht werden, ob einem jemand nicht passte.

Doch ganz so klar geregelt, wie es ihr in der Quarantänezeit eingebläut worden war, schienen die Dinge nicht zu liegen. Recht bald schon begriff sie, dass da sehr viel probiert wurde – und was XA13 mit ‚besorgt‘ gemeint hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zweites Kapitel

XX1/ XY1

 

Einige Wochen mochten vergangen sein. Alles war so gleichförmig, dass die Zeit nicht zu existieren schien. Raste sie dahin oder blieb sie stehen? Nachdem ihr klar geworden war, was ihr Status als Besonders Auserwählte bedeutete und sie in dessen baldiger Ausübung dem praktischen Unterricht regelmäßig als Beobachterin beiwohnen sollte, hatte sie einen Traum, der sie nachdenklich machte. Der Traum war wie eine Zeitreise, der sie aus der Gleichförmigkeit der alltäglichen Empfindungen herauskatapultierte. Obwohl ihr XA13 nicht ganz geheuer war, hatte sie das Bedürfnis, ihr diesen Traum zu erzählen. Wem sonst auch sollte sie so etwas erzählen. Und wenn es um so etwas ging, hörte XA13 besonders aufmerksam zu.

 

Da ist ein Mann, groß, stattlich, stark. Sein zerzaustes Haar klebt an ihm und die Gischt perlt an seinem muskulösen Körper ab, als er aus der Meeresbrandung herausrennt – auf den Strand und dann auf mich zu. Mein Atem stockt, mein Herz bleibt stehen. Ohnmächtig vor erregter Erwartung harre ich seiner.

‚Ich kenne dich nicht, doch weiß ich, wer du bist. Du bist der, der schon immer in mir war.‘

Schon ist er bei mir und beugt sich auf mich herab. Die Wassertropfen, die mich benetzen, erzeugen Blitze auf meiner von der Sonne erhitzten nackten Haut. Ich kann gar nicht erwarten, dass er mich berührt, streichelt, liebkost. Doch er schaut mich nur an, durchdringend, prüfend. Nimm mich doch, will ich sagen, nein: Brüllen will ich es, doch es geht nicht. Mein Mund ist wie verschlossen. Ganz auf mich herunterziehen will ich ihn, doch ich bleibe bewegungslos erstarrt.

 

«Und dann?», hakte XA13 neugierig nach. «Hat er ...? Habt ihr ...?

«Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht», entgegnete sie beinahe verzweifelt, da sie diese Frage nicht beantworten konnte. «Der Traum war zu Ende, aber beim Aufwachen hatte ich das Gefühl, als ob ein Mann ..., na du weißt schon.»

«Nein, ich weiß nicht», stellte XA13 sich dumm, obwohl sie es diesbezüglich gewiss nicht war.

«Na, in dich eindringt», versuchte sie nun schnell, das Gespräch abzuwürgen, doch XA13 ließ nicht locker.

«Ist doch klar, du hast Entzug», witzelte XA13, um dann jedoch ganz ernsthaft ihrer Intuition freien Raum zu geben, einer Intuition, die sie mitten ins Herz traf. «Das war sicher YD17, den du da in deinem Traum herbeigesehnt hast.»

Empört und erregt zugleich richtete sie sich auf, hockte sich auf ihre Bettkante und wollte XA13 zurechtweisen. Allerdings, wenn sie es recht bedachte ...

«Man sieht doch, dass du ein Auge auf ihn geworfen hast», setzte XA13, ihre Reaktion ignorierend, noch eins drauf. «Und wenn er bei den Exerzitien in andere eindringt, schaust du ganz entsetzt!»

Ihr Herz begann zu pochen, als XA13 das aussprach, und ihr war nach Losheulen zumute. Ja, genau so war es – und sie hatte keine Erklärung dafür.

«Sei lieber froh, dass du das nicht über dich ergehen lassen musst», versuchte XA13 sie zu trösten. «Die meisten Typen haben überhaupt kein Gefühl. Na ja, deinen hatte ich noch nicht, kann ich also nicht beurteilen, aber demnächst kannst du es ja selbst in die Hand nehmen.»

Dabei grinste sie breit und machte eine anzügliche Handbewegung. Deinen, wie die das sagte! Aber es erzeugte keinen Widerstand in ihr, eher sogar Wohlbefinden. Wie kam das nur? Ganz bei sich hatte sie tatsächlich schon daran gedacht, zu YD17 besonders lieb zu sein, wenn sie ihre Aufgabe als Praxisanleiterin antrat. Darin war sie in den letzten Tagen von XX1 und XY1 ausgebildet worden. Schließlich sei sie als Einzige schon schwanger und wüsste im Prinzip, wie es geht. Außerdem hätte sie als Besonders-Auserwählte nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Sie solle es als beträchtliche Ehre ansehen. Bisher machte XX1 diesen Job. Die hatte überhaupt keine Probleme damit, sämtliche Stellungen, Handhabungen und sonstige Erregungspraktiken zusammen mit XY1 vorzuexerzieren. Allerdings blieb es stets beim Vormachen. Niemals legte sie Hand an ein anderes Glied als das von XY1 oder ließ gar jemand in sie eindringen. Angeblich hatte er ihr das verboten. Selber zustandegebracht hatten sie jedoch bisher wohl nichts. Sie blieb die einzige Besonders-Auserwählte.

Doch mit wem nur hatte sie das zustandegebracht? So sehr sie sich auch bemühte, das zu ergründen: Darüber blieb der Mantel des Vergessens ausgebreitet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Drittes Kapitel

XA13

 

Das Gefühl, das irgendetwas nicht stimmte, versank in der alltäglichen Monotonie und Routine. Die änderte sich schlagartig, als Neue ins Camp kamen und einige andere plötzlich verschwunden waren. Wohin, wusste niemand, da gab es nur Gerüchte. Offiziell hieß es, sie seien nicht reproduktionsfähig und könnten daher leider nicht mehr am Utopiaprogramm teilnehmen. Manche munkelten jedoch, dass sie geflohen seien. Doch wovor und warum sollten sie denn fliehen? Wer besaß schließlich schon das Privileg, auserwählt zu sein? Davor floh man doch nicht. Aber Wichtigtuer, die meinten, alles zu wissen, gab’s wohl immer und überall.

 

XA13 war auch nicht mehr da. Eben hatte sie begonnen, sie zu mögen. Sie war recht traurig, zumal sie ein paar Tage allein in ihrem Zimmer war. Abends langweilte sie sich sehr, da sie es schon seit geraumer Zeit vermied, sich in den Gemeinschaftsräumen aufzuhalten. Ihr war immer, als starrten alle auf ihren inzwischen sichtbaren Bauch.

Manchmal ging sie nur im Zimmer auf und ab, um das heranwachsende Baby in ihren Bauch zu wiegen. Dabei summte sie ihm Melodien vor, von denen sie gar nicht wusste, wo sie herkamen. Gerne blieb sie dabei am Fenster stehen und ließ die Dämmerung hereinkommen. Einmal wollte es der Zufall, dass sich der Stoff der Vorhänge im leicht geöffneten Fenster verfing. Als sie ihn wieder ordnete, das Fenster schloss und die Vorhänge zuziehen wollte, entdeckte sie, dass etwas im umgenähten Saum eines Vorhangs steckte. Ein kleiner, zusammengefalteter Zettel war das. Die Naht war dort aufgetrennt worden. Neugierig öffnete sie den Zettel, legte sich aufs Bett und las:

 

Liebe XA23, wenn du das liest, bin ich entkommen. Bitte sei nicht böse, dass ich dich nicht mitgenommen habe. Es kann nur immer eine raus und ich halte das hier einfach nicht mehr aus. Dich behandeln sie ja besser. Ich bin regelmäßig von diesem Sadisten XY1 geschlagen worden – wie andere übrigens auch. Das geht aber alles noch. Vor kurzem habe ich allerdings erfahren, dass sie uns unsere Kinder wegnehmen. Ja, du hast richtig verstanden – und zwar beides. Ich bin schwanger – schon im 3. Monat – und was sie mit den Kindern machen, weiß ich nicht.

Aber nun pass auf, was ich dir sagen will. Du hast auch eine Chance. Zumindest kannst du mitbestimmen, wer dich begatten soll, wenn sie dir dein Kind weggenommen haben. Du liebst doch YD17, oder? Sprich mit ihm! Triff dich mit ihm und sag ihm, er soll diese verdammten Pillen weglassen. Für die Männer sind die die reinste Hirnwäsche. Schau dir die Skizze an, du findest das. Auch vom Männertrakt aus führt ein Geheimgang dorthin. In dem Kellerraum, da, wo ich das kleine Kreuz gemacht habe, seid ihr sicher und könnt alles besprechen! Ach XA23, ich hab das Gefühl, wir werden uns wiedersehen. Hab Mut, es wird alles gut. Ich darf dir nicht sagen, wer mir bei der Flucht geholfen hat. Es wäre zu riskant. Wenn sie es aus dir herauspressen – und dazu sind sie in der Lage –, fliegt alles auf. Eins darf ich jedoch sagen, jedenfalls wurde es mir nicht verboten: In den nächsten Tagen kommen Neue ins Camp. Unter ihnen werden weitere Fluchthelfer sein. Aber pass auf! Bevor du dich jemandem anvertraust, frag ihn oder sie, was Utopia bedeutet. Er muss dir nicht nur die Bedeutung des Wortes erklären können und wissen, dass es ein Symbol ist. Darüber hinaus muss er wissen, woher der Begriff Symbol stammt.

XA23, ich drücke dir ganz feste die Daumen. Und noch einmal: Verzeih mir bitte!

Deine XA13

 

Nachdem sie den Brief zum dritten Mal gelesen hatte, trennte sie die Skizze am unteren Rand des Blattes ab, verbarg sie in einem Buch in ihrer Nachttischschublade, und aß den Rest auf. Das war so eine Intuition. Ihr war, als hätte sie so etwas mal irgendwo gelesen. Viel schlief sie nicht in dieser Nacht – und das nicht wegen ihres gewachsenen Leibesumfangs. Das war natürlich und daran hatte sie sich schon gewöhnt. Ihr Kopf dröhnte und ein regelrechtes Gedankenkarussell wollte sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Gegen Morgen hatte sie einen Traum, der sie schockierte und sie zutiefst beunruhigte. Sie sah ihr Kind. Es lebte in einer anderen Familie. Während sie sich mit dem Gedanken zu beruhigen versuchte, dass das Traumbild lediglich die erhaltenen Informationen weitergesponnen hatte und es in Wirklichkeit ja auch alles ganz anders sein könne, reifte in ihr ein Entschluss heran. Sie beschloss, in kleinen Schritten, ganz vorsichtig und unter Wahrung der Alltagsnormalität Licht ins Dunkel zu bringen und für sich und ihr Kind den Weg nach draußen zu finden. Dabei müsste sie höllisch aufpassen und dürfte außerdem mit niemandem darüber reden – auch nicht mit YD17, jedenfalls nicht gleich. Und sie musste unbedingt herausfinden, wer ein Fluchthelfer war – egal ob unter den Neuen oder den Alten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eutopia

altgriechisch εὖ: gut τόπος: Ort

(Ein guter, weil richtiger Ort)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Farben der Wirklichkeit

 

1

 

 

Erstes Kapitel

Die Flucht

 

Dieser alte Holzkarren raubte ihm den letzten Verstand. Ächzend und leise vor sich hinfluchend schob er ihn weiter, krampfhaft darauf achtend, dass er nicht von den Schienen abrutschte. Der Schweiß drang ihm aus allen Poren, obwohl es eiskalt war. Sein weißer dünner Leinenkasack und die Hose klebten. Ihm war bewusst, dass er weit sichtbar war, doch er hatte bei seiner Flucht keine andere Wahl gehabt. Es war die letzte Chance gewesen. Was er da in seinem Karren transportierte, war ihm unklar. Er zermarterte sein Gehirn, doch es blieb im Verborgenen. Nur eines wusste er: In dem Karren war das Wichtigste, was es in seinem Leben gab. Das galt es zu retten! Sein eigenes Leben war dagegen unwichtig. Andererseits, wenn er nicht mehr lebte ...?

Er musste unbedingt diese Kreuzung erreichen. Das hatten sie ihm eingebläut. Doch das Meiste war weg, wie ausgelöscht. Krampfhaft kämpfte er Meter um Meter mit den Gleisen – und mit seinen Erinnerungen, doch sie wollten einfach nicht wiederkommen.

Dann geschah, was er schon befürchtet hatte. Der grobe Schotter zwischen den Schwellen brachte ihn ins Straucheln. Er fing sich, den Handgriff des Karrens nicht loslassend, doch die Eisenräder des einachsigen Handkarrens rutschten von den Schienen. Ohne darüber nachzudenken, ob das, was er da tat, überhaupt noch einen Sinn machte, da man ihn vielleicht schon verfolgte, bückte er sich und ächzte den Karren wieder hinauf. Dass der Radstand tatsächlich exakt der Spurweite der Schienen entsprach!

Hastig ackerte er weiter, mühsam bedacht, nicht wieder abzurutschen. Die Abenddämmerung brach herein und tat ihr Übriges dazu, dass er auf der durch einen dichten Kiefernwald führenden Bahnlinie kaum noch etwas erkennen konnte. Die Schienen glänzten ein wenig, das bot Orientierung und beruhigte ihn zugleich. Sie hatten doch gesagt, die Bahnlinie sei stillgelegt. Doch nicht benutzte Schienen glänzen nicht. Was, wenn ...

Weiter! Nicht zu viel nachdenken. War nicht dahinten in der Ferne schon der Bahnübergang sichtbar, an dem die Straße kreuzte? Das war schaffbar. Keuchend und am ganzen Körper zitternd kämpfte er sich weiter voran, Schwelle für Schwelle, Meter für Meter.

Doch was war das? Eine Weiche? Tatsächlich, die Strecke verzweigte sich. Ein Gleis bog nach rechts ab. Hatten die das vielleicht mit Kreuzung gemeint? Nein, das konnte nicht sein. Es war von einer Straße die Rede gewesen.

Dahinten! Schau nach vorn und beeil dich! Die innere Stimme! Obwohl – es kam ihm so vor, als hätte da gerade jemand zu ihm gesprochen. Vorsichtig bugsierte er die Eisenräder über die Weiche hinweg auf die geradeaus führenden Schienen, als er ein Geraschel aus dem Wald links von sich zu vernehmen glaubte. Atemlos hielt er inne, drehte sich und lauschte in das Rauschen der Baumwipfel hinein.

Renn! Nimm es aus der Kiste heraus und renn! Das sind sie! Dieser völlig naheliegende Gedanke! War er wirklich nicht bei Sinnen gewesen?

Zu spät! Kaum hatte er den Befehl der inneren Stimme umgesetzt, waren die Vermummten da. Zu dritt stürzten sie sich auf ihn, überwältigten ihn und entrissen ihm, was er zu retten versucht hatte.

Warum hast du nicht ...?

Doch dann verstummte die innere Stimme. Stattdessen brüllte er mit der letzten Kraft los, die noch in ihm steckte. Vielleicht könnten ja die, welche irgendwo dahinten auf ihn warteten, irgendetwas hören.

Aber ein Knebel erstickte seinen Schrei und ein Sack, den man ihm über den Kopf stülpte, raubte ihm die Luft und die Orientierung.

Zweites Kapitel

Das neue Firmenschild

 

«Bea, lass das jetzt!» Marc versuchte, die verführerischen Avancen seiner frisch angetrauten Frau abzuwehren. Dieser merkwürdige Traum nagte an ihm, und es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. «Du raubst mir den letzten Verstand und treibst mich eines Tages noch in den Wahnsinn!»

«Aber mein Liebster», entgegnete die Angesprochene mit betörendem Schmollmundblick, «ich dachte, das hab ich längst. Kann also doch gar nicht so schlimm sein, wenn du deinem Wahnsinn etwas Raum verleihst.»

Schwungvoll hatte sie sich mit einem Oberschenkel auf das kleine, freie Ende seines Schreibtisches gesetzt und dabei den feinen Chiffonstoff ihres neuen, dunkelblauen Kleides hochgleiten lassen. Versehentlich war das nicht geschehen. Augenverdrehend versuchte Marc, das zu ignorieren, was kaum zu ignorieren war, doch spätestens, als sie seine linke Hand ergriff und auf ihr nylonbestrumpftes Knie legte, war es um seine Kontenance geschehen.

«Nenn mich nicht Liebster», nahm er dennoch einen weiteren Anlauf im Kampf gegen das Unvermeidliche. Wir sind im Dienst! Ich habe dir schon tausendmal gesagt ...»

«Aber Mr. Philips», fiel sie ihm ins Wort und schaute ihn so empört aus ihren großen braunen Augen an, dass es beinahe echt wirkte, «ich habe doch ein Höschen an.»

«Bea! Ähm ... Mrs. Philips», war er gerade dabei, ebenso auf die Spielebene zu wechseln, welche in der Tat in der letzten Zeit erheblich zu kurz gekommen war, als sie sich schon hingestellt hatte, um ihr Kleid hochzuziehen, damit er kontrollieren konnte, dass es auch stimmte. Es stimmte nicht nur, sondern es trug wenig dazu bei, seine wankende Beherrschung wiederherzustellen.

Sie hatte es tatsächlich getan! Ein paar Tage zuvor hatten sie dieses nachtblaue Ensemble in jenem Dessousladen gesehen, der auf ihrer To-do-Liste Spurensuche Yvonne und Sven stand. Ein wenig unverhältnismäßig, um nicht zu sagen übertrieben war das ganze Vorhaben schon, besonderes solche Eckpunkte. Man konnte es auch übertreiben!

Dabei war die Idee, die sie beide zusammen spontan geboren hatten, im Prinzip nicht schlecht. Sie war entstanden, als sie offiziell den Auftrag übernommen hatten, das Verschwinden von Yvonne Stern, der ehemaligen Chefreporterin der Gazzetta, und Sven Wolf, dem designierten Theaterintendanten von Boscona, aufzuklären. Nach all den Geschichten, die ihnen Esther Novalis, die Herausgeberin der Gazzetta, über die beiden erzählt hatte, nahmen sie sich vor, sich so weit es eben möglich war, in das Paar einzufühlen und die Orte zu besuchen, an denen sie sich aufgehalten hatten.

War Marc früher stets skeptisch bezüglich solch esoterischem Kram wie dem Genius Loci und ähnlichen Dingen gewesen, hatte er – und zwar nicht erst seit diesen Träumen – erkannt, dass es besser war, offener gegenüber diesen Dingen zu sein. Wenn ihm zwei Jahre zuvor jemand gesagt hätte, dass er sich nicht nur Hals über Kopf in eine Frau verknallen würde, sondern mit dieser Frau sogar telepathisch kommunizieren könnte, hätte er diesen Menschen gewiss für psychiatriereif erklärt. Allein das Erstere hätte dazu schon ausgereicht, war ihm das doch noch nie passiert, ihm, dem stets kontrollierten Analytiker. Und wenn ihm dieser Jemand prophezeit hätte, dass Letzteres das entscheidende, ja lebensrettende Instrument werden würde, um seine Liebe zu retten und den Geheimbund der Immaculati auffliegen zu lassen, hätte er ihm vielleicht geraten, einen Kriminalroman zu schreiben. Doch das hier? Also wenn ihm jemand damals, als sein Leben noch in geordneten Bahnen verlief ...

Da stand die schönste Frau der Welt im Büro vor ihm, hob nonchalant verführerisch ihr Kleid hoch, um ihm ihr Höschen zu zeigen, weil er ihr befohlen hatte, nicht ohne seine Erlaubnis, also na ja, ohne rumzulaufen, weil ... Ihr Spiel! Konnte man das überhaupt noch Spiel nennen? Ein Spiel hatte doch Regeln. Aber sie kannten keine Regeln. Ihr Begehren war grenzenlos – genau wie ihr Vertrauen. Und manchmal auch ein bisschen die Lust, erwischt zu werden ...

Schon beim allerersten Augen-Blick – damals, als sie sich bei ihm beworben hatte, war jenes Prickeln dabei gewesen, dass es jemand bemerken könnte, dass ihr Blicke mehr als nur Blickkontakt transportieren.

War es Zufall, dass sie nunmehr diesen Fall übernommen hatten? Nach allem, was sie durch die Berichte von Esther wussten, die zugleich Chefin und beste Freundin der verschwundenen Chefredakteurin Yvonne Stern war, gab es da eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Vermissten und ihnen beiden. «Die haben genauso rumgeturtelt wie ihr», konnte Esther sich nicht verkneifen zu sagen, bevor sie von ihren telepathischen Fähigkeiten und einer verblüffenden Empathiebegabung erzählte, wie sie sie vorher noch nicht erlebt hatte. Ein wenig ging das in Richtung limbische Resonanz – etwas, das Marc und Bea bei sich selber auch schon entdeckt hatten, wenn auch nur in der verblüffenden Erfahrung, sich in den Träumen des jeweils anderen vollkommen real zu begegnen.

So mysteriös ihnen das schon manchmal erschien, so rätselhaft und verwirrend war die Erfahrung, dass sie bei ihrer Spurensuche glaubten, Yvonne und Sven, die nach ihrer Hochzeit spurlos verschwunden waren, regelrecht spüren zu können. Es war nicht das erste Mal, dass sie an ihrem Verstand zweifelten, der sie als rationale und inzwischen auch recht erfolgreiche Private Ermittler auszeichnete. Da standen sie vor der Schaufensterauslage dieses Dessousgeschäftes, in dem Yvonne sich im Beisein von Sven ein sündiges Teilchen gekauft - und es später ihrer besten Freundin erzählt hatte, und sahen die beiden förmlich. Sie hatten sich nur gegenseitig angeschaut und einvernehmlich beschlossen, da jetzt nicht reinzugehen. Es hatte dazu keiner Worte bedurft.

Ja, die würden wunderbar zu meinem blauen Kleid passen, aber wir müssen darauf achten, nicht zu viel zu vermischen und wir bleiben. Wir kommen noch mal hierher, wenn wir nicht im Dienst sind.

Manchmal fiel ihnen das nicht leicht, Job und Privatleben zu trennen. Sie liebten ihre Arbeit gleichermaßen.

 

«Mrs. Philips, wir sind im Dienst, und außer diesem Fall gibt es noch genug anderes zu tun», beendete Marc zaghaft seinen Satz, nur um Bea dafür umso weniger zaghaft an sich zu pressen, nachdem er sich aus seinem Schreibtischstuhl erhoben hatte.

«Ja, Mr. Philips, ich weiß», säuselte Bea ihn betörend flüsternd an, als ob es jemand hören könnte. «Das ist ja auch eine dienstliche Maßnahme. Sie brüten immer nur noch über den Akten, Mr. Philips. Das führt zu nichts und ich dachte, ähm ...»

«Ja, Mrs. Philips, was dachten Sie?», erstickte Marc ihre letzten Worte mit einem Kuss. «Dachten Sie, es wäre gut, mich einmal auf meine Dienstaufsichtspflicht aufmerksam zu machen?

Da hatte sie schon ihr Kleid losgelassen, um mit ihren Händen seinen Erregungszustand zu prüfen, und seine Hände begonnen, ihre Pobacken zu kneten und ihr den ersten Klaps auf selbige zu versetzen.

«Aber Mr. Philips, als ihre Geschäftspartnerin bin ich für die reibungslosen Abläufe genauso verantwortlich wie sie! Wofür also bestrafen Sie mich?»

Manchmal nahm ihr Spiel kuriose Formen an, doch je grotesker es war, umso besser half es, aktuelle Sorgen und Probleme zu verdrängen – sowie beängstigende Träume.

Nächster Klaps.

«Dafür, dass Sie nicht daran gedacht haben, dass jeden Moment Miss Ferguson hier auftauchen kann», zischte Marc spielerisch böse zwischen ihre geöffneten Lippen. Miss Ferguson war die neue Sekretärin. Sie war eine der jungen Frauen, welche sie aus den Klauen der Immaculati befreit hatten. Sie war zunächst in der Harriot-Steele-Schule in Inverness untergekommen, bevor Marc und Bea beschlossen, ihr eine berufliche Chance zu geben, zumal Vanessa, die bisherige Sekretärin in den Ermittlungssektor gewechselt war. Zusammen mit ihrem Mann Maik, Marcs bestem Freund, war sie gerade unterwegs, um einigen Vermisstenanzeigen auf den Grund zu gehen.

Was Miss Ferguson anbelangte, mussten sie in der Tat ein wenig aufpassen. Sie hatte die Traumatisierung der Entführung durch diese Mädchenhändlerbande wohl immer noch nicht ganz überwunden.

«Mr. Philips, daran habe ich sehr wohl gedacht», konterte Bea. «Vielleicht ist es doch auch mal gut für sie, wenn sie wahrnimmt, wie schön, ähm ..., na so was halt sein kann.»

Forschender, suchender Blick, auf dem sich eine Brücke des Verstehens bildet, als von der Diele her das Geräusch des Türaufschließens an ihre Ohren dringt.

«Mrs. Philips, wenn ich Sie nicht hätte», lässt er sie zwar nicht aus der Umarmung, aber doch zu, dass sie ihre Hände an eine unbefangenere Stelle legt. Die Botschaft war eine doppelte gewesen und sollte einmal

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 15.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2532-8

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