Sowohl Joseph Roth als auch Kurt Tucholsky waren in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Frankreich als Zeitungskorrespondenten tätig, wobei es sicherlich zu berücksichtigen gilt: Roth, der jüdische Journalist mit der Seele des kaiserlich und königlichen, des immer etwas schwermütigeren oder auch -blütigeren habsburgischen Österreichs, war aus Deutschland vor den Nationalsozialisten geflohen, doch im Westen schien er sich nicht sonderlich wohlzufühlen. Tucholsky, auch er (zum Protestantischen konvertierter) Jude, allerdings aus dem zwar durch und durch preußisch geprägten, dennoch weltoffeneren Berlin, das seinerzeit in Konkurrenz zu der anderen europäischen Metropole Paris stand, durchreiste von dort aus das Land in ausgeprägter Zuneigung. Am deutlichsten wird das wohl in seinem Pyrenäen-Buch – die zusammenfassende Schilderung mehrerer Reisen in die teilweise hochgebirgige, provinzielle Grenzregion zwischen Frankreich und Spanien –, bei dem es sich zweifelsohne um das Zeugnis einer Liebe handelt; sie beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit.
Deutschland stand er immer sehr kritisch gegenüber, in der Regel machte er sich, vor allem in der Zeitschrift Weltbühne, teilweise mit bissigen Spott bzw. unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel gerne über die Deutschen lustig. Der auch nach der Abdankung des letzten deutschen Kaisers nicht nur in der Metropole vorherrschende wilhelminische (Un-)Geist wehte dem Franzosen-Freund allerdings kontinuierlich entgegen oder aber, nach der Betrachtung von Fritz J. Raddatz, einem der intimsten Kenner Kurt Tucholskys: »Bei dem Schriftsteller hat man sich seit Jahrzehnten auf zwei Klischees festgelegt – der trällernde Bänkelsänger, der Charmchansonneur von Frau Inez Kaludrigkeit und Anna Luise. Peter Panther/Tiger also oder Wrobel. Von Hauser nahm man weniger Notiz, von Kurt Tucholsky am wenigsten. Die Abwehrmaßnahme der Pseudonyme wird hingenommen als lustiges Spiel auf einer vielfarbigen Klaviertastatur. Es sind aber Gräben, Burgwälle, hochgezogene Brücken. Wer weiß es schon – er schrieb nicht nur die munteren Entlarvungen der Seelen-Portemonnaies von Wendriner und Lottchen.«.
Das hatte, noch lange nach seinem Freitod in Schweden, dem Land seiner Emigration, offenbar entsprechende, anhaltende Nachwirkungen, für die ein noch im Deutschland der letzten neunziger Jahre gedrucktes bzw. veröffentlichtes Kalenderblatt geradezu als Synonym für die Ablehnung durch die eher vaterländisch gesinnten Leser stehen könnte. Auf ihm war unter seinem Namen zu lesen: »Die Deutschen muß man lieben, um sie zu verstehen, die Franzosen muß man verstehen, um sie zu lieben.« Richtig lautet die tucholskysche Notiz, eines seiner vielen, seit Beginn der zwanziger Jahre verfaßten Schnipsel jedoch: »Die Deutschen muß man verstehen, um sie zu lieben, die Franzosen muß man lieben, um sie zu verstehen.« Er verstand sie, da er sie liebte. Deshalb reiste er immer wieder dorthin.
Joseph Roth hingegen schien sich dort eher heimatlos zu fühlen. Er war zwar zunächst auch als Korrespondent tätig, aber die Emigration schien, zusätzlich zu seiner mentalitätsbedingten Schwerblütigkeit, wie bei so vielen seiner heimatlos gewordenen Kollegen, Wirkung zu zeigen. Emigrant: jener Begriff, der sich mittlerweile, fast ein wenig beschönigend klingend, zum Flüchtling gewandelt hat; in den deutschen Nachkriegsjahren schaute man häufig verächtlich auf diejenigen herab, die, durchweg aus den Ostgebieten, ins Land kamen.
Dennoch hatte auch Roth seine französische Liebe(n). Sie versammeln sich in den weißen Städten des Südens. Unter ihnen befinden sich Avignon und Marseille. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der beiden mehr oder minder freiwilligen Frankreich-Reisenden Joseph Roth und Kurt Tucholsky seien hier skizziert. Hinein spielt nahezu zwangsläufig Francesco Petrarca, der in Avignon gelebt hat und auf den der vom jüdischen Glauben zum katholischen konvertierte Roth sich mehrfach bezieht.
Avignon – das Europa, das der Katholizismus geschaffen hat! Voller Inbrunst ruft der Konvertit Joseph Roth solches in seinen weißen Städten aus. Über Inquisition, Folter, Mord und Totschlag dieses sogenannten Gegen-Papsttums – zwischen 1309 und 1377 hatten sieben von der gesamten Kirche anerkannte Päpste ihren Sitz in der südfranzösischen Stadt Avignon anstatt in Rom – schweigt der sich ansonsten in der Regel politisch äußernde Journalist und Schriftsteller Roth sich allerdings völlig aus. »Das babylonische Exil der Päpste – aber es war das lustigste Exil, das die Welt je gesehn hat«, hält er fest. Diese lustigen Päpste war diejenigen, die dem erzenen Katholiken Vicent Ferrer – ein valencianischer Dominikanermönch, der als eschathologischer Bußprediger durch Kastilien und Aragon zog und mit seinen christlichen Wandersuaden für ungemeine Verschärfungen der ohnehin vorhandenen antijüdischen Strömungen sorgte – und dessen Vasallen im Palais des Papes, dem Palast der Päpste von Avignon, dabei halfen, die ursprünglichen rothschen Glaubensgeschwister, die spanischen Juden, die Sepharden aus Kastilien, dem heutigen Spanien, hinauszujagen und in die ganze Welt zu zerstreuen. Zwar ward und wird, heutzutage einmal jährlich zum sommerlichen Festival mehr denn je, in Avignon ständig getanzt, aber seinerzeit erheblich züchtiger, jedenfalls was die lieblichen Untertanen, etwa die Demoiselles d’Avignon auf der Brücke betrifft. Wie die Purpurbetuchten es vermutlich hinter ihrem Festungsgemäuer haben krachen lassen, darüber schweigt dieser Kreuzritter, dieser ukrainisch-österreichische, im Grunde von der Mentalität her eher deutsche chevalier de la triste figure sich aus. »Welch ein Trubel unter dem Protektorat der Kirche! Welch ein Fest unter den Augen des Papstes!« Man möchte meinen, der rheinische Straßenkarneval habe seine wesentlichen Impulse vom Avignon des Joseph Roth. Und fortwährend erwähnt wird von ihm auch die vom Heiligen Geist befruchtete Jungfrau Maria.
Ein wenig verblendet schien er zu sein, der politische Journalist und Schriftsteller Roth, der sich leidenschaftlich dem Katholizismus zugewandt hatte. Also ließ er’s weg, das Politische, den einschneidend historischen Hintergrund. Auch tauchen bei ihm immer wieder geradezu sakralische Wirrungen über Petrarcas Jungfer Laura auf. Nach Roth ist die eindeutig in seinem Katholiken-Mekka Avignon geboren. Dabei dürfte es, wenn auch nach neueren Erkenntnissen, die ihn seinerzeit möglicherweise noch nicht erreicht haben, kaum erwiesen sein, ob Laura tatsächlich existiert hat oder eben schlicht nur Mythos, Legende war. Es gibt lediglich einen einzigen konkreten Hinweis auf Laura. Bei ihrem Schöpfer Petrarca heißt es:
»Laura […] erschien meinen Augen zum ersten Mal in meiner ersten Jünglingszeit, im Jahre des Herrn 1327, am sechsten Tag des Monats April, in der Kirche der heiligen Klara zu Avignon […]. Und in derselben Stadt, im gleichen Monat April, auch am sechsten Tag, zur gleichen Stunde, jedoch im Jahr 1348, ist dem Licht dieser Welt jenes Licht entzogen worden […].«
Nun, wie erwähnt, zu Roths Zeit war man offenbar noch nicht so weit mit der neueren Liebesforschung. Roth gab sich, unabhängig von seinem Glauben, dieser mystischen Liebe hin, die etwas pygmalionesk Komisches hervorbringt. Sogar Petrarca selbst hat diese Rerum vulgarium fragmenta, Bruchstücke muttersprachlicher Sachen, laut Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer »seinen Freunden gegenüber immer als zweitrangig, als Jugendtorheit, als ›nugellae‹ (Kleinigkeiten)« bezeichnet. Oder sind es eher die späten Leiden des immerjungen Roth? Klaus Jarchow weist auf den »Wahnsinn seiner Geliebten« hin …
Zu viele traumselige Interpreten haben aus dem von 1304 bis 1374 lebenden Petrarca ohnehin einen reinen Trobadour gemacht. Er war es nicht. Bei ihm ist nicht nur das reine Gefühl beschrieben – mit dem viele den Canzoniere lesen, die solch leidenschaftliches Stöhnen einsaugen:
»Bewege ich die Seufzer, Euch zu rufen
beim Namen, den mir Amor eingewoben,
beginnt von außen schon der Klang zu loben,
den seine ersten süßen Laute schufen.«
Denn Petrarca war auch Geschichtsschreiber, auch Gesellschaftskritiker; der sich im übrigen gerne mit Mächtigen umgeben hat und alles andere als ein biedermeierernder, sehr früher romantischer Dichter war, als der er gerne dargestellt wird.
»Die Frauen weinend; und das Volk ohn Waffen,
von zarter Jugend bis zu müden Alten
– selbst Hannibal entschlüge sich des Spottes …
Schenkst du nur einen Blick dem Hause Gottes,
das heute gänzlich brennt, dann wird dir Kunde:
damit der Wunsch gesunde,
genügt es, Funken nur des Brandes, der tobte,
zu löschen, was man noch im Himmel lobte.«
Nun, auch solches schrieb Francesco Petrarca – aber eben nicht in Avignon, wo er lediglich einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte, später lebte er in Montpellier und dazwischen immer wieder in seiner Heimat Italien – , sondern allenfalls im Gärtchen in Fontaine de Vaucluse, etwa fünfzehn Kilometer östlich von Avignon, hat er seine Canzoniere begonnen – in der Nähe des Mont Ventoux, dem Heiligen Berg des Dichters und der Dichter, die in seinem Namen, von 1975 bis 1995, preisgekrönt oder nicht, diesen bis heute immer wieder erklimmen wie die Leistungssportler der zweirädrigen Zunft, der alljährlichen Fahrrad-Tour de France, die eine Zeitlang immer ein nicht eben poetischer US-Amerikaner gewann und dem sie alle nachzueifern bereit sind, egal wie schmerzlich diese langanhaltenden Aufstiege zu diesem Olymp auch sein mögen. Der Autor bringt übrigens Verständnis auf für diese Besteigungen, wenn er sie selbst auch nicht mit dem Fahrrad und auch nicht klassisch zu Fuß vornimmt, sondern mit der bequemeren Voiture – denn wer je vom Gipfel des Mont Ventoux aus nach unten geschaut hat, der muß nicht mehr in den Himalaya reisen, scheint dieser gerademal 1800 Meter hohe, oben völlig abge-, verflachte Berg in der Haute Provence doch tatsächlich das Dach der (alten) Welt zu sein, von dem aus hinuntergeblickt in die Täler es nur noch Menschlein gibt. Je nach Perspektive ließe sich auch behaupten, dort könne man sich fühlen wie im irdischen Himmel.
Doch Roth hat Laura aus Avignon in seiner frühkatholizistischen Emphase prophylaktisch mit Blut versehen wie weiland Aphrodite Pygmalions Statue. Es ist hinlänglich bekannt, wie sehr Pygmalion sich erschreckt hatte, als der von ihm geschaffene Alabaster-Leib mit einem Male wahrhaftig wurde. Vermutlich hat der Marien-Verehrer Roth eben aus einem Schutzmechanismus vorausgesetzt, daß Laura ohnehin lebte – um sich aphroditischer Wirkung nicht auszusetzen. Nun gut, sei es Roth zugestanden, daß er insbesondere diese Gedichte möglicherweise lediglich in Übersetzungen kannte; Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer erkannten Petrarca »als einen schwachen Liebeslyriker der romantischen Schule«.
Avignon. Palais des Papes. Dieses – ohne jeden Zweifel beeindruckende und auch in seinen Ausmaßen – ja: durchaus schöne – Monstrum. Das manche, wie etwa der Autor selbst, nur besichtigen, um sich jedesmal aufs neue staunend zu fürchten. Roth indessen hätte, der Eindruck mag durchaus entstehen, am liebsten darin gewohnt. So beklagt er, der Papst-Palast werde als Kaserne mißbraucht und, als ob er es heutzutage kritisch festgehalten hätte: »Zweimal täglich ist er das Ziel neugieriger Touristen und das Objekt falscher Erläuterungen, die ein Führer gegen Trinkgeld den Amerikanern erteilt«. Daran hat sich nichts geändert. Ein paar Japaner und mittlerweile auch Chinesen sind in den letzten Jahren hinzugekommen, nicht zu vergessen die immer irgendwie außergewöhnlich kultur-interessierten Deutschen auch des 21. Jahrhunderts. Nur hausen heutzutage keine kriegerischen Truppen mehr in diesem heiligen Gebäude, sondern friedliebende Kunst und Kultur.
Joseph Roth war seinerzeit allerdings noch von einer anderen Stimmung gefangen:
»Dann stehe ich im Hof. Er ist von vier Seiten eingeschlossen wie ein Kleinod. Er hat viele schwarze Tore in den Wänden, aber man glaubt nicht, daß sie hinausführen. In diesem Hof müßte ein Gefangener seine Ohnmacht stärker fühlen als in einer kleinen und finstern Zelle.« Der katholische Gott scheint bereits eingezogen, wenn auch zunächst noch in der Erscheinung als Mars: »In diesen Torbögen lehnten die Gewehre. Und doch hat der Hof der Kaserne, in der ich ›abgerichtet‹ wurde, ganz anders ausgesehn. Ob es nicht eine Weihe gibt, die von einem Stein, einem Glas, einer Wölbung ausstrahlt und einen Hof vor der endgültigen Vernichtung schützen kann?« Dann gerät der Dichter ins Nachdenkliche, ins Meditative: »Sie hatte recht, die Militärbehörde. Das ist kein Anblick für exerzierende Menschen. Solche Bilder könnten die Disziplin einschläfern. Gebt weißen Kalk darüber, Kalk darüber, Kalk darüber! Verdeckt die Fresken von Matteo Giovanetti de Viterbo, dem Christus am Kreuz. Er hat die armseligsten, hagersten Arme, sein Körper ist schmal wie ein Bein, seine durchstoßenen Hände sind halb gewölbt, noch offen, dem Betrachter zugekehrt, als schenkten sie noch im Tod, die Augen sind geschlossen wie bei einem Schlafenden, es ist die erste Sekunde nach dem Tod, im Gesicht ist kein Schmerz mehr …«
Roth poltert wie mit Holzschuhen über die Bühne des seit 1947 auch Ausstellungen und Theateraufführungen dienenden Palais des Papes. So sehnt Roth sich in seinen weißen Städten beispielsweise immer wieder nach dem Wald. Es fällt nicht leicht, sich in dieser Gegend, in der etwas weiter nördlich bzw. unterhalb von Lyon das Licht des Südens, ein sich behutsam, zusehends dem Meer näherndes liebliches, von der Musik der Cigales, einer Grillenart, begleitetes Hell, aufzuscheinen beginnt, sich deutsch-österreichisch-ungarische Tannen vorzustellen. Bei Roth dräut es unheilvoll finster.
Auch er hat gerne auf die Deutschen geschimpft. Aber aufgeführt hat er sich eben genau wie diese deutsche Axt, die den nicht vorhandenen französischen Wald der Provence gleich umhauen wird, um das lichte Gelände mit Tannengehölz aufzuforsten – die Assoziation eines urlaubenden Piefke in salzburgischen Bergen stellt sich ein. Doch im Süden Frankreichs entzündet das Licht den ohnehin spärlichen Wald. Und diese Sonne schildert er, daß man befürchten könnte, sie fiele einem gleich auf den Kopf.
Kurt Tucholsky hingegen tänzelt heran, auf Spitzen. Mit einem liebevollen, schmunzelnden Lächeln im Text. Ein Beispiel aus Vierzehn Käfige und einer, in dem es um Marseille geht; auch diese älteste französische, von den Phäaken gegründetete Metropole des Südens hat Joseph Roth seinen weißen Städten zugeordnet.
»Die kleine Insel ist das Château d’If. Es liegt – falls sie Ihren Atlas zur Hand haben – vor der Stadt Marseille, gegenüber den beiden Inseln Ratonneau und und Le Frioul, die durch einen Damm [den Digue Berry] verbunden sind. Ist bei Ihnen nicht drauf? Na, schadet nichts. Château d’If ist die Insel, auf der Edmond Dantès eingesperrt saß, der Graf von Monte Christo.« Nun skizziert er weiter tänzelnd Historisches, aber nicht etwa ungenau oder wie bei Roth in hölzernem Pathos ertränkt, sondern geradezu erschreckend präzise.
»Der Hof ist ganz klein, von vier Mauern umgeben, die nicht allzu hoch sind, von oben glänzt quadratisch der blaue Himmel. Unten ist das Licht getönt, milchig und hell kaffeebraun. Unten steht ein Brunnen und an einer Mauerwand eine Ansichtskartenbude.« Dort kauft der Tourist Wendriner – eine der vielen literarischen, meist satirisch gezeichneten Figuren von Kurt Tucholsky, mit der er typische Berliner Charaktere seiner Zeit beschrieb – auch noch heute noch die Postkarte, die er mit Grüßen vom Graf von Monte Christo versehen nach Berlin verschickt. »Und ringsherum sind die chachots, die Käfige.« Dann plaudert er zwischendrin eine Weile weiter wie ein Führer des Fremdenverkehrs, bis er sich geriert wie Cyrano de Bergerac, der im gleichnamigen Theaterstück von Edmond Rostand seinem Gegner warnend zuruft: »Und beim letzten Verse stech ich.«
»Vor jeder Tür ist ein Holzschild angebracht, auf dem steht gemalt, wer da einmal eingesperrt war. Wie in einem zoologischen Garten, man vermißt den Zusatz: Geschenk des Herrn Konsul Friedheimer.
Ja, es zieht durch die kleine Luke, und wenn man den Kopf an die Eisengitter legt, kann man auch ein Stückchen vom Meer sehen, in dem die freien Fische wohnen. […] Der Boden ist ausgemauert, schwärzliche Spuren an den Wänden deuten auf ehemalige Kamine. Es muß höllisch kalt gewesen sein, damals … Da saßen sie also. Meistens waren es politische Häftlinge, die hier gesessen haben, alles Leute, die die Regierung nicht töten konnte oder wollte, und deren Freiheit ihr höchst unbequem war. Damals war das recht einfach: man benötigte nur die lettre de cachet, um etwas zu erreichen, wozu man heute ein ganzes Volksgericht auf die Sessel setzen muß […]. Manchmal ließen auch hochmögende Eltern ihren Sohn ein bißchen einsperren, bloß so.« Und dann reiht er sie in seinem unnachahmlichen leichten, lockeren Stil auf, die ehemaligen Insassen: »Auf der anderen Seite hat Dantès gesessen, eben jener, dessen Schicksal Dumas in seinem Schmöker benutzt hat. […] Dann liegt da noch zu ebener Erde ein cachot, dem Publikum nicht zugänglich. Darin saßen im Jahre 1871 einhundertundsechzehn Gefangene. Commu-nards. Einhundertsechzehn – das ist keine Zahl für uns andre … […] Herauf die kleine Treppe, auf die obere Galerie. Da saßen: Ein Abbé, der ein Mädchen verführt haben soll …«
Es war wohl Louis Goffridi. Er ist verbrannt worden, weil er mit des Teufels Hilfe Madeleine Mandols verführt haben soll. Er war ihr Confesseur, ihr Beichtvater. Sie war sechzehn Jahre alt. Oder jung? Darum wird’s eher weniger gegangen sein, denn damals hatten sie längst Kinder in diesem Alter. Es ging wohl eher um den katholischen Teufel. Oder war’s Frère Valère? Auch ihn haben sie verfackelt. Wie so viele andere.
Lakonisch reiht Tucholsky sie weiter auf: »[…] ein Kanzelredner, der mit England konspiriert hat; ein Mann, der versucht hat, Napoleon zu ermorden; der berühmte ›Mann mit der eiseren Maske‹; Louis-Philippe Égalité. Mirabeau (kein politisches Gefängnis, in dem der nicht gesessen hätte); ein Herr Mollard, der sechzehn Jahre hindurch saß, weil seine Eltern das so wollten. In diesem Raum tagte dann später eines der Revolutionstribunale.«
Und so weiter und so fort. Immer wieder auffliegende Hororrszenarien, allerdings ins Alltägliche gezeichnet, in das reduziert, was seinerzeit wohl Normalität bedeutete. Eindrucksvolle Bilder. Tucholsky ist wie gutes Kino. Wie franzö-sisches: beiläufig erzählendes.
»Man kann sich nur schwer vorstellen, daß in diesen Räumen Menschen gelitten haben; daß der Tritt der Wache auf der Zugbrücke und der Ruf eines Schiffes die einzigen Laute waren, die man hier hören konnte, das Klirren der Waffen und das Klappern von Flaschen – wenn es nicht einer der Häftlinge einmal vorzog, stundenlang wie ein Tier zu brüllen. Oben auf der Brücke des Gebäudes segnet das Werk Gott.«
Es wird bereits in den weißen Städten spür-, lesbar, daß Roth in Paris als Alkoholiker jämmerlich zugrundegehen würde, während Tucholsky es später vorgezogen hat, im schwedischen Sein zu sein wie die freien Fische. Was nicht heißt, daß er nicht gelitten hat. Fritz J. Raddatz erkannte: Er war ein einsamer Mensch. Kurt Tucholsky, der Kumpaneien haßte, die nie in literarischen Cafés saß, der vor den damals gar nicht goldenen zwanziger Jahren schon 1924 aus Berlin floh und der sie zwar alle kannte, die man heute mit ihm zusammen nennt – Kästner und Mehring und Ossietzky und Hiller – Kurt Tucholsky war wohl nie mit einem befreundet. Dann also auch kaum mit Roth. Roth soff sich später in den Cafés und Kneipen von Paris tot. Umbringen durfte er sich nicht. Er war ja schwerst verstrickt. Im Katholizismus, in den er sich geistig aufgemacht hatte, stellt das eine höchste Sünde dar, sich einfach aufzumachen zu den freien Fischen wie der Jude Tucholsky.
Es gibt ein Marseille, das dem Autor fremd ist: das von Joseph Roth. In das von Kurt Tucholsky kann er eintauchen wie in seine geliebte Badewanne mer Méditerranée und fühlt sich sofort geborgen. Nach über achtzig Jahren der tucholskyschen Schnipsel. Roth jedoch beschreibt, etwa zur gleichen Zeit, eine andere Stadt. Es ist nicht so, daß Tucholsky auf Fakten verzichten würde. Nein, beileibe nicht. Auch er schreibt »von der beängstigenden Fülle der Häuser, die sich um ein breites Wasserbecken türmen, schmale, enge, fast drohende Häuser«. Aber es liest sich dennoch nicht so furchterregend wie bei Roth. Bei ihm kommt das Gefühl der Apokalypse auf. Wenn einer wie Tucholsky von den so geräuschvollen Straßen erzählt, dann fühlt sich der ortskundige Liebende geborgen. Tucholsky läßt beispielsweise den Eindruck entstehen, der tägliche 48-Stunden-Lärm der Großstadt sei in Marseille erfunden worden. So mag man sich das vorstellen, wenn Tucholsky vom Auftritt der Sängerin und Tänzerin Maria Valente (die Mutter von Caterina) erzählt, nach dem auf den »geräuschvollen Straßen jeder Chauffeur so viel hupt wie die ganze Place d’Opera in Paris nicht an einem Nachmittag – die großen Bäume an der rue de Rome rauschen leise«.
Das Marseille, von dem Roth schreibt, stinkt und ist gewalttätig. Selbst wenn er von den weißen Häusern in seinen geliebten Weißen Städten erzählt, wird spürbar, hier in Marseille, daß ihm die Stadt nicht ganz geheuer ist: »[…] hier riecht es wie zu Hause vor Ostern: nach Staub und gelüfteten Matratzen; nach Lack für die Türen, nach feuchter Wäsche und Stärke; nach angebrannten Speisen; nach geschlachtetem Schwein; nach gesäubertem Hühnersteig; nach Schmiergelpapier; nach einer gelben Pasta für Messing; nach einem Mittel gegen Ungeziefer; nach Naftalin; nach Bohnerwachs; nach Eingemachtem.«
Bei Tucholsky hingegen lebt Marseille:
»Die Stadt hat wahrscheinlich viel von ihrer Buntheit der Menschen, aber nichts von ihrer malerischen Großartigkeit der Anlage verloren. In den Straßen klingelt die Elektrische [solch ein Bähnchen bimmelte noch einige Zeit nach der Jahrtausendwende – die Tramway 68 –, die von der Metro-Station Noailles aus – wie zu Tucholskys Zeiten? – nach St-Pierre klapperte und holperte], gehen und kommen die Leute, verkaufen kleine Buden Zuckerzeug und Zeitungen.«
Roth indessen greint: »Ich habe hier die Grenzenlosigkeit des Horizonts erwartet, die blaueste Bläue des Meeres und Salz und Sonne.« Er erweckt den Anschein, fortwährend mit gesenktem Kopf durch die Stadt gegangen zu sein. Tucholsky indessen hat den Kopf oben – und sieht es: »Da liegt ganz Marseille – viel größer, als man es sich von einer Stadt mit einer halben Million Einwohner gedacht hat; über die Hügel verstreut, von Baumgruppen unterbrochen, klettern die Häuser vom Rand des Meeres bis auf die entfernten Berge.«
Und weiter malt Tucholsky leuchtende Bilder: »Die Hafengassen gehen alle fast bis unmittelbar ans Ufer, sie verlieren sich hügelan in einem engen südlichen Gewirr von Wäsche, die quer über die Straße gehängt ist, Salat-körben, Vogelkäfigen, Häuserwänden« Und auch hier liest sich das ungemein aktuell, jedenfalls bis Mitte des letzten Dezenniums, bevor die Stadt sich unter Zuhilfenahme europäischer Großsubventionen aufmachte, den Olymp einer Kulturmetropole endgültig zu erklimmen, das Paris des Südens zu werden: Der Markt um die Metro- und Tramstation Noailles beispielsweise , der sich bis an den Cours Saint Louis hinzieht, der bis hin zur einstigen Prachtstraße Canebière führt, ließ sich, kaum treffender beschreiben: Fleisch, Geflügel, Fisch, Gewürze, Gemüse, Kräuter, säckeweise Reis, Waschmittel, auch (vom LKW gefallene?) Mobiltephone oder einen schnellen oder auch gemächlichen Imbiß, alles offen präsentiert, nicht verschlossen wie in den hermetischen Kühltheken etwa einer deutschen Hackfleischverordnung (nunja, auch hier schlägt Bruxelles bzw. Strasbourg langsam, aber unerbittlich zu). Hier deckte sich, nicht eben Minderheit in dieser Stadt, halb Nordafrika ein, und zwar zur Hälfte der Preise, die ansonsten überall in der Stadt verlangt wurden und immer höher werden. Weshalb eben nicht nur Araber dort einkauften (als es die deutsche Freibank noch gab, sah man dort schließlich auch überwiegend mittelständisches Publikum, etwa vergleichbar mit den heutzutage übermäßigen Raum einnehmenden und ebenso maßlos teuren SUV vor den Filialen der sogenannten Discounter). Wie man überhaupt am Boulevard d’Athènes in Richtung Gare Saint Charles, dem 1848 eröffneten und vor der Jahrtausendwende prachtvoll restaurierten Bahnhof von Marseille, bereits in den siebziger Jahren um Mitternacht noch zum Friseur gehen oder einkaufen konnte und einen Bruchteil dafür zahlte als etwa im nahegelegenen Centre Bourse unweit des Alten Hafens.
Vom Gare Saint Charles fährt seit 2001 stündlich ein TGV in drei Stunden Fahrzeit ins 800 Kilometer entfernte Paris ab; selbstverständlich startet dieser train à grande vitesse ebenso stündlich auch im Norden, was sich entsprechend nicht nur auf die Immobilienpreise von Marseille ausgewirkt hat, hat der Pariser sich doch an seiner Badewanne Mittelmeer schon immer wohler gefühlt als am rauhen Atlantik, wohin sie zuvor an jedem Week-end, wie das französische Wochenende landestypisch genannt wird, zu reisen gezwungen waren. Unter den heutigen Bedingungen dürfte es fraglich sein, ob die damaligen Korrespondenten Roth und Tucholsky sich noch eine zentrumsnah gelegene Wohnung leisten könnten.
Es fiel dem Autor, der den Spuren der beiden Frankreich-Berichterstattern lange Zeit nachging, nicht leicht, die Sichtweise von Roth nachzuempfinden: »Über allem lag eine makabre Stimmung.« Es mag in ihm bei seiner Ankunft eine gewisse Furcht vor dem aufgekommen sein, was heutzutage viele Menschen Mitteleuropas ängstigt, für Marseille jedoch galt, seit es vor über 2600 Jahren von den Phääken, heute würde man sie als Griechen bezeichnen, gegründet wurde: Multikulturalität. »Es ist nicht mehr Frankreich. Das ist Europa, Asien, Afrika, Amerika. Das ist weiß, schwarz, rot und gelb.« Zwar schien er sich arrangiert zu haben mit dieser Stadt des Menschengewimmels, indem er festhielt: »Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.« Doch dann zog er sich ins dunkle Paris zurück – und vereinsamte.
Tucholskys weiße Stadt hingegen strahlt auch heute noch – wenn man auch zugestandenermaßen mittlerweile die dunklen Ecken suchen muß, in denen sie leuchtet, ist sie doch derart von der Moderne verstrahlt, daß man sie nicht mehr sieht.
Längst ist Marseille mit rund anderthalb Millionen Einwohnern, auch aufgrund seines enorm weitschweifenden Umlandes, zur zweitgrößten Stadt Frankreichs gewachsen, zur Metropole des Südens, gefolgt von Lyon, auch sie eine der weißen Städte Roths, der Stadt, mit der Marseille lange konkurriert hat
Anmerkungen
1 Peter Panter: Ein Pyrenäenbuch. Mit 33 Abbildungen. Verlag Die Schmiede, Berlin 1927
2 Fritz J. Raddatz, in: Tod als Nicht-Utopie, Text + Kritik, Heft 29, München 1971
3 Joseph Roth: Die weißen Städte, hier im folgenden zitiert nach: Ein Frankreich-Lesebuch, herausgegeben von Katharina Ochse, Köln 1999
4 Es handelt sich hierbei um eine Anspielung des Autors auf das Gemälde von Pablo Picasso, das er persönlich mit fröhlichen Feiern der Päpste in der Stadt verbindet. Das Avignon im Namen des Bildes bezog sich auf die Carrer d’Avinyó in Barcelona, ein sehr lebensfreudiges Viertel mit vielen Bordellen, in deren Nähe Picasso in jungen Jahren lebte.
5 Höchstwahrscheinlich hat auf dem Pont Saint Bénézet, bekannt auch als Pont d’Avignon, ohnehin selbst nie jemand getanzt, allenfalls unter der Brücke, denn auf der Île de la Barthelasse, die inmitten in der Rhône liegt und zu der früher die Brücke führte bzw. von ihr überquert wurde, befanden sich die Vergnügungsviertel und Jahrmärkte der Stadt. Das Vergnügen breitet sich seit 1947 während des jährlich stattfindenden, etwa dreiwöchigen Festivals im gesamten Avignon aus.
6 Zitiert nach: Francesco Petrarca: Canzoniere, zweisprachige Gesamtausgabe, nach einer Linearübersetzung von Geraldine Gabor und in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer, nach der Ausgabe von Guiseppe Salvo Cozzo, Florenz 1904, München 1990
7 Kurt Tucholsky: Vierzehn Käfige und einer, zitiert nach: Gesammelte Werke 1925 – 1926, Reinbek 1993, Bd. 4; alle weiteren Tucholsky-Zitate entstammen, soweit nicht anders gekennzeichnet, den Gesammelten Werken 1925 – 1926
Erstveröffentlichung unter dem Titel Der Holzschuh- und der Spitzentänzer, in: Titel – Kulturmagazin, November 2015
Texte: Thierry Portulac bzw. die zitierten Autoren
Bildmaterialien: Cover-Abb. © Jean Stubenzweig
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2016
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