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Romantische Gastronomie


Er hatte des Geistes Wissenschaft nach langjährigem aufrichtigen Bemüh'n erlernt, seinen Gesellenbrief erteilt bekommen. Nicht zuletzt wegen der langen, aufreibenden Nächte war ihm jedoch danach, die angelesene Sehnsucht zu praktizieren. Sein Wissen weitergeben, gerne, aber in ihn umgebender Ruhe. Das mußte doch möglich sein.

 Er konnte einpacken. Nicht nur sein bißchen Habe, um sie umzuziehen. Auch finanziell. Denn in und mit dem Dorf ist zwar gut Kirschen essen, nicht aber mit den Verkündern des Geistes, die metropol sitzen, in der Nabe des Wissensrades. Für die hat man dort präsent zu sein. Residenzpflicht auch für den Arbeiter der Aufklärung.

 So war das früher, als man nicht mal eben ein großes Gedicht über die Kultur der sich formierenden Romantik in die Tastatur hauen und es in digitaler Geschwindigkeit an die großen Verbreiter senden konnte. Mit dem Manuskript unterm Hungerärmchen hatte man anzutreten, vorstellig zu werden, vorzusprechen und zu singen den Allmächtigen der Redaktionen. Wer aber die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit bis in die Urgründe verinnerlicht hatte und die Blaue Blume auch in ihrer Materialität riechen wollte, der hatte sich die Autarkie anders einzurichten.

 Eine Küchenhilfe ward gesucht. Das klang zwar nicht unbedingt nach hirn-, dafür aber nach magenfüllender Nahrung. Einmal am Tag wenigstens satt werden. Er beschönigte sich die Situation ein wenig: der Gastronomie war er ohnehin zugeneigt. Ein Restaurant am Ende, nunja, nicht gerade des Universums, aber kurz davor. Eine Stätte zur mittäglichen und abendlichen körperlichen Wiederherstellung des nach oben offenen Mittelstandes. Ein Maître außerordentlicher Reputation zudem. Was die küchenkunsthandwerklichen Fähigkeiten betrifft.

 Die menschlichen sollten sich als verbesserungsbedürftig erweisen. Doch die sind nicht so sehr gefragt bei hundert, auch schonmal hundertfünfzig Mittagsmenues à la carte. Hier hat Monsieur de cuisine die Honneurs zu machen draußen im Saal, wo die Herren ab schlag zwölf déjeunierten und nach dem Tagwerk dieselben gemeinsam mit ihren Damen dinierten. Einmal pro Woche frischen Hummer, das war man sich schuldig, und auch Fisch, selbstverständlich bäuerliches Getier, ansonsten viel Geflügel, gerne vom Meister und dessen dann später bei ihm dinierenden Jagdbegleitern persönlich erschossen, das ganze Niederwild, die Fasanen, die Reb- und auch die Perlhühner und die Wachteln und die Kaninchen, aber auch die Rehe, die Sauen, alles das, was die Revolution dem Hochadel ab- und dem Bürger zugesprochen hat.

 Auch bei den Zutaten erwies er sich als exquisiter Fachmann. Vor allem beim Schummeln. So manches Mal bekamen die Honoratioren des Dorfes und der Nachbargemeinden einiges aufgefrischt aufgetischt. Was nicht weggegangen war am Vortag, es wurde kraft virtuoser Fälscherhände als gerade eben zubereitet vorgelegt. Leicht geriet ihm Schwein zu Ferkel, alte Kuh zu Kalb. Immer neue, die eher hausbackenen Esser anfänglich bisweilen leicht exotisch anmutenden Kreationen ließen alt unter neu verschwinden. Doch der Gast war erotisiert von der Zauberhand des Küchenmeisters aus der fernen Stadt. Dazu trug bei, daß dieser es nie versäumte, zwischendrin den immer parat liegenden, nein gestärkt stehenden weißen Hut aufzusetzen, die verschmutzte Schürze gegen die saubere auszutauschen und hinauszutreten, um jeden Gast persönlich zu begrüßen und ihn freundlich lächelnd nach dem Befinden zu befragen. So wollte noch jede Mahlzeit hochwohlgelobt sein. Wer einen hohen Preis zahlt, der darf nicht unzufrieden sein.

 Keine drei Wochen nach Arbeitsbeginn sah sich der Küchenhelfer — dem bald und sicher wohlweislich eine Salat- und Geschirrspülerin zur Seite gestellt worden war, die das zu leisten hatte, wofür er engagiert worden war — eines Mittags, vor dem großen Andrang alleine, ohne den Maître vor den auf den Herden hüpfenden Töpfen und Pfannen stehen. Monsieur hatte sich angesichts zehn, fünfzehn, zwanzig Menuebestellungen mit einem Mal freigegeben, war entschwunden. So wie der Hummer ins heiße ward der Helfling ins kalte Wasser geschmissen. Es war eine Art Feuertaufe. Fünfundvierzig und mehr Grad in der Küche. Eine Äquatortaufe mit Kielholen wäre dem Smutje lieber gewesen. Kurz nach der hundertsten Bestellung kam er wieder, orderte im Straßenanzug und mit leichter Pastisfahne zwanzig weitere, meinte, die paar restlichen schaffe er auch noch, der stiekum zum temporären commis de cuisine avancierten Anlernlernling, band den weißen Schurz vor die Ausgehhose, setzte die Chefmütze auf und gab vor der Gästeschaft seine Kochhandwerkskünste zum besten. Der Applaus der Dorfelite war ihm gewiß.

 Drei Monate machte der Schnellcommis das mit. Dann war er eines Tages in der heißen Mittagsphase inmitten von zehnerlei Ordres nicht mehr anwesend. Seinen kargen monatlichen Lohn hatte er am Vortag entgegengenommen, dem Maître den seinen heute somit gegeben. Der eigene, mittels fehlender Freizeit angesparte würde ein Weile reichen, dem Meister es wohl auch angesichts der ihm so dargereichten Quittung. Der in die romantische Welt des schönen Scheins Zurückgekehrte nahm wieder Platz auf dem Bänkchen und in seinem Blick auf die unendliche landschaftliche Weite und sinnierte darüber, ab wann wohl so etwas wie die Unabhängigkeit von den Fährnissen dieser Welt erreicht sei.

 Einige Zeit später hatte ihn die neununddreißigste Ablehnung seines Manuskriptes ereilt, das einen Teil seines geisteswissenschaftlichen Meisterbriefes darstellte und das ihm seinen Ort auf dem Globus der Wissensvermittlung zuweisen sollte. Das Lohnüberbleibsel war fast aufgebraucht.

 Da gab er vom allerletzten Rest eine Anzeige im Südwestblatt auf. Eine Antwort erhielt er auf seine Annonce. Sie war von etwas kräftiger Art, aber liebes- und arbeits- und empfangswillig und Tochter eines guten (Gast-)Hauses. Nun trägt er selbst gerne die von Madame persönlich immer frisch gestärkte Mütze für die Honneurs im Speisesaal und geht ansonsten gerne mit seinen Gästen auf die Jagd. Die schätzen seine im hohen Norden erworbenen, gleichwohl formidablen Küchenspielereien und erleichtern ihm das Leben sehr. Die Gattin lächelt ihn unentwegt glücklich an.

Hin und wieder sitzt er in der hunderttausendjahrealten, dicht begrünten Hügel- und Höhlenlandschaft am lieblichen Flüßchen Vezère mit seinen feinen Krebschen und schaut hinein in die hinter ihm liegende Romantik.

 

Und manchmal sucht er eine Küchenhilfe. Etwa alle drei Monate.

Gourmet et Gourmand

Die Macht des Essens


Er ist nicht zu übersehen. Seine Liebe zu Speis und Trank hat ihm die entsprechende Form verliehen. Er ist Masse. Masse ohne Ende. In die Breite. Aber auch in die Höhe. Er frißt aber auch nur. Überall. Aber nur Gutes. Er ist Gourmet und Gourmand gleichermaßen. Gourmand im Sinne von Freßsack, in den immer noch was hineinpaßt, und Gourmet als der, dem der gaumenkitzlerische amuse-gueule ständig die Sinne verwirrt. Und wenn ihm nach besonderem zumunde ist, scheut er keine Strecke. Wenn er einen ganz besonderen Goût im Mund hat, ist ihm keine Entfernung zu weit. Das geht mit einem schlichten Schnitzel los. Er kennt alle Geschmacksrichtungen aller Schnitzel in Europa. Ein Beispiel nur: Irgendwo in der Pfalz, in seiner Heimat, da steht ein Gasthof, in dem sie das Schnitzel, beschreibe ich's mal so: in einem ganz bestimmten langschenkligen Dreieck hochkant in einer besonderen Panade und selbstverständlich ganz langsam in Butter braten. Wenn diese besondere geometrische Form, umhüllt von einem Brotbrei à la maison, in einer Pfanne unvermittelt durch sein Hirnkino rast, dann erhalten seine Geschmacksnerven ein Signal, das einer Sirene kurz vor Weltende gleichkommt. Dann muß er los. Egal um welche Nachtzeit. Also, gerade noch zu Öffnungszeiten, aber die Wirtshauspforte wird für ihn auch durchaus mal länger geöffnet gehalten. Und alle anderen, sich in seiner unmittelbaren Nähe Befindlichen müssen mit. Hundert Kilometer. Seine Geselligkeit ist gnadenlos.

Ich kenne keinen anderen, der nicht professioneller Koch oder Gastrokritiker ist, mit einem solchen Wissen. Ach was — auch viele Profis können ihr Werkzeug einpacken. Und er kocht auch phantastisch. Ohne viel Aufhebens. Vor allem aber könnte er vermutlich problemlos eine Équipe von zwanzig Köchen befehligen. Dabei ist er nicht Koch, sondern Bildhauer, teilweise: Plastiker (Eduard Trier; Der Bildhauer nimmt ab, der Plastiker fügt zu). Aber keiner, der selber haut. Er weiß eben, wie's geht, also läßt er hauen. Oder gießen. In Italien. Und kommt mit einem Anhänger voller Schinken und Würsten und Wein zurück. Töpfe und Pfannen aus Kupfer sind meistens auch dabei. Mit denen handelt er dann, denn seine Küche ist damit bereits voll ausgestattet. In etwas anderem wird nicht gekocht und gebraten. Er ist konsequent kulturhistorisch bestimmt. Ich kenne einige Künstler, allen voran und für mich nicht ohne weiteres erklärlich, die Bildhauer, die gerne und gut kochen. Aber er nimmt eine Sonderstellung ein in diesem Panoptikum. Ich glaube, er hat noch nie irgendein Kochbuch auch nur in die Hand genommen. Er besteht nur aus Instinkt. Was er macht, macht er richtig. Er sitzt auf seinem besonders stabilen Stuhl und gibt seinem Besuch Kommandos. Und der macht es brav — und alles richtig. So habe sogar ich innerhalb von fünf Minuten eine Mayonnaise hinbekommen, für die ich ohne seine Anleitung neununddreißig Versuche benötigt hätte. Um dann alles wegzuschmeißen. Seine Schnell-Mayonnaise zu den selbstverständlich und gerne im französischen Bitche gekauften Garnelen, so mal eben locker, quasi aus französischer Hausfrauenhand, für die andere einen vierwöchigen Kochkurs absolvieren müssen. Bei entsprechenden Temperaturen wird in seinem Garten gegessen. Dort fühlt man sich wie in der Toskana. Und nicht nur wegen des riesigen Pizzaofens, den er sich unter seine Pergola hat bauen lassen, daneben einen Tisch für gut zwanzig Personen. Das Holz für den hat er sich auch mitgebracht. Den Tischler hat er mit Naturalien bezahlt.

Er reist überhaupt sehr gerne und viel. Nicht nur wegen des Essens. Aber wenn es irgend geht, orientiert er sich an den Speisekarten dieser Welt. Sie sind seine Landkarten. So hat er beispielsweise einen riesigen Schrank voller Keramikteller. Es sind Trophäen. Nein: Erinnerungsstücke. Es gab oder gibt einen losen Zusammenschluß italienischer Ristorante in ganz Europa. Es sind allesamt schlichte Gaststätten im besten Sinne: zur Wiederherstellung des Gastes. Nicht diese Edelfreßtempel für Besserverdienende, die diese Orte weniger des Essens wegen aufsuchen. Es sind Stätten für Menschen, die gerne gut essen. Und wenn man in eines dieser Restaurants geht, ob in Malmö oder Sevenoaks oder Brügge oder Heidelberg oder sonstwo, und man nimmt eines der Tagesmenüs, die sie grundsätzlich anbieten, dann erhält man einen dieser Keramikteller. Er hat, wie erwähnt, einen gigantischen Schrank voll damit. Ich habe auch zwei. Denn zweimal bin ich mitgereist. Einmal davon ist mir unvergeßlich.

Ich hatte eine Ausstellung von ihm eröffnet, wie man so sagt, eine Eröffnungsrede gehalten eben. Das war quasi eine Analogie zu seiner Philosophie des Essens. Sie war so opulent wie sein immerwährendes Denken an ebendieses Eine in allen Variationen. Etwa fünfhundert Menschen waren anwesend. Einige davon kannten ihn, ein Teil davon sogar seine bildhauerischen respektive plastischen Arbeiten. Und die meinten dann nach der knappen Stunde, sie hätten gar nicht gewußt, was er alles draufhabe. Ich hatte wohl keine Ingredienz ausgelassen. Das Auditorium war satt von dieser Völlerei. Nur ihm war das zuviel Theorie. Nach ihm kommt Kunst von innen. Geschimpft hat er nicht, kam es ihm doch zugute. Doch, gewettert hat er sogar. Aber in erster Linie über die dürftigen Schnittchen, die gereicht worden waren. Was richtiges gäbe es erst am Abend. Also erstmal was ordentliches essen. So sind wir die siebzig, vielleicht achtzig Kilometer in dieses Restaurant gefahren. Ziemlich abgelegen, am Rand einer Stadt, an einer absolut langweiligen Straße. Ich vermute ohnehin, diese Restaurants liegen alle nicht in den Zentren. Die Wirte zahlen lieber weniger Miete und stecken das Geld in ihre Ware. Und den Service. Kurzum. Er hatte angerufen und sein, unser Kommen angekündigt. Er war wohl auch nicht zum ersten Mal dort.


Er wurde begrüßt wie ein uralter Bekannter. Es war gegen halb eins am Mittag. Raus sind wir gegen sechs Uhr abends. Das Restaurant schließt normalerweise über den Nachmittag und öffnet erst wieder um halb sechs. Als die neuen Gäste kamen, saßen wir eben immer noch. Und es ist niemand vom Personal nach Hause gegangen! Das mag übertrieben klingen. Aber das ist bei ihm normal. Und man kann alles essen, was er bestellt. Er ist ein phänomenaler Vorkoster. Er probiert alles aus, aber auch wirklich alles. Er geht auf jede Empfehlung ein. Selbstverständlich erhält er während der Verkostung immer sehr kleine Portionen. Auf seinen Wunsch. Aber er läßt keinen Krümel aus, wenn er gebeten wird, ihn zu probieren. Doch manchmal nimmt er auch noch den letzten Rest vom Teller. Der Patron wich ihm damals nicht von der Seite. Wenn er davon sprach, es stünde gerade ein neuer Fond auf dem Herd — her damit. Irgendein Teig befinde sich in Vorbereitung — der Koch wird in Küche gejagt, zum Herausbacken. So ging das stundenlang. Und es geht. Man hockt ewig, nimmt hier bißchen, dort ein bißchen. Zwischendrin gibt's auch mal einen kompletten Gang. Und es geht aber auch jeder hinein mit seiner Gabel. Étiquette? So ein Konventionenkram. Alles mit Lust. Lust braucht keine Benimmregel. Man wird in solchen Restaurants auch nie diese hochgedrechselten Servietten sehen, mit denen man sich ohnehin den Mund nicht abwischen kann, weil sie steif sind wie die Bretter, auf denen sie gebügelt wurden. Oder sie werden für solche Gäste wie ihn beziehungsweise uns vorher entfernt, ausgetauscht gegen sammetweiche. Der große runde Tisch ist schön und sauber gedeckt. Bis er voller Flecken ist. Aber wie. Weil jeder darauf herumaast. So ist das eben bei einer solchen dauersensuellen Gruppenkopulation.

 

Saurer Wein

Cassis, schwarze Johannisbeere. Crème de Cassis ist es, der in mich fließt, langsam überspült von dem weißen Bordeaux, den in Deutschland keiner trinken würde, ihn aber auch nicht zu kaufen bekäme, weil die Winzer ihn lieber selber schlucken. Diese Bordeaux sind so trocken, daß sie, wie ich gerne zum besten oder schlechten gebe, kurz davor sind, zu stauben. Erst nach dem zweiten, besser: dritten Schluck kommt dieser Geschmack des absolut reinen Weines. Es gibt sie ganz weit nordöstlich des Bordelais allerdings auch. In der Pfalz habe ich mal bei einem Winzer, der sich äußerlich bereits seinen jahrtausendealten Rebstöcken angeglichen hatte, welchen getrunken. Er sagte mir, solche Weine seien gar nicht verkaufbar. Man könne sie nicht lange lagern. Den meisten seien sie auch zu sauer. Da müsse man sie eben selber trinken. Sprach's und nahm noch einen lustvollen Schluck.

 

Sauer, sehr sauer, das sagte auch die Kollegin vor einigen Jahren, als ich mal von dieser Geschmacksrichtung schwärmte. Ihr Gesicht verzog sich dabei zu einer (spieß-)bürgerlichen mittelständischen mittelalterlichen Altweiberzitrone. Mit entsprechend säuerlichem Gesicht berichtete sie, sie sei einem Irrtum aufgesessen, in der Übersetzung hörte ich so etwas wie Betrug heraus, hatte sie doch gleich einen Karton mit vierundzwanzig Flaschen gekauft, weil Paul Bocuse seine Empfehlung allem Anschein nach jeder einzelnen persönlich mit antiker Tinte an den Hals signiert hatte. Mit der dem Diplomatenhaushalt gebührenden Zurückhaltung, aus dem sie in die schnöde Welt hinausgeworfen worden war, berichtete sie vom ersten Verkostungsversuch der zwei Dutzend Flaschen. Es habe eine Art Revolution gegeben in ihrer Geschmacksnervenwelt. Und ob ich interessiert sei, selbstverständlich gewähre sie mir einen Nachlaß. Sprach's, rauschte ab, ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten, tauchte hinab unter ihren Schreibtisch, wo der Wein seinem Verderben entgegenwartete, zog eine Flasche heraus, kam zurück zu mir, stellte sie vor mich hin und meinte, ich solle ihn dochmal probieren. Zuhause angekommen und einen Schluck genommen, telephonierte ich sogleich dem Händler hinterher, der dann tatsächlich auch noch ein paar Flaschen dieser Sonderedition aus dem Giftschrank seines Lagers hervorkramte; vermutlich für sich persönlich reserviert. Restlos ausverkauft war dieser weiße Bordeaux. Am außerordentlich günstigen Preis dürfte es weniger gelegen haben, eher an der Tatsache, daß Monsieur Bocuse seine Empfehlung laut und vernehmlich proklamiert hatte. Vielleicht hätte ich bei noch ein paar anderen dieser verspäteten Mädchen nachfragen sollen, ob sie zufällig auch diese Bocuse-Empfehlung erstanden hätten, die eigentlich kein Mensch trinkt.

 

Aber ich hatte bereits soviel davon, daß ich mir immerhin hin und wieder das Sakrileg erlauben konnte, diesem Wein (für andere) etwas Farbe zu geben. Und er mußte ja weg, weil er sich bekanntlich nicht so lange lagern läßt.

Ich liege unter einem sich auf mir zum Bouches-du-Rhône ausbreitenden heiteren Quell aus feinsten, sorgsam dosierten edelherben Früchten.

 

Bratei an Saucenvorstufe


Die mit mir im Kaffeehausgespräch befindliche Mutter Mitte vierzig schickte ihre etwa dreizehnjährige Tochter los, um rasch noch einzukaufen. Sie möge die Tütensauce nicht vergessen! Auf mein verdutztes Gesicht hin erkundigte sie sich nach meinem Wohlbefinden. Wahrheitsgemäß antwortete ich: Nicht sonderlich gut. Denn immer, wenn ich Sauce aus der Tüte hörte, würde mir schlecht.


Wie aber anders?! warf sie die Arme nach oben, solle sie — sie könne ihre Kinder die Spaghetti doch nicht ohne alles, mit so trockenem Ketchup schlucken lassen. Ob sie denn, entgegnete ich, nicht wisse, wie dieses Pulver hergestellt würde, das dann als so etwas ähnliches wie eine Saucenvorstufe in die Tüte gelangte? Und da ich ihr fragend verblüfftes Gesicht sah, legte ich nach:


Rinderknochen in einem Bräter scharf anbraten, der Farbe wegen die Zwiebeln mit der Schale, später geschälte Tomaten hinzugeben, ganz Bequeme dürften auch Tomatenmark oder doch besser passierte Nachtschattengewächse nehmen, das Ganze ablöschen, es dürfe Wasser, müsse allerdings nicht unbedingt sein, kräftiger Rotwein aus dem Bergerac oder ein Madiran, aber auch, je nach Gusto, Bier, gerne dunkles Weißbier eigne sich ebenfalls hervorragend oder sehr viel besser, mit Kräutern würzen, lange köcheln lassen, bis ein wohlschmeckender Fond entstanden sei, der sich, beispielsweise in Eiswürfelbehältnissen, gut einfrieren lasse und nach Bedarf portionsweise verfeinert werden könne.

Letztendlich würde das Saucenpulver auch nicht viel anders hergestellt, allerdings unter Trocknung beziehungsweise der Hinzugabe diverser Geschmacksverstärker, die sie nicht benötige, da sich chemiefreier Bratensaft hervorragend dazu eigne (vielleicht aufparfumiert mit etwas Crème de Pêche oder Pineaud des Charentes). Und wesentlich preisgünstiger sei dieses Herstellungsverfahren obendrein. Zeitraubender auch nicht, da sich nach dem Anbraten und Aufgießen der Fond im Topf von alleine bilde.


Das liegt gut zwanzig Jahre zurück. Heute liest man von einer exorbitanten Zunahme von Fertiggerichten. Sogar in Frankreich oder Italien maximiert mittlerweile die Nahrungsmittelindustrie damit ihre Gewinne. Einen schier unglaublichen Zuwachs verzeichnet auch die Kochbuchbranche. Gerne werden Bücher mit Großmutters Rezepten gekauft, die vom örtlichen Slow Food-Convivium testgekocht und -gegessen wurden. Oder diese Fernsehkochomanie! Anstatt sich in die Küche zu stellen, ein bißchen zu plaudern und das eine oder andere Sößchen oder andere Vorratsleckereien zu basteln und dabei ein oder zwei Weinchen zu verkosten, hockt die deutsche Nation vor dem Glotzophon und schaut zu, wie ihr was von einem mehrgängigen Menu vorgelafert wird. Um anschließend zum nächsten Billigheimer zu rennen und ein paar Würstchen an Kartoffelsalat oder in der Mikrowelle zu garende Bratkartoffeln einzukaufen. Vermutlich gibt's das Bratei dazu demnächst auch aus der Tiefkühltruhe.

 Irgendwie schaudert's unsereins da doch arg. Da nimmt man doch gerne noch so ein Klümp aus dem alten Hennentopf. Klümp? Das ist norddeutsch, und was das ist, darüber erzählt der nächste Gang.

Klümp in alter Henne

Mit Klümp zum ersten Mal in Berührung, genauer: im Mund, kam ich, als es mich in meiner Korrespondententätigkeit ins Hanseatische verschlug, wo ich die Abende und Nächte sowie den Rest der Freizeit auf einem winzigen Dorf verbrachte, in dem tatsächlich noch Hühner frei herumliefen.


Da gab es einen Jüngsten in einer Familie von Gastgebern, der hat seine erste, für alle Zeiten sturmfreie Bude wohlweislich in Muttis Nähe immobilisiert. Bei ihr tauchte er so oft auf wie selten in den letzten Jahren. In Muttertopfnähe läßt sich eben rascher mal der Deckel heben, was er mal wieder tat in meiner Anwesenheit. Ansichtig wurde er einer gut fetten Brühe: das Ergebnis einer jahrzehntelang frei durch holsteinische Gärten marschierenden und tausende von Eier gelegt habenden Federviehexistenz, die, wie es hieß, vor tristem, nahezu ewigem Leben auf dem Lande dorthinein geflüchtet war. Doch das dürfte nicht wirklich der Grund gewesen sein. Wie aus gut unterrichteten Kreisen zu erfahren war, hatte sie sich dort hineingestürzt, weil sie ein Leben als Hartz-IV-Henne nicht ertrug: wegen sogenannt mangelnder Produktionskraft ausgemustert und somit ihres Lebensinns beraubt. Ausgelöst hatte das die Wurmknappheit. Investoren hatten vom hohen Proteingehalt der sich preisgünstig von Erde ernährenden Kriecher gehört und in einem Weltrettungsexperiment die letzten holsteinischen Bauerngärten umgraben lassen.

Der junge Mann machte sich allerdings darüber keine quasi tiefschürfenden Gedanken. Er hatte nur Augen für die in der Brühe schwimmenden Klümp. Die waren so groß wie die Augen des Jünglings, die immer größer wurden. Da ich noch immer nicht richtig assimiliert, sozialisiert war, gehören diese Klümp oder auch Klüten weder zu meinem Wortschatz noch zu den Mitteln, die einem Einheimischen den angedeuteten Genuß verheißen. Aber einer, der den lieben langen Tag nichts zu tun hat als Frösche zu fressen, kann auch nicht wissen, was gut ist. Der Juniorste wußte das. Und deshalb geht auch der komplette, nicht eben kleine Kopf in diesen Topf eines Ausmaßes, das notwendig ist, wenn ein Tier dort hineinmuß, das fünfzehn Jahre lang den Hof von Würmern und sonstigem Kleingetier befreit hat.

Ich wagte zu fragen, welcher Herkunft und welcher Menureihenfolge diese Klümp denn zuzuordnen seien. Das seien Sattmacher — nicht Sättigungsbeilagen! —, antwortete stolz und standesbewußt eines Schmieds Töchterlein, sich damit vernehmlich von der zudem jüngeren DDR abgrenzend. Hergestellt würden sie aus dem, was man früher immer im Hause hatte: Mehl, Eier, Wasser und Salz. Der Topf habe immer über dem Feuer in der Esse gehangen, frühmorgens stahl man der Henne die Eier und haute sie anschließend in den Topf. Die Eier mit dem gesalzenen und gewässerten Mehl. Das Huhn habe erstere ja erstmal zu liefern. Für eine Weile jedenfalls. Ah so, dachte unsereins, so etwas wie der Alemannen Knöpfli oder der Schwaben Spätzle, allerdings ohne Linsen. Man ließ mich dann auch teilhaben an dieser Betonierung des Mageninnenraums.Ja, so einfach sei das Leben gewesen, setzte die Suppenköchin ihre Erinnerungen fort, wenn es galt, des väterlichen Schmiedes Hunger zu stillen. Es scheint auch bei Tischler-Eleven zu funktionieren. Nach meinem Wissen ist das die einzige fleischlose Kost, die sie zu sich nehmen. Doch es sei ja, so die Klümperin, via Nahrungsmittelkette zuvor via Henne bereits einiges hineingelangt. Da ist es offensichtlich nicht weiter von Bedeutung, daß ein Feder- kein Rindvieh ist.

Unsereins gab im sich anschließenden küchenphilosphischen Quartett — ein weiterer Junior hatte von dieser verheißungsvoll fleischentsagungsreichen Mahlzeit gehört und war rasend schnell mit Hilfe eines Reisbrenners aus Hamburg angereist — eigenes Wissen zum besten: In anderen Kreisen werde dem Federvieh ein Stück der Kuh beigegeben, die nichts anderes (mehr) zu tun hatte als dumm zu gucken. Als weiterer Geschmacksverstärker komme ein Bein des Tieres hinzu, das sich zuvor jahrelang und nichtstuend grunzend im hofeigenen Morast gesuhlt hatte. Gemüse aus dem nebenerwerbsbäuerlichen Garten dürfe ebensowenig fehlen wie das eine oder andere Kräuterlein. Auch ein ordentlicher Schuß oder besser zwei des trocken-fruchtigen elsässischen Rieslings, erlaubte ich mir zu empfehlen, erst in den Schlund, dann in den Topf, würde es geschmacklich nicht verunstalten.

Aufmerksam lauschte das zum Quintett angewachsene Auditorium. Zwar sei ihr bekannt, meinte die mit herbeigeeilte junge Frau des einen, daß diese Französen ohnehin nichts anderes zu tun hätten als den lieben langen Tag zu essen und während des Essens über das Essen zu reden, aber woher, bitte, wisse denn ein Mann kurz vor der Notschlachtreife das alles? Ihnen — als Jungfrauen! — habe man in schulischer Kochunterweisung lediglich vermittelt, wie man richtig, also das Billigste einkaufe, Wasser für Nudeln erhitze und die Packung einer Fertigsauce fachgerecht öffne. Serviert worden wäre dieses Komplettmenu dann auf Plastiktellern, die mitsamt den Löffeln und Gabeln aus demselben Material auf dem Tapeziertisch lagen. Kochen gelernt hätte sie in dem Sinne also nicht im Kochunterricht. Der ihr beisitzende Junior nickte mit klümpvollem Mund heftig. Nach dem Runterschlucken faßte er nach, doch zuvor meinte er noch, das habe er im Werkunterricht ebenfalls erfahren.


Da nimmt man doch gerne noch so ein Klümp aus dem über der Esse hängenden alten Hennentopf. Wenn die Junioren noch eines übriggelassen haben. Doch selbst wenn nicht — Mehl, Eier und Wasser habe man schließlich immer im Haus, meinte ja die Klümp-Kreateuse. Und vielleicht wäre es ja, ergänzt unsereiner, nicht so ganz arg von Übel, das Geklümp mit ein wenig Kräutern etwas hinaufzuparfumieren. Wie neulich die köstlichen Plätzchen mit frischem Knob- und Schnittlauch. Plätzchen? Ja, aus Kartoffeln. Aber davon soll der nächste Gang erzählen.

 

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Texte: Verlag: BookRix GmbH & Co,. KG Sonnenstraße 23, 80331 München. © Thierry Portulac
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2017

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