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Kaltblüter

Wie kam er nur hierher, in diese grabenähnliche Wüstenei? Schlaftrunken versuchte er, sich zu erinnern. Hatte man ihn dort hineingeworfen? War er als Abfallprodukt der Gesellschaft weggekippt worden? Sans papier gleich Müll?

Er spürte, daß ihm nicht nur kalt war, sondern ihn auch die Glieder schmerzten. Mühsam setzte er sich auf und schaute nach rechts und links. Lediglich am Rand dieser modernden Erdbrache war von Tau überzogenes Gras zu sehen. Er hatte keinerlei Ahnung, wo er sich befinden könnte. Einen Bachlauf sah er dann und daneben ein paar tote Bäume, etwas verrottendes Laub und ein alter verrosteter Pflug oder irgendein anderes bäuerliches Gerät geriet dann in den Vordergrund des Blickfeldes. So gut es ging mit den kältesteifen Gliedern drehte er sich nach hinten um. Ein paar Meter weiter stand ein Haus, vermutlich aus Holz, so etwas ähnliches wie eine Jagdhütte. Wieder in der Ausgangslage zurück, versuchte er zunächst auf die Knie zu kommen.

Als er nach ein paar angedeuteten Kniebeugen seine eins siebzig in eine aufrechte Position bekommen hatte, sah er zur Rechten die aufgehende Sonne. Sie würde ihm hoffentlich ein wenig Wärme geben. Aus dem Erdloch gestiegen ging er auf dem Feldweg ein paar Schritte. Er bemühte sich, sich zu erinnern. Noch immer hatte er keine genaue Vorstellung davon, wie er in diese Situation gekommen war. Als er seinen schwarzen ledernen, im Lauf der Jahre der Wanderschaft recht verschlissenen Rucksack im Graben liegen sah, war ihm klar, daß er wohl kaum überfallen worden sein konnte, denn Räuber hätten ihm den kaum gelassen. Doch als er ihn geöffnet und darin nach seinen Ausweispapieren gesucht hatte, war er sich nicht mehr sicher. Denn er fand sie nicht, wohin er auch griff zwischen Hemden, Unterhosen und einem Paar Espadrilles.

Automatisch tastete er die rechte Gesäßtasche seiner leicht feuchten Jeans ab. Dort bewahrte er grundsätzlich sein Papiergeld auf. Portemonnaies waren ihm unangenehm. Von seiner Kindheit angefangen hatten ihm vor allem weibliche Personen immer wieder Geldbörsen geschenkt. Nie hatte er sie benutzt. Die Scheine gehörten hinten an die rechte Backe, für das Kleingeld war Platz im vorgesehenen Münztäschchen. Und wann auch immer er zu früheren Zeiten aus gesellschaftlich erforderlichen Gründen eine Flanellhose trug, so griff er garantiert in ein Loch, das die Münzen meist nach kurzer Zeit hineingebohrt hatten.

Das Papiergeld war vorhanden. Er spürte es bereits, indem er von außen an die Tasche faßte, es war eine nahezu mechanische, prüfende Bewegung. Dann griff er hinein. Nichts schien zu fehlen. Zwar wußte er nie, wieviel Geld genau er besaß, doch die knapp fünfhundert Euro kamen wohl hin. Näherte sich der Betrag unter die Grenze von zweihundert, fühlte er sich nicht gewappnet für den Alltag, und so holte er frisches Geld, immer fünfhundert Euro, früher waren es tausend Mark oder zweitausend Francs. Soviel eben, wie die Geldautomaten pro Tag herausgaben. Auch die hundertachtzig Schekel waren noch da. Sie waren zwar so gut wie nichts mehr wert, doch die hatte ihm mal sein Vater gegeben, kurz vor dessen Tod. Mit ihnen habe man nach der Landung in Israel ausreichend Geld, meinte der damals, um ein Taxi und etwas zu essen zu bezahlen. Die Scheine hielten die Erinnerung an seinen guten Alten wach. Sie sollten ihm alle Zeit Glück bringen.

Glück. Erinnerung. Er kam ins Grübeln. Das Geld war da. Nur die Papiere und die Erinnerung waren weg. Was war nur geschehen? Nochmals grub er einem Archäologen gleich geradezu forschend in seinem Rucksack. Wiederum ohne Erfolg. Als er aufschaute, sah er zunächst ein paar schlicht geformte schwarze Schuhe und, nachdem er den Kopf etwas angehoben hatte, darüber dunkelblaue Hosenbeine. Sein Blick ging weiter nach oben, und der kam an einer ebenso gefärbten Jacke an, die unschwer als zu einer Uniform gehörend zu erkennen war. Noch weiter nach oben schauend, kam er bei einem zwar freundlichen, aber dennoch skeptisch dreinschauenden Gesicht an, das zu einem etwa Mittvierziger gehörte. Der fragte ihn, was er hier mache so früh am Morgen, ob er Kaltblüter sei, der versuche, sein Blut in Fluß zu bringen. Nein, das stocke bereits seit langem, da sei nichts mehr in Bewegung zu bringen, auf der Suche nach seiner Identität sei er. Nach dieser wollte er ihn gerade fragen, entgegnete der Uniformierte.

Da zog er die Decke über die Schulter, drehte sich auf die vernachlässigte andere Einschlafseite und schlief sofort wieder hinein in die andere Wirklichkeit.

Feuriger Schutz

Er hatte sich während des Urlaubs im Massif central beim jährlich stattfindenden Feuerwehrfest von Châteauneuf-de-Randon in ein zauberhaftes tiefschwarz- und kurzhaariges Mädchen mit olivenfarbener Haut vernarrt und konnte nicht umhin, es ständig anzustarren. Zu mehr war er nicht fähig in seiner jugendlichen Schüchternheit. Doch es reichte aus, um einen an Jahren nicht minder frischen apprenti pompier, einen Feuerwehrlehrling, in Wallung zu bringen. Er kam von der Statur her zwar ohnehin einem Löschfahrzeug nahe, aber er brachte vorsichtshalber noch drei weitere Brandbekämpfer ähnlicher Außenmaße mit, um dem Hänf- und Fremdling deutlich zu machen, die hiesigen Hasen seien ausschließlich dem Niederadel der Gemarkung vorbehalten. Obwohl er in seiner Angst keinen Laut der Widerrede hervorbrachte, stand trotzdem oder vielleicht deshalb bald die komplette dörfliche Jungfeuerwehr im Halbkreis um ihn herum und begann, Wehrfäuste zu ballen. Derart rückengestärkt forderte der Wortführer ihn auf, nach draußen zu gehen, auf daß er für seine Wilderei körperlich belangt werde. Jungmannhaft und ohnehin ohne Fluchtmöglichkeit ging er seinem Schicksal entgegen, hinaus vor die caserne des pompiers, in der solche Volksbelustigungen stattfanden. Zu den ihm nachfolgenden Brandkämpfern gesellte sich der gesamte örtliche Feuerwehrkörper inclusive dessen Marketenderinnen, um der kommenden Abreibung zu applaudieren, die der Frevler verdientermaßen erhalten solle.

So stand er alleine vor dem Gebäude, vor sich nicht nur die Ortsfeuerwehr samt Anhang, sondern auch die Pompiers der Nachbargemeinden hatten sich hinzugesellt. Als er sich bereits im Jenseits wähnte, kamen aus aus irgendwelchen Winkeln mit einem Mal fünf, vielleicht sechs dunkelhaarige Männer von zwar kleiner, aber doch recht drahtiger Statur hervor und stellten sich im Halbkreis vor ihn hin. Er hörte, wie einer, der an Jahren sein oder der feurigen Kämpfer Vater sein könnte, ihnen in einem Patois der Margeride bedeutete: Dieser Junge hat euch nichts getan. Er steht unter unserem Schutz. Wir stehen vor ihm! Tenez-vous-le pour dit ! Lassen Sie sich das gesagt sein! Dabei blitzten nicht nur seine Augen, sondern auch ein Stilett in der Hand eines seitlich hinter ihm stehenden Mitschützers. Diese unverklausulierte Warnung löste das Bataillon auf. Das war es dann doch nicht, was man auf einem Feuerwehrball erleben wollte.

So kam er zwar nicht mehr in die Nähe dieses elfengleichen Wesens, aber mit heiler Haut davon. Und er geriet nach ein paar Minuten Fußmarsch inmitten seiner Retter in einen am Ortsrand stehenden hölzernen Wohnwagen und darin zu einer enormen Portion geradezu unglaublich wohlschmeckender gefüllter Paprika, die die Frauen der Beschützer in Holzfässern in riesigen Mengen einlegten, vermutlich auf daß in Obhut Genommene restauriert werden können. Ja, er blieb drei Tage, um seine nicht zustandegekommenen Wunden lecken zu lassen. Er aß und trank und hörte, bei seinen Gastgebern und deren temporären Nachbarn, allesamt von weither kommend auf dem alljährlichen Weg in die Camarque, zuvor nie gehörte unglaublich schöne Musik aus Cimbal und Gitarre und Violine und das Leben besingende Stimmen und lachte, wie er sein junges Leben lang noch nie gelacht hatte und nie wieder lachen würde. Und seither, seit nunmehr fünfzig Jahren lebt und denkt er in manchem ein wenig anders und raucht leidenschaftlich Gitanes (maïs).

Was in Deutschland mehrfach unkorrekt ist. Aber dort stellen sich Menschen, vor allem Politiker und sonstige Führungskräfte, im Fall einer Bedrohung oder eines bereits geschehenen Falls ja auch bevorzugt hinter die Bedrohten. Selbstverständlich nur sprachlich gesprochen.

Und werfe den letzten Stein ...

Sie kannten sich sich seit jener Phase der Jugend, in der junge Menschen sich aus dem Gefängnis der Erwachsenen zu befreien suchen, die meinen, den einmal aufgebrannten Stempel müsse man ein Leben lang sichtbar tragen. Die einen träumen davon ein Leben lang, andere verlassen das Elternhaus tatsächlich, kehren aber häufig wenigstens in die sogenannte Heimat zurück. Diese beiden Frauen aber hatten die Fesseln abgestreift, die oftmals ebenfalls an den gewohnten Ort zurückkehren, den Jacques Prévert auf dem Sklavenmarkt für sie gesucht, aber keine Ketten gefunden hat. Die eine, recht katholisch Aufgewachsene, hatte den Vater des gemeinsamen Kindes ein Jahr nach dessen Geburt gebeten, zu gehen; seine Liebe drohte sie zu erdrücken. Die andere aus einem jüdischem Elternhaus, von dessen Glauben sie erst zehn Jahre nach ihrer Flucht aus diesem erfuhr, bekam, trotz großer Sehnsucht danach, kein Kind, weil sie sich immer in Männer verliebte, die über das Alter hinaus waren oder meinten, es sei an der Zeit, wieder mehr für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Als die beiden jeweils ihr Diplôme du baccaluréat erhalten hatten, waren sie nach Paris abgereist, die eine aus der ländlich-bürgerlichen Idylle nahe Rouen, die andere aus einer nicht minder gemütlichen Ecke der Schweiz, auf der Seite des Röstigrabens, auf der sogar rein deutschsprachig Aufgewachsene lieber schlechtes Französisch sprechen und schreiben, weil sie der Meinung sind, das erhebe sie in den Adelsstand der Civilisation. Da beide nicht zu den aufopferungsvollsten Schülerinnen gehörten, mußten sie jeweils zwei Jahre länger als üblich in diesen Gefängnissen der Bildung verharren. Als sie sich während der Wohnungssuche zum erstenmal begegneten, waren sie zwanzig Jahre jung. Da beide keine Donationen ihrer Elternhäuser annahmen, waren ihre Mittel begrenzt. Also nahmen sie dort Quartier, wo sie sich kennengelernt hatten, in jenem Quartier, das bekannt und bei vielen berüchtigt dafür war, an nahezu jedem Haus eine rote Laterne hängen zu haben, die den Eingang zu dem wies, das für viele das eigentliche Paradies bedeutet. So lernten sie leben und leben lassen. Durch die Beschützer der Damen, in deren unmittelbarer Nachbarschaft sie wohnten, gingen sie im besonderen Maß wohlbehütet ein und aus, die eine manchmal zur romanischen Fakultät der Sorbonne, die andere in ein anderes universitäres Institut, um eine Ausbildung zur Bibliothekarin zu absolvieren. Zu dieser Zeit mußte noch niemand zum Schulklingeln antreten. Es hätte die später erfolgreichen Absolvenzen der beiden eher verhindert.

Die eine schwamm auf der Seine wieder zurück in die Nähe der idyllischen Heimat unweit des Ärmelkanals, letzten Endes dann doch ihr bonheur ici-bas Manche. Die andere umkreiste ein wenig die Welt, um später dann in Berlin in sie einzutauchen. Mindestens zweimal jährlich, gerne öfter besuchten sie einander, jedoch meist in westlicher Geographie, da es ein Mädchen gab, das zur Schule mußte. Eines Tages, gegen Ende des vergangenen Jahrtausends, etwa dreihundert Jahre nach Beginn der Reformation, beschlossen sie, miteinander Urlaub zu machen. Man habe sich das verdient nach über zwanzig Jahren fast geschwisterlicher Liebe. Das Kind würde in väterliche Ferienobhut gegeben werden. In völlig unbekanntes Gebiet sollte die gemeinsame Reise gehen. Einmal richtig aufs Land. Nicht dorthin, wo alle verstädterten Franzosen jährlich hinfahren, kein rituelles vie champêtre wie etwa in diesen Filmen von Eric Rohmer. Auf allen Komfort wollte man verzichten, die reine Natur erkunden, wie es ansonsten Franzosen niemals täten, weil sie lieber an der Civilisation zugrunde gehen. Die schönste Natur, darin waren sich die beiden über die meisten einig, sei ein leicht verwildertes Versailles. Aber etwas ohne Straßen und ordentliche Wege und am Ende gar ohne großen Tisch, an dem es eine gemütliche Gesellschaft den Abend bei mindestens sechs Gängen mit abschließendem Champagner gütlich tun kann, das sei Barberei, wie sie vielleicht von diesen Germanen noch oben im rechtsrheinischen Norden bevorzugt gelebt würde. Und genau das wollten die beiden jedoch nicht. Das ständige Rumgemeere interessierte sie auch nicht, ob Altantique oder Méditerranée. Sie wollten barbarische Natur. Man habe gehört, es solle das sogar auf ihrer Seite des zivilisierten Europas noch geben, am Rande des Massif Central. Dort solle es noch ursprünglich belassene Täler geben, wo man das Wasser noch trinken und sogar darin baden könne. Das wollten sie tun in einem der Zuflüsse des Tarn.

Sie trafen sich am Flughafen von Nîmes. Von dort aus fuhren sie gemeinsam mit einem Leihwagen nach Alès, aber nur, um sich in Ruhe nach einem beschaulichen Dörfchen weiter nördlich umzuschauen, von dem aus sie ihre Tagesausflüge unternehmen. würden. Knapp zwei Wochen waren sie bereits herumgefahren und -gewandert, hatten sich beinahe konsequent von dem ernährt, was solch eine beinahe urwaldliche Region bietet. Dann gerieten sie auf der Suche nach der Natur in ein noch abgelegeneres Tal, in dem man sich endgültig von der Civilisation gelöst fühlte. Sie legten ihre Rucksäcke und auch ihre Kleider ab, um im reinen, klaren Wasser des Baches zu baden. Nach etwa einer Stunde lautstarken Geplätschers prasselte ein Hagel voller Steine auf sie nieder. Die Frau aus der Nähe von Rouen wurde von einem etwa zwei Fäuste großen Brocken am Kopf getroffen. Erst nach etwa vier Stunden war es ihrer Mitbadenden gelungen, Hilfe zu holen und diese an den Ort der Steinigung zu bringen. An welchem Haus auch immer sie geklopft hatte, niemand schien anwesend. Bis sie schließlich erhört wurde. Der mitgeeilte Arzt konnte nur noch den Tod der Getroffenen feststellen; sie war verblutet. Es hatte zu lange gedauert.

Die Steinewerfer wurden, trotz intensiver, wochenlanger kriminalistischer Tätigkeit durch die ermittelnden Behörden, nie gefunden. Die Zurückgebliebene wurde später insofern außerörtlich aufgeklärt, als man ihr bedeutete, sie beide seien sozusagen in hoheitlich hugenottisches Gebiet eingedrungen und hätten sich mit der nackten Darbietung ihrer beider Körper nach der Eigengesetzlichkeit der einheimischen Bevölkerung vergangen. Der todesstrafliche Ausgang sei quasi ein Kollateralschaden gewesen. Es gäbe nunmal Kriege, die seien nie zuende.

Messie

Am besten gleich über Metz fahren, die alte Stadt, Karl den Frommen und Verlaine besuchen, meinem dort herumirrenden Muttergeist folgen dahin, wo's Geld gezählt wurde (rue de la Monnaie), immer dem Geruch nach, und dort zu faux mouvement (wo's nicht stinkt, da diese Kunst sich dem Geld verweigert), dann südlich über Nancy, wo's polnisch-französisch-höfig wird und's auch gut was zu kucken und zu essen gibt. Epinal, alles drumherum: zauberhaft!

 

Die Temperaturen im Geldzählersträßchen von Metz, der rue de la Monnaie, sind nicht dazu angetan, sanft im Erzählflüßchen zu paddeln. Nun gut, es sommert nicht eben, denn in der Wärme schaut sich's freundlicher auf das Gebälk aus dem vermutlich 17. Jahrhundert, das hier kein siebzehntes ist, da die letzten Eigentümer nicht nur ihr Geld anders gezählt haben, sondern auch die Zeit. Alte Überlegungen kommen dabei allerdings durchaus auf, vielleicht aber auch nur wegen der mittlerweile sogar vorgeburtlichen Erinnerungen, die sich mit dem Älterwerden einstellen. Ganz in der Nähe hatte eine engere Verwandte ihre lichte Wohnung. Damals sollte sie noch ausreichend Platz haben, sowohl in den weitläufigen Räumen als auch in ihrem Innenleben. Wir waren seinerzeit noch nicht auf den Plan getreten, der Erzeuger und das, was er anrichten sollte auf seine alten Tage.

Geld gezählt wird in der Nähe der nicht allzu schlichten damaligen Behausung heutzutage auch. Im nahen Luxuskaufrauschhaus Lafayette wärmt die christliche Hölle das Herz vor. Nicht ganz so weit weg an der Place d'Armes kann man seine Sünden dann wieder ablassen. Das funktioniert dort besser als im östlichen, seit einiger Zeit nicht mehr so fränkischen Reich, wird hier doch tatsächlich laizistisch abgerechnet. Metz, die alte Stadt von Karl dem Frommen und Paul Verlaine. Mess ausgesprochen, mit scharfem Doppel-s. Unsauber gedacht bin ich also ein Messie, weil ich dort gezeugt wurde. Ich sammle und horte Erinnerungsstücke, egal, ob sie was wert sind oder nicht.

À propos Wert: Die Finanzverlautbarungen erinnern mich an 1986. Damals hieß es, la catastrophe de Tchernobyl habe hier insofern keinen Niederschlag gefunden, als es gelungen sei, mitten auf dem Rhein einen Vorhang hoch in den Himmel zu ziehen, der die alles verheerende kommunistische Strahlenwolke bei den östlichen Nachbarn beließe. Bedenkenlos könne man der Freßlust frönen, alles wilde Getier und Gewächs, von der Bretagne, der Normandie über das Perigord bis exakt vor die spanische Grenze und zum Atlantik hin sei unbelastet und könne genossen werden, wie sich das nunmal gehört im Land, in dem Gott Franzose ist.

Auch nun ist nichts vorgefallen, das erwähnenswert wäre. Während der deutsche Zoll nicht nur hinter Forbach, sondern gerne auch in Richtung Luxembourg schleyerfahndet, was der in Habachtstellung schützende ehemalige Bundesgrenzschutz an Personal hergibt, mittlerweile obligatorisch immer ein paar französische Uniformen zu Gast, antworten die (allerdings nicht minder präsenten) Douanisten linksrheinisch freundlich lächelnd, es sei doch bekannt, wieviele böse Drogenkuriere unterwegs seien, die das Land vergiften wollten. Ob sie nun ein paar Krümel von dem Zeugs erschnüffeln oder andere Währungen, das läßt sich nur unter erschwerten Nachfragungen herausfinden. Bargeldliebhabern wie unsereins ist zur Zeit allerdings empfohlen, auf die Leidenschaft zu verzichten und sich dem landesüblichen Zahlungsmittel Plastik unterzuordnen. Wer tausend Euro aus der Gesäßtasche vorzeigt, hat sicherlich noch einiges mehr irgendwo versteckt, was den deutschstämmigen Haschischhund ganz kirre macht und ihn in der Kiste wild hin und herhüpfen läßt. Es kann dann dauern, bis er nichts erschnüffelt hat, was high machen könnte, krümelnd oder raschelnd.

Metz, Mess, Messie – eine nette Erinnerung am Rande noch: Fünf Jahre, nachdem sie in Deutschland die Mülltrennung eingeführt hatten, stand ein französischer Vorreiter des Umweltschutzes in Metz am vermutlich ersten Glascontainer Frankreichs und verlagerte den Inhalt seines komplett mit Flaschen gefüllten Kofferraums dort hinein. Wahrscheinlich hat er solange die Behältnisse seiner täglichen Weinration gehortet, bis er dort hingestellt würde, gestion de fin de vie gab's damals noch nicht, wie auch der deutsche euphemistische Begriff Entsorgung politikerseits noch nicht erfunden war. Eine halbe Stunde lang ging das, selbstverständlich und durchaus landesüblich bei laufendem Motor.

Jaja, der Wein. Da unten im Burgund gibt es ziemlich viel davon. Und sehr guten! Die Tage ist dort quasi Kursfixierung der zweiten Landeswährung, einhergehend mit einer berühmten Versteigerung in den Hospices de beaune. Man kann ein 200-Liter-Faß ersteigern, das dann drei Jahre in einheimischen Kellern gelagert und dessen Inhalt anschließend auf knapp 300 Flaschen gezogen wird, um dann dem rechtsmäßigen Eigentümer zugestellt zu werden. Was diese Premiers Crus oder Grand Crus kosten werden? Keine Ahnung. Aber immerhin wird es diesen Wein bereits geben. Im Gegensatz zum Bordeaux, für den einige bereits achtzig Euro und mehr hinlegen. Für noch ungeborenen Wein. Pro Flasche! Der Freund, selbst zwar kein Weinhändler, aber immerhin Hofbesitzer aus der Nachbarschaft zu Beaune und vermutlich deshalb irgendwie Ergatterer einer Einladung, meinte, das solle ich mir unbedingt antun. Was ordentliches zu essen und zu trinken gäb's auch. Ordentlich, das sollte vielleicht angemerkt werden, hat in dieser von Lucullus befruchteten Gegend eine andere Bedeutung als rechtsrheinisch.

 

Also, wenn man eine ganze Weile nichts hört von mir – möglicherweise liege ich in dem schönen Vierkanthof von Bourguignon des Freundes und schlafe im 18. Jahrhundert ein paar von diesen feinen, noch übriggebliebenen Grand Cru weg, mit denen ich vielleicht einen dieser Fasane ertränkt habe, die dort überall herumstolzieren. Jagdsaison! Und jeder Franzose ist irgendwie schließlich auch Jäger.

 

Heimathafen der Eygenots

Bretagne. Normandie. Massif Central: dort Auvergne, Cervennes, Lozère. Dordogne; Cyranos Gascogne. Wohin es einen Elsässer treibt, um sich letztgültig davon zu überzeugen, daß es ihm überall dort besser gefällt als in der Region, die ihm zu nahe an der Grenze zu dem Land gelegen ist, das ihn letztendlich (ver)kulturalisiert hat. Auch am Atlantik ist schon mal länger Station zu machen auf der immerwährenden Suche nach einer eventuellen neuen Heimat. Eine Reise über Troyes, Auxerre, Orleans, Tours, Angers, Nantes. Immer die unglaubliche Loire entlang. Adolphe Desbarolles, Maler und Reiseschriftsteller des mittleren neunzehnten Jahrhunderts, hatte sicherlich recht, als er festhielt:

 

»Die Ufer des Rheins sind ohne jeden Zweifel schön. Aber ohne die romanischen, gotischen oder mittelalterlichen Städte fehlt ihnen eben etwas. Die Ufer der Loire und der Seine tragen ihre Fluten auf majestätische und authentische Weise zum Meer, während ihr sich Rivale dort wirr im Sand verirrt oder verliert, wo er nützlich und seine Schiffe zur Mündung tragen könnte. Darin ist er ein treues Emblem des deutschen Volkes – das seine Stimme erhebt und donnert und sich majestätisch gibt, aber am Ende seiner langen Sätze und Perioden nie zu einem konkreten Gedanken kommt.«1

 

Nun denn. Authentisch ja, aber majestätisch doch eher weniger; daran ändern auch nichts die vielen hochadeligen Prachtarchitekturen. Und authentisch ist wohl ein eher unpoetischer Begriff für einen solchen langen, sprachlich eher in den Süden, in die okzidentale Langue d'oc passenden Minnesang, der seinen lebenspendenden Saft bei Saint Nazaire in den Atlantik ergießt. Authentisch im Sinne des Zeitgenössischen ist die Loire vielleicht, wenn man die Rennstrecke N 252 nimmt. Aber auf der linken Seite entlangrollend läßt sich die sanfte Wasserwalze immer mit den Augen besingen (wenn auch zwischendrin aus dem Gesang kurz ein Aufjaulen wird, etwa bei der Zwangsumfahrung des Atomkraftwerkes, das sich aus der Loire seine Kühlung holt). Fast bis nach Nantes kann man die kleinen, schmalen Straßen entlang der in die Felsen geschlagenen Weinkeller fahren.

Ab Saumur sah man auf ihnen früher fast nur noch englische Autokennzeichen auf Rover und Jaguar, der Mittelstand der Insel scheint geradezu trotzig darauf beharren zu wollen: das ist unser Land; die Niederlage gegen Jeanne d'Arc empfinden wir als einen kleinen Ausrutscher. Sie sind etwas weniger geworden, das Geld, vielleicht auch die Gedanken an die Geschichte scheint nicht mehr so flüssig wie der Fluß. Doch auf die historisch fundierte Liebe der Briten zu diesem Landstrich muß der heimatsuchende Reisende ohnehin nicht eingehen. Es reicht ihm aus der Gedanke, daß sie in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts in dieser Gegend von der geharnischten Jungfrau mal fürchterlich verprügelt wurden; andererseits ihm die daraus zwangsläufig entstehende Verbindung zu den Frontisten der Familie Le Pen unangenehm aufstößt, die diese Geschehnisse für sich reklamiert. Warum also sollten die ehemaligen Besatzer nach so langer Zeit nicht wieder mal ein bißchen was von dieser unendlichen Rebenlandschaft haben? Zumal sie seit dem achtzehnten Jahrhundert keinen eigenen Wein mehr auf ihrer Insel haben beziehungsweise gerade mittels menschlicher Erderwärmungshilfe mühsam wieder damit anfangen müssen. Und halb Frankreich gehört ihnen nunmal nicht mehr. Lassen wir sie eben nostalgisch, die Erinnerung verklärend dahinrollen.

In Nantes sieht man dann ohnehin wieder überwiegend Franzosen. Wo man auch hinschaut. Überall ist alles durch und durch französisch. Maritimfranzösisch. Überall kribbelt es. Das nahe Meer bemächtigt sich der Grundstimmung. Sie wird zum Gefühl. Dieses Herumsitzen. Nichts anderes möchte man mehr tun. Jedenfalls im Sommer. Und schließlich tut man es, bei sehr viel tieferem und ruhigerem Atem als zuvor. Und rollt schließlich weiter, je nachdem, wohin man möchte.

Bei Bouaye bereits flirrt das Licht so seltsam. Wüßte man es nicht, es wäre eine Ahnung – la mer. Dann auf den Michelin die N 758 entlangschlurfen, und nach etwa sechzig Kilometern hat man es endlich erreicht, eines dieser vielen Denkmale französisch technophiler Gigantomanie – Brücken, die in den letzten drei Jahrzehnten errichtet wurden. Von Fromentine aus gelangt man zur Île de Noirmoutier – péage selbstverständlich oder auch natürlich, man muß bezahlen, da derlei Zufahrten, ebenso wie die Autoroutes, die Autobahnen, privat finanziert sind. Auf der östlichen Rheinseite denkt man seit längerem ebenfalls heftig über über das französische Vorbild solcher Straßen- oder Brückengebühren nach. Mit dem in den achtziger Jahren eingeführten rond-point, dem Verkehrkreisel, hat es schließlich auch funktioniert, bis hin zum, teilweise komischen, Übermaß.

Rund hundertfünfzig Kilometer weiter südlich der Brücke zur Île de Noirmoutier habe ich anfangs der neunziger Jahre mal eine gute Stunde versucht, den Hafen wiederzufinden, von dem aus die Schiffe zur Île de Ré fahren. Ich wollte dorthin, wo ich mich etwa zwanzig Jahre zuvor trotz der übermäßig vielen deutschen Urlauber durchaus wohlgefühlt habe; es mag daran gelegen haben, daß diese Ferienreisenden sich tatsächlich für diese Insel, für deren Kultur interessiert haben, die bisweilen tatsächlich eine Atmosphäre von outre-mer vermittelt, den französischen Inseln in Übersee, zu denen man als Franzose per Inlandsflug gelangt, etwa La Réunion im indischen Ozean oder dem karibischen Martinique, da sie der Europäischen Union angegliedert sind. Aber wen auch immer ich in der uralten Protestantenstadt La Rochelle gefragt hatte – niemand wußte mir den Weg dorthin zu nennen. Oftmals war die Reaktion sogar ein Kopfschütteln, das besagte, ich müsse nicht von dieser Welt sein. Ich war jedoch mindestens zehnmal mit dieser Fähre zur Insel und wieder zurück gefahren. Doch ich hatte wohl nicht bedacht, daß es wahrlich bereits eine Weile her war. Also suchte ich mir einen an Jahren etwas fortgeschritteneren Menschen. Und vielleicht auch noch jemanden, der über einige Ortskenntnisse verfügen mußte. Der Taxifahrer lachte beinahe lauthals und meinte, ich sei wohl lange nicht hier gewesen. Er hatte recht. In der Zwischenzeit hatten sie die bis zu diesem Zeitpunkt längste Brücke des Landes gebaut. Knapp vier Kilometer schlängelt sie sich hinüber vom festlndischen Pont Viaduc bis nach La Palice auf der Insel.

Erik Orsenna schrieb über seinen (bretonischen) Inselsommer: »Die Einheimischen waren stolz auf die Entlegenheit ihrer Insel und machten sich über die falschen lustig, die, wie Noirmoutier, bei Ebbe durch eine Straße mit dem Festland verbunden waren, oder, noch schlimmer, durch die unendliche Vulgarität einer Brücke, selbst einer künftigen (arme Insel Ré).«

Während meines damaligen Besuchs, etwa 1970, war die arme Insel Ré mal ausnahmsweise nicht von Engländern, dafür aber von Deutschen besetzt. Es handelte sich dabei zwar nicht um späte Ausläufer des zweiten Weltkrieges, doch in der Landnahme müssen die Deutschen wohl ihre Kriegserfahrungen zuhilfe genommen haben. Glücklicherweise verloren sich die Blechmassen im Inneren ein wenig, da die Insel doch recht groß ist. Doch zwanzig Jahre später habe ich verschwindend wenige deutsche Autokennzeichen gesehen. Die in dieser Gegend besonders kriegsgeübten Franzosen hatten ihre Insel zurückerobert. Ein paar Unentwegte, denen es dort immer noch gefiel, waren übriggeblieben. Sie scheuten auch die doch nicht ganz unerhebliche Brückenbenutzungsgebühr von hundertzwanzig Francs nicht (für die Jüngeren oder Vergeßlichen: damals etwa sechsunddreißig Mark oder heute achtzehn Euro). Der Deutsche benötigt schließlich auf einer Insel ein Auto. Der Bus fuhr einen von der Grosse Horloge am Alten Hafen von La Rochelle für fünfunddreißig Francs bis ans Ende der dreißig Kilometer langen Insel, nach Ars-en-Ré oder nach Saint Clément. Für rund zwanzig Francs kam man bis nach Saint Martin-de-Ré mit der imposanten, von Sébastien de Vauban Ende des siebzehnten Jahrhunderts erbauten Festung. Nicht nur Mirabeau hatte hier sozusagen eine feste Burg, sondern auch Dreyfus durfte darin auf seine Deportation warten. Und die vielen deutschen Urlauber der sechziger bis in die siebziger Jahre hatten hier wohl Opas Vergangenheit besucht, der als Gefangener des ersten Weltkrieges in diesem Gefängnis schmachtete. Er bekam vermutlich eine andere Suppe als die schräg gegenüber im Zentrum des Hauptstädtchens Saint Martin angebotene. In dieser soupe au poisson des kleinen Hotel-Restaurants möchte ich am liebsten heute noch schwimmen.

 

Besonders gerne waren die Engländer die Insel und die dahinterliegende Stadt angeschwommen. Sie nahmen 1154 La Rochelle in Schutzhaft. Die Hafenstädter hatten diese frühmafiotischen Methoden in Kauf genommen, um ihren Wohlstand nicht zu gefährden. Siebzig Jahre später ruderten die Engländer wegen des Drucks des siebten Ludwigs von Frankreich wieder auf ihre eigene, größere Insel zurück. Um zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts wiederzukommen. Es ist spürbar. Das Protestantische, das als das Hugenottische allerdings auch in Frankreich mal ein Schwergewicht war, jedoch (hauptsächlich) niedergemetzelt in der berühmten Pariser Bartholomäusnacht zum 24. August 1572, angezettelt von der Italienerin Caterine de Medici, der Mutter des französischen Königs Karl dem Vierten und als an ordentliches Essen gewöhnte Florentinerin Begründerin von Paul Bocuse' nouvelle cuisine, die ihren konvertierten Sohn wieder unter die Fittiche des Katholizismus zurückholen wollte. Rund 200.000 Hugenotten flohen daraufhin in alle Himmelsrichtungen. Die meisten französischen Elemente in der deutschen Sprache entstammen den Folgen dieses Pogroms. Das Protestantische hat deutlich seine Spuren hinterlassen in den überall sichtbaren achthundert und mehr Jahren aller Arten von Bauwerken von La Rochelle.

Daß diese geballte Architekturgeschichte noch heute zu sehen ist, obwohl vor noch nicht allzu langer Zeit die Deutschen auch hier ihre Neuformierung der Welt probten, ist zwei kunstsinnigen Hauptabteilungsleitern der beiden sich gegenüberstehenden Armeen zu verdanken. Der Gründer und Besitzer des kleinen Gestapo-Museums hat es mir im Keller seines Hauses erzählt. Er hat es selbst eingerichtet, und er wollte es nicht versäumt haben zu zeigen, was auch hier am Atlantik des Größten Feldherrns aller Zeiten Geheime Staatspolizei trieb. Auch beim Erhalt der, nun ja, tatsächlich archtektonisch-historisch ungemein reizvollen Stadt – der allerdings durch einen mittlerweile unerträglichen touristischen Massenandrang vollends der Rest gegeben wird – sollte Sprache beziehungsweise Verständnis einmal mehr eine wesentliche Rolle spielen. Der französische Kommandeur war Alsacien. Und als Elsässer etwas zurückliegender Generationen sprach man zwangsweise Deutsch. Da also die beiden nicht nur Deutsch sprachen, sondern sich auch noch über einen kulturerhaltenden Dialekt verständigten, hieß es: Kein deutscher Häuserverteidigungskampf gegen die Alliierten. Royan wird freigegeben für die Kriegssüchtigen. Royan darf erschossen werden (so sollte es dann auch aussehen), La Rochelle dafür am Leben bleiben. Nur der U-Boot-Bunker wird gesprengt (davon lebte lange Zeit das deutsche Kino US-amerikanisch-retrospektivischer Prägung: Das Boot. Ach, wenn die beiden Generäle das gewußt hätten ...

So dürfen sich also Myriaden von Touristen durch die historische Einkaufsmeile der wohl bereits im zehnten Jahrhundert gegründeten Stadt drängeln. Es ist mittlerweile so eine Art französisches Rothenburg ob der Tauber geworden. Und die schwimmen dann in Böötchen unter anderem auch in Massen hinüber zum Fort Boyard. Diese Festungsinsel, auf der die vermutlich dämlichste Serie ewig lange dauergedreht wurde, die das, ohnehin extrem zum Kitsch neigende, sich dabei dem italienischen verwandten französische Fernsehen wohl je produziert hat. Und die sich selbstverständlich hervorragend ins Nachbarland verkaufen ließ. Die privaten Unterhalter führten sie lange Zeit wiederholt vor, und die lustigen Spieleranten setzen es fort, das Fort. Es ist in der Charakteristik eine Art Vorläufer von Big Brother. Womit nicht das Buch 1984 von George Orwell gemeint ist. In dieser Fernsehunterhaltung in historischer Kulisse spielen Teilnehmer ein bißchen Überlebenstraining nach Punkten. So etwas ähnliches wie mittelalterliches Handwerken bei fließend Warm- und Kaltwasser sowie Kanalisation.

 

Viel hätte nicht gefehlt und ich wäre tatsächlich beinahe dorthin gezogen. Nein, nicht aufs Fort Boyard, aber in die Hugenottenhochburg. Doch als ob ausgerechnet ich bei den Calvinisten Heimat finden könnte. Im alten, direkt am alten Hafen gelegenen Quartier Saint Nicolas hatte ich einen Weinkeller entdeckt, in den ich einziehen wollte. Doch als der, einhergehend mit der aus Paris eintreffenden dynamischen Jeunesse, zunächst geschlossen , um anschließend im Sinne von Style veredelt zu werden, da beschloß ich kurzerhand, mich dem katholischen Süden zuzuwenden.

 

Anmerkungen

1 Le Caractère allemand expliqué par la physiologie, Librairie Internationale, Boulevard Montmartre (A. Lacroix, Verboeckhoven & Ce, Éditeurs à Bruxelles, à Leipzig et à Livourne), Paris 1866

2 RN steht für Route Nationale, vergleichbar mit den deutschen Bundesstraßen; mit dem Kürzel N sind die Landstraßen bezeichnet.

Wo Rhône und Saône …

Lyon ist, zumindest auf der Insel zwischen Saône und Rhône, eine ungemein attraktive, eine fast schon atemberaubend schöne Stadt. Nirgendwo dürfte sich eine Stadtentwicklung besser an der Architektur ablesen lassen wie in diesem Tor zum Süden – nach dessen Durchfahrt, etwa hinter Vienne, wo die Zikaden ihren eintönigen, dennoch und wahrlich klangvollen Lärm rechts und links der Straße anheben, so daß man auch schon mal meint, ein Motor-, zumindest jedoch ein Antriebswellenschaden kündige sich an. Doch man gewöhnt sich rasch an die Musik des sich hier andeutenden mediterranen Klimas; alleine das Licht zeigt sich als solches: nämlich leuchtend, gleisend. Im heutigen Zentrum von Lyon, im zweiten Arrondissement, etwa zwischen der architektonisch berückenden, neben Paris zweiten französischen Nationaloper und und dem typisch französisch experimentell umbauten alten Gare de Perrache im Zentrum (für den TGV wurde der futuristisch anmutende Gare Saint Exupéry gebaut), wird sie vor der Kopulation von Saône und Rhône zur Presqu’île geteilt. Auf der stilleren, in Lyon jedoch bereits mehr als trägen Saône kann man, sozusagen je nach Geschmack, gegen den Strom, nach einer leichten Ost-Biegung, in Richtung Norden zur Edelherberge von Paul Bocuse nach Collonges-au-Mont-d’Or schwimmen – jedoch auch bereits vorher in einem der vielen, zwar unbesternten, aber deshalb weitaus angenehmeren und nichtsdestoweniger guten Landrestaurants anhalten.

Dort zum Beispiel, wo ich meinte, in eine Filmkulisse hineingeraten zu sein. Allerdings hatte es auch eine andere Charakteristik. Das war das Bürgertum der Villen, die sich von Lyon aus nordöstlich dreißig Kilometer am Fluß entlang hinter den fast haushohen Büschen und Bäumen, manchmal auch Mauern versteckt halten. Fünf Generationen waren es bestimmt, die einen ganzen Abend lang mit abschließendem Champagner getafelt hatten unter dem Schild, das in riesigen Lettern anpries, was unter Deutschen weitgehend mit Verachtung bestraft wird, wenn man es genußverheißend ausspricht.

Nicht, wenn man es französisch wiedergibt – cuisse de grenouille. Das verstehen sie nicht. Wird man von Deutschen aufgefordert, es endlich deutsch auszusprechen und tut es dann auch, trifft einen der Bannstrahl. Nach dem Wort Froschschenkel fällt ihnen fast das Besteck aus der Hand, mit dem sie gerade ihr Schlachtvieh bearbeiten, das mit Fabrikchampignontütensauce übergossen ist. Die Deutschen bauen den Myriaden von Fröschen Tunnels unter die überfüllten Straßen und Autobahnen oder schirmen dafür Leitplanken auf den Parkplatzen der Bundesstraßen ab, während sie von den Fleischfabriken im ganzen Land dezent den Blick abwenden, in denen zum tarifvertragsfreien Billiglohn ihr tägliches Kilo Billigfleisch zurechtgeschnipselt wird.

Oder man läßt sich auf der nach der Vereinigung hochschwangeren Rhône hinunter zu den Mittelmeerfischen treiben. Das einzig wirklich Häßliche an dieser mit 1,2 Millionen Einwohnern wohl zweitgrößten Stadt Frankreichs (man streitet sich allerdings seit langem mit dem etwas kleineren Marseille, welche Stadt nach Paris bedeutender sei) ist die Tatsache, daß man das am Rathaus, also an der Place des Terraux beginnende und am Berg klebende Weberviertel Croix-Rousse, dem ältesten, auf die Gallier beziehungsweise Römer zurückgehenden Quartier der Stadt, zum UNESCO-Weltkulturerbe ausgerufen hat. Wie die Aasgeier sind die Spekulanten daraufhin über die alten Häuser mit den fünf bis sechs Meter hohen Wohnungen hergefallen, in denen die Jacquard-Webstühle standen, von wo aus die Seidenstoffe in alle Länder geliefert wurden. Das Zweithäßlichste dürfte die Basilika Notre-Dame de Fourvière sein, die sich, wie die Cathedrale de la Major in Marseille, byzantinisch, aber auch ein wenig mittelalterlich geriert. Schimpfe mir keiner mehr auf den Stilemischmasch der Postmoderne! Auch hätte diese auf alt gemacht Dame eher mittleren Alters etwas von diesem italienischen Kulissenzauber in Las Vegas – den US-amerikanischen Um-Setzern europäischer Vergangenheitsarchitektur – erbaut worden sein können! Selbst die seriöseren, eben nicht so am triefenden Touristenpathos orientierten Reiseführer verlieren über die historischen Fakten gerademal die eine Zeile, da sie sie der Vollständigkeit halber erwähnen müssen. Mehr nicht. Es wäre auch grotesk angesichts der tatsächlich vorhandenen Bau-Kunst, beispielsweise der beindruckenden, unterhalb von Notre-Dame de Fourvière gelegenen, zwischen dem zwölften und fünfzehnten Jahrhundert erbauten Cathedrale Saint-Jean-Baptiste.

Die manisch marienseligen Lyonnais, allen voran Erzbischof Ginoulhiac, haben dieses Unikum Basilika Notre-Dame de Fourvière 1872 errichten lassen, als Dank dafür, von der preußischen Invasion verschont geblieben zu sein. Napoleon III. war geschlagen, und dennoch machten die preußischen Truppen bei Dijon eine für das germanische Wesen untypische Dauerkampfpause. Doch für enorm viele Busladungen an Fliegen, die ja bekanntlich nicht irren können, ist dieses unsäglich kitschige Bauwerk – im besten Wortsinn – wunderschön. Lourdes ist ja noch weit! Sei’s drum. Allein der Blick von dort oben über die Stadt lohnt den Weg hinauf zum rechten Ufer der Saône. Vielleicht nach dem phantastisch reichhaltigen Marché Quai des Célestins am linken Saône-Ufer über die Passerelle, der schmalen Fußgängerbrücke, zum altehrwürdigen Palais du Justice. An dem Markt, ein paar Schritte nur von der  Place de Jacobins oder der Place de la République, geht man besser ein kleines Stück flußabwärts, weil die Händler dort allesamt fünfzig Centimes – ja, wir bleiben bei Centimes! – weniger nehmen für das Schälchen Himbeeren oder den kleinen Schafskäse aus dem nahegelegenen Département de l’Ardèche als die vermutlich alteingesessenen auf der anderen Seite. Doch zu Fuß? Es fahren auch Busse hinauf. Aber man läßt sich besser am Abend hinaufkutschieren. Denn dann kann man von dort oben aus die vielen roten Lämpchen auf dem Tonnendach der 1997 von Jean Nouvel neugestalteten, aus dem Jahr 1756 stammenden Oper blinken sehen.

Doch das sind nicht etwa die Signale der Bordsteinschwalben, die ihre Freier umschwirren. Mit diesen blinkenden  Rotlichtern wird angezeigt, daß es die Töne sind, die sehr hoch fliegen, etwa bis zum zweigestrichenen c oder gar einem e, etwa wenn die mozarteische Königin der Nacht im ersten Akt ihre sirenale Zauberflöte angeworfen hat. Wenn in der deutschen (Geld-)Partnerstadt Frankfurt am Main der Taxifahrer über Funk verkündet, die Oper brenne, weil nach Ende einer Aufführung die Lichter im Foyer angehen und also das Fahrgeschäft beginnt, dann ist das ein dünnes Witzchen angesichts dieses Lyoneser Flimmermeers, das die Kunst unterstreicht, anstatt sie, wie das Aufblenden in Bankfurt, zu beenden. In Lyon verkünden die flackernden Rotlichter nämlich die laufende Vorstellung.

Und es läuft einiges mehr in dieser flirrenden Stadt. Dennoch behaupten geradezu unglaublich viele Menschen, gerne die Pariser, die in Richtung La Méditerranée durch die Stadt oder aber eben an ihr vorbeirauschen, doch durchaus aus auch die Deutschen und die Dänen auf dem Weg nach Spanien, Lyon sei schrecklich häßlich. Sie sehen wohl von der Ostumgehung der Autoroute aus immer nur die typisch französischen Plattenbauten (die «architektonische» Verwandtschaft zur ehemaligen DDR ist erschreckend, in sehr vielen Städten Frankreichs) auf den westlichen Hügeln und haben vermutlich auch (unerfindliche) Ängste vor einer Ortsdurchfahrt entlang der Rhône, die einen auch oder gerade zur Hauptreisezeit allemale flotter voranbringt. Solche einmal gefällten (Vor-)Urteile werden dann weitergegeben und von anderen allzu gerne ungeprüft übernommen.

Es ist gut so, denn in der – immerhin 43 vor Beginn unserer Zeitrechnung durch den cäsarischen Statthalter Munatius Plancus als Lugdunum (vom keltischen Gott Lugus) gegründeten – nach Marseille ältesten Handelsstadt Frankreichs lebt es sich wunderbar ohne solche Transporteure des schlichteren Geistes. Schließlich mußten das auch die deutschen Besatzer erfahren, die hier von der Résistance geradezu der Lächerlichkeit preisgegeben wurden. Wenn eine solche Verniedlichung überhaupt statthaft ist. Die Nazi hatten in den unendlich verwinkelten und verzweigten Hinterhöfen, den Traboules, versucht, den Widerstand zu erhaschen. Wäre es nicht auch nach so langer Zeit immer noch so traurig, es gäbe viel zu lachen angesichts solcher Bilder. Durch diese Labyrinthe haben mich mehrfach ein paar kundige und fröhliche Lyonnais geführt. Sie leben nicht nur auf den überall in der Stadt verteilten bemalten Häusern, den Fresque des Lyonnais, sondern auch in den Straßen gibt es sie tatsächlich, gerne nächtens. Entgegen der landläufigen Meinung, die Einheimischen gingen zum Lachen in den Keller. Vermutlich stammt diese Parole von den Parisern und anderen Nordländern.

 

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Texte: © Thierry Portulac
Bildmaterialien: Coverphotographie: © Mypouss: https://www.flickr.com/photos/25377194@N07/3823857836/ (entnommen aus Radio France) CC Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2016

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