»Die Gegenwart aber, die in der Mitte liegt, ist so kurz und unfaßlich, daß sie keine Länge annimmt und nicht mehr zu sein scheint als die Verbindung des Vergangenen und Künftigen und außerdem auch so unbeständig, daß sie nie am selben Ort ist; und alles, was sie durchläuft, nimmt sie von der Zukunft weg und legt es der Vergangenheit zu.«1
Als wenn es das Zu-Ende-Spielen der Tonleiter bedurft hätte, versteht er – mit einem Mal? – diese Intentionen. Gewiß, erkennende Schmunzeleien ergaben sich bereits bei Italo Calvinos hilflos in sich und der Literatur Verlorenem, der die Welt wahrlich hätte begreifen können, aber dann doch die virtuelle der Literatur bevorzugte. Ob Dummheit oder Lebensuntüchtigkeit den von diesem Buch Ergriffenen davon abhielt, mit Genuß in den dargereichten Apfel zu beißen, oder schlichte, vom Kardinalsmantel des an der Literatur Interessierten einhüllende Schüchternheit, das läßt der Italiener die Treppe der ironischen Distanz hinunterfließen.
Das definitive Urteil quillt ohnehin aus allen Furchen der eigenen Erfahrung, verknüpft mit diesem auch im Deutschen schiefen Sprichwort vom Spatz in der Hand2 und der Taube auf dem Dach. – Ist der winzige Sperling nicht ohnehin sehr viel begehrenswerter? Sollten wir nicht seinetwegen und nicht der Taube aufs Dach schielen? Doch vermutlich ist er zu flatterhaft, zu sprunghaft, zu behende, zu flink, und so träumen wir von der scheinbar Unerreichbaren hoch oben in der Ferne und bilden uns in unserer Bequemlichkeit ein, dieses feiste, gerade mal ein wenig mehr schillerndere Tier verkörpere die Sehnsucht. – Doch da ist doch noch diese ganz andere, sehr viel tragischere, im nachhinein sicher auch um so komischere, also tragikomische Erinnerung: die ausreichend Möglichkeiten bietet, diese männliche (?) Unbeholfenheit zu interpretieren.
Hier die in der Anfangsblüte stehende Schönheit und dort diejenige, die bereits die Nacht in der Hand des Verkäufers durchlebt hatte, dessen feingeschnittenes Gesicht eben jene, seiner Ware ähnlichen, Pigmentierung kennzeichnete, die aus Säften entstanden ist, deren Wurzeln aus tiefem Sand gerissen und zwischen den Kalkstein und den Lehm des französischen Jura verpflanzt worden waren.
Heute ist ihm klar, daß der senegalesische Herrscher über die weibliche Welt seines Reiches, die kleine Bar, es arrangiert hatte. In fürstlicher Gastfreundschaft hatte er dem Besucher gestattet, im dargebotenen Zelt die Jungblüte zu bewässern. Und wie reagiert der? Er wendet sich in stoischer Dämlichkeit der bereits fest im Beet Verankerten zu, ihr, die bereits Literatur war. Der aufscheinende Glanz der Zukunft hatte ihn derart geblendet, daß ihm auf einmal auch die Gegenwart in die uneinholbare Vergangenheit entflattert war. Der Gedanke an die so nahe, neben ihm sitzende Taube in der Hand war offensichtlich reizvoller, und weg war er, der Spatz, und putzte sich oben auf dem Dach fröhlich sein Gefieder.
»Es wurde dunkel. Unten endeten die Felsen, schräg abgleitend, in einer kleinen Bucht. Sie war jetzt dort hinuntergegangen und stand im Wasser. ›Komm her, laß uns noch einmal schwimmen ...‹ Amadeo biß sich auf die Lippen und zählte die Seiten, die er bis zum Schluß noch zu lesen hatte.«3
Eigentlich fehlte nur noch der in Calvinos Palomar personalisierte Härtefall, jener »diskrete Zeitgenosse«, der »weiß, daß Frauen in solchen Situationen, wenn ein Unbekannter daherkommt, sich häufig rasch etwas überwerfen«, daß »aus halbrespektierten Konventionen mehr Unsicherheit und Inkohärenz im Verhalten als Freiheit und Zwanglosigkeit erwachsen«, der seinen wiederholten Wandel-Gang über das immerselbe Stück Strand begründet: »Das dürfte genügen, um die einsame Sonnenbadende definitiv zu beruhigen und alle abwegige Schlußfolgerungen auszuräumen. Doch kaum naht er sich ihr von neuem, springt sie auf, wirft sich rasch etwas über, schnaubt und eilt mit verärgertem Achselzucken davon, als fliehe sie vor den lästigen Zudringlichkeiten eines Satyrs.« Und so quadratiert er sein ›moralisches Kreisen‹ denn: »Das tote Gewicht einer Tradition übler Sitten verhindert die richtige Einschätzung noch der aufgeklärtesten Intentionen.«4
Dabei ist's ihm wohlergangen. Denn er vermochte sich vor der Brandung anlandender Aufwallung hinter dem Fels verbergen, dem ihm sein bißchen bürgerlich-aufgeklärte Erziehung hingestellt hatte. Gänzlich hilflos wäre er anonsten gewesen, wie jener in den Servennen, den radikale Pietistinnen zum Ende des 20. Jahrhunderts mit Steinen bewarfen, da er nackt in den Bach gestiegen war, um sich zu erfrischen. Als dieser hätte er die langen Philosophenwege am Ufer des Flüßchens erst gar nicht auf sich genommen, sondern hätte, seinem hugenottischen Gedankenfluß folgend, den Fels in dessen Einzelteilen protestierend genutzt und damit die ruchlose Nacktheit in die züchtige Bekleidetheit zurückgejagt. Die Gegenwart köchelte nach wie vor im Tiegel einer Vergangenheit, die selbst einer noch glimmenden Schlafzimmerglut den Hut der apodiktischen Dunkelheit aufsetzt. Unvorstellbar ist es für diesen ›Traditionalisten‹, daß es eine Gegenwart gibt, in der eine zweisame Nacktheit im grellen Bühnenlicht und noch dazu von einer Frau gesungen wird:
»Pépère tellement pépère / Pas pressé d'arriver /Se laisser la riière / Gentiment déborder / Nager c'est magnifique / Même s'il y a qu'l'océan / Qui reste pacifique / Et pas pour très longtemps. // Reste sur moi / Que je respire avec toi /Reste sur moi / Que je respire avec joie.« (Ruhig, ganz ruhig / Es nicht eilig haben, anzukommen /Den Fluß ganz langsam / Übertreten lassen / Schwimmen, das ist herrlich /Auch wenn nur / Das Meer friedlich bleibt / Und das nicht für sehr lange Zeit. // Bleibe auf mir / Damit ich mit dir atme / Bleibe auf mir / Damit ich mit dir Freude atme.)5
Dies bedeutet ihm das Höllenfeuer Zukunft. Ihm ist die Vergangenheit immerwährende, gültige Gegenwart.
Palomar darf sich also glücklich schätzen, nicht in einer solchen festen Burg wohnen zu müssen. Palomar darf sich überall in seinen geistigen Umwandlungen ergehen – und auch inmitten der großen Stadt wieder in sein Fazit zurückgejagt werden. Da war er, von der idealen Aussichtsplattform eines Straßencafés aus, gerade dabei, zu konstatieren, daß, »obwohl Angehöriger einer älteren Generation, für welche sich Nacktheit des weiblichen Busens mit der Vorstellung liebender Intimität verband, dennoch mit Beifall diesen Wandel der Sitten begrüßt, sei's weil sich darin eine aufgeschlossene Mentalität der Gesellschaft bekundet, sei's weil ihm persönlich ein solcher Anblick durchaus wohlgefällig erscheinen kann«, daß es ihm also »gelingen möge, genau diese uneigennützige Ermunterung in seinem Blick auszudrücken«. Die Hoffnung auf eine demgemäße Erwiderung für diese erbrachte ihm die wild um sich blickende Flucht des Objekts seines Urteils »vor den lästigen Zudringlichkeiten eines Satyrs« in ein nebenliegendes Ladenlokal. Vielleicht war die Ermunterung in seinem Blick falsch ausgelegt worden? Und sehr verwirrt erschien ihm Herr Palomar auch, als sich die Stimme eines Körpers, der seinen bewegungsreichen, lasziven Gang direkt im Stuhl neben ihm beendet hatte, auf sein Ohr zubewegte und ihm bedeutete, es sei wohl eine angenehme Tagesbeschäftigung, den Mädchen, den Frauen zuzuschauen.
Herr Palomar tat ihm nachgerade leid. Wie er seine Anordnungen auch reihte, sie schienen zu mißlingen. Dabei hätte er sich nur erinnern müssen. Er hatte sich in der Cafeteria eines Kaufhauses einen dieser Säfte aus der Auslage genommen, die vornehmlich der Gesundheit vorbehalten waren (und dennoch durchaus schmackhaft waren). Und als er den Kopf wieder gehoben hatte, stand sie auf einmal da. Da er sich der Gefahr bewußt war, wiederum als Satyr eingestuft zu werden, wandte er den Kopf rasch zur Seite, wobei sein Blick allerdings hineingerieht in eine ganze Ansammlung von Anmut und Schönheit. Da die drei Generationen jedoch ins Gespräch vertieft waren, ließ er seinen betörten Gedanken auf ihnen ruhen und faßte dann den Mut, sich wieder umzudrehen in der Hoffnung, die dunkelhäutige Schönheit könnte sich bereits an einen anderen Ort begeben haben. Doch schier verzweifelt stellte er fest, daß sie, wohl nach dem passenden Getränk suchend, noch immer vor der Kühlvitrine verharrte. In einem Anfall von Mut ruhte sein nachgerade verstörter Blick eine Weile auf ihr – den sie erwiderte. Nein, sie lief nicht weg. Sie bedeckte nicht ihren Busen (was derzeit auch nicht unbedingt notwendig gewesen wäre) oder ihr vollendet geschnittenes Gesicht. Sie schaute ihn an. Und als sie an dem Platz vorbeikam, an dem er sich niedergelassen hatte, erwiderte sie seinen Blick nicht nur nochmals, sie lächelte ihn gar an. Dabei stand in seinem Gesicht sicherlich nicht unbedingt jene uneigennützige Ermunterung, sondern vermutlich eher eine ratlose Hilflosigkeit, wie sie einen befällt, wenn man nicht Herr seiner Sinne ist.
Anmerkungen
1Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Paris 1920. Frankfurt am Main 1989, S. 171
2Un tiens vaut mieux que deux tu l'auras.
3Italo Calvino: Abenteuer eines Lesers, in: Der verzauberte Garten, Berlin 1998, S. 48
4ders., Der nackte Busen, a. a. O., S. 9 f.
5Patricia Kaas, Je te dis vous, CD, 1993
Bevor sie ins fensterlose Badezimmer seiner kleinen Fluchtburg hoch oben in der Rue Monge im fünften Arrondissement ging, meinte sie noch beiläufig oder auch verschmitzt lächelnd, Liebe suche die Einheit, und die heiße nunmal Heirat und folglich Ehe. Daran führe kein Weg vorbei, jedenfalls im, in ihrem Blut einer Beurette1, das immer aus der Moderne zurückfließe in die Behaglichkeit des Altbewährten, das ihr nun einmal die Eltern muslimisch eingebetet haben. Ihm war gar nicht wohl bei diesem Gedanken. Sicherlich wünschte er sich kaum anderes, als weiterhin von den Gezeiten dieses Gefühlsozeans hin- und hergeworfen zu werden. Aber er fürchtete ebenso, darin qualvoll unterzugehen. Spätestens seit seinem letzten, nicht sonderlich lang anhaltenden, dafür aber weit zurückliegenden Versuch, Teil einer solchen Einheit zu sein, lebte er in einer Rüstung. Die hatte er nach seiner Flucht aus der Enge des Einsseins ausgerechnet dort gefunden, wo die Liebe zuhause sein soll, indem man ihr nachsagt, daß sie dort gemacht würde. Doch immer wurde jeder Wunsch nach Berührung seinerseits zunehmend von der Angst vereitelt, sich verlieren zu können. Und nun sollte er freiwillig dort ins Wasser gehen, wo die Meere unterschiedlicher Kulturen zusammentreffen und deshalb die Wogen am höchsten hinaufschlagen?
War er anfänglich noch ein temporärer Besucher des einen oder anderen befriedigenden Hauses, reduzierte sich das Verlangen in dem Maß, als er endlich begreifen lernte, daß es sich dabei eben um nichts anderes handelte als um professionelles Anfassen. Doch eine Erinnerung hatte sich eben recht lange gehalten, die an eine Frau um die Dreißig, an eine, die auf dem unordentlichen Lager geäußert hatte, diese Zärtlichkeit sei sie nicht gewohnt. Sie hatte es genossen, und er nicht minder. Doch wahrscheinlich war das im Gewerbe eigentlich strikt untersagt und sie einfach noch zu unerfahren gewesen. Vermutlich wurde sie, wenn sie’s denn überhaupt berichtet hatte, von den Kolleginnen gerügt. Es könnte jedoch auch so gewesen sein, daß auch sie in privaten Räumen gerade niemanden für die andere, nicht professionell gemachte Liebe zur Verfügung hatte und sich ein wenig davon kommen ließ. Wie auch immer, es hatte sich eingegraben in ihn. Es war ein so herrlich angstfreier Austausch von stofflichen und nichtstofflichen Entäußerungen. Er hatte seine sanften Berührungen bekommen und konnte anschließend wieder gehen. Es gab keinerlei Verpflichtung, sich auch noch um das Innenleben dieser Person kümmern zu müssen. Allerdings hätte auch kein Jota Energie zur Verfügung gestanden. Sein Mikrokosmos hielt noch den geringsten Teil des ohnehin schon reduzierten Gefühlshaushaltes als eiserne Reserve für die Abwehr der Angriffe von außen zurück. In der Ökologie der Gefühle war die Seelenkraft für das Wesentliche reserviert: für das Ich.
Nach zwei, drei weiteren Versuchen, dieses Erlebnis über die Mär von der käuflichen Liebe aufzufüllen, hatte er es aufgegeben. Es mußte sich um einen Ausnahmefall gehandelt haben. Dieser köstliche kleine Tod, wie man ihn hier nennt und wie er ihn für sich erweitert hatte, war ohne ein intensives Miteinander offenbar nicht zu sterben. Denn das erfordert Hin-, wenn nicht gar Aufgabe. Doch eine solche Kraft brachte er nicht auf. Also lenkte er den Energiefluß auf sich selbst. Die Gefahr, in sich umzukommen, war nicht so elementar, als durch eine Liebe hingerichtet zu werden, die einem ein anderer Mensch abverlangte. Sobald sich erste Anzeichen einer Gefährdung der inneren Sicherheit ergaben, wurde das platonische Prinzip hochgelobt, im Härtefall nahm er auch das Argument gleich-geschlechtlicher Neigung zuhilfe, was allerdings noch mehr Nähe zur Folge haben konnte, worauf die Verbindung strikt unter-, nein, abgebrochen wurde. Um des eigenen Seelenfriedens willen geriet er auch körperlich zum Eremit. Aber das ist ja wohl auch der Sinn eines solchen Daseins. Andererseits taugt zu einer solchen Existenz nur der, der dafür geschaffen ist, der Frieden mit sich oder einer höheren geschlossen hat. Bei ihm war es eine Tugend, die ihm die Not einer Einsamkeit geschaffen hatte, die nur im Alleinsein erträglich war.
Manchmal stahl er sich winzige Berührungen des Inneren über das Äußere bei Anlässen, bei denen er sich nicht unbedingt dem Verdacht aussetzte, gefühlsselig zu sein. Eben nur dann, wenn ein Ast aus einem fremden Garten überhing. Aber es geschah nie bei solchen höchst seltenen Wesen wie dem, das in diesem gleichermaßen gefahrvoll nahen wie endlos fernen Badezimmer wünschte, ausgerechnet ausschließlich von ihm gereinigt zu werden. Von ihm, dem der Angstdreck aus allen Poren lief, er könnte in einen Abgrund geraten, aus dem er sich vor langer Zeit gerade mal eben noch hatte retten können. Es war die peinigende Furcht, es könnte eine Liebe heranwachsen, sie durch Zärtlichkeit noch befruchten, die irgendwann am Zenit angelangt sein würde. Und der Zenit ist der die Zeit tötende Übergang aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Die Zukunft wäre damit eliminiert. Und mit der getöteten Zukunft wäre auch die Hoffnung gestorben – die Hoffnung wenigstens auf das Standbild einer Episode. Er als Bewahrer des Stillstands aber wollte diese gerade langsam wieder in Bewegung geratenen Bilder nicht. Der Film wühlte sich ohne Rücksicht auf seine Sehnsucht nach immerwährender Dunkelheit aus den Abgründen seines Gedächtnisses ins Licht des Projektors. Hauptdarstellerin war diese Frau, der er die Zukunft geraubt hatte, indem er ihr gegenüber Regungen zeigte, die sie für Liebe hielt. Und das alles nur, um sein Bild von Gegenwart zu konservieren. Mochte Pygmalion doch Aphrodite herbeipfeifen, um seine Statue zu beleben – er hatte Angst vor dieser Göttin. Und wenn er jetzt in dieses Badezimmer ging, das ohnehin immer auf Körpertemperatur gehalten war, würde Blut fließen. Aphrodite hatte wahrscheinlich ihr Operationsbesteck schon wieder vorbereitet. Mochte die sich überall einmischende Schaumgeborene doch anderen ihren Genitialienmeerschaum injizieren. Er wollte sein reines, strahlendes, unbelebtes Elfenbein behalten, das ihm Leben gab. Wie es war, in seiner göttlichen Konsistenz.
Doch dann … Die zweite Flasche eines einige Jahre alten Gloria aus Saint Julian hatte die Erinnerung in ihm abgerufen und sie mit Sehnsucht gepaart. Wie der Kleinwüchsige aus Albi kam er sich vor in diesem angenehmen Etablissement mit dem freundlichen Personal. Dann stand auf einmal sie vor ihm und lächelte ihn an. Sie hatte sich verändert und hier ihre Position eingenommen. Ihretwegen ließ er fortan alle seine Grundsätze fahren, er wurde ständiger Gast des Hauses. Es folgten beinahe tägliche Spaziergänge im Jardin du Luxembourg, dann regelmäßiges frühabendliches Speisen bei ihrem nordafrikanischen Landsmann, der in seiner Spelunke in der Rue Banquier in einem behaglichen und zwar reduziert, aber angenehm eingedeckten Nebenzimmer für diejenigen servierte, die sich für die immer wohlmundenden vier oder fünf Gänge ein paar Francs mehr leisten konnten, jeweils bevor sie ihrer Tätigkeit an der Place de la Bastille nachging. Immer öfter kam sie danach zu ihm hinauf unters Dach und unter die Decke. Zusehends enger wurde es in der kleinen Behausung, die dem unauffälligen, weil hellhäutigen Sans Papier für nicht wenig Geld untervermietet worden war, nicht nur der Koffer und Taschen wegen, die sie nach und nach mitbrachte.
Nun sitzt er am Tisch wie der Rest eines zerrütteten Denkers. Die Tür des Badezimmers öffnet sich. Aus der Perspektive des diffusen Sonntagswinterlichts im Flur strahlen die fünfmal sechzig Watt des Badezimmers sie von hinten aus, als ob’s in einem dieser schrecklichen Fünfziger-Jahre-Filme aus Hollywood stattfände. Aber das ist eben nicht Doris Day oder Ava Gardner und sonst eine dieser Vorläuferinnen der Barbie-Puppen. Das ist eine olivfarbene Statue, bekleidet von seinem weißen Frottéebademantel, den sie einmal um sich herumwickeln könnte, der jedoch lose und offen an ihr herabhängt. Er möchte Elfenbein riechen. Aber der Geruch von Meeresschaum dringt in ihn ein. Gäbe es nicht eine Vergangenheit zwischen dieser Skulptur und ihm, sie begänne wohl in diesem Augenblick. Es ist jedoch bei weitem nicht nur der zum Duft mutierende Geruch, der ihm den Atem nehmen will. Es ist die Zukunft, die ihm die Luft abschnürt. Dieses Morgen, das ihm sein Standbild verwackelt. Die Angst rüttelt in seinem Kopf. Doch das Leben ist bereits anwesend. Es ist in sie gefahren.
Er würde nun wohl weiterziehen müssen.
1Beur werden in Frankreich geborene Menschen genannt bzw. nennen sich häufig selbst so, deren Eltern aus Nordfrika abstammen.
Brief aus der Ferne
Ich muß Dir erzählen, mich und Dich erinnern, mein Lieber, mein Liebster. Sprechen kann ich das nicht, die Zurufe über die See oder den Äther sind zu flüchtig, sie lassen das Wesentliche verschwinden, ich muß es schreiben: von Deiner, von unserer Freundin. Ich muß es Dir erzählen, weil Du es bestimmt längst vergessen hast, weil wir so lange nicht dort waren, ich soweit weg von zuhause bin, anderen zu Diensten, heimatlos – in der Heimat von Boubou.
Zunächst waret ihr gar keine Freunde. Weil sie immer so laut gesungen hat, aus ihrem »Schreikochloch« heraus, wie Du es einmal unübersetzbar genannt hattest, das kleine Bistrot, nein, diese winzige, toilettenkleine Küche, aus der heraus sie fast die gesamte place de Lenche heraus bekocht hat, zumindest alle, die cuisine créole wünschten, »nie besonders«, wie Du es damals nanntest, »aber immer laut und preiswert«, nicht täglich, jedoch immer, wenn sie gut gelaunt war und den Chef nicht vermißte, wie sie es nannte, weil er nicht so gerne arbeitete, was dann zu hören war. Sehr böse warest Du auf sie, vor allem deshalb, weil sie sehr gerne Léo Ferré gesungen hat. Verbieten wolltest Du ihr das. Angefüllt mit Wut bist Du einmal zu ihr an ihr Fenster gegangen, aus dem ihre kreolischen Schwaden des Essens abzogen, und hast dort hineingebrüllt, sie solle ihren defekten Lautsprecher abstellen. In den diplomatischen Dienst mußte ich eintreten damals, als sie wieder einmal Deinen Gott zu laut, sie ihn karibisch übersungen hatte.
Da mußte ich ihr Deine Erinnerungen und Deine gewiß etwas eigenwillige Philosophie zur Musik von Ferré erläutern. Daß Du in das Hôtel kamest in La Rochelle, als Du den Fernseher eingeschaltet hattest – wie Du es immer tust, wenn Du hineinkommst in ein Zimmer in der Fremde –, an der Fête Nationale 1993, und Du entsetzt warst von seinem Tod und Du dann eine ganze Nacht nur alte Sendungen gesehen hast mit Léo Ferré, und daß alle Zeitungskioske überall in Marseille und Paris gefüllt waren von oben bis unten und um alles herum mit Titelseiten über seinem Tod. Wahrscheinlich wirst Du auch dieses Jahr wie immer alles Feuerwerk ignorieren, eine ganze Nacht vor dem Fernsehgerät sitzen, weil es nur ein Feuerwerk gibt für Dich, das da still heißt: avec le temps.
Von dieser Zeit an hat sie immer erst aus dem Fenster hinausgesehen, ob Du irgendwo sitzt. Bevor sie ihn gespielt und dann mitgesungen hat. Wenn Du anwesend warst, hat sie sich den Mund vernäht mit Nadeln des Voodoo. Das hat sie mir einmal gesagt. Sie wollte nicht Ärger haben mit Dir. Und mit Ferré. Denn sie würde beide lieben, oui, das hat sie mir gesagt. Und die Götter solle man nicht erzürnen, meinte sie. Ein wenig haben ihre Mundwinkel und ihre Augen dabei gezuckt.
Da seid ihr Freunde geworden. Gefreut hast Du Dich, sie zu sehen, wohl, weil nicht zu hören. Applaudiert hast Du Madame Boubou, wenn sie über die place de Lenche hineintanzte zu ihrer kleinen Küche, farbenfroh gekleidet, als ob sie nicht zur Arbeit, sondern zu einer afrikanischen Hochzeit, einer ihres Landes, wie sie gerne betonte, ging, ihren Postérieur rhythmisch schwenkend, von dem Du einmal sagtest, sie habe ein Hinterteil, das nach hinten hinaus dauerhaft mit Drillingen schwanger ginge.
Sie fragt oft nach Dir! Vielleicht nicht nach Gott. Ich passe mich Dir an: Ich übertreibe ein wenig. Viel. Jedoch sie liebt Dich. Sie tut es anders als ich. Deinetwegen hat sie sogar begonnen, ein wenig die deutsche Sprache zu lernen, in die man Dich bereits in jungen Jahren hineinkulturalisiert hat und in die Du deshalb so oft verfielst, und weil für Boubou in so kleinen Wörtern häufig so große Worte steckten, die sie zumindest im Ansatz verstehen wollte. Tatsächlich war Ferré der Auslöser. Einen langen Vortrag hattest Du, nicht selten bei Dir, wenn man Dich einfache Dinge fragt, ihr gehalten über seine Interpretation der Coriolan-Ouverture, weil sie Dich gefragt hatte nach der Bedeutung der deutschen Worte, die Ferré am Dirigentenpult zum Schluß fast lauter noch sänge, als sie das könne. Mit Milan Kundera1 hast Du es ihr erklärt.
Beethoven war Gläubiger eines Mannes, so Deine musiktheoretisch-biographische Introduction über diesen damals noch nicht französisch, sondern tchechisch schreibenden Romancier. Dieser schuldete ihm, ich erinnere mich jetzt nicht mehr, wie viele, jedoch einige Gulden. Beethoven forderte sein Geld zurück. Der Schuldner stöhnte: Muß es sein? Beethoven antwortete: Es muß sein! Daraus komponierte er ein kleines Stück, das später zur Grundlage seines letzten Quartetts wurde. Und Kundera kommentierte es dahin, indem er schreibt, diese Worte hätten immer mehr einen solchen feierlichen Ton angenommen, als hätte das Schicksal persönlich sie ausgesprochen. Von Kundera kamest Du dann auf Kant, das erzählte Boubou mir noch vor ein paar Wochen, sie habe das mit Hilfe eines deutschen Lehrers, der seine verfrühte Rente auf der hiesigen, für ihn eigentlich viel zu teuren Insel extra nachgelesen und leicht entrüstet festgestellt, daß es bei Kundera stehe und der es von Kant habe. Ich habe dann moderiert und ihr erklärt, wir hätten letzten Endes doch alles irgendwie von anderen, da käme man schließlich manchmal ein wenig durcheinander. Um die Sprache der Metaphysik ging es in diesem Zusammenhang, und mit Kant habe sie nicht eben die leichteste Lecture zum Erlernen der deutschen Sprache ausgewählt. Zu erklären hatte ich ihr dann noch, Du und ich seien uns quasi an einer deutschen Universität in einem Seminar über Philosophie nähergekommen.
In Kants Sprache könne sogar ein einfaches Guten Tag zu einer metaphysischen These werden, hattest Du Boubou versucht aufzuklären. Er sei Deutscher gewesen, und die deutsche Sprache sei die der schwierigen Wörter. Und Du seiest darauf gekommen, weil Ferré auch darüber lacht und sich lustig macht. Kundera gehe einen Schritt weiter in seiner Auslegung. Er beziehe sich auf Permenides, der für einen Übergang vom Negativen ins Positive garantiert hätte, der Schweres in ein Leichtes umgewandelt hätte. Und Kundera schließe mit der Erkenntnis, daß nach Permenides am Anfang eine große metaphysische Weisheit gestanden hätte, aber am Ende eines vollendeten Werkes ein federleichter Scherz.
Ah ! Lieber, ferner Liebster. Wir haben einige Male darüber gesprochen, über diese Ironie darin. Du hast es vergessen. Gut erinnere ich mich, daß es einmal mit Boubou war, die damals diesen Donner hat gegeben. Mit ihrer Stimme. Du wütend geworden warest. Du warst ganz Beethoven. Aber danach hatte Boubou dann ihre Lippen zusammengehalten und Dir Marseille2 von Ferré aufgelegt. Für Deine Mélancolie, für Deine Ruhe, hat sie gesagt. Du hast dann selbst gelacht. Bei Boubou eben. Oft sie hat ihn gespielt. Und wieder mitgesungen. Laut. Sie hat bei La violence et l'ennui das Maschinengewehr imitiert und schrecklich laut les anarchistes gerufen, viel lauter als Ferré. Da hatte sie ihr Versprechen wieder vergessen. Lange Gespräche wieder. Zu Bergson sind wir gekommen: Wenn die Töne der Musik stärker auf uns wirken als die Natur, dann kommt es daher, daß die Natur es dabei bewenden läßt, Gefühl auszudrücken, doch die Musik sie uns suggeriert ...3
Boubou ist damals wieder nachhause zurückgekehrt, nachdem das Bistrot geschlossen worden war. Sie habe Marseille geliebt, erzählte sie mir kürzlich noch. Aber ohne Arbeit gehe es ihr in ihrer Heimat dann doch besser, selbst bei so extrem schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen, wie sie seit einiger Zeit hier herrschten. Und ich sei ihr schließlich auch gefolgt. Daß ich nach Martinique gegangen war, weil ich zuhause keine Arbeit mehr hatte, in Martinique aber wohl, das wollte ich hier dann nicht sagen. Denn sie war meine einzige Freundin aus der Heimat.
Ja: war. Deshalb schreibe ich das. Gestern haben wir sie in ihrem Dorf bei La Trinité begraben. Bis heute weiß ich nicht, wie alt sie war. Aber jung war sie immer.
Das ist zugestandenermaßen ab- und auch ein bißchen umgeschrieben aus: Die bunte Blume.
Anmerkungen
1Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth (Originaltitel: Nesnesitelná lehkost Bytí), München 1984; französisch: L’insoutenable légerté de l’être, Paris 1984, aus dem Tschechischen übersetzt von François Kérel; vom Autor überarbeitete Fassung, mit einem Nachwort von François Ricard, Gallimard 1989
2Léo Ferré sang 1972 im Palais des Congrès in Marseille:
»O Marseille, man könnte meinen, das Meer habe geweint.«
« O Marseille on dirait que la mer a pleuré
Test mots qui dans la rue se prenaient par la taille
Et qui n’ont plus la même ardeur à se percher
Aux lèvres de tes gens que la tristesse empaille. »
(La violence et l’ennui, La mémoire de la mer, Monaco 2000)
3Henri Bergson: Zeit und Freiheit; Essais sur les données immédiates de la consience, Presses Universitaires de France, Paris 1920 (1888)
Bildmaterialien: Fra Angelico: Noli me tangere, ca. 1450, Fresco, 166 x 125 cm. Museo di San Marco, Florenz, Italien
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2016
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