»Ein Mensch kann die Literatur noch so sehr lieben, aber er kann niemals zur Literatur selbst werden. Wer Traum und Wirklichkeit durcheinanderbringt, wer zu sehr in der Welt der Literatur aufgeht, begeht eine Torheit. Er wird irre oder im günstigsten Fall unglücklich.«
Anil Ramdas, Madame Bovary, 1999
»Kein Mensch erkennt etwas, das er nicht selbst erkennt. Angenommen, es gäbe etwas in der Welt, das man nicht sieht, nicht riecht und nicht versteht, dann ist es auch nicht Teil der eigenen Wirklichkeit. Oder angenommen, es wäre genau umgekehrt, man sieht, riecht oder versteht etwas, das es gar nicht gibt, dann ist es dennoch Wirklichkeit für die erlebende Person. In beiden Fällen gibt es keine Möglichkeit zur Korrektur. Alle Menschen haben nur eine ihnen natürlich erscheinende Sichtweise, die Ich-Perspektive.«
Aléa Torik, Aléas Ich, 2013
Ich komme nach Hause. Im Flur brennt Licht. Habe ich es bei der Abreise vergessen auszuschalten? Doch ich spüre, daß sich jemand in der Wohnung befindet. Wer? Isaac, die einzige, die einen Schlüssel zur Wohnung hat, kann es nicht sein, da sie gerade in Peking chinesische Artisten umturnt. Oder ist sie vorzeitig zurückgekehrt? Vermutlich ist es so. Denn ich drehe vor dem Verlassen der Wohnung immer drei Kontrollrunden. Ich rufe mit gespieltem Ernst:
»I-s-a-a-c, was schleichst Du Dich hier ein? Hast Du keine Wohnung?! Gefällt Dir besser hier, oder wie?« Ich fahre meinen Rollkoffer quer durch den Eingangsbereich in die Küche, um den Teppichboden nicht einzudrücken.
»Kannst Du mir nicht wenigstens einen Funk schicken?« rufe ich vernehmlich, in dem Ton, den sie von mir gewohnt ist, den sieben Jahre gemeinsames Leben und dann zwölf Jahre nahezu geschwisterlicher, also bisweilen rauher Umgang geformt haben. Keine Antwort. Ich werde tatsächlich ungehalten. Entgegen meiner Gewohnheit, die Jacke ordentlich auf den Bügel und in die Garderobe zu hängen, werfe ich sie auf den Tisch, von dem daraufhin eines der immer dort liegenden Bücher hinunterfällt, die irgendwann gelesen werden wollen. Es steigert meinen leichten Ärger.
Merde d’Or! Seit dem Film Marius et Jeannette war auch für mich aus der großen Scheiße eine goldene geworden. Ich hatte es jedenfalls so verstanden. Es lag aber nicht nur an meinem miserablen Französisch-Gehör. Es war wohl eher dieser Marseillaise-Gesang in diesem bezaubernd verschachtelten Kathedralchen der Liebe und des Gemeinsinns von l’Estaque. Wahrscheinlich hatte Jeannette einfach Merde alors gegrummelt. Also keine goldene Scheiße, sondern ein schlichtes Donnerwetter. Aber merde d‘Or klingt so schön routiniert. Ich möchte gerne routiniert mit dem Französischen jonglieren.
Keine Regung. Das ist nicht Isabella. Isabella von Wyler, von mir Isaac genannt. Isa-AC oder Isa-ac getauft. Je nach Lust und Laune – Isa à conto, Isa à Condition, im besten Fall Isa-Appellation Contrôlée, oder auch, im schlimmsten Fall Isa-Actinium, dieses eher seltene radioaktive metallische Element, das zählebigste Isotop mit einer Halbwertzeit von 21,8 Jahrenen. Dieser jüdisch in sich ruhende Atomkern wäre längst grinsend, wenn auch vorsichtig, herausgekommen aus einem der Zimmer. Sie liebt es, mich zu provozieren. Sie weiß, wie schnell ich ins Cholerische gerate. Keine Regung. Sie kann es nicht sein. Meine angeborene und in den letzten Jahren zunehmend gewachsene Hasenfüsigkeit beginnt, mich zu beherrschen. Ich getraue mich nicht, der Sache auf den Grund zu gehen und einfach in die anderen Räume zu schauen. Schon gar nicht in den, in dem ich jemanden vermute. Mir schwant nichts Gutes. Den Erkundungsgang hinauszögernd, nehme ich den Bügel aus der Garderobe, hänge die Jacke darauf und beides auf die Stange. Ich raffe dann jedoch meinen Mut zusammen und gehe in Richtung des größeren Zimmers. Tatsächlich sitzt jemand auf dem Stuhl am Arbeitstisch, raucht und schaut in meine Richtung. Die Straßenbeleuchtung und das Licht aus dem Flur geben nur Schemenhaftes frei. Doch daß eine Frau ist, ist deutlich zu erkennen.
»Salut, Didier.«
Niemand nennt mich Didier. Es gibt zwar viele, die diesen Namen kennen, den ich von den Franzosen habe, die Dietrich nicht aussprechen können oder wollen und schreiben ebensowenig. Aber hier käme niemand auf die Idee, mich so zu nennen.
Ich kenne die Frau nicht. Da bin ich sicher. Die Stimme ist mir unbekannt. Das Profil auch. Ich kann mir keine Telephonnummern merken, kann dem Pannenhelfer am Telephon das Kennzeichen meines Gefährts nicht mitteilen, werde bis zu meinem Dahinscheiden 3-3-3, bei Issos Keilerei, mit einer anderen historischen Schlacht verwechselt, also auch mit Hilfe der Mnemotechnik nicht gelernt haben, etwas korrekt aus der Vergangenheit abzurufen. Aber bei Gesichtern von Frauen – zumindest eines bestimmten Typs – scheine ich über ein phänomenales Erinnerungsreservoir zu verfügen. Und dieses Gesicht hätte mein Gedächtnis nie mehr aus seinen Ganglien entlassen, das wird mir bei aller Diffusität schnell klar. Sie hat reizvolle Konturen, ein langgestrecktes, feingeschnittenes Gesicht, große, dunkle Augen, soviel ist auch im schummrigen Licht zu erkennen. Und diese extrem kurzen, offensichtlich schwarzen Haare – alle diese erotisierenden Botenstoffe hätte mein in den sechziger Jahren, möglicherweise sogar durch die Gene angelegtes, zwischendrin mal blond überwachsenes, aber immer wieder ins Schwarzerdige zurückweichende Sehnsuchtsbeet nie aus seinen Einfassungen herauswachsen lassen.
Mit brüchiger, verwackelter Stimme frage ich: »Wer sind denn Sie? Was machen Sie denn hier? Und wie kommen Sie hier rein?!«
»Du erkennst mich nicht?« Sie hat einen französischen Akzent. Auch das noch! Bin ich im Kino? Meine ohnehin zügellose Francophilie will mit mir durchgehen. »Du erkennst Deine Frau nicht?«
Aus dem gleich bei Eintritt in die Wohnung aufkommende Unbehagen wird eine Bedrohung. Allen meinen Mut zusammennehmend taste ich ins Regal, um den dort verborgenen Schalter für den lichtstarken Deckenstrahler umzulegen.
»Laß es sein. Später«, flüstert es, allerdings vernehmlich.
»Du gebrauchst nach wie vor viele Wörter. Aber ich liebe das ja. Dennoch muß ich Dich korrigieren. Diese Quelle ist kein Jungbrunnen, in dem alte hitzige Köpfe baden. Ihr Wasser verleiht dichterische Hingabe. Und Begeisterung. Und die fehlt Dir angesichts meiner. Papa Apoll wird das nicht mögen.«
Ich bin weniger verärgert über diese Schlappe, als daß ich mich wundere: Ich kann sie nicht kennen. Solche Frauen kenne ich nicht, die in den Mauselochgängen der Geographie Alt-Griechenlands flanieren. Ich kenne allenfalls solche, die die immerselben Pfade der Kunstgeschichte kultur-, weil reflektionsfrei, aber repetiersicher rauf- und runterlatschen. Ohne weitere Entgegnung gehe ich zögernd, aber dennoch und in dem Vorteil in ihre Richtung, sie verhältnismäßig gut sehen zu können, während ich die dünnen vierzig Watt des milchigen Dänenklassikers an der Flurdecke im Rücken habe. Ich sehe ein schlankes, markantes, ja interessantes Gesicht mit dem Teint der südlicheren Bewohner unseres Kontinents, die nicht nur kraft ihrer Intelligenz nicht in die Sonne gehen, um sich bräunen zu lassen. Ich bin weniger verärgert über diese Schlappe, als daß ich mich wundere: Ich kann sie nicht kennen. Solche Frauen kenne ich nicht, die in den Mauselochgängen der Geographie Alt-Griechenlands flanieren. Ich kenne allenfalls solche, die die immerselben Pfade der Kunstgeschichte kultur-, weil reflektionsfrei, aber repetiersicher rauf- und runterlatschen. Ohne weitere Entgegnung gehe ich zögernd, aber dennoch und in dem Vorteil in ihre Richtung, sie verhältnismäßig gut sehen zu können, während ich die dünnen vierzig Watt des milchigen Dänenklassikers an der Flurdecke im Rücken habe. Ich sehe ein schlankes, markantes, ja interessantes Gesicht mit dem Teint der südlicheren Bewohner unseres Kontinents, die nicht nur kraft ihrer Intelligenz nicht in die Sonne gehen, um sich bräunen zu lassen. Nie oder nur höchst widerwillig nehme ich Befehle entgegen. Wenn mich jemand bittet, habe ich keine Probleme, mich selbst zu kasteien. Aber Forderungen tun sich bei mir äußerst schwer mit der Landung. Dennoch ziehe ich meine Hand zurück.
»Also gut. Nochmal: Wer sind Sie?« setze ich fordernder, aber dennoch unsicher nach.
»Muß ich das tatsächlich wiederholen? Ich bin Deine Frau.« Sie verschränkt die Arme unter der Brust. »Und es mutet seltsam an, daß Du sie nicht erkennst. Oder erkennen willst.« Sie zündet sich erneut eine Zigarette an. Es könnten Roth-Händle sein. Nein, doch wohl eher Gauilloises oder Gitanes. Ja, Gitanes. Ich rieche meine in Frankreich gerauchte Marke. Die deutsche Gitanes stinkt entsetzlich europäisch – Régie française, hergestellt irgendwo in Benelux, für diejenigen, denen das Natürliche, das Echte unangenehm ist. Oder ihre Lunge nicht asphaltieren möchten.
»Madame.« Ich gewinne etwas an Sicherheit zurück, da ich feststelle, daß es sich um ein, für mich, überraschend inszeniertes Stückchen Theater handeln muß. Wer weiß, wer das ausgeheckt hat. »Die erste und einzige und auch letzte Frau, Ehefrau, wohlgemerkt, die ich hatte, wurde vor etwa dreißig oder mehr Jahren durch einen Amtsrichter der Alle-fünf-Jahre-Kunststadt Kassel von mir geschieden. Und ich, soweit ich mich erinnere, auch von ihr.« Das vermute ich mal. Denn ein Scheidungsurteil habe ich nie erhalten. Oder es ist im Desinteresse untergegangen wie die Ehe. Und seither habe ich sie auch nicht mehr gesehen. Die Frau. Aber so dürfte sie sich auch wohl kaum verändert haben. »Und selbst wenn Sie zur Thalia mutiert sein und aus der Quelle Kastalia getrunken haben sollte«, meine Stimme wird fester, »sehe ich noch immer keine Verwandtschaft.«
Ein solches Gesicht setzt sich nicht äußeren Strahlungen aus. Ich spüre sie eher, als daß ich sie sehe, diese unvergleichlich schöne »sanfte, olivfarbene Haut, die niemals braun, niemals rot wird und an welcher die Sonne, der Wind, der Regen und selbst das Alter machtlos vorübergleiten«. Joseph Roth hatte mit seinem Lobgesang auf die Avignonerin zwar die schöne Arlesierin eliminiert, die er für eher herb, langnasig, schmalmündig, römisch-provençalisch hielt. Aber entscheidend ist dabei, daß in dieser zur schönen Avignonerin mutierten schönen Arlesierin »alle Rassen der Erde« vereint seien.
Ja. Es ist dieses Gesicht, dessentwegen ich seit bestimmt fünfzehn Jahren in den Süden Frankreichs fahre. Vermutlich ist es überhaupt der einzige Grund, weshalb ich immer dorthin fahre. Natürlich ist es die Landschaft, das Meer, der Blick darauf, der Blick auf die Öffnung, durch die die Schiffe hinausfahren in Richtung der Îles d’Frioul oder Château d’If in den Norden Afrikas oder Korsika, in den Osten ums Cap Croisette und der Île Maire herum, vorbei an Île de Jarre oder Île de Riou nach Cassis. Oder es ist das sogenannte Lebensgefühl, das mich anzieht und dessentwegen ich auch auf ewig dort wohnen möchte, einfach nur zu sitzen und nichts zu tun und zu schauen, zu schauen und noch einmal zu schauen. Aber doch nicht den ganzen Tag aufs Wasser oder, von schräg gegenüber, hinauf zur thronenden nicht ganz so alten Notre-Dame de la Garde. Es ist das Gesicht, das ich am liebsten den ganzen Tag anschauen möchte. Ganz früh ist es das der Bäckerin an der Ecke Rue Beauvais und Rue Bailli de Suffren, durchaus auch deren Tochter, die mir manchmal, bevor sie ins Gymnasium geht, das Schokoladenbrötchen verkauft, mit dem ich mich vor das Café setze und einen, zwei, drei große Café trinke, bis die Bedienung kopfschüttelnd die Bestellung des nächsten entgegennimmt. Da ist es dann deren feingeschnittene, offene Physiognomie, die ich mittlerweile schon aus den Augenwinkeln anschaue, weil ich sie nicht immerfort anstarren möchte. Doch ich kriege das charmante, warme, aus dem Inneren kommende Lächeln auch mit der gespielten Kühle nicht weg. Dann taucht dieses Gesicht aus allen Richtungen kommend auf. Vier-, zehn-, zwanzigfach geht es vorüber, läuft in diesem langezogenen Eilschritt – der hier am Abend allerdings in die leicht schlurfende Gelassenheit der Marseillaise übergeht, wenn er nicht überhaupt gemächlicher ist als der in anderen französischen Städten – ins Büro oder stellt sich, auf den Autobus wartend, oft fünf Minuten vor mich hin, auf daß ich es nur lange und intensiv genug anschauen, mich meinen Sehnsüchten hingeben kann. Den ganzen Tag sehe ich es, dieses Gesicht, das von überall herkommt, in der zweiten, dritten oder gar fünften Generation, der eine Teil der Großeltern aus Tunesien, der andere aus Armenien oder Afghanistan, wiederum gepaart mit Algerien, zwischendrin jemand aus der Gegend von Pérpignan oder gar aus der nördlichen Bretagne oder überhaupt eine Pied-noir oder die schöne Arlesierin, die es ja nun, entgegen aller gegenteiligen, also garantiert vorstellungsfreien Behauptungen wirklich gibt, auch wenn sie in Aix-en-Provence oder in Narbonne geboren oder aus Besançon hinzugezogen ist, weil nördlich von Lyon, wie man mir hier mal beiläufig, jedoch bestimmt mitteilte, keine Menschen leben. Sogar die Bordsteinschwalben, die vom frühen Nachmittag an in der Rue Saint-Saëns an der Place Ernest Reyer, dem Opernvorplatz, flanieren oder in der Rue Glandèves, die eine direkte, na ja, fast eine direkte Verbindung zwischen dem Seiteneingang der Oper und meiner Loge, dem Bar-Tabac hinter der Bushaltestelle am Alten Hafen, zu sein scheint, sie spendieren ihre lockenden Scherzchen, tragen es hochaufgerichtet – dieses Gesicht in all seiner Wandelbarkeit und seinen Facetten. Ich kenne diese schwarze Odaliske im Harem der Wikinger, ich habe ein Fernstudium hinter mir. Ach was, Rousseau, Shaw, Shakespeare – Pygmalion arbeitet in mir, nur hat sich Aphrodite noch nicht herabbegeben, um das Blut fließen zu lassen. Dieses Gesicht hat einen Tryptichon-Altar in meinem Kopf.
Aber dieses hier, eindeutige Inkarnation der mehrfach dramatisierten und dramatisierenden Skulptur – und ich kenne es dennoch nicht. Auch, wenn es mich herausfordernd anlächelt.
»Gerne. Es hat mich sehr gefreut, den 51er bei Dir stehen zu sehen. Du liebst unseren Geschmack offensichtlich nach wie vor sehr. Sogar einen von Henri Bardouin hast Du. Aber ich will einen Kuß vom Mund der Rhône – also das Gewöhnliche aus dem Regal Deines Débit de tabac am Vieux Port, einen Cinquante-une.«
Was die alles weiß! Und woher spricht diese Frau so gut deutsch? Es gibt zwar immer wieder mal Franzosen, die das ordentlich können. Aber so gut?! Und das hier ist niemand aus dem Wirtschafts- oder Geistesleben, der es gezwungenermaßen spricht. Auch ist sie mit Sicherheit auch nicht zweisprachig aufgewachsen wie die mehr oder minder feinen Moderatorenmädels meiner TV-Elfenbeinoase Arte. Dieses Deutsch ist vielleicht früh erlernt, aber nicht aus einer elterlichen deutsch-französischen Freundschaft heraus erwachsen, quasi auf dem Kopfkissen erlernt. Die allzu korrekte, bisweilen papierne, aber dennoch oder vielleicht gerade deshalb äußerst charmant klingende Diktion verweist darauf. Sie spricht fast jenes korrekte Deutsch, von dem eine Bernerin einmal beeindruckt, aber doch sehr erschrocken sagte, es sei Bühnendeutsch. Fremd eben. Und deutlich ist zu spüren, daß sie sich darin bewegt wie in in einem Korsett. Dennoch enorm. Fast automatisch passe ich mich ihr an und gerate in ein Deutsch, das doch um einiges abseits des Umgangssprachlichen liegt, das ansonsten aus mir herausquillt. Wer fremdes Terrain erkunden will, wer gut aussehen möchte, der wird den einzigen Flanell tragen, den er im Schrank hängen hat. Er hält schon seit Jahren, da er nicht oft kaschieren muß. Ich spreche, als ob ich ein Mikrophon vor dem Mund hätte und eine Rundfunksendung moderierte.
Ich gehe in die Küche, ohne die Antwort abzuwarten. Ich wollte zwar ein Glas Rotwein, aber nun bereite ich mir auch einen Pastis zu, einen aus der Fabrik, einen Gewöhnlichen, wie sie ihn nannte. Mir schmeckt das neumodische, für die besserverdienenden Philister des sogenannten guten Alten, diese Feinde des wahren Glaubens hergestellte Gebräu auch nicht so recht. Aber vielleicht ist es auch nur die schlechte Gewohnheit, und ich tue diesen ganzen Predigern mit überwiegend deutschen Bibelschülern des sogenannten Slow Food unrecht. So fülle ich ihr ungefragt eine vermutlich exakte Menge Wassers in das am Lyoneser Plätzchen Croix-Paquet gekaufte – nicht geklaute, zu sowas bin ich zu feige, weil ich weiß, daß ich es nicht kann, oder vielleicht, weil es mir einmal gründlich mißlungen ist und ich letztlich mehr dafür bezahlen mußte, als ein ganzer Pastis-Nachmittag gekostet hätte –, das käuflich erworbene 51er-Glas also, und stelle es neben Sie in die kleine Bucht der papierumtosten Holzplatte des Arbeitstisches – ein Erbstück aus einem Bratkartoffelverhältnis zwischen dem damals hochgestimmten Kultur-journalismuslehrling und einer sich ein bißchen aus ihrer Bodenhaftung träumenden Wirtstochter. Sie kommentiert meine Unhöflichkeit nicht, einem Franzosen dazu keinen Krug mit eiskaltem Wasser danebenzustellen. Andererseits, in Marseille ist das durchaus üblich. Marseille? Wie komme ich denn darauf? Ich werde wohl gezwungen sein, zu erkunden, von woher die Woge kommt, die sie an meinen einsamen Strand gespült hat. Vom Tisch des mobilen Computers ziehe ich den Hocker heran und setze mich frontal und breitbeinig vor sie hin.
»So denn. Dann sagen Sie mir doch mal ...«
»Ich warte schon sehr lange auf Dich. Doch das ist nichts im Vergleich zu der Zeit, die ich benötigte, Dich zurückzufinden.«
»Gut. Spielen wir also – weiter. Vermutlich entstammen Sie in der fünfunddreißigsten Generation dem Elsaß – in Frankreich ist das ja alles möglich, auch wenn Sie nicht gerade danach aussehen. Aber wer sieht heutzutage schon so aus wie seine angestammte Wurzel? Origine, heißt es nicht so? Wurscht. Wenn er überhaupt eine einzige hat. Mich halten Thais und Vietnamesen seltsamerweise immer wieder für einen Japaner ...«
»Und die Japaner für einen Kasachin. Wenn sie gut informiert sind. Ich erinnere mich gut. Im Gegensatz zu Dir. Und die Menschen aus Kasachstan nehmen ihren Bruder sofort mit in ihre Jurte zum Trinken von Buttertee. Wenn sie keinen haben, weil sie sich auf Reisen befinden, dann nehmen sie Wodka. Ich sagte es, meine Mémoire ist intact. Nun ist sie es noch mehr intensif als früher, mit Deinen kurzen Haaren und dem schlanker gewordenen Gesicht. Es gefällt mir. Auch das, mit einem halben Sibérien verheiratet zu sein.«
»Es ist nicht zu fassen! Wo haben Sie denn das her?! Das ist ja allertiefste Innerei, in die Sie da hineingreifen!«
»Ich sagte es – mein Erinnerungsvermögen ist ausreichend.«
»Ach was. Sie haben vermutlich im Rahmen Ihrer Patronymes-Forschung an der Universität zu Strasbourg meinen Namen entdeckt und ein bißchen recherchiert und wollen mir nun ein bißchen ins Gehirngedärm fassen. Aus welchem Grund auch immer. Oder hat Sie gar meine Verwandtschaft auf den Hals gehetzt – eine Verwandtschaft, die nicht mal ich kenne, aber dafür Sie?! Meine Güte, vielleicht sind wir sogar verwandt, und sie wollen mir einen Nachlaß eröffnen! Hoffentlich kein Fachwerkhäuschen in Barr oder Hagenau! Den Schlüssel können Sie behalten.«
»Wir sind verwandt, Didier. Das ist richtig. Nicht durch die Alsace. Dann eher durch Asien. Du solltest es wissen. Mon Dieu! Zudem – Mann und Frau sind immer miteinander verwandt. Sie sind ein Blut geworden.« Sie sagt das, ohne die Stimme zu heben.
»Aber« – der Widerstand läutet die Flucht ein. Ich werde zwar ruhiger, aber auch kleinlauter – »ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich das letzte Mal vor über dreißig Jahren verheiratet war und dann nie wieder. Und das einzig Lustige daran war der Prozeß der Scheidung an sich, der Sühnetermin. Mein Güte, ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt geschieden bin. Aber von Ihnen auf keinen Fall, Sie sind’s nicht. Da bin ich sicher. Denn die Dame war blond. Ich weiß auch nicht, was damals in mich gefahren war.«
»Es ist correct. Wir sind nicht voneinander geschieden. Wir waren lediglich voneinander getrennt. Weshalb, das wirst Du mir sagen.«
»Das ist wahrhaftig ein starkes Stück, das Sie hier aufführen. Ich ...«
Die Ansicht reißt mir den Satz weg. Dieser Körper, aus dem dieser lange, zarte Hals hinaufsteigt in diesen stolz getragenen, geradezu klassisch geformten Kopf, der auch aus Persien stammen könnte oder aus Kurdistan – nein, das ist keine Pied-noir, dieses fragile Gebilde, diese im Sitzen schwebende Harmonie. Sie könnte aus semitischen Regionen stammen, mit einem gehörigen Anteil jemenitischen Blutes. Ach was – da ist alles versammelt, was sich in meinen Vorstellungen von Schönheit herumtreibt. Meine Güte – wie oft habe ich mir gewünscht, eine solche Frau möge meinen Lebensmittelpunkt bilden. Sogar an Kinderchen habe ich dabei schon gedacht. Was an sich schon eine mehr als heftige Anwandlung ist. Und sowas kommt nun an und behauptet, er sei es. Das ist schon heftig. Doch was hat sie vor?
»Also. Was wollen Sie von mir? Lassen wir mal alle Unbilden beiseite, die Sie mir hier reingekarrt haben. Was wollen Sie?«
»Was ich will, mein Lieber? Was ist das für eine Frage? Eine Frau hat ihren Mann gesucht, und sie hat ihn gefunden. Ich bin ein Cochon de truffes. Non! Ich bin ein Chien de truffes. Ich bin dieses, das Du – einmal geliebt hast: ein Mischling. Sie sind die besten für das Finden von Truffes. Wenn sie sind Mischlinge und nicht dressiert. Ich habe einen Truffe gefunden. Wiedergefunden. Das muß ich sagen. Er sitzt vor mir. Und nun bleibt er bei mir, ich behalte ihn in meinem Mund. Es gibt keinen Gebieter für mich, dem ich meine liebste Speise zu geben habe. Weil wir zusammengehören, haben wir zueinander gefunden. Und bitte«, sie scheint ungehalten zu werden, »nun bitte ich Dich, das Spiel zu beenden und mir zu sagen, weshalb Du weggegangen bist. Ohne mich.«
»Ach, Sie wissen es nicht!? Damit haben Sie sich selbst die Schamdecke weggezogen, und ich sehe Ihre Blöße. Sicher, Sie sind auf Ihrer Haut schöner als die Wahrheit, die daruntersteckt und die Sie mir hier andrehen wollen, denn: Mann und Frau kennen einander! Oder etwa nicht!? Denn wer mich kennt, der weiß, daß ich nichts besser beherrsche als das Weglaufen.«
Ein wissendes, fast suffisantes, aber auch ein wenig melancholisches Lächeln dehnt ihre Lippen, und ihre Augenbrauen heben sich leicht.
»Das ist es, wovor ich Angst hatte. Und es ist geschehen. Du sagst offensichtlich die Wahrheit. Du bist also vor Dir selbst weggelaufen. Und ich fange Dich jetzt wieder ein. Für Dich und für mich.«
Sie scheint mich tatsächlich einzufangen, erschwerenderweise allerdings vor allem mit einem Netz, von dem ich immer meinte, es selbst am besten knüpfen und auswerfen zu können. Es ist einmal mehr ein Beweis, daß es keine anhaltende engere Verbindung gegeben haben kann – was denke ich da, ich gerate bereits in ihre Suggestionsfänge –, denn in verbalen Auseinandersetzungen mit Frauen war letztendlich immer ich als Sieger aus dem Gefecht hervorgegangen. Und sei es durch das verkleinernde Vervielfachen und Umbiegen einer – allerdings immerselben – Argumentation. Aber hier scheinen die Maschen ziemlich eng. Eine derartige rhetorische Reuse hat es in meinem Denk- und Gefühlsstrom noch nie gegeben.
»Ja, ich bin Meister der Flucht, Madame – wie heißen Sie eigentlich? Mich haben Sie sich ja bereits vorgestellt.«
»Didier ...«. Es ist ein gedehntes Stöhnen, doch gar nicht mal zerdehnt. Es klingt seltsam echt. Es ist zum Fürchten.
»Aber vielleicht sind Sie es ja, die von meinem Eiland geflüchtet ist, doch meine Egozentriertheit hatte Sie zuvor lediglich nicht wahrgenommen. Wer weiß?«
»Didier, ça m‘énerve.« Ihre Stimme bekommt eine theatralisch-ärgerliche Einfärbung. Sie muß Schauspielerin sein. Ein bißchen viel Pathos. Wer hat sie mir ins Haus geschickt, sie reingelassen? Isaac? Ist das eines dieser Stückchen, das sie mit ihren Pariser Theaterfreundinnen geschrieben und inszeniert hat? Nein, dazu ist diese hier zu jung. Ist sie das tatsächlich? Ich bin gar nicht mehr so sicher. Andererseits ziehen diese Kreise sich weit. Doch so weit würde Isaac nicht gehen. Vor diesen Folgen, vor diesen Tobsuchtsanfällen hätte sie dann doch zuviel Furcht. Oder auch nicht.
»D‘accord.« Ihre Stimme wird wieder von ihrem gambenartigen Timbre gestützt. Offenbar habe ich aufgehört, sie zu nerven. Ich wußte gar nicht, daß das so schnell gehen kann. »Ich habe so lange gebraucht, Dich zu finden, so daß mich diese nicht ganz so herausragenden intellektuellen Flegeleien nicht mehr im Übermaß berühren sollen. Es könnte zudem auch sein, daß es zutrifft, was mir zugetragen wurde, daß Dein, wie soll ich es sagen, Dein neurologischer Aufenthalt, Dein Krankenhausaufenthalt Dir tatsächlich einen Teil Deines Gedächtnisses gekostet hat. Deshalb meine ich ...«
Nun war ich getroffen. Nun lag ich am Boden. Hilflos rang ich nach klaren Gedanken. Ich stand auf und wollte hinausgehen.
»Du magst viel verloren haben auf Deiner Flucht – vor Dir, vor mir, vor allem möglichen, das ich – noch – nicht weiß. Jedoch Deine Ausweichmanöver en permanence hast Du nicht verlernt. Nimm wieder Platz. Darum bitte ich. Ich habe Dich nicht gesucht und gefunden, um Dir erneut nachlaufen zu müssen. Du kannst höflich sein. Ich weiß es.«
»Oh Himmel! Wer sind Sie, verdammt nochmal, der Sie solches ungestraft sagen dürfen! Bin ich ein Herumtreiber, der nicht einmal mehr von seinem Vater erkannt wird? Will Circe mich demütigen? Hat Calypso mich besoffen gemacht? Sind Sie aus einem schlechten Roman gehüpft. Bin ich in einem solchen?! Ich will zu Queneau ins Manuskriptbett. Bei dem geht es lustiger und angenehmer zu. Wie kommen Sie dazu ...«
»Es wurde mir gesagt. Und: Wenn Du es auch gerne wärest – nein, das wärest Du nicht gerne. Dazu bist Du, das weißt Du selbst, zu feige: die sturmumtosten Meere der Liebe, der Abenteuer von Entstehendem zu bereisen. Und für diesen Ikarus bist Du dann, pardon, sage ich einmal so, doch ein wenig zu alt. Dieser Ikarus ist ein Jüngling. Deine Flügel haben nicht mehr die Kraft, Dich aus einem Manuskript herauszutragen. Deine Ausflüge sind Papier. Jedoch – ich will Dich zu nichts zwingen. Ergründen möchte ich, was geschehen ist, weshalb Du – meinetwegen? Deinetwegen? – nicht in diesem Paradis geblieben bist, das Du Dir immer so ersehnt, das Du Dir quasi erschrieben hattest, das Du erreicht hattest, in dem Du angelangt warst – und es dennoch geflohen hast.«
Ich erhebe mich vom Hocker, gehe ein paar Schritte ich in Richtung der Mitte des Zimmers und grüble. Langsam senkt sich der Eindruck bleiern in mich, daß mir jemand ganz besonders übel will. War das einer der Racheakte, wie ich sie einmal erlebte, diese hier allerdings in sehr viel gesteigerterer Form? Ich will mich wieder setzen, doch ich unterlasse es, da die unmittelbare Nähe dieser Circe mich von der Erinnerungsspur abgelenkt hätte, auf der ich mich gerade befand. Am Ende befand sich unter dieser Jeans der Leib einer ungeheuerlichen Skylla. Von der Mittelmeernähe stammte sie ja offensichlich ab. So sieht sie jedenfalls aus. Wenn sie auch was von Asien erzählt hat. Doch dort gibt's ja auch Ungeheuer und Unbilden.
War das vielleicht eine Spur? – Als es mir seinerzeit lästig geworden war, eine vom Zielobjekt zu sehr verinnerlichte Eroberungstaktik immerfort weiterzuführen und im Bett sitzend theatralisch die Klassiker hinauf- und hinunterlesend zu deklamieren, hatte ich damals die Vorstellung abgebrochen. Soweit war meine Liebe zum Theater nicht gegangen, daß ich dieser Elevin auf Dauer die Rampe bildete, zumal sie zu denen gehörte, die weniger ihre exhibitionistischen Neigungen in die Kunst einzubringen als vielmehr auf der Bühne ihre entwicklungsbedingten psychologischen Wehwehchen zu heilen gedachte. Sie gab mir meinen Korb zurück, indem sie auf die Wände des gerade renovierten Treppenhauses, vom fünften Stock bis hinunter zum Hauseingang, schrieb: Aubertin ist ein Schwein. Dietrich ist ein Schwein. Aubertin ist eine Sau. Es dürfte eine Strafarbeit von etwa fünfzig Inschriften gewesen sein. Glücklicherweise war die Wandfarbe bereits trocken und kunststoffgeglättet und die junge Frau unwissend genug, daß man für solche Sgraffitis sich statt eines weichen eines harten Bleistiftes bedient. Dennoch hatte ich mich, unter Anleitung der verständnisvoll aus ihrem Bartgesicht feixenden Hausmeisterin, einer mehrstündigen Tilgung meiner Untat zu unterziehen. Daß die junge Frau ein paar Tage danach versuchte, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, hatte sicherlich nichts mit mir beziehungsweise mit dieser meiner Art der Vergangenheitsbewältigung zu tun. Ich hatte ihr Leiden wohl nicht erkannt. Ob es ihr etwas genutzt hätte, wird wohl nie in irgendwelchen Annalen auftauchen. Nach langen Jahren, vor ein paar Wochen, begegneten wir uns auf der Straße und nickten uns kurz zu. Sie hat mich also offenbar unbeschadet überstanden. Vielleicht lag es daran, daß mein arg schlechtes Gewissen mich damals zu ihr ins Krankenhaus trieb und der freundliche Arzt mich trotz fehlenden Verwandtschaftsgrades zu ihr ans Bett ließ. Wie auch immer – die vor mir sitzende, für mich schmerzhaft selbstbewußte Grazie hier kann kaum etwas mit meinem damaligen Abenteuer zu tun haben. Das in die schwache Erinnerung abgelegte Gesicht trägt viel zu sehr die Züge einer eher langweiligen Brünetten, die später in der Resignation eines Verwaltungsbüros enden würde. Vielleicht gerade noch in dem eines Theaters oder eines Fernsehsenders.
Oder ist dieses hier der Versuch, mich für eine andere Tat zu demütigen, von der ich allerdings nichts weiß – an die ich mich möglicherweise nicht erinnere? Meine Besucherin schweigt. Sie kommentiert meine Nachdenklichkeit allerdings nicht weiterhin so lakonisch wie zuvor. Oder gehört ihr Schweigen zur Dramaturgie, zur Inszenierung eines Dramas, dessen Schrecken sich in der vor mir sitzenden – nun – Sanftmut versteckt? Sollte es am Ende gar erst richtig beginnen? Sie war mir einfach zu ruhig. Ich löse mich aus meinen retrospektiven Gedanken und gehe zurück an den Tisch. Ohne an eine Reaktion zu denken und wohl aus der Gewohnheit heraus schalte ich das Licht ein. Es schlägt in mich hinein – und droht mich zu spalten. Vor mir sitzt das Gesicht. Sogar ein Name zu diesem Gesicht fällt mir schlagartig ein: Fatima.
Aber dieser Blitz in die Vergangenheit liefert mir die damalige Niederlage gleich mit. Es war eine Niederlage, die ihresgleichen sucht. Denn eben dieses zarte junge Geschöpf namens Fatima hatte ich verschmäht und meine Pfauenfedern einer anderen, um einiges älteren, jedoch, wohl wegen ihrer Reife, anziehenderen Tochter Algeriens hochgestellt. Hier die in der Anfangsblüte stehende Schönheit und dort diejenige, die bereits die Nacht in der Hand des Verkäufers durchlebt hatte, deren feingeschnittenes Gesicht eben jene Pigmentierung kennzeichnete, die aus Säften entstanden ist, deren Wurzeln aus tiefem Sand gerissen und zwischen den Kalkstein und den Lehm des französischen Jura verpflanzt worden waren. Doch diese hier, die ich in diesem Augenblick sah, war Fatima, jetzt ein paar Jahre älter zwar, aber wohl gerade deshalb jetzt wohl Homers Lügenbuch entsprungen.
Da saß sie nun. Fatima. Das Alter könnte hinkommen. Zehn, zwölf Jahre gereift. Etwa wie der Château Laroque Saint-Emilion Grand Cru 1989, den der Bekannte bei mir zehn Jahre später fast alleine getrunken hatte und von dem der Musikbesessene am nächsten Tag meinte, keine Melodie, kein Rhythmus dieser Welt, kein anderes Stöffchen habe seine Seele je derart emphatisch aufflattern lassen wie dieser Wein. Zwar immer mit festem Tritt, dennoch konstant zwei Zentimeter über dem Boden sei er nach Hause getänzelt. Dieser den Regen verherrlichende Wetterberichts-Ami aus dem Werbefilm der Dresdner Bank sei dagegen nachgerade ein Schuhplattler. Eine angenehmere Art von Wirklichkeit, fügte er während des nachmittäglichen Telephonats noch hinzu.
Oder war es doch Fadila? Der Lichtstrahl war zu direkt auf das Gesicht gerichtet, um den Reifegrad genauer zu bestimmen. Lebenslinien waren dabei nur schwierig auszumachen. Es fehlte doch ein wenig die weiche Milde des Kellers. Jene Fadila, die meine Äußerung, ich würde meine Eroberungsversuche nie aufgeben und den Kampf mit dem widersacherischen senegalesischen Barbesitzer fortführen, mit einem kaum merklichen ironischen Mundwinkelzucken kommentierte. Der Kampf sollte bald ein Ende haben. Als ich die Spielwiese der ortsansässigen Algerienfranzosen verlassen hatte, die mich so freundlich aufgenommen hatten, weil ich, wie mich der seit fünfundzwanzig Jahren mit einer solchen verheiratete Freund aufklärte, eben kein Franzose war, verblaßte das Antlitz dieser Göttin ein wenig. Nur die photokopierte Photographie an der Bürowand rückte sie manchmal für Sekunden ins Blickfeld der damals zweiwöchigen, immer wieder erneuerten Verlängerung des Hotelzimmers. Aber entfernt hatte ich das Bild nie! Seit damals. Zwei, drei Briefe gab es auch. Sie waren in Vergessenheit geraten. Bis ich erst kürzlich einen gefunden hatte. Auf der Suche nach Zukunft flatterte mir Vergangenheit entgegen. Aus einem Buch von Novalis, aus den Gedichten. Deutsch-französisch. Er lag in einem Distichon. Ihre Widmung drückte sich in einer feinen Bleistiftlinie aus, im deutschen Teil, unterhalb des Titels: Kenne dich selbst.
»Eins nur ist, was der Mensch zu allen Zeiten gesucht hat;
Ueberall, bald auf den Höhn, bald in dem Tieffsten der Welt –
Unter verschiedenen Namen – umsonst – es versteckte sich immer,
Immer empfand er es noch – dennoch erfaßt er es nie.«
Das schloß an unsere damaligen Gespräche an. Und zwei Seiten weiter befand sich ein Kreuz, wahrhaftig kein christliches, eher solch ein typisch französischer Handschriftenschnörkel, dessen Herkunft man aus allen Schriften dieser Welt heraus erkennt. Doch ein wenig arabisch Ornamentales meinte ich auch darin zu sehen. Er wies darauf hin: »Frei mich gemacht und gewiß eines unendlichen Glücks.« Sofort mußte ich an Ingeborg Bachmanns Dreißigstes Jahr denken: »Ich liebe die Freiheit, die doch in allem Feststehenden zu Ende geht, und wünsche mir schwarze Erden und Katastrophen aus Licht. Aber auch dort ginge sie zu Ende, ich weiß.« Das kam dem näher, als an die von mir erhoffte Liebe zu denken. Ich hatte diese faszinierende Algerierin nie wirklich verstanden. Doch ich hatte mir ja auch nie Zeit dafür genommen. Unendlich zugeplappert mußte ich sie haben. Später habe ich dann in Baudelaires Tänzerin Fanfarlo erfahren, wie ich mich wohl aufgeführt habe: wie Samuel Cramer, dieser von unserem so wunderbar wahnsinnigen Dichter so mild gezeichneten Kreuzung aus einem bleichen Deutschen und einer braunen Chilenin, aber unter Hinzufügung einer französischen Erziehung und einer gepflegten literarischen Bildung. Vermutlich hielt ich das in meiner Aufgeregtheit für weltmännisch. Oder ich hatte, ganz im Sinne von Tucholskys Weisheit, es sei alles schonmal gedacht, diesen Samuel Cramer vorweggenommen, sollte ich ihn doch erst im Nachhinein kennenlernen. »Samuel gehörte, wie man sieht, zu jenen einen ganz einwickelnden, unausstehlichen und leidenschaftlichen Menschen, bei denen das Handwerk die Unterhaltung verdirbt und denen jede Gelegenheit gut genug ist, sogar eine im Augenblick gemachte Bekanntschaft an einer Baum- oder Straßenecke – und wäre es auch nur ein Lumpensammler, – um hartnäckig ihre Gedanken zu entfalten.« Oder ich war gar diese Figur? Irgendwie verwandt waren wir sicherlich. »Er war immer der sanfte, wunderliche, träge, schreckliche, gelehrte, unwissende, höchst lockere, gefallsüchtige Samuel Cramer, die romantische Manuela de Monteverde ...« – war das eine Vorwegnahme von Lautréamont, dem Anderen vom Berge mit seinen Gesängen des Maldoror, der 1867, zwanzig Jahre nach Fanfarlo, in Paris auftauchen sollte? – »Er besaß die Logik aller edlen Gefühle und die Wissenschaft aller Verschlagenheiten, und nichtsdestoweniger ist ihm niemals etwas gelungen.« Heute habe ich eine exakte Abbildung der Situation im Kopf: daß ihre fast schwarzen, in sanfter Weichheit gebetteten Augen mehr als einmal belustigt zuckten. Sie saß immer nur still da. Auch hatte ich sie nie kommen sehen. Und wenn ich noch so angestrengt Ausschau gehalten hatte. Jedesmal saß sie auf einem Stuhl neben mir, sobald mein erwartungs- und sehnsuchtsvoller Ausguck wieder in sich zusammengesunken und in meiner kleinen Welt wieder zum Löchlein ohne Horizont geworden war. Als ob sie nie weggewesen wäre. Selbst wenn dieses bisweilen damenhaft wirkende, dennoch jugendliche Wesen im wallenden Gewand – wohl eine kleine Verbeugung vor der Herkunft – mal für kleine Mädchen entschwebte, empfand ich ihre Rückkehr jedesmal aufs neue als Überraschung. Sie saß einfach wieder da. Und lächelte. Und nicht immer nur ironisch.
Nicht nur wegen des wiedergefundenen, Unsinn: plötzlich aufgetauchten Briefes mußte ich neuerdings wieder öfter an sie an sie denken. Plötzlich? Erst vor kurzem hatte ich in einer heftig anbrandenden Sehnsuchtswoge mich in Besançon wieder auf den Ausguck hinaufgehangelt. Verschwunden war sie. Nicht mehr auffindbar. Ihr Name war aus dem Telephonbuch von Besançon verschwunden, wie meine mehr als leicht nostalgische Neugierde herausgefunden hatte. Auch über sämtliche greifbaren Auskunfteien der France Télécom war nichts zu erfahren. Nirgendwo im gesamten Frankreich leuchtete mir mehr ihr Licht. In keiner Région war ihr Name zu finden. Diesen Mann gleichen Namens in Besançon getraute ich mich allerdings nicht anzurufen. Am Ende glaubte der, ich sei der Grund ihrer Flucht vor ihm. Oder sie ist am Ende gar zu ihm zurückgekehrt. Dann wäre ein solcher Anruf einmal mehr ein Grund für einen Mord am Anrufer. Aber über meinen Tod mochte noch immer ich selber bestimmen. Ein wenig gedauert hat es mich schon. Andererseits war ich mit der Situation doch insofern im Reinen, als mir klar war, daß es so nicht geht: sich zehn Jahre nicht melden, und dann erwarten wollen, daß sie die ganze Zeit an meinen – doch arg leichtfertigen – Schwur denkt, ich würde meine Eroberungsversuche nie aufgeben. Doch saß sie nun da? Hier, vor mir? So war es wohl. Obwohl – das ging eigentlich nicht. Fadila wäre ja jetzt ungefähr sechsundvierzig, vielleicht achtundvierzig. Auf die fünfzig zugehend. Also ist es doch Fatima. Die junge blühende Schönheit von damals. Doch das kann auch nicht sein. Denn die hätte jetzt das zarte Alter von etwa dreiunddreißig, allenfalls fünfunddreißig Jahren. Also doch Fadila. Denn diese Wüstenblumen verblühen hierzulande ja längst nicht so früh – Quatsch, Unsinn. Ingeborg Bachmann hatte es mir ja erläutert, wie es sich verhält: »... die gleichen Blumen, die bei uns bescheiden und kurz blühen, kommen dort zweimal im Jahr, groß und leuchtend. Die knappe Erde, der abweisende Fels spornen sie an. Die Armut treibt sie in die Arme der Schönheit.« Schönheit ja. Aber Armut? Diese Blüte ist doch nicht arm, geschweige denn armem Boden entwachsen. Kargem vielleicht. Aber doch nicht im Jura. Oh! Aubertin. Als ob das eine Rolle spielte! Das sind Wüstenblüten, prall gefüllt zudem mit ihrem ureigenen Samen! Die geben ihre Gene doch nicht preis, nur weil sie ein paar Wurzeln in Ton, Mergel und Kalkstein geworfen haben. Außerdem weißt du ja nun wirklich nicht, ob sie nicht längst wieder zurückgewandert sind in den heimatlichen Sand. Zumindest in den südfranzösischen. Und das käme ja vermutlich hin. Das könnte hinkommen. Wie auch immer. Demnach wäre es nicht Fatima, sondern Fadila. Also Fadila. Das nehme ich jetzt doch eher mal an. Aber diese zarte Filigranität, diese eine leuchtende Farbe aus vielen Pigmenten hier kann doch noch nicht über vierzig, bald fünfzig Jahre blühen. Also doch Fatima. Doch der gehörte doch nun wahrlich nicht meine emphatisch aufflatternde Seele, mein mich wild reitendes Herz. Das ritt nur Attacken gen Fadila.
»Entschuldigen Sie – sind Sie es wirklich? Fadila? Sie haben mich gesucht? So wundervoll das ist« – ich verfiel völlig gegen meinen Willen in eine fast unzumutbare Dümmlichkeit – »aber weshalb?«
Es war, als ob Vater Zeus eine seiner schönen Töchter vor mich hingeschleudert hätte, um einen Fehler der Weltliteratur und des mythischen Theaters zu korrigieren. Als ob er das richtige Licht eingeschaltet hätte. Auf einmal sah ich genau – im Bruchteil einer Sekunde war alles Blut aus dem Gesicht entwichen. Der lange, schlanke Hals trug einen Kopf, der wieder zurückgekehrt war ins Reich der Bildhauerei. Das war keine Haut mehr, es war Elfenbein. Winckelmanns Antikenideal hatte gesiegt. Alle Tiefe hatte sich in der inhaltlosen Form aufgelöst. Oder war das zuvor schon so, und ich hatte es im Düsteren nur nicht gesehen? Auf jeden Fall sieht das Gesicht aus wie der definitive Nachweis dafür, daß neuerlich jedwedes Leben aus der Kunst gewichen ist. Das Leben gehörte also wieder sich selbst. Doch dann kehrt es vereinzelt wieder zurück in die Skulptur. Es beginnt am Mund und setzt sich zuckend in den Bereich der Augen fort. Ich meine, etwas Wäßriges darin zu sehen.
»Warum tust Du das, Didier? Weshalb tust Du mir so weh? Ist es so schlimm, war ich so böse Dich gegenüber, daß Du dieses mir tun mußt?«
Offensichtlich war das Leben tatsächlich in die Kunst zurückgekehrt: der Sprachperfektionismus war dahin. Ich spüre, wie ich meinen Kopf wieder an die Luft bekomme. Doch weshalb war sie traurig gestimmt? Ich hatte ihr doch nichts Übles angetan. Sie war damals diejenige, die mit ihrem schönen schwarzen Krieger nach Spanien an den Urlaubsstrand fuhr und mich Schmachtenden ins deutsche Ferienende zurückstieß. Doch nun spüre ich, daß ich tatsächlich etwas nicht ganz Korrektes gesagt haben mußte.
»Ich bin mir durchaus im klaren, daß Du während unserer Trennung nicht abstinent warst. So seid ihr Männer, und dabei bist Du sicherlich Mann. Doch daß Du mich mit den Namen Deiner Liebschaften ansprichst – c'est trop fort! Allerdings es ehrt mich, daß Du offensichtlich innerhalb der Ströme unseres Blutes geblieben bist. Jedoch – so gleichklingend sind die Namen Fadila und Naziza nun doch auch wieder nicht, daß Du nicht hättest ein kleines Maß an Feingefühl beibehalten können.«
Hatte ich mich wirklich geirrt? Es war nicht Fadila. Und jetzt, im besten Sinn des Wortes, bei Licht betrachtet: Es wäre ja mehr als kitschig, würde diese Frau mich nach zwölf Jahren sozusagen abholen. Aber wer? Und richtig: Fadila sprach ja kein Wort Deutsch. Wir radebrechten damals in einer Mischung aus Englisch mit meinem bißchen Französisch, häufig sprach ich englisch, und sie antwortete französisch. So lief es denn passabel, das Gespräch über Literatur und Welt, unterstützt von diversen Notizen, da ich doch erhebliche Ausspracheprobleme hatte, auch ständig Englisch und Französischversuche mischte, für mein Gegenüber noch weniger verständlich, und das Geschriebene mir – schon immer – leichter gefallen war. Und dennoch waren es mehr als erspriesliche Unterhaltungen gewesen. Aber sie konnte unmöglich in dieser Zeit so gut Deutsch gelernt haben. Obwohl: zwölf Jahre? Wer weiß, was seither geschehen war? Vielleicht hatte sie ja mit einem Deutschen oder Schweizer das Kopfkissen geteilt. Es gibt ja genügend, die aus der nahen Schweiz herüberfahren, um sich in Besançon preisgünstig sattzuessen. Beispielsweise in diesem sehr feinen Restaurant mit dem typisch französischen Namen Mungo Park, in dem ich mit ihr essen war. Wo ich vor lauter Begeisterung – und vielleicht oder vielleicht auch mit Sicherheit auch ein wenig großspurig – dem Kellner sämtliches Kleingeld in die Hand geschüttet hatte, das sich in meinen Taschen immer ansammelt, da ich grundsätzlich mit Scheinen bezahle, weil ich die aus den aus den Mündern herausratternden Zahlen nie verstehe. Da kommt einiges zusammen. Er ist recht eingeknickt, dieser aufrichtig freundliche Gastgeber, der an unserem prachtvoll großen runden Tisch für uns beide immer ein wenig gelöster war als an den leicht höher dimensionierten Hockern der anderen Gäste. Wahrscheinlich war er froh, mal jemand anderen bedienen zu dürfen als diese unangenehmen Pfeffersäcke aus dem Osten. Dafür hatte Fadila die Augenbrauen bedrohlich nach oben gezogen. Fast ebenso abfällig wie beim Anblick meiner fetten Voiture. Also ist mein Gedanke schon leicht abwegig, sie auf einem solchen Kissen zu vermuten, von dem mir mein guter alter Vater einmal versichert hatte, auf ihm lerne man fremde Sprachen am schnellsten. Doch wer weiß? Vielleicht wurde aus der Not eine Tugend. Und nun hat sie sich der Tugend wieder entledigt und trägt wieder die leichte Baumwolle ihres tatsächlichen Wesens?
Aber, ach was, auch nach zehn Jahren spricht doch niemand das Deutsch einer Auslandskorrespondentin. Doch wer weiß? Ich sollte nicht von meiner Fremdsprachenlegasthenie ausgehen. Außerdem könnte es ja tatsächlich auch Fatima sein, die hier vor mir sitzt. Die schien mir schon eher in Richtung des Gutsituierten orientiert zu sein als Fadila.
»Also nicht Fadila. Gut. Dann sagen Sie mir doch endlich, wer Sie sind. Ich bin nicht willens, diese Schmierenkomödie weiterhin mitzuspielen. Sie sind, zugestandenermaßen, eine schöne, eine durchaus reizvolle Frau, und ich gebe zu, daß Sie dem Schönheitsbild angehören, daß mir die Sehnsüchte oder die Gene oder das Schicksal oder sonstwas im Lauf der Jahrzehnte zurechtgemalt haben. Aber unter diesen Umständen kann ich nicht einmal entfernt daran denken, daß ich in einem Film von Rohmer sitze. Ich sitze in einem dieser vielen schlechten deutschen Filme, die gekennzeichnet sind von der Dramaturgie des dualistischen Prinzips, sozusagen der Eingesichtigkeit des Mediums hierzulande. Es reicht. Entweder Sie rücken jetzt mit Ihrer schönen Sprache raus, oder ich tue es mit Ihnen, Sie – hinausrücken. Durch die Tür.«
Ich gehe in die Küche, um mir noch einen Pastis zu holen. Doch als ich ihn eingeschenkt, Eiswürfel ins Glas getan und mit Wasser aufgefüllt hatte, es wegen nervös-maßloser leichter Oberflächenspannung abgetrunken hatte, merke ich, daß er mir nicht schmeckt. Pastis schmeckt nur, wenn man gelöst, gut gelaunt ist. Wenn man im südlichen Sommer sitzt. Zumindest im Hirnkino.
Er schmeckte mir nicht wie diese gesamte Situation. Und am wenigsten gefiel mir mein Verhalten, meine Ängstlichkeit, in etwas hineingeraten zu sein, zu dessen Ursächlichkeit ich möglicherweise doch beigetragen hatte. Tatsächlich war ich ja ein Meister des Verdrängens. Immer wieder geschah es, daß ich mich an Widrigkeiten, die ich anderen Menschen ins Leben gesetzt hatte, nur unter äußersten Schwierigkeiten erinnerte. Interessanterweise kam jedoch nach meinem Um-Fall, wie ich meine Hirnabschaltung nannte, die mir vor vier Jahren diesen wahrhaftig unglaublichen Zustand des Neben-mir-Stehens und der Selbstbeobachtung bescherte, zunehmend mehr weit Zurückliegendes in mein Gedächtnis, teilweise sogar bis in meine verschüttete Kindheit. So wäre es geradezu absurd, daß ausgerechnet diese Quellnymphe nebenan nicht einen Jota Vergangenheit in mir wachrufen sollte. Es war also ein abgekartetes Spiel. Anderes war nicht möglich. Ich schiebe den immer noch dort stehenden Rollkoffer zur Seite, schütte den Pastis ins Spülbecken und gehe in die Kammer, um nach einer der Situation gemäßen Flasche Weines zu schauen. Ich benötigte jetzt etwas Kräftigeres. Vielleicht ein Schluck aus dem Südwesten, einen Madiran, mit dem man herrlich Krebse knacken kann. Vielleicht ja auch diesen Fall – der allerdings seltsamerweise begann, mich immer weniger zu beunruhigen. Obwohl es das doch sollte. Denn so gut kann eine Schauspielerin gar nicht sein, daß ihr alles Blut und jede Bewegung entfährt, nur weil man sie nicht bei ihrem Rollennamen genannt hat.
Bei allem Ärger, den sie mir bereitete, wollte ich dann doch nicht allzu unhöflich sein. Wäre es ein Mann, dann säße er längst vor der Tür. Nun, es saß aber eben kein Mann bei mir in der Wohnung, sondern eine Frau. Und was für eine! Ich gehe also quer durch den Flur, bleibe an der Tür stehen und will sie fragen, ob sie einen besonderen Wunsch habe, denn ich würde eine Flasche Wein öffnen. Da sitzt diese Statue. Es war die Blutspenderin persönlich, Anadyomene, wahrhaftig, die aus dem Fruchtschaum des Meeres Emporgetauchte, die mich eingetaucht hatte. Still sitzt sie da, raucht unentwegt und blickt hinunter auf die Straße, auf die Kreuzung, auf der es langsam ruhiger wurde. Ja, das war das Gesicht. An ein solches Gesicht soll ich mich nicht erinnern?!
»Ich möchte ein Glas Wein trinken. Sie auch? Haben Sie einen besonderen Wunsch?«
»Oui. Jedoch es ist nicht die Zeit für Vin rosé. Wenn Du das dachtest. Keine falschen Reminiszenzen an Toten Fisch, wie Du ihn nennst, auch nicht an Cocquillage. Und es ist auch nicht gekühlt. Meinen Gefühlen wäre ein schwerer Bordeaux der Wehmut gerecht.«
»Madame«, entgegnete ich, den Kopf weltmännisch nach hinten werfend und die Götter der geistig Armen anrufend, »über dieses Erinnerungsvermögen verfüge ich noch! Das von einer Französin! Ein alter Bordeaux. Selbst wenn ich einen fände, was durchaus im Bereich der warmen Kammer läge, so benötigte dieser doch um einiges an Atem mehr, als ich zur Zeit habe.«
»Ah! Didier. Das sind doch nur diese Deutschen mit Portefeuille, die eine solche grande Cérémonie vollziehen. Vielleicht noch Anglais oder Japonais. Sie benötigen dazu jedoch eine Anleitung für den Gebrauch, die übertragen ist von diesem französischen Händler, der Savoir vivre à la français in feines Papier geschrieben hat. Wir Menschen nehmen es da nicht so genau. Unsere Besessenheit ist nicht von dieser rituellen Profanation des Wahren. Wir Menschen aus dem Süden sehen darin keine Compensation für eine Langeweile, die in uns ist. Wir beten Wein nicht an, wir trinken ihn. Hat er eine Stunde, wird er sich mit Lust in unsere Capillaires begeben. Ob aus Bandol oder aus Bordeaux.«
»Ich möchte aber nicht einmal eine Stunde warten.«
»Jeder Wein nimmt Luft und genießt für uns seine gewonnene Freiheit, wenn er hinausdarf aus seinem Verlies. Dann er wird sich Dir en permanence in einem neuen Kleid zeigen. Du magst diese schillernden Gewänder der Düfte. Ich weiß es.«
Sie hatte mich schon wieder rhetorisch in die Ecke getrieben. Woher hat sie das bloß. Aus der Banlieue ist die nicht. Klar. Bei diesem Deutsch. Papierdeutsch. Nein, Bühnendeutsch. Nun gut, sie könnte ja auch was Deutsches in der Familie haben. In diesem Mischlingsland ist alles möglich. Vielleicht tatsächlich Elsaß? Aus dieser Gegend, aus Lothringen, sollen zwar meine Ahnen kommen, zumindest mütterlicherseits, doch ich kenne niemanden dort, sieht man mal von ein paar Künstlern ab, die sich dort eingekauft haben. Doch Familie?
Ich beharre auf meiner egozentrierten Unhöflichkeit und setze mich über ihren Bordeaux-Wunsch hinweg. Einen Madiran finde ich nicht, aber dafür einen aus der Gegend von Nîmes, den meine Bedürfnisse annehmen. Und vielleicht eher ihrem Wesen entspricht. Seltsam genug, daß diese Frau nach Bordeaux verlangt. Dieser Wein war zwar schlicht, aber stärkend. Das war es, was ich wollte angesichts der offensichtlich bevorstehenden Rodung des wild durcheinandergewachsenen Mischwaldes meiner Erinnerungen. Es war ein Wein, der sich innerhalb von ein paar Minuten auffächern würde und auch nach dem Hinunterschlucken noch etwas Charakter beibehielt. Sie riecht erst gar nicht daran und nimmt sofort einen kleinen Schluck, den sie mit einem verhaltenden Achselzucken und dem überzogenen Abspreizen der – langen, schlanken – Finger beider Hände kommentiert.
»Du warst schon zuvorkommender, Didier. Als Du mir den Hof machtest, meinte ich, Du unterschiedest Dich von anderen. Bereits Deine Briefe waren außergewöhnlich. Doch damals wußte ich noch nicht, daß die geschriebene Selbstdarstellung Deine Profession ist, und es schmeichelte meiner Liebe zur Sprache, durchaus auch mir. Und Dein Heiratsantrag galt wohl in erster Linie Dir selbst als mir. Nein. Ich werde ungerecht. Das möchte ich nicht. Deshalb bin ich nicht gekommen. Du hattest Deine Höflichkeit nicht aufgegeben, nachdem Du mich erobert hattest. Maman spricht immer davon, und Papa vermißt Dich und die Gespräche mit Dir sehr.«
Es war zum Auswachsen. Woher hatte sie nur solche Details? So etwas kann Phantasie allein nicht gebären. Das wären der Zufälle zuviel. Profession. Nun gut, das kann ihr jemand erzählt haben. Dazu bedarf es keiner intimen Kenntnisse. Aber Briefe! Daß ich ein leidenschaftlicher Briefeschreiber bin, der in ihnen Gefühle zu lenken weiß, das zu wissen erfordert es schon einer Quelle, die in nächster Nähe entspringt. War sie eine dieser vielen Frauen, mit denen ich regen schriftlichen Austausch hatte, mich ihnen aber nie persönlich zu nähern gewagt hatte in meiner fast panischen Angst vor einer möglichen Bindung, die sich in ständiger – unfruchtbarer – Auseinandersetzung mit dem Wunsch nach Familienglück befand, begleitet von oft stündlich die Richtung wechselnden Gefühlsausbrüchen. Das könnte einiges erklären, denn in die oft buchseitenlangen Schreiben sind immer unendlich viele Details meines Lebens eingeflossen, wenn auch wie ein Rosé, wie er durch das Zusammenschütten von Rot- und Weißwein entsteht. Solchen Frevel hatte ich zumindest schon beobachtet. Manchmal fand er auch in meinem Kopf statt. Vermutlich wußte ich immer bereits im Vorfeld solcher meist über Anzeigen oder auch schon mal weltweitweb zustandegekommenen Bekanntschaften, daß es immer bei einer virtuellen Annäherung bleiben würde – als ob man es dem Friseur erzählte: sich selbst eben. Mittlerweile schulen sie ja schon die Friseurinnen zu Hilfskräften der Frauenhäuser um, da die Erfahrung gezeigt hat, daß dieses Erzähl’s doch Deinem Friseur ein Treppenwitz der Psychologie ist. Aber wer macht denn Menschen Heiratsanträge, die er nicht kennt?! Andererseits: Wenn man von vornherein weiß, daß man den Antrag in die Tat umzusetzen nicht beabsichtigt. Aber nein. Soweit würden meine Gefühlsausbrüche, die oft genug das Denken außer Funktion setzten, dann doch nicht hinreichen. Im Bett, umschmeichelt von der Zärtlichkeit des warmen und weichen Körpers, beim heranfliegenden kleinen Tod im Chiffongewand, kurz bevor der alles abschaltet, dabei ja. Wer weiß, vielleicht hatte mich solches vor dreißig – oder waren es fünfunddreißig? – Jahren gar in den Stand der Ehe versetzt. So etwas hatte ich ja auch zuwege gebracht. Vermutlich mehr als einmal.
Aber ich hatte auch Prügel bezogen dafür, im härtesten Sinne dieser ja an sich ja rein verbalen Tat. Eines Abends hatte es geklingelt, und ich hatte, zu einer Zeit, als ich noch Menschen ohne Voranmeldung einließ, arglos die Wohnungstür geöffnet. Das Resultat war ein Faustschlag ans Kinn. Doch nicht dieser hatte mich umgehauen, sondern das anschließende, bis in die frühen Morgenstunden andauernde Verhör. Damals ergab es sich, daß ich wohl jemandem besagten Antrag gemacht haben mußte. Vermutlich unter erheblichem Einfluß staatlich sanktionierter Drogen sowie einem massiven Anflug präejakulativer Glückshormone. Und diese Empfängerin meiner versammelten Ausschüttungen hatte einer kurzen Notiz im Kulturteil der örtlichen Zeitung entnommen, daß in einem altehrwürdigen Konzertsaal eine Ehelichung zwischen Aubertin und Reichel stattgefunden habe. Entweder sie hatte nicht richtig gelesen, oder es war ihr lediglich zugetragen worden, vielleicht sogar bewußt entstellt. Auf jeden Fall war die komplette Meldung untergegangen oder nicht korrekt bei ihr angekommen. Denn der war zu entnehmen, daß es sich bei dieser Festlichkeit um eine Art Performance im Rahmen einer Ausstellung handelte, bei der zwei Männer einander das Ja-Wort gegeben hatten – ein zu Beginn der achtziger Jahren eher unvorstellbarer Akt bayerischer Liberalität, zudem noch innerhalb eines staatlichen Residenz-Gemäuers. Aber es war ja auch eine eher spontane Festivität einer Handvoll fröhlicher Künstler, die den des falschen Parteibuches wegen ewigen Professorenanwärter mit der Journaille verbandelten und letztere zugleich mit einer Nottaufe aus Knoblauchöl ins katholische Zwangslager konvertierten. Mit so etwas kam man damals in die Zeitung. Die Dame, der ich die Ehe ins Ohr geraunt haben muß, hatte einen zwei Personen umfassenden, ausgeprägt männlichen Volksgerichtshof mitgebracht gehabt. Ich hatte es überlebt. Allerdings nicht meine Beziehung zu meinem reizenden Besuch, der verängstigt in meinem Schlafzimmer ruhigere Zeiten herbeigesehnt und dann die Flucht ergriffen hatte. Lange wurde ich von ihm demonstrativ ignoriert, wenn ich in der Hochschule neuerliche Nähe suchte. Möglicherweise hatte ich auch ihr gegenüber eigentlich Haltloses geäußert. Sie hat dann ihr Heil in einer Ehe gesucht, die sehr bald heillos werden sollte.
Doch es lag alles sehr lange zurück. Seit damals, nach diesem eher unliterarischen Sturm- und Drang begann mein Leben sich in stillere Gewässer zu kanalisieren. Und von Ehe wurde folglich eher weniger gesprochen. Wenn sie auch – beinahe – gelebt wurde. Aber nicht mit meinem derzeitigen Besuch. Daran würde ich mich doch wohl erinnern.
»Versuchst Du Dich zu erinnern, Didier? Es hat den Anschein, daß ich Dir doch Unrecht tue und Du die Vergangenheit doch nicht ohne weiteres aus Deinem Gedächtnis hervorrufen kannst, daß Du doch gelitten hast, wie man mir das überlieferte. Dann bitte ich Dich um Verzeihung. Dann bitte ich Dich, mir zu helfen, auf daß ich Dir helfen kann.«
»Wie war noch Ihr Name? Xanthippe? Wer hat Sie in eine keifende Sozialelfe verwandelt? Oder sind Sie von Hause aus eine. Ich kann nur hoffen, daß aus diesem Kübel übelriechender Sülze, den Sie über mir haben krachen lassen, schiere, reinigende Wahrheit nachfolgt. – Fürwahr, ich denke über meine Vergangenheit nach, und ich bin auch bei einem vermeintlichen Heiratsantrag. Doch nicht bei einem, den ich Ihnen vorgelegt haben könnte. Soweit lang sind meine Ganglien nicht. Aber Sie wollen mir ja helfen. Vielleicht hatten Sie mir ja seinerzeit die grobschlächtigen Knaben geschickt, die aus mir einen Verprügelten machten?« Obwohl ich den Kopf abrupt ebenfalls in Richtung Straßenkreuzung gewandt hatte, als ob die Lösung dieser Rätselei dort läge, spürte ich, daß das Wasser wieder stieg. In ihren Augen und mir bis zum Hals. Ich versuchte, wieder im Vergangenen zu fischen.
»Du sprichst in Rätseln. Wie kommst Du auf solch ein schlechte Idée? Wie könnte ich Dir prügeln.«
»Verflucht noch eins! Doch nicht Sie. Ich denke nicht daran, an Sie zu denken, wenn es Prügel gibt. Ach, was rede ich da für ein Zeugs. Außerdem war die Mordbraut blond. Obwohl, blond giftet – bei Euch liegt solches ja näher, Ihr habt ja die Fatwa, die ihr unterm Shador ausbrütet. Ich rede wirr. Sind Sie überhaupt Muselmanin?«
»Didier. Es ist genug. Du bist Unflat. Doch ich will nicht zu sehr konsterniert sein. Du weißt es. Oder vielleicht weißt Du es nicht und spielst nicht. Aber Du bist empörend unangenehm. Früher hättest Du mir gegenüber Dich nicht so geäußert.«
»Ich spielen?! Ich bin unflätig? Na gut, das mag sein. Ich bin stinkesauer, wenn Sie das verstehen, Madame. Wie war noch der Name. Ach ja – Nazim.«
»Nazim ist ein Männername, den Du nur deshalb kennst, weil er zu einem Dichter gehört. Nazim Hikmet. Sonst weißt Du nichts von Türken. Du willst es nicht wissen. Das weiß ich. Bon. Ich aber bin immer noch Naziza und bin aus Frankreich. Maintenent, eh bien. Ah!«
»Ich wollte gerade sagen: Naziza und französisch. Aber Sie sehen tatsächlich so aus. Man könnte gerade meinen – wie aus Marseille herausgeschnitzt.«
Ein Ruck geht durch ihren Körper. Dann rüttelt es sie durch. Sie reißt ihre Augen auf und holt tief Luft. Habe ich etwas besonders Schlimmes gesagt? Ich bin mir dessen nicht bewußt. Oder bin ich einfach nur zu rüde. Vielleicht sollte ich mich doch etwas mäßigen. Denn es scheint immer offensichtlicher, daß sie nicht hier eingedrungen ist, um mich zu meucheln.
»Du erinnerst Dich also doch. Du bist dégoûtant. C’est du suicide!«
»Madame Naziza – ein schöner Name, mein Französisch lebt innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland, ist also schlicht und leblos. Doch nicht ich habe die Absicht, Sie umzubringen, sondern ganz offensichtlich wollen Sie mir den Garaus machen. Doch jetzt mal die Späßchen beiseite: Was ist so widerlich daran, sich an Marseille zu erinnern? Ich liebe diese Stadt. Sie ist die schönste Stadt in eurem an Schönheiten wahrlich gesegneten Land. Es trifft zwar zu, daß Gott Franzose gewesen sein muß. Aber bei der Gründung von Marseille haben ihm Allah und noch ein paar heidnische Kollegen zugearbeitet. Wobei mir ansonsten Herr Gott oder wie er auch immer heißen mag, eher am sonstwo vorbeigeht. Ich habe also alle guten Gründe, mich sehr gerne an diese Stadt zu erinnern, in die ich zudem so oft fahre, wie es nur irgend geht.«
»Du warst in Marseille?« kommt es leicht gequält aus ihr. »Du warst in Marseille und hast nicht nach Deine Frau gesucht?«
Ihr Deutsch wurde zunehmend unpräziser. Sie mußte sich in einer Krise befinden, die ihr die Kontrolle über sich nahm. Auch sank sie zunehmend in sich zusammen, schluckte andauernd, rauchte bei weitem nicht mehr mit dieser souveränen Gestik. Alles nur aufgesetzt. Isaac – oder wer auch immer das ausgeheckt hat –, ihr Scheißweiber aus Paris habt mir schon wieder eine Élève du conservatoire geschickt. Sollte ich jetzt wieder Klassiker deklamieren und ins Krankenhaus fahren. Nein. Das ging zu weit. Hättet Ihr mir doch wenigstens eine Tigerin geschickt, von der ich mich mit Wonne auffressen lassen würde. Nun sitzt da ein zu spät in die Schauspielschule, etwas in die Tage gekommenes Mädchen und spielt, natürlich, schlecht, kriegt ihre Rolle nicht in den Griff. Isaac! Wo sind sie, die ihr mir schon hättet schicken können, wenn ihr Euch schlapplachen wollt – und mir auch ein bißchen was übriglassen können dabei: diese Ariane Ascaride, diese Béatrice Romain, alle diese wunderbaren erwachsenen Frauen, diese Championnes. Wenn die auch trotzdem in ihrer Heimat einen noch ausländischeren Regisseur mit französischem Paß heiraten müssen, um wenigstens ab und zu eine interessante Rolle zu kriegen. Warum habt ihr mir die nicht gesandt?! Und nun sitzt da so ein Stückchen Malheur und wird völlig aus ihrer Rolle getragen.
»Sagen Sie mir mal, Madame Nizza.« Ich war mit im klaren, daß ich platt und immer dämlicher wurde, aber ich mochte nicht weiter nachdenken, weil aus der Actrice ein schlichtes Mädchen mit Ambitionen geworden war.
»Madame Marseille, s’il vous plait, Monsieur! Wenn schon, dann lege ich darauf Wert. Du selbst hast gerade die Marseillaise gesungen und nicht die Nazzaise. Wenn mir das auch zustünde. Auch mußt Du mich nicht in der dritten Person ansprechen. Wir haben mit der Marseillaise die Ehefrau als dritte Person gemein mit dem Adel unter die Guillotine gesungen.«
Sie war offenbar wieder zurück in ihrer Spiellaune zu Beginn des Stückes. Mußte ich schon wieder losrennen, um zu retournieren? Hatte sie mir lediglich ein Verschnaufpäuschen gegönnt und hetzte mich nun wieder los? Das war doch nicht auswendig gelernt, was mir da ums Hirn flatterte. Das war ja, als ob die Lastwagenfahrer den Point-ronde lahmlegen wollten. Und jeder, der die Verhältnisse auch nur ein wenig kennt, weiß, was es heißt, wenn die mal anfangen, Flugblätter zu drucken. Ein Franzose regt sich ja zunächst erstmal über nichts auf. Bis er was hat, über das es sich aufzuregen lohnt. Dann legt er los. Und wenn er dann die Aufforderung zum Kampf gedruckt hat, dann ist wirklich was los. Dann geht eben nichts mehr. Hier bei uns regt man sich nur auf und tut dann doch nichts. Man wischt sich mit solchem Papier doch nicht einmal jemand den Hintern ab. Hier schimpft man nur, daß man wegen dieser ewigen Streikerei schon seit zwei Wochen kein BIC-Feuerzeug mehr bekommt. Oder Feinkost-Käfer oder andere Hochpreistreiber, weil's keine kleinen Gläschen mit dem Senf von Maille gibt. Alles steht auf der Straße. Im streikenden LKW. Hochdramatisch. Der Tabakwarenhändler ist permanent am Schimpfen auf diese Franzosen. Also, Madame singt die Attacke. Aber vielleicht nutzt es was und sie verrät mir bei dieser Gelegenheit, wer sie entsandt hat, mich zu füssilieren, zumindest in die Nervenklinik zu absentieren. Denn allzu lange würde ich das nicht mehr durchhalten. Zumal es für meine Schlafgewohnheiten sehr spät war und ich mich eigentlich auf meine gemütliche Liege von Tante Karstadt gefreut hatte und vielleicht auf Arte einen schöneren deutsch-französischen Film als diesen hier erleben könnte. Es sah jedoch nicht danach aus. Und zu essen würde ich wohl auch kaum etwas kriegen.
»À propos gesungen. Ich habe Dir etwas mitgebracht. Eine Frau, die immer Zweitfrau war neben mir.«
»Das fehlte mir gerade noch. Madame Naissance ...«
»Didier!« Jetzt wurde sie laut.
»Also gut, ich gebe mich geschlagen, zumindest in diesem Punkt. Naziza. Klingt aber auch schön. Und bekannt kommt es mir auch vor.« – Sie schüttelt den Kopf und stößt dabei unwirsche Laute aus, die phonetisch vermutlich in nordafrikanischem Sand wurzelten. »N-a-z-i-z-a – d’accord? Aber ich brauche keine zwei dieser Sorte. Sie reichen mir völlig.«
Sie greift nach unten in ihre korbgroße Tasche, schlichtes, dunkelblaues, weiches Leder, vermutlich vom Kalb, und zieht etwas heraus. Es ist eine CD. Es ist Enzo Enzo.
Einmal mehr falle ich einer absoluten Verstörung anheim. Das war entschieden zuviel. Aber sofort hält die Klarsicht wieder Einzug: Auch das konnte man ihr eingeimpft haben, man sie bereits damit versorgt haben, mit dieser Frau, die, soweit mir bekannt, zwar eine Musik komponiert und singt, die wahrlich allenfalls vereinzelt meinem Geschmack entspricht, aber Texte dazu schreibt, die konträr zu diesen barmusikähnlichen Harmonien stehen. Es waren nicht meine herausragenden Französischkenntnisse, die mir diese Beurteilung einbrachten. Ich hatte mir die Mühe gemacht, in Schwerstarbeit ein paar dieser im Begleitheft abgedruckten Verse zu übersetzen. Seitdem war ich hingerissen von dieser zudem mehr als ansehnlichen Russin. Oder Polin? Die Biographen können sich nicht einigen, zumal Franzosen sowas nie so genau nehmen. Dem Namen nach könnte sie auch aus Bulgarien stammen, wie Sylvie Vartan – , dieser zarten Slawin also mit Pariser Paß und französischer Mutter und der melodischen Stimme, die von der Liebe als einer Art Alkohol erzählt, vom kleinen quietschenden Fahrrad, dem Pariser Zubringer, der auch Hosenträger sein kann, von der Ungeniertheit, und alles in dieser Musik, die en detail gut in Jimmy’s Bar im Frankfurter Hessischen Hof zu passen schien, wohin aufstrebende Grünen-Politiker ihre Eroberungen ausführten. Herrlich fies. Und solches brachte mir meine Narzisse mit. Jetzt war ich vollends verwirrt – ich nannte sie schon meine Narzisse.
»Sie wollen mich in die Unterwelt zerren. Und Enzo Enzo ist die Narzisse, Naziza.«
»Wie Persephone siehst Du nicht gerade aus, und ich vielleicht nicht ganz so finster wie Hades« – ihre Stimme rutschte immer mehr ab –, »wenn Hermaphrodite auch tief getroffen und verletzt ist durch diesen Pfeil, den Eros Ares gleich durch sie hindurchgeschossen hat und der eine große Wunder hinterlassen hat, ich also vermutlich von einer gewissen Ähnlichkeit bin mit diesem Übel. Oui: Ich bin Naziza, die giftige Blume, die Dich lähmt.«
Sie weint. Nun war es an mir, zu schlucken. Ich bin völlig hilflos. Und es ist kurz davor, daß die väterlich-östlichen Erbfaktoren sich in mir Bahn und den Damm brechen. Doch die Wut, vor allem über mich selbst, funktioniert wie Sekundenkleber und kittet das zu brechen drohende Stauwehr. Ich schlucke alles hinunter und wende mich ihr wieder zu, bohre allerdings meine Augen in die ihren.
»Naziza. Hier stimmt doch was nicht. Es kann doch nicht sein, daß sie so gut sind, daß fünf Generationen ihre Geschichten nach Frau Lore benannt haben.«
Ich merke, daß sie einmal nicht folgen kann. Sicher gibt es zu den Kitschheftchen ein französisches Pendant, hat jedoch vermutlich einen anderen Namen.
»Jetzt sagen Sie mir um der Götter und deren Hurentempeltochter willen, um die wir hier herumparlieren, was hier los ist. Sagen Sie mir, bitte, wer Sie sind und weshalb Sie hier sind.«
Nun brach der Damm, aber nicht bei mir. Eine gigantische Flut entspringt ihr und überschwemmt alles, was einmal sichtbar war. Sie sitzt dabei nach wie vor kerzengerade, wie seit zwei Stunden, aber es läuft aus ihr hinaus. Es spült mich mit weg.
Es dauert nicht endenwollende Minuten. Kaum, daß ich mich auf dem Hocker zu rühren getraute, geschweige denn aufzustehen, um irgendetwas anderes zu tun als dazusitzen. Da sitzt Ariadne neben mir und zerdrückt und fleddert das Garnknäuel in bebenden Fäusten, anstatt es mir zu übergeben. Aber ich war auch ja kein König, mit dem dieses Geschöpf durchbrennen wollte. Wenn sie auch in einem fort behauptete, sie sei zu mir gekommen, um mich zu holen. Traktierte sie mich deshalb mit solchen, mir völlig unbekannten Ausbrüchen, die meine Löcher des Nichtswissens mit Lava auffüllten, auf daß alles in mir harte Asche würde? Wollte sie mich als Skulptur aus Vulkangestein mitnehmen in ihre Zukunft, um mich als Trophäe des Mariannen-Matriarchats im Musée èclats de rire zu präsentieren?
Mit einem Mal ist es still. Der Körper neben mir richtet sich auf, das Gesicht wendet sich mir kurz zu, nichts als fragend, bewegungsloses Kopfschütteln, die Hände öffnen sich, stützen sich an der Tischkante ab. Mit einem Ruck steht meine Besucherin auf. Ich bekomme einen fürchterlichen Schrecken, vermute, sie würde die Wohnung sofort verlassen, weil ich es zu arg getrieben hatte oder sie zu schlecht oder die Vorstellung zuende war wie im Kino oder im Theater, wenn man eigentlich noch sitzenbleiben möchte und alle lärmend aufstanden und hinausgingen, den Abspann und damit alle jene ignorierten, die mitgewirkt hatten. Aus. Nur das nicht, flehte ich tonlos in mich hinein. Nein, jetzt gerade nicht. Wie oder was auch immer – diese Frau durfte nicht gehen, jedenfalls nicht jetzt. Kurz bevor ich irgendetwas sagen konnte, irgendetwas, das sie vom Weggehen abhalten könnte, das mich, das war mein erster klarer Gedanke seit Beginn dieser abendlichen Ereignisse, mehr als alles in einen Depressionstrichter füllen würde, murmelt sie etwas, wischt sich ohne jede Rücksichtnahme auf Etikette mit beiden Handrücken über die Augen und geht in Richtung Flur. Ich schieße hoch, sinke dann jedoch wieder auf den Stuhl zurück. Es war mir völlig egal. Wahrscheinlich würde ich laut schreien, sie könne mich jetzt nicht einfach so hier sitzenlassen wie einen dummen Jungen, der als August mißbraucht worden war. Aber möglicherweise würde ich sie auch einfach nur still bitten, doch nicht zu gehen, bevor ich die mir zustehende Wahrheit erfahren hätte. Weit würde ich gehen. Und sei es, ihr Ausreiseverbot zu erteilen.
Ich höre, wie sie im Flur die Tür zu Toilette öffnet. Es hielt sich also in Grenzen. Oder? Wenn sie dann doch? Ich stehe vorsichtshalber auf und gehe ebenfalls in den Flur. Mit mir in der Nähe würde sie vielleicht nicht einfach aus der Tür schlüpfen. Sie kommt aus der Toilette.
»Hast Du bitte, pardon, einen Handtuch für mich.«
Um ein Haar hätte ich gerufen, daß ich meiner Tante Karstadt, wie ich mein Stammkaufhaus zu nennen pflege, sofort alle Lagerbestände abkaufen würde, wenn sie nur bliebe und nicht so dumme Sachen machte wie etwa solche Untaten, jetzt zu gehen.
»Sie können selbstverständlich das Badezimmer benutzen.« Ich öffne ihr die Tür und nehme eines der großen Handtücher vom Stapel. »Hier, ein extragroßes. Um das Tal der Tränen trockenzulegen. Nicht zum Übernachten.«
»Merci. Ich habe bereits eine Hôtel gebucht.«
»Ach, gedenken Sie länger zu bleiben? Weshalb fahren Sie nicht nach Marseille. Da ist es schöner. Fast so schön wie Sie.«
Nun lacht es schallend aus ihr heraus. Und was war das für ein Lachen! Hatte ich so etwas je gehört? War das ein Klang. War das ein Lied. Sie lacht ein Solo, wie Léo Ferré es hätte nicht komponieren können für eine Stimme und drei Symphonieorchester, die zwar auf ihren Einsatz warteten, aber genau wußten, daß sie diesen Mezzosopran nicht würden überklingen können. Sie hält sich am Rand des Waschbeckens fest, und es schüttelt sie. Und wieder strömen bächeweise Tränen aus ihr. Doch es sind gelachte Tränen. Und wieder bin ich es, der begossen dasteht und nicht begreift, um was es geht. Und wieder kommt ein Wust an Wut auf, der sich gleich verbal Platz schaffen würde. Doch ich komme nicht zu Wort.
»Nun hast Du einmal mehr bewiesen, wer Du bist – eine Kinderkopf. So kenne ich Dich, und Du bist mon Prince charmant, mon Cupidon. Didier! Du weißt nicht, woher mein Name stammt?«
»Bin ich Etymologe. Überhaupt. Und ein arabischer noch dazu?«
»Arabien. Puh. Peut-être. Non es ist auch persan. Das Persische und das Arabische gehen sehr oft ineinander. Es gibt nicht nur darin Verbindungen. Nun?«
»Was nun?«
»Du weißt es nicht?«
»Woher denn. Das bißchen, das ich weiß, steckt tief im Modder der alten Welt mit Anleihen dessen, das unserer Ausgräber aus den wirklich alten Kulturen herausgekratzt und als ihre Weisheiten vermittelt haben. Und von daher kenne ich die Narzisse. Ich war immer der Meinung, daß ...
»Daß Naziza?«
»Himmel, Herrgott nochmal. Ich spreche von der Narzisse. Nicht von Naziza. Die kenne ich nicht. Doch, gerade habe ich sie kennengelernt, die giftige, die lähmt. Wie Sie das gerade mit mir tun.«
»Mon Dieu! Diese Narzisse, das ist correct, ist Narcissus oder aus dem Griechischen nárkissos: Krampf oder Lähmung oder Erstarren. Jedoch diese Naziza lähmt nicht. Diese Naziza liebt. Es kommt von Liebe.«
»Wie bitte? Wie geht denn das? Da steckt doch Narziß dahinter. Und der liebt sich selbst.«
»Oui. Ich liebe mein Bild im Spiegel. Und ich sehe es in Dir.«
»Uff! Das ist aber eine kurvenkratzende Haarspalterei.«
»Das persisch-arabische Zeichen dafür bedeutet Liebe.«
»Ach nee.«
»Und es bedeutet auch Zierde. Vielleicht ein wenig auch anfällig für das Sein von – sich zieren.«
»Was Sie ja mir gegenüber nicht gerade tun.«
»Auch heißt es so etwas wie gleichgültig.«
»Was dann wieder französisch wäre.«
»Oh! mon Didier. Fou! Fou, der nicht weiß, daß er es ist. Ein Fou, der seinen Platz hat neben mir und der, wie es ihm beliebt, auch zur Îl zu seinem Château schwimmen darf und fischen und dort – nur dort! – in seinen petit rouge et pastis mehr baden darf als in mir und den ich dorthin mitnehmen werde, in das Tal des Windes aus dem Westen, wo es fast so schön ist wie ich. Didier – wenn Du mit mir gehst dorthin, werde ich meine Schwestern nicht – mehr? – sehen müssen ...«
»Des kleinen Kindes Lallen versteht die Amme nur – oder wie?!«
Ich ringe mit meinem zynischen Unvermögen. Ich will sie nicht niederringen, aber Sieger sollte sie auch nicht sein. Doch vor mir steht ein fragiles Gebilde, das ein Siegergesicht hat. Es war es wohl, gegen das ich anzutreten hatte. Meine Chancen begeben sich ins zweite Glied. Sie drückt sich berührungslos an mir vorbei und geht in Richtung des Zimmers, in dem wir die gesamte Zeit über gekämpft hatten.
Nein. Sie geht nicht. Sie schreitet, im allerschönsten Sinne des Wortes. Wie oft hatte ich das gesehen, und immer kam mir dabei in Sinn: Rock’n Roll können sie wahrlich nicht tanzen mit ihren viel zu langen Schritten zur unpassenden Musik, die sie immer machen, diese Französinnen. Aber das sollen sie ja auch gar nicht: tanzen. Sie sollen gehen, einfach nur gehen, wie diese das jetzt gerade tut, schreiten, daß ich immer nur zuschauen mag, wie sie dahinfliegen, mit leicht ausgestellten Füßen, den Rücken durchgedrückt, als ob man den Rucksack für sie erfunden hätte und nicht für Bergbauern oder tumbe Touristen – den Kopf weit über sich hinaus tragend.
Sie ignoriert mein Gebelfe einfach. »Möchtest Du Deine Russin hören?« Sie wartet keine Antwort ab, greift in das Regal, wendet sich zum CD-DvD-Spieler, schaut kurz, wo er einzuschalten ist, tut es, legt die Scheibe ein. In einer Mischung aus Resignation und Bewunderung für dieses agile und selbstverständliche Tun schalte ich den erforderlichen Verstärker ein. Sie bedankt sich, schaut konzentriert nach, wo die einzelnen Titel einzustellen sind, und wählt.
»Un baiser ou deux/serre-moi dans tes bras/une petite heure ou deux/et on remet ça/en état d’ivresse on s’carambole/on n’sait plus lire la boussole/un rien nous émeut/l’amour est un alcool/Un câlin pour la route/un dernier pour l’envol/et l’on se sent mieux/ l’amour est un alcool ...«
L'amour est un alcool. Diese vertrackte Stück aus der CD Oui von Enzo Enzo. Ein Gleichnis. Eingezwängt in Arme. Eine kleine Stunde oder zwei mit einem Kuß oder zwei. Alles kann schwere Karambolagen verursachen. Rausch und Trunkenheit und Liebe. Man verliert die Kontrolle über sich und das andere. Und das Ganze im Stil von Barmusik. Köstlich hinterlistig.
Ich lernte die mir von meiner Besucherin untergeschobene »Zweitfrau«, mit den eindringlich schönen Augen und dem polnischen oder russischen Vater und französischem Paß – wie sie so oft in diesem Land häufig französischer wirken und wahrscheinlich auch sind als alle Pariserinnen – in Avignon kennen. Es ist die einzige Stadt, in der mich Menschenfeind zwei Wochen lang sich durch die Gassen wälzende Menschenmassen offenbar nicht weiter abschrecken. Dort gibt es zum jährlichen sommerlichen Festival mit seinen hunderten von Groß- und Kleintheatergruppen und Fakiren und Puppenspielern und Zauberern und Firlefanzverkäufern im Einflugschneisenabschnitt Cours Jean Jaurès einen Platz.
Jean Jaurès ist allgegenwärtig in Frankreich. Der Name dieses sozialistischen Menschenrechtlers und Gründers der Zeitung l‘Humanité taucht sogar in fast jedem Trou perdu, jedem verlorenen Kaff auf. Doch fürwahr – in diesem Land nennt man Hauptstraßen nach Sozialisten und Pazifisten! Nicht Sackgassen, die in einer ehemaligen DDR-Mülldeponie enden, in der die Gedanken an Gemeinschaft endgültig verrotten. Nach der Annektion des Ostens durch das westdeutsche Kapital – in das bald auch französisches Schmieröl fließen sollte – wurden nahezu alle Namen und Denkmale antikapitalistischen Denkens geschleift. Oder das Beispiel der oberbayerischen Kleinstadt Murnau gegen Ende der siebziger Jahre. Dort sollte der Romancier und Dramatiker Ödön von Horváth gewürdigt werden, der eine Zeitlang dort gelebt hatte. Allerdings hatte er in seinem Theaterstück Italienische Nacht die Neigung der einheimischen sogenannten Kleinbürger zur braunen Sauce im Wortsinn dramatisiert. Weniger zu der des Bieres als vielmehr zu der, die seinerzeit als Sintflut das ganze Land überschwemmte und ihre übelriechende Gülle über die Grenzen Europas hinaus verbreitete. Die Murnauer hatten das gar nicht vergessen. Ein Lehrer des örtlichen Gymnasiums und zugleich Gemeinderat der Sozialdemokraten hatte heftig für eine Umbenennung der Bahnhofstraße gekämpft. Letztlich landete Horváths Name auf dem Schild eines Seitengäßchens, das in eine saure Wiese mündete. Sicher, heute sieht man das nicht mehr so eng, wie es die Gasse ist. Man protzt sogar ein bißchen mit dem österreichischen Weltbürger Horváth, dem 1938 in Paris der Himmel in Form eines Astes auf den Kopf fiel. Man kann sich den vielen berg- und skiwandernden Touristen schließlich nicht als Bannerträger der geistigen Tieffliegerei präsentieren. Aber die Ödon-von-Horváth-Straße ist deshalb nicht breiter geworden und endet jetzt in der bebauten Säuernis. Und der Muff unter den alten Jankern ist beileibe nicht verzogen. Im dritten Arrondissement von Marseille ist ein ganzes Quartier nach den Vorreitern des Sozialismus benannt. Es ist mir auch nicht bekannt, daß das Viertel Belle de Mai jetzt in Quartier Le Pen umbenannt werden soll.
Wenn man vom Zentrum Avignons kommt, der Place de L’Horloge, kurz vor dem Bahnhof also liegt der gefährlichste Flecken in dieser mit richtigem Leben befüllten Kinogroßkulisse. Wie alle bösartigsten Schrecken dieser Welt gibt auch dieser sich in den Anfängen milde und sanft. Hier sind es die wenigstens auf vierzig bis fünfunddreißig Grad herunterkühlenden Platanen, die gemütlich auf Höckerchen herumsitzenden oder in Liegen dösenden Menschen. Sie tun einem überhaupt nichts, stundenlang lassen sie einen mit Sanftmut und Engelsgeduld in ihren Ständen kramen und auf ihren Tischen wühlen. Nur wenn man eine Frage hat, schauen sie einen direkt an und antworten höflich und zuvorkommend, aber auch diskret. Können sie nicht weiterhelfen, geschieht es, daß sie einen zwei oder drei Stände weiterschicken, weil die Kollegin oder der Kollege dort sicher etwas im Magasin hätten. Dort lernte ich sie kennen, die Zweitfrau-Russin, und sie sollte mich teuer zu stehen kommen. Da ich sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, sie mich aber neugierig gemacht hatte, war ich zu einer näheren Anhörung gezwungen. Deshalb mußte ich die Rue de la République hinaufeilen zur durchgehend geöffneten FNAC und mir eines dieser in Frankreich sündhaft teuren Elektrogeräte kaufen. Ich wollte Enzo Enzo ja anhören, und dazu bedurfte es eines CD-Abspielgerätes. Und der junge Hüter dieser etwa zweitausend CD – meistens um ein vielfaches billiger als in den Plattenläden – hatte nichts dagegen, daß ich es benutzte. Neben Enzo Enzo begleiteten mich dann etwa weitere zehn gutaussehende und wunderschön singende Damen ins Hotel. Sie stürzten mich in einen Liebesrausch mit eindeutigen Suchterscheinungen. Am nächsten Tag ging ich nach dem Fünf-Grand-Café-Frühstück und dem Schokoladenbrötchen direkt dorthin (glücklicherweise packen die Händler am frühen Abend ihre Stände zusammen und fahren heim nach Aix-en-Provence oder Marseille). Und wieder nahm ich ein paar Damen mit, und, auf daß uns nicht langweilig werde, auch noch ein paar von diesen alten Büchern. Und einmal auch einen Mann, der uns zuhause dann ein bißchen was erzählt hat: Fernandel auf einer wahrlich herrlichen, uralten Schallplatte, mit Briefen aus der Mühle von Alphonse Daudet. Aber es war dann insgesamt doch nicht weiter tragisch, denn in Frankreich nahmen die fliegenden Händler schon Ende der achtziger Jahre Kreditkarten entgegen. Einige tauschten die Belege in den Ladengeschäften ein, die längst auf Elektronik umgestellt hatten. Meine mittlerweile beachtliche Sammlung an schönen und schön singenden Demoiselles d’Avignon löst, sogar manchmal unter Franzosen, immer wieder Erstaunen aus. Aber eigentlich habe ich ihnen eher weniger aus diesen Gründen eine Heimstatt gegeben, sondern weil ich mich nicht satthören kann an diesen preisgünstigen Attraktionen, an Anggun, Axelle Red, Mylene Farmer, Jorane, diesem stimmlich vibrierenden Violoncello, an Carole Laure, an Jo Lemaire, an Nina Morato, an Maurane, die Überamme der Jüngeren, an Elisa Point, durchaus auch an der etwas sülzig-süßen Véronique Rivière oder wer sonst noch. Ja, auch an Fabienne Thibeault, die wie ihre Kollegin Nicole Croisille oder wie Ann Gaytan – die allesamt aussehen wie gute französische Landküche. Zumindest auf den Plattenhüllen in meinem Regal. Kürzlich habe ich in Marseille oben am Cours Julien, bei den Zweitverwertungeshändlern vorm Archivgebäude, eine Nicole Croisille gesehen: rasend blond inmitten von lauter pechschwarzen Afrikanerinnen. Black & blanche heißt die CD. Klar, da mußte sie mit zu mir nach Hause. Auch Ann Gaytan haben sie neuerdings fast vampisch abgelichtet. Ebenfalls brennend blond. Wahrscheinlich haben sie gemerkt, daß sie auf ihrer Ferré-CD doch ein wenig arg bieder ausschaut. Egal. Ich mag sie. So oder so. Aber nur wegen eines neuen Bildes nehme ich eine Blondine nicht nochmal mit nach Hause. Ich habe sie photographisch eben als Hausfrau kennengelernt. Und es ist ja bekannt, was diese Hausfrauen aus durchorchestriertem Schmalz alles zubereiten können: Drogen. Wobei die Gaytan sich sogar die höchst komplizierte Aphrodisiaka-Küche von Léo Ferré herangewagt und, im Gegensatz zu anderen, diese ungemein schwierige Prüfung bestanden hat. Und Enzo Enzo alias Körin Ternovtzeff – ach. Seit ich sie auch noch in Haut bas fragile von Jacques Rivette sah, begleitet sie mich, sozusagen verstärkt, ständig im Auto, aber auch anderenorts. Sie ist immer bei mir und singt mir was in beide Ohren. Nein, ins Gemüt.
Von der Statur her ist mein Besuch Enzo Enzo sehr ähnlich. Feingliedrig, jedoch auch muskulös. Nicht nur in diesem Kopf scheint viel Kraft enthalten zu sein. Nein. Muskeln verwirren hier eher, geben ein falsches Bild. Sehnig. Aber eben auch nicht durchs Sportive deformiert. Er ist nicht so hellhäutig wie diese Parisienne à la russe ou polonais. Doch die in die Epidermis hineinschimmernden afrikanischen (sind sie tatsächlich von dort?) Pigmente lassen der Transparenz irgendeines X-Chromosoms eher nördlicher (?), östlicher (?) Herkunft so höflich den Vortritt, daß sie bei einer Metro-Fahrt in die Banlieue nicht immer sofort von der Polizei aussortiert wird. Dabei käme diese Frau vermutlich erst gar nicht auf die Idee, dieses Verkehrsmittel gratis zur illegalen Einreise im Sinne von sans Papier zu benutzen.
Wie komme ich – gute Güte – denn auf solche Gedanken?! Ich beginne hier eine Verteidigungsrede auf jemanden abzufassen, der ohne jeden Zweifel dabei ist, mir das Nervenkostüm zu abzureißen, mich zu hundertteilen, die kläglichen Überreste in ihre feine Tasche zu packen und sie dann den Altölkrabben des Alten Hafens von Marseille vorzuwerfen. Aber wollte ich nicht schon immer gerne von den Fischlein angeknabbert werden? Wie Werner Koch im dritten Teil seiner Seeleben-Trilogie. Nur eben – bloß nicht! – im schwäbischen, sondern im mittleren Meer, der wonnevollsten Badewanne, die es gibt auf unserem festen alten Land der Zivilisation. Na ja, da unten ist's ja der Abluß der Zivilisation. Sie ergeht sich am Mund der Rhône ins Meer. Und läßt sich dort wohl reinigen. Es ließe sich aber auch behaupten, daß das Leben aus dem guten alten Mittelmeer zu uns kommt. Irgendjemand da unten hat mir mal klargemacht, daß in Marseille die Kanonen immer gen Festland gerichtet waren. Und sind. Denn vom Meer her seien die Feinde nie gekommen. So wäre das zwar nicht der anstrebenswerte kleine, aber immerhin ein attraktiver Tod durch die feingliedrigen Hände einer solchen Nymphe.
Das alles mußte die Regisseurin – mußten die Regisseurinnen? –, wer solches inszeniert, kann nur Frau sein, die männliche Phantasie reicht dazu nicht aus, dieses Stückes gewußt haben: daß ich auf Dauer wohl kirre werden würde bei dieser Frau. Erst irre und dann kirre. Oder andersrum. Egal. Erst pulverisieren, dann mit zarten Fingern einfegen und in den Mistral schmeißen, der dann das Pülverchen hinüberbläst, vom Shirocco über Algerien niedergedrückt und vom heiligen Krieg in den Dreck getreten. – Auf was für Bilder komme ich nur?! Ist sie das göttliche Gericht? Nun, ja, ein bißchen göttlich schaut sie schon aus.
»Wohin schaust Du?« Ich muß schon seit Stunden an der Tür zur Loggia stehend in Richtung Marseille gestarrt haben. »Suchst Du die Vergangenheit? Kann ich Dir dabei helfen?«
Da war sie wieder. Die Unterwelt hatte sich zurückgemeldet. Würde sie mich jetzt hineinziehen in ihren dunkelblauen Kalbslederkorb? Haben sich nicht alle geirrt mit der Geschlechterzuweisung des Beelzebubs? Alles jammert über die Weiber, aber wenn’s ums wirkliche Leiden geht, fangen die Dichterfürsten an, vom Teufel zu schwafeln, der männlich ist.
»Non, Madame. Ich befinde mich ständig in der Gegenwart. In einer Gegenwart, die ich sehr gerne zur Vergangenheit umgestalten würde. Denn wenn ich an die Zukunft denke, und sei es die allernächste, ist mir, als wünschte ich, es gäbe so etwas wie Gegenwart nicht.«
»Henri Bergson. Von ihm habe ich dieses. Ich glaube es. Sicher bin ich jedoch nicht. Irgendwo habe ich es gelesen: Die Gegenwart aber, die in der Mitte liegt, ist so kurz und unfaßlich, daß sie keine Länge annimmt und nicht mehr zu sein scheint als die Verbindung des Vergangenen und Künftigen und außerdem auch so unbeständig, daß sie nie am selben Ort ist; und alles, was sie durchläuft, nimmt sie von der Zukunft weg und legt es der Vergangenheit zu. Nun, was ängstigt Dich?«
»Sie, Madame! Weil ich mich in einem Stadium unserer diffusen Auseinandersetzung befinde, in dem ich mich nicht mehr getraue, Sie hinauszuschmeißen, um auf meiner alten Tante Karstadt in Helios Garage einzufahren und morgen früh aufzuwachen aus einem herben, sehr herben Traum, der damit endet, in dieser Misere endlich, sterblich zu sein.«
»Kennst Du, Didier, diese kleine Erzählung von Antonio Tabucchi, dieser kleine Brief von Calypso an Ulysse? Darin trauert sie weniger der Vergangenheit wegen, in der sie ihren Gefährten durch Flucht verlor. Viel stärker ist die Trauer über ihre Unwissenheit. Sie würde gerne wissen das Wesen der Zeit. Sie beneidet Ulysse und die anderen Sterblichen. Und sie möchte wieder mit ihm sein, aber nicht wie dereinst in der ewigen Jugend. Sie schreibt ihm, sie träume von sich als einer anderen, die alt ist, weiße Haare hat, kraftlos und gefällig.«
Ich lache kurz auf – und ärgere mich sofort über mich selbst, über diese schreckliche Krankheit, als erstes einen Fehler zu entdecken: gefällig statt, wer weiß, hinfällig oder so. Anstatt darüber nachzudenken. Aber nun ist der Gedanke weg. Dieses Erbsenzählen bringt einen aus der Denklaufbahn. Diese selbstgefällige Rechthaberei ist ärgstes Spießertum. Besserwessi. Wie hat Hegel das genannt? »Eitelkeit des Besserwissens.« Nein, damit muß er anderes gemeint haben. Auf mein Niveau läßt der sich nicht runter. Wie nennt Isaac mich immer wieder mal? Doktor Komma. Auch wenn's mich wütend macht – es ist was dran, und es läßt nichts rein und auch nichts raus. Es ist ein Gefängnis. In dem ich sitze.
»Ach ja, die Italiener. Euer Glucksmann hat ja laut und vernehmlich gesagt, daß die für die Ästhetik zuständig sind, während ihr Franzosen den Denkerpart innehabt. Aber Sie sind ja auch nicht Französin, jedenfalls nicht für die Pariser. Die kennen allenfalls ihre Île-de-France und die Autobahn Richtung Rouen. Und weil Sie als Marseillaise ein bißchen Korsika sind, dürfen Sie mit der italienischen Ästhetikflagge winken.«
»Monsieur Aubertin! La Corse! Dire des âneries! Erstens ist Marseille zu einem Viertel italienisch. Das andere ist griechisch, quasi altgriechisch, ein weiteres spanisch und-oder arabisch. Der Reste ist die ganze Welt. Marseille ist der Mund eines Körpers mit dem Namen La Méditeranée! Izzo hat einmal geschrieben, daß hier alle gefüllte Weinblätter essen. Und es ist auch sehr italienisch. Jedoch nicht nur Korsika! Überall sind italienische Marseillais et Marseillaise aus dem gesamten Italien. Zweitens hat Glucksmann das vor etwa fünfzehn Jahren geschrieben, und ist er genauso eine solche Trivial-Nihiliste wie Du. Schlimmer noch: Er ist ein Klagemauerneinsager. Er findet zur Altersreligion. Glucksmann ist ein Idiot, ein jüdischer demagogischer Idiot, der sagt, er sei nicht ein Démagogue und vielleicht auch nicht jüdisch, sondern neutral, weil er ist ein Franzose. Wir bilden uns das ein, wir seien es – neutral. Pardon, er ist auch ein Intellectuelle. Es erschwert dieses noch. Vielleicht er glaubt dieses alles selbst. Er, der die Russen mit Tschetschenien beschimpft, weil ihm zu dem israelischen Terreur nichts einfällt. Nichts einfallen will. Vielleicht darf. Weil er ist doch nicht so neutral, wie er es vorgibt. Er ist für ein sehr kleines Land, das sehr weit weg ist. Weg von alle Interessen. Inzwischen.«
Was ist das jetzt? Ist sie vom Mossad? Will sie mich jetzt provozieren, mich aushorchen? Oft genug haben sich ja schon Telefaxe des israelischen Geheimdienstes zu mir verirrt, gerichtet an einen gewissen – auf dem Schreiben eben seltsamerweise jeweils namenlosen – Übersetzer. Immer wieder, obwohl ich den israelischen Absender mehrfach auf den Irrläufer aufmerksam gemacht hatte. Meine Güte, ich glaube ich träume das endlose Grauen. Ich versuche, zu erwachen.
»Ich glaube nicht, das Monsieur Glucksmann ein Depp ist ...«
»Was ist ein – Depp?«
»Eine – eine Art Idiot. – Aber vielleicht ist er's ja tatsächlich. Ich hab nur lange nicht mehr über ihn nachgedacht. Man hört ja kaum noch was von ihm. Und das mit Tschetschenien mag angehen, da liegen Sie vermutlich richtig. Ich hab tatsächlich das Gefühl, daß der diesen Gaul Tschetschenien reitet, bis er tot ist. Der Gaul. Da braucht's dann keinen Putin mehr, der sie alle erschießen läßt. Da muß ich Ihnen also recht geben. Aber möglicherweise bin ich damit genau einer jener sogenannten Nihilisten, die er angreift. Oder auch Trivial-Nihilist, wie Sie meinen. Glucksmann und ich, die Trivial-Nihilisten, die nicht wirklichen Verneiner aller göttlicher oder ethischer Wirkungen. Es stimmt also nicht, was Sie sagen, Madame. Glucksmann ist schon gar kein Nihilist, er glaubt nämlich an was, an was auch immer. Und auch ich trage noch einen Restfetzen ethisches Gedankengut in mir herum. Wenn ich auch ein Rabauke bin, dem die eigene Haut näher an den gefühllosen Knochen klebt. Vielleicht ist das schlimm und wahr. Doch ich bin desillusionisiert. Und dennoch interessiert mich eben mehr, auf wen dieser Kuhhirte Bush schießt. Den der, wie Sie ihn nennen, trivialnihilistische Glucksmann letzten Endes in Schutz nimmt. Putin ballert da oben oder neben uns Wessis irgendwo rum. Und schreibt nicht überall seinen ganz persönlichen 11. September drauf. Aber: Glucksmann und das Böse, das Mister Bush nicht nennt. Vielleicht bin ich doch ein Nihilist, wenn auch ein trivialer. Wie gesagt. Ich kann diesen moralinsauren Kram nicht mehr hören. Ich halte das für viel gefährlicher. Denn es kommt kriminell gut an bei unseren geistigen Kleingärtnern, aber auch bei diesen Betbrüdern und -schwestern Deutschlands und Frankreichs, die die USA, egal unter welchem arg knapp gewählten Gott, für das Himmelreich halten. Auch wenn Herr Zeus eben gerade mal sehr wütend war und's hat schwerst krachen lassen. Eine andere Art höherer Gewalt sozusagen. Doch das Entscheidende ist: Mir ist eben der anders kämpferische Glucksmann von früher lieber als der heutige jüdische Pastor. Es steht also zu befürchten, daß ich Ihnen beipflichten muß. D'accord. Aber dieser eben etwas jüngere Glucksmann ist schon alleine deshalb kein Idiot, weil er uns Nietzsche auf die Füße gestellt hat. Er hatte Nietzsche insofern korrigiert, als dieser meinte, man würde ihn erst im Jahr 2000 verstehen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt, als Glucksmann antrat, wohl ebenfalls, wie andere also, noch zu sehr dieses linksdogmatische, ideologisch geprägte Mißverständnis – es ließe sich auch als eine von anderen forcierte unbewußte Fehlinterpretation bezeichen – in den Ganglien, nach dem Nietzsche ein geistiger Wegbereiter des Antisemitismus und der Nazi-Ideologie gewesen sei. Jener Nietzsche, der erwiesene Pazifist und Atheist, Atheist aus Instinkt oder, wie Rüdiger Safranski ihn so treffend bezeichnet hat: Anti-Antisemit, weil er diese Kleingeister haßte, die sich mit ihren Balkongeranien ihren sehr eigenen Horizont schaffen, die nichts, aber auch gar nichts verstanden hatten und wahrscheinlich auch nichts verstehen wollten, denen ein knapper Satz als Konstruktion fürs Weltgebäude ausreicht. Ein Satz, der eigentlich in eine andere Richtung gedacht war, quasi eher für den Tiefbau. Und – er sollte ja nach Mamans Willen protestantischer Pastor werden – vor allem Freigeist war. Freigeist! Frei von allen Ismen und Ideologien. Dazu hat Glucksmann durchaus beigetragen. Er hat mir zumindest entsprechende Hinweise geliefert. Es sollte zwar noch eine ganze Weile, genauer: nochmal zweieinhalb Jahrzehnte dauern, bis ich begriffen habe, daß ich lieber im dionysischen Prinzip herumdümple, als in der Formfinderei des apollinischen einen Lebenssinn zu suchen, weil mich diese idealistische Starre eher schwächt, mir Energie nimmt, anstatt mir welche zu geben. Es hat eben gedauert, bis ich das begriffen habe. Aber es hat etwas ausgelöst. Und sei's drum, daß es eine Art geistiger Evolution in mir war. Ich will' s jetzt nicht überhöhen, aber es könnte was dran sein. Und daran hat Glucksmann sicherlich nicht unwesentlichen Anteil. Wenn ich auch damals eher wenig begriffen habe davon und und ich in genau das sozialdemokratische Sprachrohr getrötet habe, das ich seinerzeit mit vollgeschrieben habe. Doch ein wenig dagegengehalten habe ich damals durchaus schon. Sozusagen als politischer Atheist aus Instinkt, bei dem die Erkenntnis sich langsam durchzusetzen begann, daß manchen Journalisten etwas Bildung ganz gut täte, die übers bloße Runterbeten professoraler Klappentexte hinausgeht. Der Wille zur Macht! Obwohl das nachgelassene Hauptwerk sich längst als Fälschung erwiesen hat, also wider besseres Wissen, murmeln genügend – heimlich – national gesinnte Geistheiler diese magische Formel auch heute noch dem ungesunden Volkskörper ins Herz, die den Dauerwahlkämpfern Hitlers so recht kam wie ihrem teppichbeißenden Führer – wenn der überhaupt mehr gelesen hat als diesen halben Satz, der da komplett lautet: ›Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht.‹ Ja-ja. Sprache. Nietzsche meinte dazu, ganz nebenbei: ›Die Sprache trägt große Vorurtheile in sich ...‹ Ein paar Zombies haben sich das vermeintliche Filetstück einfach herausgeschnitten und es als Faschiert's in die Volksküche gegeben ...«
»Pardon – was ist das? Fasch ... fascis? fascisme?«
»Ja. Höchst interessant. Sie irren nicht: Fascis, das Rutenbündel der altrömischen Liktoren, das zum Symbol der italienischen Arbeiterbewegung wurde, aus dem der Faschismus wurde, der heute ständig falsch angewandte Begriff. Heute nennen sie jeden dahergelaufenen Arbeitsplatzvernichter Faschist. Also, Faschiertes. Das ist österreichisch. Paßt ebenfalls zur Geographie des Schreckens. Ich kann den etymologischen Zusammenhang leider nicht erklären. Ich vermute jedoch, daß es damit zusammenhängt. Es meint Hackfleisch. Haché. Also volksmundgerecht hachierter Wille zur Macht. Nun denn. Ich für meinen Teil befand mich zu dieser Zeit jedenfalls in einem Stadium, in dem ich spürte, daß das Selberdenken tatsächlich weitaus spannender sein kann als Denkenlassen, also das Repetieren von Wahrheiten, die durch den reinen formellen Akt des Gebets nicht wahrer werden. Nochmal, da wir ja beim Thema sind, Nietzsche, quasi assoziativ: Das Gedankenbild besteht aus Worten, ist etwas höchst Ungenaues, es hat gar keine Hebel, um Bewegungen zu veranlassen – an sich. Nur durch Assoziation, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanismus eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde zum Beispiel dem eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (zum Beispiel beim Kommandowort) eine Handlung hervorbringen. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als ob es so wäre! Und damit meine ich eben auch diesen Glucksmann, der in seinen Meisterdenkern geschrieben hat, ›in makabrer Modernität sei Deutschland, kein Territorium, keine Bevölkerung, sondern ein Text und ein Verhältnis zu Texten, die lange vor Hitler aufgestellt‹ und verbreitet wurden. Die ›Einigung durch Texte‹ sei einhergegangen mit der ›Auflösung des Territoriums‹. Und wir wie gesagt – unter anderem und bei aller Kontroversität oder vielleicht gerade deshalb – unseren deutschen Oberwahnsinnigen damit überhaupt erst verstanden haben – in meinem Fall: begonnen haben zu verstehen. Es mußte also ein Franzose kommen. Ein jüdischer noch dazu. Der mir das ins vom Deutschen verdickte Judenblut gekippt hat, um's wieder fließen zu lassen. Sozusagen kurz vor der Thrombose. So ist das!«
»Didier! Es mag so sein. Es fehlen uns beide tatsächlich mehr als drei Jahre. Es ist etwas geschehen. Jedoch Glucksmann – das war vor tausend Jahre! Heute ist er selber ein Oberwahnsinn ...«
»Dieser Oberwahnsinnige hat in seinen Meisterdenkern, also 1977, immerhin diese denkwürdige Propheterie niedergeschrieben: ›Alles, was herumvagabundiert, da ist die Frage. Mitsamt den Juden wird diese ganze kleine Welt veurteilt, die sich dem Staat entziehen könnte, wenn sie über die Grenze geht und bei ihrem Überschreiten die Disziplinargesellschaft vor den Kopf stößt. Das Europa der Staaten versucht alle auszuschließen, die an den Rändern der Gesellschaft leben.‹
»Damit hat er das Europa aus der Zeit der Nazi gemeint! Das ist Klitterung der Histoire, was Du betreibst!«
»Das ist weniger Klitterung als vielmehr Aktualität oder auch der Nachweis, daß diese Merde-Gesellschaft, die dauernd nach dem Staat ruft, den er ja verrissen hat in diesem Buch – im übrigen ja auch die ganzen aufklärerischen Geistesgrößen Dostojewski oder Schiller oder Hegel oder Proudhon oder wie sie sonst noch alle heißen der Meinung waren, daß Untermenschen wie die Juden ...«
»Didier! Du weißt es ganz genau, daß Hegel die Juden nicht gemeint hat, sondern ...«
»Was soll's. Er hat die zu ›keiner Entwicklung und Bildung‹ fähigen Neger so bezeichnet. Das ist doch daselbe. Die Juden, die Neger und die Schwulen und die Araber ...«
»Merde! Didier, das ist schlechte Polémique ...«
»Schiller, der Demokrat und Philosemit: Der ›nichtassimilierbare Kaftan‹. Oder aber: ›Ist dies auch ein Deutscher?‹ Wie auch immer – von diesem Glucksmann habe ich mir Nietzsche-Unterricht erteilen und mir nochmal bestätigen lassen: ›In dem Maße, wie sie alle vom Staat aus denken, legitimieren sie schließlich die rassistische Überwachung, die der Staat auf seinem Territorium einrichtet.‹ – Wenn das kein Weitblick ist?! – ›Der Jude ist der Inbegriff dessen, der vernichtet werden muß. Entweder weil aus Kleinlichkeit des Geistes der Sinn ihm nicht nach Staat steht‹ – oder weil er als Staat im Staat seine Funktion als feindlicher Agent erfüllt. Ist das etwa nicht hochaktuell? Ist dieser Glucksmann etwa ein Depp?!«
»Ah! Ihr Deutschen, die ihr erlebt habt, wie er und ein paar andere eure Maman Siècle des lumières den Rock angehoben haben, um zu zeigen, daß auch sie, die so sehr verehrte pure Raison, einen Unterleib hat und nicht nur ist eine Construction aus Eisen ist oder nur aus Haut und Knochen, die nicht kann Kinder gebären, und sie hat ein wenig Parfum français auf euch gesprüht, un peu de odeur de savoir vivre de philosophie français, seither ihr glaubt genauso an ihn wie an die Trinité des Bordeaux, diese Nebelmaschine in eine Comédie für Besserverdienende. Ihr kauft ihm alles ab, auch wenn in der Flasche ist die letzte Auswaschung aus dem Tank aus Stahl, in dem er gelagert wird. Er, Glucksmann, oder andere. Manchmal glaube ich fast, daß das französische Volk recht hat, wenn es auf die Têtes intellectuelles schimpft, weil sie sich so entfernt haben. Oder vielleicht sogar, wie Martin Page es in seinem Buch Comment je suis devenu stupide und nach einem chinesischen Sprichwort geschrieben hat, das völlig zu übertragen sei auf die Intellektuellen: Ein Fisch wisse auch nie, wann er macht Pipi.«
»Ach, Madame! Schon wieder Tucholsky! Sozusagen in Abwandlung. Na ja, vielleicht hat's Tucholsky in Unwissenheit ja bei den Chinesen abgeschrieben. Aber ich will dem tatsächlich witzigen und klugen jungen Mann aus Paris – bei uns trägt das Buch den Titel Antoine oder die Idiotie – ja gerne Tucholskys Neuschnee zugestehen. Es gibt keinen Neuschnee! Nichts ist mit eigenen Gedanken, alles ist bereits einmal gedacht. Der Jude Kurt Tucholsky, auch wenn man konvertiert, bleibt man Jude, Kulturjude eben, hat geschrieben: ›Gewisse frankfurter Juden führen täglich ihre Klugheit spazieren. Die bellt munter umher, und an jedem Baum macht sie ein bißchen Pipi.‹ Was soll's. Madame! Wir kaufen Glucksmann doch schon lange nichts mehr ab! Glucksmann ist doch, im Gegensatz zu vielen seiner französischen Kollegen, gar nicht mehr präsent. Nicht Gott, sondern Glucksmann ist tot. Weil ihm, ganz im Sinne Nietzsches, die Luft ausgegangen ist für die Alternative zum Modell Gott. Von mir aus auch zum Modell Gott in Frankreich. Also lebt Gott zwangsläufig weiter. Nicht nur in Frankreich. Wo er wenigstens was Ordentliches zu essen und zu trinken abwirft und keine vom Militär aussortierten, in fundamentalprotestantische Sterne und Streifen eingewickelten Würstchen vom Plastikschwein. Aber da kommt er ja ohnehin her, wie wir wissen. Unser Gott in Frankreich. Wo er immer noch lebt. Wahrscheinlich, weil er seinen Lebensunterhalt selber verdienen muß. Das haben diese ganzen Trottel, die diese Versatzstücke hinausposaunen, ja eben nicht begriffen. Wie gesagt. Der Wille zur Macht. Die ewige Wiederkehr. Übermensch. Et cetera. Nichts haben sie verstanden, diese Kaninchenzüchtervereinsverbandsfunktionäre des linken und des rechten Nationalsozialismus. Glucksmann aber eben schon. Damals jedenfalls, vor fünfundzwanzig Jahren. Mir hat's geholfen. Auch bei seinen Gedanken über den Marxismus. Ich teile sie bei weitem nicht. Da gebe ich Ihnen völlig recht. Es ist viel zu sehr aufgeblasener Zeitgeist. Ein früher Postmoderner eben. Oder auch: Glucksmann hat die sogenannte Postmoderne von Jencks – des Literaturwissenschaftlers, wohlgemerkt, sein Bruder Charles hat ihm den Begriff geklaut – aus den sechziger Jahren bereits aufgegriffen und verwurstet, als die Leute bei uns noch glaubten, der Begriff meine, die Post würde jetzt modern bauen. Sehr flockig, quasi mit naßforschem Spirit, Spititismus sozusagen hat er Marx' Idee des Kommunismus abgefackelt. Aber als Anregung stimmen die Gedanken. Zum Selberdenken. Und sie mögen ja durchaus recht haben, wenn Sie meinen, Glucksmanns geistiger Schließmuskel – oder der anderer – funktioniere mittlerweile nicht mehr. Doch ich muß dem immerhin entgegenhalten, wenn ich genau darüber nachdenke: Er stellt sich immerhin vor ein kleines, friedliches Volk, das eben keine palästinensischen Kamikaze in Discotheken oder Supermärkte fliegen läßt.«
»Quand même! Tout à coup? Ah! Ihr Intellectuelles masculin. Männer mit Geist! Ihr jeune garçons eternel haltet euch immer ein kleine Freigehege, einen Spielplatz, einen Kasten mit Sand, eine Burg bauen aus Sand, auf die man mit einem neuen Gedanken darauf hauen kann, planieren dieses alles, um Platz zu haben für einen neue Gedanke, eine Burg aus Sand, aus der man sich schnell herausgraben kann, wo ihr schnell hinauskönnt aus der Wahrheit.«
»Wahrheit? Oder Wirklichkeit?«
»Diese Wirklichkeit ist die Wahrheit. Oder: diese Wirklichkeit macht auch nicht eine bessere Wahrheit daraus. Es ist Traurigkeit. Anstatt zu lachen mit eine fröhliche Wahrheit.«
»Vielleicht fröhliche Wissenschaft?«
»Oh, merde, das ist Chinoiseries, das ist pseudo-scientifique. Das ist Jonglieren mit – es ist einer von Deinen Lieblingsbegriffen – Bildung durch Klappentext. Da mögest Du noch so viel Nietzsche gelesen haben. Damit wird er nicht mehr transparent. Mit oder ohne Deinem von dem Marxismus in ein offenes Irrenhaus in dem hinteren Asien konvertierten Glucksmann. Pardon. – Laß uns nicht streiten. Ich bin nicht hier, um zu streiten mit Dir. Ich bin nicht gekommen, über Islamisme und Judaïsme und Allah und Jahwe und George Bush und François Mitterand zu streiten, ich bin gekommen, um mit Dir über Philemon und Baucis zu sprechen. Ich will Wirklichkeit sein von dem, was Tabucchi seine Calypso träumen läßt. Ich will meinen alten klappige Ulysse mitnehmen für tous le lundis et mardis und weiter in die schattigen Calanques, wenn alle Marseillais arbeiten, nur nicht die alte, klappige Nymphe und ihr genau solcher Herumtreiber.«
»Meine entzückende Combattante idéologique de El-Fatah ...«
»Pardon, Du sprichst zwar ein wenig Französisch. Doch Du bist so dumm wie diese, die glauben, sie seien intelligent oder haben Éducation, nur weil sie sich mit eine Sprache ein wenig bekleiden können. Es ist – wie heißt deutsch so sehr schön? – notdürftiges Bedecken einer Blöße. Bei uns ist es besser: peine vêtu, peine, à grand-peine. Mit großer Mühe. Mit Mühe und Not bekleiden, die Scham bedecken. Wie mit Deine geliebte Klappentext, den Du oft über Dich ziehst ...«
»Das ist doch nun wirklich die Härte ...«
»Oui. Non. Es ist kein Substance organique. – Didier. Bei mir Du benötigst keine Capote. Capote anglaise. Mon Dieu! Ich muß immer so lachen, wenn die Deutsche dazu Pariser sagen. Didier! Wir haben das nie genommen. Wir beide waren immer nackt. Werde es wieder! Ich möchte es wieder sehen, Dein Herz! Bitte. Ich will nicht streiten. Es macht mich traurig. Es macht mir Maladies de cœur.«
»Ach so – laß die Grammatik den Leuten, ich studier’ den Geliebten? Es lebe der alte Mystiker Qadi Quadan. Oder wie?«
»Oui, Didier! C'est ça! Exactement au milieu. ›Und eine einzige Letter les’ ich, und les’ sie immer wieder!‹ Immer und immer wieder dieses eine Zeichen lesen. Nur so lerne ich ein verborgenes Gesicht kennen, wenn ich es immer und immer anschaue. Dein Gesicht schaue ich immer wieder an! Ich habe es getan, als Du mit mir warest. Als wir waren ein glückliche Couple d’amoureux, ein jeune Couple. Und ich habe es immer angeschaut, nachdem Du weggegangen warest. Du hast mir zwar keinen Brief wegen Deiner Flucht gelassen, doch Dein Gesicht. Es ist bei mir geblieben, es ist immer bei mir. Es befand sich immer, über diese ganze drei Jahre und mehr, meinem gegenüber – comme deux faces situées vis-à-vis. Die alten Mystiker – à l'ouest ou à l'est, tout le monde! – haben ihr Wissen nur deshalb erlangt, weil sie intensiv die Herzen des Menschen betrachtet haben, immer dieses eine Zeichen. Und der Mensch ist dieses eine Zeichen. In gleichem Maße innen und außen. Die Grammatik ist ihm nicht zunutze, wenn er das Geheimnis dieses Chiffre nicht kennt, aus denen die Zeichen entstehen, die er später im Alphabet zu beugen vermag. Nur so entsteht Geschichte – Geschichten in den Herzen, aus denen Histoire wird in den Köpfen der Menschen. Non. Dans le fonds de cœur. Nicht diese Seele der deutschen Romantique, die nur in Männern wohnt. Bereits diese Ondine von Fouqué hatte gesprochen: ›Es muß etwas Liebes, aber höchst Furchtbares um die Seele sein. Um Gott, mein frommer Mann, wär' es nicht besser, man würde ihrer nie teilhaftig? Schwer muß die Seele lasten, sehr schwer! Denn schon ihr annahendes Bild überschattet mich mit Angst und Trauer. Und ach, ich war so leicht, so lustig sonst!‹«
»Meine Güte, was Sie alles im Kopf haben! Ich grüble dann doch fürbaß durch mein Staunen. Sie hecheln die Romantik durch?!«
»Didier! Ich habe es einmal gelernt. Und es ist verdammt, daß Du es nicht weißt. Es war einmal Littérature, Wissenschaft. Die Romantique, die Rezeption des Romantisme auch in der Littérature moderne. Nun ich habe es in meinem Herzen. Tief. Mein Herz ist auch in meinem Kopf. Denn es ist das, was mich vorantreibt. Das Thema der Melusine – Du hast mich eine Nymphe genannt! Deine Nymphe, Didier! Friedrich de la Motte Fouqué nach Paracelsus, Heinrich Heine, dann Oscar Wilde, Jean Giraudoux – der Médiateur franco-allemand par excellence! Nicht Kohl et Mitterand. Alles dieses. Und wir haben es einmal gemeinsam getrieben. Vor ein paar Jahren. Écoute! Giraudoux' Ondine, Ihr Hans war ein Pataud. Non. Er war nicht ein Pataud, nicht ein – wie heißt es? Ah! Tolpatsch –, er war ein Vaniteux, ein Mann voll Eitelkeit. In einer Weise, wie ihr Männer es so oft seid. Er war nicht einmal denkende Seele. Wie sagte es Ingeborg Bachmann? Diese Logik habe ich gelernt, daß ein Mann Hans heißen muß, daß ihr alle so heißt, einer wie der andere, jedoch nur einer. Es ist immer nur einer, der diesen Namen trägt. Mon Dieu! Didier! So oft habe ich an diese Worte denken müssen: Und wenn eure Küsse und euer Samen von den vielen großen Wassern – Regen, Flüssen, Meeren – längst abgewaschen und fortgeschwemmt sind, dann ist doch der Name noch da, der sich fortpflanzt unter Wasser, weil ich ihn nicht aufhören kann zu rufen, Didier, Didier ... Eh bien, passé. Das ist die Erinnerung, à partir de maintenant ...«
»Ich darf doch sehr bitten ...«
»Pah! Didier. Du bittest mich? Du darfst es. Vor kurzer Zeit erst hast Du Bachmann gelesen. Ich habe es gesehen. Ich habe Dein Buch in der Hand gehabt. Auch ich habe auch darin gelesen ...«
»Das ist doch nun wirklich die Höhe ...«
»Oui. In der Höhe. Sie steht weit oben bei Dir. Oben in Deinem Regal. Vor Balzac und neben Gottfried Benn. Darüben in dieser kleinen Bibliothek. Dort stehen offenbar alle Deine persönlichen Freunde. Alle diese. Unsere, Didier! Ich habe gesehen, daß Du ...«
Sie rast – hinüber ins andere Zimmer. Sie kennt sich offensichtlich gut aus bei mir. Und sie kommt rasend schnell mit Ingeborg Bachmanns Buch Das dreißigste Jahr zurück. Sie hat es aufgeschlagen.
»Ici! Écoute. Hierin habe ich eine Taxirechnung gefunden. Aus Paris! Hier ist sie. Sie ist eine Woche alt! Heureusement nicht aus Marseille! Hier ist etwas angestrichen. Es sieht aus, als ob es sehr oft gelesen ist. Diese Histoire ist verknickt. Écoute:
›Denn ich habe die feine Politik verstanden, eure Ideen, eure Gesinnungen, Meinungen, die habe ich sehr wohl verstanden und noch etwas mehr. Eben darum verstand ich nicht. Ich habe die Konferenzen so vollkommen verstanden, eure Drohungen, Beweisführungen, Verschanzungen, daß sie nicht mehr zu verstehen waren. Und das war es ja, was euch bewegte, die Unverständlichkeit all dessen. Denn das war eure wirkliche große verborgene Idee von der Welt, und ich habe eure große Idee hervorgezaubert aus euch, eure unpraktische Idee, in der Zeit und Tod erschienen und flammten, alles niederbrannten, die Ordnung, von Verbrechen bemäntelt, die Nacht, zum Schlaf mißbraucht. Eure Frauen, krank von eurer Gegenwart, eure Kinder, von euch zur Zukunft verdammt, die haben euch nicht den Tod gelehrt, sondern nur beigebracht kleinweise. Aber ich habe euch mit einem Blick gelehrt, wenn alles vollkommen, hell und rasend war – ich habe euch gesagt: Es ist der Tod darin. Und: Es ist die Zeit daran. Und zugleich: Geh Tod! Und: Steh still, Zeit! Das habe ich euch gesagt. Und du hast geredet, mein Geliebter, mit einer verlangsamten Stimme, vollkommen wahr und gerettet, von allem dazwischen frei, hast deinen traurigen Geist hervorgekehrt, den traurigen, großen, der wie der Geist aller Männer ist und von der Art, die zu keinem Gebrauch bestimmt ist. Weil ich zu keinem Gebrauch bestimmt bin und ihr euch nicht zu einem Gebrauch bestimmt wußtet, war alles gut zwischen uns. Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist.‹
Darüber haben wir sehr oft gesprochen. Und auch darüber, daß Du es nicht mehr möchtest. Dieses, das zuvor war, bevor Ondine gekommen war und gesagt hat: Steh still, Zeit! Bevor ich gekommen war, denn Du hast mich so gerufen: Ondine. Und, écoute, auch dieses war unsere Gespräch:
»Ich habe keine Kinder von euch, weil ich keine Fragen gekannt habe, keine Forderung, keine Vorsicht, Absicht, keine Zukunft und nicht wußte, wie man Platz nimmt in einem anderen Leben. Ich habe keinen Unterhalt gebraucht, keine Beteuerung und Versicherung, nur Luft, Nachtluft, Küstenluft, Grenzluft, um immer wieder Atem holen zu können für neue Worte, neue Küsse, für ein unaufhörliches Geständnis: Ja. Ja. Wenn das Geständnis abgelegt war, war ich verurteilt zu lieben; wenn ich eines Tages freikam aus der Liebe, mußte ich zurück ins Wasser gehen, in dieses Element, in dem niemand sich ein Nest baut, sich ein Dach aufzieht über Balken, sich bedeckt mit einer Plane. Nirgendwo sein, nirgendwo bleiben. Tauchen, ruhen, sich ohne Aufwand von Kraft bewegen – und eines Tages sich besinnen, wieder auftauchen, durch eine Lichtung gehen, ihn sehen und ›Hans‹ sagen. Mit dem Anfang beginnen.‹
Wir haben mit dem Anfang begonnen. Es war auch, weil ich anders war als diese Ondine von dieser armen Ingeborg Bachmann. Mein Herz war nicht so schlimm verwundet wie das ihre. Gar nicht war es verletzt. En consequence – es hat nicht geblutet. Jedoch es hat gebrannt. Non. Wie heißt es deutsch – ah! es war entflammt. Denn meine Liebe war frei. Sie hatte gewartet. Und mein Hans war gekommen. Du und ich, Didier, wir haben einen Teil dieser Seele, die bei uns ein Herz ist, einmal den Männern, Deinem verehrten Novalis, die religieux-schwebende Seele in etwas verwandelt mit ein wenig mehr Lust auf Fleisch, vielleicht auch mit viel mehr, mit Lust auf Opulence, sie herausgeschnitten und in die Frau hineingeformt – nicht mehr nur dieses: ›Mag die Flamme der Liebe und Sehnsucht auflodern und dem Geliebten Schatten, die liebende Seele nachsenden.‹ Allons donc! Mais non! Was sage ich?! Ihr kommt aus uns! Die Frauen, so waren wir beide uns einig, verstehen nicht nur sehr viel, sondern sehr viel mehr von der Gemeinschaft als Männer. Bereits Fouquè hat keinen Zweifel daran gelassen, daß Ondine ihrem Ehemann überlegen ist. Er ist unfähig, das Absolute ihrer Liebe zu erwidern oder auch nur zu verstehen. Bei Giraudoux es gibt keine Zeit für sie und keine Ewigkeit. Lassen wir also Staat, Kirche und Öffentlichkeit dem Mann, haben wir laut gerufen. Für die Gemeinschaft ist die Frau Geborgenheit. Aus ihrem Leib ist sie geboren. Lassen wir auch diese Ondine française eingehen in ihr Idéal von einer philosophische Liebe für das grand Amphithêatre, für ein Staunen von einem großen Auditoire. Wir haben sie mit Oscar Wilde in uns hineingeführt – Liebe ist besser als Weisheit. Wie Merleau-Ponty geschrieben hat, Lévinas, Riccœur gedacht haben – Leib und Seele stehen nicht contraire zueinander, sie sind Einheit. Der Leib ist Nature, er gibt dem ein Gesicht, was wir Culture nennen, was sich in Deiner fühlenden, nicht alleine in Deiner denkenden Sprache, was sich in unserer – Deine und meine! – Sprache Liberté d'esprit, auch Valeurs spirituelles, vielleicht auch nur das Spirituelle nennt – alle Bedeutung in einem, in fühlendem Denken und denkendem Fühlen. Wir haben der Seele, diesem deutschen Geist des Romantisme einen anderen Namen gegeben. Liebe ist besser als Weisheit, das haben wir mit Oscar Wilde gerufen, als wir hinübergefahren ...«
»Ach! Doppel-Merde! Mystifikation. Ich und Mystifikation. Was hab ich denn mit dieser Gottsucherei zu tun?! Ich halte es eher mit Diogenes. Der hat mit seiner Laterne in die Ecken der Athener Agora hineingeleuchtet und Menschen gesucht. Und bei Jean Baruzi heißt es, es gibt keine mystische Entzückung der Seele ohne vorherige Entleerung. Aber Wildes Fischer hatte außerdem ein Verhältnis mit seiner Seele, une liaison avec ihr, mit der war er eigentlich eher verheiratet. Und er hat auch gesagt, daß diese Liebe nicht nur besser ist als Weisheit und kostbarer als Reichtum, sondern auch schöner ist als die Füße der Töchter der Menschen, daß die Feuer sie nicht zerstören können und die Wasser sie nicht ertränken. Und? Was war dann? ›Keine Blumen wuchsen dann mehr auf dem Grab.‹ Der Pfaffe ist sogar hops gegangen, ist irre geworden daran, hat sich Chorhemd und Stola abnehmen lassen ...«
»Oui! Weshalb opponierst Du? Weil Du es mußt? Auch Marquis de Sade hat es betont. Nichts würde gehen, ohne daß beides ist in Harmonie, eine Einheit. Vielleicht ist es Dir lieber? Weil Du meinst, in Opposition gehen zu müssen? Als einen Grundsatz Deiner selbst?«
»Aber der Marquis de Sade hat die Pfaffen niedergemacht! Er hat sie allerdings nicht ermordet. Er hat sie niedergeschrieben. Er hat's zumindest versucht. Wenn's auch nix geholfen hat. Das einzige, an das de Sade geglaubt hat, war der Mensch. Hier de Sade und seine Laterne. Aber nix Sonne, Mond und Sterne als Produkt eines göttlichen Wesens. Er hatte mit diesem Mystifikationskram nichts am Hut. Alles Lug und Trug.«
»Sogar die Révolution hat Gott wieder erscheinen lassen. Monsieur!«
»Uff! Als ob ich je ein Anhänger der Revolution gewesen wäre! Jedenfalls nicht dieser Revolution. Nicht des Terrors ...«
»Dein von Dir nicht sehr geliebter Goethe? Ist es möglich? ›Weil ich nun aber die Revolutionen hasste, so nannte man mich einen Freund des Bestehenden. Das ist aber ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten möchte.‹«
»Ach du meine Güte! Eckermann. Das halt ich ja im Kopf nicht aus. Herr Gott Goethe und sein gelehriger Lehrling Eckermann. ›Eckermann und Goethe – Blaserohr und Flöte.‹ Nikolaus Lenau. Und wie schrieb Heine so schön:
›Zu Weimar, dem Musenwitwensitz,
Da hört ich viel Klagen erheben,
Man weinte und jammerte: Goethe sei tot
Und Eckermann sei noch am Leben!‹
Und dann noch der Hauch von Anton Kippenberg:
›Auf Winsen sich die Ruhe legt;
Kein Windeshauch die Luhe regt.
Da hebt Gemuh', Gemecker an:
Die Herde heim treibt Eckermann.‹«
»Es ist ein Phénomène! Ein sehr komisches, das muß ich betonen. Wann immer man Dir gibt das Stichwort Goethe, es kommt aus Dir wie ein Geyser. Es ist, als ob man ein Zauberwort spricht, als ob man wäre in dem Buch Harry Potter. Man muß nur die beiden ersten Buchstaben sagen, und es kommt zu einem Ausbruch, wie aus einem Gefängnis. Es sind énorme heiße Quellen in diesem Anti-Goethe-Volcan Didier. Es ist mir also wieder gelungen. Wie früher. Es ist alles noch in Funktion. Wenigstens dieses.«
»Sie wissen sehr viel. Seltsam viel.«
»Ich weiß auch dieses, Didier. Du hast mich dorthin gebracht. Non, Du hast es mir mitgebracht nach wieder einmal einem langen Gespräch. Du hast es in ordre gegeben, es kommen lassen, dieses kleine Buch. Wenn ich mich amusieren möchte, greife ich dorthin. Und es steht auch bei Dir. Allerdings gibt es eine Partie, die ich fast im Kopf habe. Ich muß es also nicht herbeiholen. ›Ich lebe zu einsam‹, hat er geschrieben, ›um einsam zu sein. Aber von Goethe möchte ich nichts geschrieben haben. Schon deshalb nicht, weil ich ihn dann mit dem teutschen Professorendreckgeschwerl und allen übrigen Hakenkreuzlern gemein hätte, die alle Dummheit gepachtet und keine zwanzig Zeilen in ihrem Leben schreiben, ohne sich auf ihn zu berufen, Ihn zu zitieren. Wo nimmt die Bande nur die Frechheit her, vom Großen Hellenen zu quitschen.‹ Es fällt mir schwer, diese Sprache, dieses teutschen Professorendreck ..., es geht noch, jedoch Gesch-w-e-r-l, dieses Hakenkreu-z-le-r-n, dieses quitschen ist gut, weil es besser ist für unsere Zunge. Bon, es ist auch harmlos. Und ich habe es geübt. Weitaus mehr wichtig empfinde ich seine Sentence, in der er Goethe zitiert. Du hast mich darauf hingewiesen, und es ist bemerkenswert: › Man höre: Über gothische Baukunst: »kauzende, übereinander geschichtete Heilige der gothischen Ziereien – unsre Tabakspfeifen Säulen ...‹ Oder: ›In Indien möcht' ich selber leben, hätt' es nur keine Steinhauer gegeben ... die indischen Götzen sind mir ein Graus ...der Italiener darf sich keiner eignen Baukunst rühmen ...‹ und später natürlich schmiert dieser Geck über Paladio: ›es ist wirklich etwas Göttliches, völlig wie die Form des großen Dichters ... Für ihn ist E. Th. A. Hoffmann ›unerträglich...pathologischer Fall.‹«
»Erstaunlich. Sie verblüffen mich. Fürwahr. Wären Sie's nicht schon, alleine das machte Sie sympathisch. Goethe, der Fürstenknecht. Der geht mir doch wahrlich sonstwo vorbei ...«
»Das glaube ich nicht. Du würdest sonst nicht immer wieder ...«
»Ja. Ist ja wohl richtig. Also. Der hat's ja auch dauernd mit dem lieben Gott, seinem Nebenbuhler um die Gunst der braven Glaubenden gehabt. Womit wir wieder beim Thema wären: Der Kult des höchsten Wesens? Wahrscheinlich hat dieser andere wohl in seinem tiefsten Inneren heimliche Fürstenliebhaber namens Robbespierre dabei an sich persönlich gedacht. Staatsreligion! Dieser Idiot! Auf dem Humus des Glaubens ließ sich der Gehorsam besser ziehen. Das kannte das Volk. Damit konnte man es fangen. Das war es! Allein dafür haben sie ihn zu recht einen Kopf kürzer gemacht. Da fühle ich mich sehr viel eher den Aristokraten näher, die den Atheismus erfunden haben.«
»War Stalin dann ein Aristokrat? Obwohl er hat Robespierre nachgeeifert?
»Ach was. Der hat ihn nur nicht kapiert. Nein. Er hat sich rausgepickt, was er brauchte. Nein. Das Volk hat's nicht kapiert. Wie heute. Das betet – im Zweifelsfall! – sogar den Atheismus nach, wenn's ihm nur einen materiellen Wohlstand bringt. Ein neues Auto. Aus Japan. Das versteht es unter internationale Beziehungen. Solange es nur billiger ist, interessieren uns keine Grenzen. Nur wegbleiben sollen sie, diese ganzen Schlitzaugen. Ein Häuschen. Für das es dann ein Leben lang bezahlt. Übel bezahlt. Es singt das Deutschlandlied und ist zu faul, das einfachste Lexikon aufzuschlagen, wo nachzulesen ist, daß Hugo von Hoffmannsthal mit ›Deutschland, Deutschland über alles‹ was anderes gemeint hat, als dem Nachbarn den Kopf einzuschlagen, weil dessen Birnen übern Gartenzaun hängen. Nix Nationalismus! Einigkeit. Meinetwegen Europa. Letztendlich war es kein anderer Wunsch als Einigkeit. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, das kommt ja fast hin. Nicht Deutschlandlied, sondern Europalied. Oder wie die Franzosen, die die Fête Nationale feste feiern, die Place de la Bastille mit Plastikmüll überhäufen und nicht wissen, was sie da feiern, was in diesem Hyperknast los war. Oder im Gefängnis Saint-Lazare. Wo sie den aussätzigen Adel zum Aussätzigen Lazarus mit reingesteckt haben. Aber mich angiften, wenn ich über die militärisch paradierenden Feuerwehrleute an der Canebière grinse. Die wissen genauso wenig, wie die Marseillaise entstanden ist. Jedenfalls nicht in Marseille. Sondern in Strasbourg.«
»Jedoch es waren die Troups de Marseille! Du weißt es. Es ist das Wichtigste. Daß Du es weißt. Absolument. D'accord. Das ist ein weiter Ausflug, Didier, den Du machst. Eh bien. Ich kenne Dich so. Und es hat auch Logique. Es ist ein Ziel: Saint-Lazare und die Liebe.«
»Ach. Sie kennen mich? So? Nun denn, ein bißchen was hat man Ihnen über mich erzählt. Fürwahr. Unsinn. Davon spreche ich: eben nicht die Materie, von der der Aufklärer de Sade geschrieben hat. Das hat Stalin nicht begriffen. Anders: Er hat auch Marx nicht richtig gelesen. Die Wahrheit der Poesie – und ein Poet war Marx eben auch! Irgendwie. Vielleicht nicht der größte. Die Wahrheit der Poesie war ihm zu trivial. Weil er, Stalin oder wie sie alle heißen, trivial war. Oder einfach nur ein Despot, der alles negiert hat, das ihm nicht zunutze war.«
»Und ihr Combattantes de la Révolution de Mai 1968? Monter au Créneau? Ihr habt Marx richtig gelesen? Deshalb ihr seid alle Membres du comité de direction geworden? Es klingt in der deutschen Sprache sehr harmlos: Vorstandsmitglied. Es kann auch sein ein Premier von einem Club de 2 CV. Oder wenigstens Patron geworden? Wie Du.«
»Das ist ja nun wirklich die Härte.«
»D'accord. Ich will nicht ungerecht sein. In Deinem Geist ist nichts, das über andere befehlen möchte. Du hast eine andere Révolution in Deinem Kopf. La révolution de la anarchie ...«
»Von mir aus auch Anarchie. Aber nicht als Staatsform. Wie das einige von diesen Klappentextgebildeten, von diesen Nichtskapierern gerne hätten. Anarchie der Vernunft. Meinetwegen. Liberté. Für alle.«
»Oui. Es ist Dein alter Wunsch. Jedoch – auch wenn eure Révolution sich gewandelt hat, mehr hineingemündet ist in eine materielle Entleerung, vielleicht sogar im Sinne von de Sade, eine Entleerung des männlichen Körpers hinein in uns – mit ihm gedacht, in einer kleinen Excursion, ist es zu vergleichen. Es ist der Geist, der fließt. Er fließt mit. In allem. Es ist correct: Es ist auch Entleerung der Seele. Es ist euer petit mort! Es war unser Gespräch. Zu diese Zeit nicht de Sade, jedoch andere. Oscar Wilde. Darüber haben wir gesprochen. Und über andere. Wir beide haben es uns gewünscht ...«
»Wie bitte?! Wir haben uns ...«
»Oui, Didier. Es ist so! Es ist dasselbe wie das Weggeben oder das Sich-Entkleiden. Dieser Gott in uns! Nicht dieser bärtige Mann dort oben in einem diffusen Himmel, eine komische Person, gemalt von einer Kirche oder vielen Kirchen, die wir nicht akzeptieren. Über den sich de Sade hat lustig gemacht. Zu Recht. Also nicht dieser Zustand einer Gnade réligieux. Unser Nacktsein vor uns. Wie Du. Wir waren an einem Abend zur Île Ratonneau in unsere Calanque neben dem Digue Berry. Wir haben den Étoile du berger gesehen. Du hast es zu mir gesagt, Du hast gesagt, Wilde hat recht, was soll ich mit einer Seele?! Mit einer Seele, die den Kopf immer über Wasser haben muß, um ständig abwägend den Sauerstoff des Dualismus‘ von Gut und Böse, von Sein oder Nichtsein atmen zu können, eine Seele, die keine Kiemen hat, die nicht hineintauchen kann in die Gezeiten des Sein-Lassens. Also, hast Du zu mir gesagt, gehst Du viel lieber mit mir, mit Deiner Ondine von Wilde, ins Meer. Ich habe Dir meine Füße gegeben, und Du hast gesagt, sie sind die Füße von Ondine zu Lande. Und ich habe zu Dir geantwortet, daß wir sollen endlich geben auch den Frauen eine Seele. Und dem Mann ein Herz. Ein Herz und eine Seele. Alles für beide. Eine Seele ist ein Herz! Désormais! Für uns in der Zukunft. Wir haben Nietzsche zur Hilfe gebeten. Zumindestens dort, wo wir ein wenig die Wahrheit weit weg von diesem schlimmen Dualisme von Gut und Böse gesucht haben, die uns dieser spät, jedoch nicht zu spät gekommene Romantique angeboten hat: ›O meine Seele, ich wusch die kleine Scham und die Winkel-Tugend von dir ab und überredete dich, nackt vor den Augen der Sonne zu stehen. Mit dem Sturm, welcher Geist heißt, blies ich über deine wogende See; alle Wolken bließ ich davon, ich erwürgte selbst die Würgerin, die Sünde heißt.‹ Und dann sind wir in das Wasser gegangen, hinein in das weiche Fruchtwasser Mer méditeranée, so hast Du es genannt, hineingetaucht in die Liebe. Wir beide. Deinen Océan hast Du mich genannt, in dem es immer warm ist und weich. Wir sind geschwommen. In uns. Weil Liebe besser ist als Weisheit.«
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick. Ich muß mich mal eben ...«
Ich ergreife die Flucht auf die Toilette und nehme die Position eines Denkers ein. Ich bin ihr nicht gewachsen. Und sie hat recht. Ich bin dumm. Und sie ist weise. Weise wie ein wissendes Herz. Ich schwimme. Aber nicht in ihr, sondern in meinem verknöcherten Hirn. Ich rudere in diesem steingewordenen Kahn und komme nicht von Fleck, weil ich auf Grund liege, abgesoffen bin in einem kümmerlichen, flora- und faunafreien Denkkanal, der von A nach B führt. Aber nicht ins offene Meer, wo das Boot aus Stein wenigstens in Flammen aufgehen kann, wie Hannsjörg Voth das 1979 mit seiner Reise ins Meer getan hat Ich rede so immer wieder aufs neue das Gegenteil dessen, das ich eigentlich sagen möchte. Jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, um ihr zu sagen, daß sie schön ist, daß sie wunderbare Gedanken hat, daß sie gebildet ist und intelligent und also zu unterscheiden vermag, daß ich die Gelegenheit ihrer Anwesenheit gerne nutzen würde, sie näher kennenzulernen, dann tritt dieser Umkehrschub ein, der mich abstürzen läßt. Es ist wie mit meinem Französisch, von dem sie meinte, ich spräche es ein bißchen: Blockadefrei geht es nur, wenn ich besoffen bin. Dann geht es sogar gut. Wahrscheinlich, weil meine Innereien sich frei machen. Da ich aber nicht mehr saufe, bin ich ein eingeklemmtes, stummes Ekelpaket, das sich in Kreisen herumtreibt, die sich den wehenden Schal aufs Banner geschrieben haben.
Ach was, Banner, eher das alte Panier, im Französischen heute nur noch Warenkorb. Kunst und Kultur als Luxussupermarkt. Man nimmt sich heraus, wie’s belieben. Und wenn’s von unten ist und alles zusammenkracht, dann wird schon jemand kommen und es wieder aufbauen. Und unsereins steht herum und macht seine Witzchen. Inmitten von lauter Experten, die permanent etwas zu sagen haben, auch wenn sie nicht danach gefragt werden. Und die dich ständig heimholen wollen ins Reich, wenn sie erfahren, daß eine Mutter ein jüdisches Ei gelegt hat. Ach, wir sehen das ja nicht so eng religiös, sondern rein kulturell. Deshalb können wir es auch nicht zulassen, daß dieses Drecksstück Der Müll, die Stadt und der Tod von dieser widerlichen Schwuchtel Faßbinder wieder aufgeführt wird. Und die Trommel rühren dann diese schrecklichen, unsäglich dämlichen Philosemiten, die zwischen Judentum und Israel nicht unterscheiden können. Für die es unbegreiflich ist, wenn man als Jude Israel kritisiert. Wahrscheinlich darf man als Katholik, gleich welcher Nationalität, Innen- wie Außenpolitik des Vatikans auch nicht beurteilen. Weil darüber nur dessen oberster Heerführer befinden darf. Auch wenn er senil ist. Hauptsache Führer.
Meine Güte – wie recht sie hat! Die Kehrseite sind diese ewig spätaufgeklärten Salonrationalisten, denen es nahezu ausnahmslos nicht begreiflich zu machen ist, wie notwendig ein Staat wie Israel ist und daß eine Befürwortung nicht einhergeht mit dem Verlangen, alles Arabische aus der Weltkarte zu radieren, sondern daß dort die absolut gleichen Opale aller Religionen miteinander, gemeinsam funkeln können. Zumindest sollten. Ach Nathan, du Weiser! Wie hat deine Recha gesprochen, das Christenmädchen, das dir der Klosterbruder brachte, der Du Dich angenommen hast, nachdem die Christen dir Frau und sieben Söhne abgeschlachtet hatten und die Rache sie ereilte, indem sie von den Kämpfern Mohammeds gemetzelt wurden, du, der du dem Muslimen Saladin das Gleichnis von den Opalen für die drei Söhne so nahegebracht hast, daß dieser ausruft: »Bei dem Lebendigen! Der Mann hat recht. Ich muß verstummen!« Und die ach so unvernünftige Recha hat's dann ihrer Erzieherin hingebürstet:
Daja!
Was sprichst du da nun wieder
Du hast doch wahrlich deine sonderbaren
Begriffe! ›Sein, sein Gott! für den er kämpft!‹
Wem eignet Gott? was ist das für ein Gott,
Der einem Menschen eignet? der für sich
Muß kämpfen lassen? – Und wie weiß
Man denn, für welchen Erdkloß man geboren,
Wenn man's für den nicht ist, auf welchem man
Geboren?
Meine Güte! Das war das zwölfte Jahrhundert! Das Lessing im achtzehnten beschrieben hat. Und heute könnte man meinen, er hätte es gestern veröffentlicht. Fundamentalisten gegen Fundamentalisten. Woher wissen die eigentlich so genau, für welchen Erdkloß man geboren?
Und selbst wenn man außerreligiös argumentiert, dann verlieren sie die Fassung, unsere ach so gebildeten Nicht-Fundamentalisten. Auch dann, wenn man auf eine objektive Wurzel des Gemeinsinns verweist, wie sie Theodor Herzl in seinem Judenstaat entworfen hatte: nationale, moderne Werte, realpolitisch und säkularisiert. Das waren mal sozialistische Gedanken! Zumindest soziale. Im Kibbuz hat noch ein wenig vom Sozialgedanken überlebt. Und gerade heute, da immer mehr dem Juden wieder einen gasgefüllten Nomadenballon wünschen, mit dem er endlich ins Nirgendwo entschwebt. Wahrscheinlich immer gewünscht haben. Und diese Sehnsüchte lediglich wieder hochkommen aus der Verdrängung. Wenn sie sie denn überhaupt verdrängt und nicht unterschwellig laut hinausgeflüstert haben. Mittlerweile auch in dem Land, in dem ein Begriff wie Gas eigentlich aus der Sprache getilgt gehört, aber in dem dennoch ständig neu gezündelt wird. Es gibt genügend, die meinen, die Juden seien hier zu Gast wie die Türken und hätten sich entsprechend wohlgefällig zu benehmen. Also den Mund zu halten, wenn man sich zu Wort meldet. Diese in ihrem Populismus nur scheinbar ungeschlachten Bildungsbürger, die sich als die Freiheitlichen oder gar Freie Demokraten titulieren, die nichts davon wissen wollen, daß man innerhalb anderer, unzivilisierter Völker beispielsweise der islamischen, das Recht des Gastes über das eigene erhebt. Diese willentlich und wissentlich Nichtwissenden, die unter ihrem freiheitlich-demokratischen Grundordnungskardinalsmäntelchen verborgen halten, daß im ersten Weltkrieg unzählige Juden von der geliebten deutschen Fahne begraben wurden, die sie idiotisch-stolzgeschwellt an die Front getragen hatten. Und die es eben nicht hinaustragen unter das Volk, dessen Stimmen sie sich erhoffen bei irgendwelchen Wahlen, die sie zur Macht, zumindest zu achtzehn Prozent führen sollen, daß die jüdische Frage eben nicht mit dem Parlamentarismus, ihrer Verankerung in der Demokratie, mit der Emanzipation oder gar der Assimilation bis zur Selbstaufgabe – welch grandioser Euphemismus angesichts von sechs Millionen Ermordeten! – gelöst wurde. Diejenigen, die insgeheim sogar den mittelalterlichen Antisemitismus wieder herbeipolitisieren möchten. Und sich dabei gestärkt fühlen, weil aus Nachbarländern ein Wind weht, der ihnen die nationalistisch eingefärbte Fahne hochbläst. Diese Feuersbrunst, genährt von einem Kleingeist, wie er nur entstehen kann, wenn die materiell und damit auch ideell Armen ins Abseits gestellt werden. Auch damals hat die Not – scheinbar? – soziale Wesen zu einem Mob formiert, der Bindung über einen eingepeitschten, aber selbst damals völlig haltlosen Nationalbegriff verstanden hatte. Wenn er überhaupt was verstanden hatte. Diejenigen, die das alles wissen, aber dennoch entrüstet tun, wenn sie, mit dieser antisemitischen – oder, anderswo, auch antiarabischen – Volksseuche im Rücken, einen in die Enge gedrängt haben, man also auf diese historischen Barrikaden zu gehen gezwungen wird. Bei aller Befürwortung eines hoffentlich endlich bald eintretenden Friedens zwischen allen! Völkern – der vorliegende Beweis der Notwendigkeit eines Staates Israel ist ja nun wahrlich erbracht. Auf einmal sind sie in ihrem lange unter der Weste getragenen Antisemitismus für die Palästinenser. Keiner sagt dem potentiellen Stimmvolk, daß das Osmanische Reich unter den europäischen Führungsmächten, auch den Russen, aufgeteilt werden sollte. Syrien und Libanon französisch, das Gebiet zwischen Bagdad und dem Persischen Golf britisch. Doch dazu dürfte es jetzt zu spät sein. Die jüngsten Ereignisse haben es gezeigt. Muß man sich jetzt also mit den Arabern verbünden, weil die sich nicht mehr in die Wüste schicken lassen? Oder sollen alle Juden ihre Gast-Arbeiter-Länder verlassen und heimkehren nach Israel? Auch wenn dort kein Pfeffer wächst. Weil dann die Araber endlich den Rest erledigen? Die Fundamentalisten sind schließlich auch für die Reinhaltung der Rasse. In Algerien säubert die FIS ja längst aus. Alles Nichtislamische wird mitausgemerzt. Rausgebombt. Dann kann sie das ja gleich miterledigen.
Wie komme ich denn eigentlich jetzt darauf? Doch nicht etwa, weil eine vermeintliche Araberin bei mir sitzt? Die über die Liebe gesprochen hat. Und nicht etwa über Krieg. Und auch noch über eine Liebe zu mir. Die dauernd mit der weißen Fahne winkt. Herrgott nochmal. Wo hat die das bloß alles her?! Kann man denn sowas tatsächlich einstudieren? Diese Leidenschaft. Und wer soll denn hier das Buch dazu geschrieben haben? Oder komme ich wegen Glucksmann darauf? Mit seinem Tschetschenien. Dieser Glucksmann, der mich schließlich mit seinen Büchern, wie Pascal Bruckner und Alain Finkielkraut und andere auch, sachte an mein Mutterland herangeführt hat? Was meine Mutter nicht geschafft hatte. Ist's denn überhaupt mein Mutterland? Wie das dieser anderen. Hier weht schließlich auch so eine dieser schrecklichen Loder-Fahnen immer höher? Muß ich aus-, muß ich weiterziehen, bevor ich eingezogen bin ins Land meiner Sehnsüchte? Und ist Glucksmann tatsächlich von derselben verderbten bourgeoisen Moral, wie sie in meinem mittelbaren Umfeld dauernd herumeiertanzen?
Ich löse mich von meinem stillen Ort.
»Wo kommt Ihre Familie eigentlich her?« frage ich, mich wie beiläufig wieder ans Fenster stellend. »Es ist doch richtig: Araberin? Algerien?«
Sie schaut mich lange an, die Augen werden immer größer. Und noch schöner. Ganz sachte schüttelt sie den Kopf. Ich weiß nicht, was ich falsch mache. Das ist doch nun wirklich eine statthafte, rein sachliche Frage. Keine Provokation, keine Flegelei, nicht einmal eine intellektuelle.
»Ich meine nur – es interessiert mich, weil ich eben über Israel nachgedacht habe. Und über Frankreich. Und über Algerien eben. Sozusagen über die Welt.«
»Bon, Didier. Ich beginne, Dir zu glauben. Es tut mir weh. Es ist nicht angenehm für mich, daß Du unsere wunderbare Zeit nicht erkennst, Du kein Bild mehr hast davon. Nun weint mein Herz. Jedoch, es wird so sein, daß Du Dich nicht erinnerst an uns. Ich werde erzählen. Vielleicht es hilft uns wieder zusammen. S'il en est ainsi. Ich bin nicht aus Algerien. Ich bin in Arles zur Welt gekommen. Und die Familie ist nur nur zu einem Teil – Papa ist in Frankreich seit 1958. Maman ...« Sie bricht ab, schüttelt wieder den Kopf, dieses Mal heftiger, scheint wieder den Tränen nahe. Sie erhebt sich, dreht sich leicht nach links, dann wieder in die entgegengesetzte Richtung, macht einen Schritt auf mich zu. Ihre Augen scheinen die meinen zu penetrieren. Es ist fast schmerzhaft. Lange würde ich das nicht durchhalten.
»Entschuldigen Sie, aber ich wollte doch nur ...«
Sie nickt. »Es ist schon gut. Ich bin nicht böse. Das ist von Maman, das ist armenische Blutträne. Oder persische. Wir wissen es alles selbst nicht so genau. C'est pareil. C'est ça. Doch sie fließt leicht und schnell, aber sie wird getrocknet, sobald der Wind milde weht. Und jetzt ist er da. Jetzt bist Du gentil.«
»Ach? Artig ...«, entfährt es mir, schon wieder in die falsche Richtung hin aufbegehrend.
Ihre rechte Hand macht eine sanfte Bewegung hin zu meinem Kopf, hält aber abrupt inne und sinkt wie entkräftet nach unten.
»Non. Nicht artig. Freundlich. Liebenswürdig.«
»Sie ist Armenierin? – Wie so viele Franzosen. Berühmte Franzosen ...«
»Es gibt nicht nur berühmte Armenier, die vor den Türken geflohen sind.«
»Das wollte ich damit nicht sagen ...«
»Es gibt viele. Ich glaube, vier- bis fünfhunderttausend. Und alle sind sie Franzosen. Wie Maman und ich. Halt! Maman ist die beste Algerienfrau, die ich kenne.«
Ich muß lachen. Wie sie das sagt. Es klingt, als ob Sie gesagt hätte, ihre Mutter sei die beste Mutter aller Mütter.
»Sie mögen Ihre Mutter?«
»Ich liebe sie. Aber wer liebt nicht seine Mutter!?«
»Oh, ich kenne da jemanden. Ich ...«
»Ich weiß, Didier. Es war nicht schön mit Deine Mutter.«
Da war sie wieder, diese unselige Bedrohung. Ein Satz nur, der alles einreißt, von dem ich meinte, es mühsam aufgebaut zu haben. Woher, verdammt nochmal, hat sie diese intimsten Einzelheiten aus meinem Leben. Wer hat sie bloß instruiert? Doch der Kreis derer, von denen sie das haben kann, wird dadurch nicht größer. Alles kommt doch aus einem Loch. Die zwei anderen Menschen, die mehr aus meinem sinistren Familienleben wissen, die sind doch an einem solchen Gewaltakt gegen mich gar nicht interessiert. Ich werde jetzt Isaac anrufen. Das geht zu weit. Andererseits – was sollte die für Absichten damit verfolgen. Wir sind doch nicht verfeindet. Im Gegenteil. Doch ich krümme mich um meinen Besuch herum, nehme das Telephon in die linke Hand.
»Was tust Du, Didier!?«
»Ich telephoniere. Das ist doch wohl deutlich genug. Keine Angst, ich rufe nicht in Armenien an, um ihre Vergangenheit zu überprüfen.«
»Aber ich bin daran, Dir von Armenien zu erzählen, von Maman. Meiner Maman. Es ist sehr unhöflich von Dir.«
Wie ein Knabe stehe ich da, mit einem verbotenen Spielzeug in der Hand, das ich am liebsten hinter dem Rücken verstecken möchte, weil Maman mich dabei erwischt hat. Ich komme mir unsäglich dämlich vor. Es ist mir peinlich. Und das alles vor dieser Frau, die ich eigentlich eher beeindrucken möchte. Aber was ich auch beginne, sie fängt es mit einer schier unglaublich resoluten Leichtigkeit ab. Und sie lächelt schon wieder. Es macht mich rasend. Ich pumpe.
»Stelle das Telephon wieder hin. Du telephonierst doch überhaupt nicht gerne.«
Ich mache hilflos eine wütende Drehung. Die Schnur des Telephons verhakt sich an meinem linken Fuß. Mit mühsamer Haltung versuche ich mich zu befreien. Die Wut ist nach wie vor in mir. Sie steht am Tisch und lächelt.
»Non mais alors! Merde! Merde! Satatuhatta perkelettä helvittä ...«
Nun lächelt sie nicht mehr. Sie lacht. Nicht ganz so schallend wie vorhin im Badezimmer, aber dennoch laut. Und wieder ist es herrlich. Himmlisch? Es ist, als ob alle Sekunde ein Klöppel an eine mittlere Glocke schlüge. Kaum ist der Hall am Verklingen, kommt der nächste Ton. Das hätte nicht einmal Ferré hingekriegt.
»Weißt Du nicht mehr, wie Maman und ich so lachen mußten, als Du das gerufen hast in Deiner Wut, als Dir Dein Computer immer wieder erneut Schwierigkeiten bereitet hat? – Ah, pardon, Du weißt nicht ...«
Wie ein Krebs gehe ich seitwärts in Richtung des Stuhles, auf dem sie die ganze Zeit über gesessen hatte und neben dem sie dicht daran steht. Ich benötige einen festen Untersatz wie diesen Wirtshausstuhl. Der Hocker ist mir zu wacklig für meine Instabiltät. Sie rückt nur ein winziges Etwas zur Seite, gerade soviel, daß ich mich setzen kann. Ich lasse mich auf ihn fallen. Ich stehe sofort wieder auf und gehe in Richtung Flur, dann in die Küche. Ich brauche noch etwas zu trinken. Es ist, völlig gegen meine Gewohnheiten, bereits das dritte Glas, wenn auch von den kleinen Ballons, die ich mir aus Frankreich mitgebracht hatte. Aber es ist viel: ein Pastis und nun das dritte Glas Wein. Es sollte mir nicht egal sein, ich sollte behutsamer mit mir umgehen, aber es ist mir egal. Weshalb soll zu diesem Zustand der psychischen Volltrunkenheit nicht noch ein ordentliches Räuschlein kommen. Dann platzte mir eben die Birne. Es war wurscht. Also ab in die Küche. Und schnell wieder zurück.
»Ist es gut, daß Du trinkst?« fragt sie, offenbar ernsthaft besorgt.
Das aber fehlte mir gerade noch. Ich will schon wieder aufbegehren, besinne ich mich jedoch noch rechtzeitig. Schnell wird mir deutlich, wie wenig sinnvoll es ist, jetzt wieder mit irgendeiner eher schlichten Bemerkung einen Angriff fahren zu wollen, der mit Sicherheit wieder den Kopf in einem längst verlassenen Graben enden läßt. Dieser Gegnerin bin ich nicht gewachsen. Immer, wenn ich ankomme, war sie längst da und ist wieder weg.
»Es stimmt. Ich sollte nicht so viel trinken. Ich bilde mir das zumindest ein. Weil ich es seit vielen Jahren so halte. Nie hat mir jemand gesagt, daß ich es unterlassen sollte. Aber ich habe mich im Lauf der Zeit daran gewöhnt, und ich fühle mich gut dabei. Doch möglicherweise ist das mein Dilemma. Ich glaube, daß es mir besser ging, als ich noch gesoffen habe. Prost.«
»Dann möchte ich auch noch ein Glas Wein. Ich möchte gemeinsam mit Dir betrunken sein.«
Ich stehe ruckartig auf. »Sofort.«
»Nein, lasse es nur. Ich hole es mir selbst.« Sie ist bereits unterwegs. Sie bewegt sich nicht nur schier unglaublich sicher, sondern es hat den Anschein, als ob sie seit Tagen hier wäre. Und richtig: Irgendwie ist sie ja hereingekommen.
Vielleicht war sie ja schon so lange hier, die drei Tage, die ich in Berlin war, um wieder einmal diese Ästhetik-Koryphäe einzuvernehmen, einen dieser glatten Wehender-Schal-Träger mit Pensionsberechtigung. Und es hat mir, wie immer, keine Freude bereitet. Sie sagen immer dasselbe. Seit vielen Jahren. Teilweise seit Jahrzehnten. Ach, wie gerne ließe ich das. Aber wovon sollte ich leben? Ich kann nichts, als die Gedanken anderer einzufangen und aufzuschreiben. Gut, vielleicht kann ich auch einigermaßen hinschauen, aber mit dem Zuhören habe ich schon Probleme. Vielleicht kommt ja deshalb so wenig dabei heraus? Richtig denken kann ich eigentlich nur im Selbstdialog. Aber in diesem momenten Hier-und-Jetzt beginne ich, gerne zu lauschen. Sie ist aus der Küche zurück und hat sich neben mich gestellt.
»Wie war das mit Ihrer Mutter? Sie ist, wie sie sagen, die beste Algerienfrau, die sie kennen?«
»Ja, sie ist es, die sich am besten auskennt. Wahrscheinlich konvertiert sie deshalb immer wieder.«
»Wie soll ich das verstehen? Konvertieren – im Glauben?«
»Nun, nicht unbedingt. Maman stammt aus einer jüdischen persischen Familie, die kurz nach dem Übergang zum zwanzigsten Jahrhundert in Armenien zum Christentum konvertiert ist. Nun ist sie Musulmane. Aus Überzeugung. Doch sie ist es wohl eher aus einer weltliche Perspektive. Sie wollte nicht, daß Papa immer recht hat mit seine Éducation d'islame.«
»Wie? So richtig? Verrückt. Mit Moschee und so?«
»Ah! Non. Es ist so ähnlich, wie Du vorhin geschimpft hast. Einmal ist es tatsächlich Papa, der ihr immer wieder etwas von diese friedliche Allah erzählt hat, das aber gegenüber zu den Ereignissen in der Welt stand. Da wollte sie mehr wissen. Aber es interessiert sie sich auch für diese Culture. Primaire ist es wohl die Culture und nicht so sehr die Réligion. Genau weiß ich es nicht. Sie ist dabei nicht so gut zu fassen. Jedoch, sie hat gesagt, sei sie vermutlich bereits einmal auch Muslimin gewesen in einem früheren Leben in Persien. Sie würde es fühlen, sagt sie. Sie hat dann studiert, an der Université in Algier und dann in Paris. Hätte sie Papa nicht daran gehindert, sie wäre auch in die Koran-Schule gegangen. Aber auch in die Synagogue und in die schöne alte, immer stille Christenkirche gegenüber von Notre-Dame, in Paris, ist sie gegangen ...«
»Saint Séverin?«
»Oui. Eh bien – Papa hat alles nicht sehr gut gefallen. Ich glaube es. Dann hat sie aufgehört, hat gesagt, es stimmt, an der Judenschule ist es lustiger. Und Papa hat aufgehört zu schimpfen. Doch jetzt hat er nichts mehr zu sagen. Gar nichts mehr. Nicht einmal in seine Profession ...
»Welche ist die?«
»Oh! Es ist sehr traurig, daß Du – er hat dieselbe Profession wie Dein Papa.«
»Was Sie alles wissen! Geologe?«
Sie wirkt leicht ungehalten. »Oui, Monsieur. Er hat, um in Deiner Sprache zu sprechen, wie Dein Papa überall Löcher gebohrt. Bis sie ihn dies nicht mehr haben tun lassen.«
»Wie auch immer – das ist ja schon wieder mehr als komisch.«
»Ah! Und er ist, glaube ich, sehr glücklich. Nicht, daß er nicht arbeiten kann, sondern wegen seine Frau. Ich wäre, glaube ich, auch sehr glücklich mit ihr als seine geliebte Ehefrau. Aber ich habe ja einen ...«
»Wie bitte?«
»Ja, ich habe einen ...«
»Sie sagten es bereits. Ich meine: Gar nichts mehr zu sagen? Er schweigt. Aus Protest. Oder, weil er zu faul ist?«
Nun muß ich selber lachen. Es war aber auch zu sehr unter dem eigenen Anspruch. War es das? Ja, es war es. Was dabei herauskam, war immer nur das Sprechen um des Sprechens willen. Hauptsache, man hat das letzte Wort. Ich beginne so langsam, mich von einer Seite zu zeigen, die ich eigentlich alleine mir zugestehe. Es muß ein Ende haben. Auf diese Weise komme ich dieser Frau nicht näher. Es ist schon verwunderlich genug, daß nicht längst die Fahne eingerollt hat.
»Sie scheinen tatsächlich eine sehr interessante Frau Maman zu haben. Es gefällt mir, wenn sich jemand um nichts schert, alle Konventionen über Bord wirft und das eigene Leben lebt.«
»Oh nein, Maman wirft nicht alles weg! Im Gegenteil, sie holt alles herein, zu uns, sie bereitet uns die Mahlzeiten und den Tisch ...«
Ich war kurz davor, zu sagen: also doch das durchschnittliche, die Brust reichende Muttertier, hielt jedoch glücklicherweise an mich.
»... sie bringt unglaubliche viele Eindrücke mit, an denen wir teilhaben. Es vergeht kein Gang zum Marché, von dem sie nicht etwas Neues bringt.«
Nein, Aubertin, du wirst jetzt nicht sagen: frisches Gemüse eben! Ich glaube, ich spüre den Alkohol. Ganz wohl ist mir nicht dabei.
»Sie streift herum wie ein Katze von der Straße. Sie sieht alles, aber man sieht sie nicht. Wenn sie nicht will! Aber meistens legt sie den Mäusen Bandages an. Wenn sie nur hinken. Wenn sie wieder gesund sind, tanzt sie den Hunden auf der Nase. Hier sind wir alle nicht sehr français.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Wir lieben nicht so sehr Hunde. Doch Pferde wir mögen wieder sehr. Da sind wir complètement français.«
»Wie? Was?«
»Wir essen sie gerne.«
»Ach du meine Güte. Bin ich froh, kein Gaul zu sein. Aber Sie fressen mich auch so.«
»Heißt es nicht in der deutschen Sprache: zum fressen gern? So ist es, Didier.«
»Noch ein schönes Bild. Ich, von der Katze gefressen. Sie malen sehr überhaupt schön. Na ja, das mit dem Fressen, da weiß ich nicht so genau. Das dürfen Sie keinem Deutschen erzählen. Der frißt Sie sonst, mit seinen Hundegreifern. Wie hat mal einer zu mir gesagt, als ich von meiner innigen Beziehung zu Frankreich erzählt habe – ach, diese Pferdefresser. Das war nicht sehr freundlich gemeint. Froschfresser hat er dann noch angefügt.
»Sie schmecken auch wunderbar. Wir beide waren einmal an die Saône – oui, ich bin gerne eine Froschfresserin.«
»Sagen Sie, wo haben Sie ihre Erzähl-, diese Sprachbilder her? Ist das das arabische Blut?«
»Ich weiß es nicht. Und vielleicht ist das auch eine Mythos, diese unbedingbare Verknüpfung von Arabien, Orient und das Erzählen. Das gibt es an anderen Orten der Welt überall. L'Islande. Bei den Indien d'Amerique ou du Sud. En l'Angleterre. Bei die Esquimau. Sogar dans France. In die Bretagne. Im Languedoc. Denke an L'Occitanie, an das alte Langue d'Oc, an die älteste Littérature roman, das ohne germanistisches Substrat war, an die Troubadours! Überall. Nur nicht in Paris. Dort spricht man nur vom Staat Geprüftes, sie sind ohne Fantaisie. Bon alors – man muß nur hinschauen und das Leben in sich freigeben, herausgeben. Es ist auch totale Blödsinn, immer auf das Télévision zu schimpfen, wenn Kinder verstummt sind. Wenn wir ...«
»Wir? Sie und ihre Eltern? Oder ...«
»Es gibt noch Mirjam und Aaron. Es sollten Moses und Aaron werden. Nach mir. So bekam Aaron als Schwester eine Prophetin.«
»Ich verstehe mal wieder nicht. Sie sind doch Muslime!«
»Mais non! Und ja. Es ist gleich. Wir sind alles. Ich habe doch gesagt – Maman hat sich mitgebracht und uns durcheinandergeschüttet. Und Papa sitzt da und lacht. Manchmal geht er in Pérpignan zu den Juden in den Gassen hin und sagt: Ich komme, um euch ein wenig zu beschimpfen. Ich bin schließlich Araber. Und ihr habt hier auch nichts zu suchen. Nicht in Frankreich und nicht hier in Katalonien. Dann lachen sie alle und trinken Wein. Manchmal viel. Es ist auch schon geschehen, daß zuviel. Dann holt die Katze ihn ab und wickelt ihn. Und sie essen Schinken vom Schwein. Sie haben ihn das gelehrt. Er muß immer nur daran denken, es sei Schinken von Fisch. Dann würde es – gut! – rutschen.«
»Sie geben mir Rätsel auf. Das ist ja wie in einem Kitschfilm. Aber es gefällt mir gut. Stimmt. Guten Kitsch mag ich ja auch. Vor allem euren, den französischen.«
Sie erhebt sich langsam. »Ich muß ein wenig stehen.« Etwas unwirsch verneint sie mit leichtem Auf- und Abzucken der Schultern.
»Kitsch? Das ist doch wieder so ein dummes deutsches Wort. Sogar wir Franzosen haben es übernommen. Nein, es stimmt nicht, es ist nicht dumm. Es ist nur dummgemacht worden. Weil früher im Romanisme es hieß Négation de merde. Non, es hieß nicht so. Ich nenne es so. Das hat uns unser grand Écrivain Milan Kundera ...«
Sie merkt, wie ich tief, sehr tief einatme, um dann wieder Luft abzulassen. Sie winkt mit beiden Händen die Luft wischend ab.
»Non, non. Chéri. Milan Kundera ist Franzose. Er schreibt französisch. Wir sind alle Franzosen. Du auch, oui, Du sowieso, auch wenn Du manchmal sprichst wie eine Pariser aus Deutschland, also: Milan Kundera hat gesagt, daß – Scheiße ist ein häßliches Wort, Scheiße ist hart, aber Scheiße ist weich! – Merde ist die Welt. Wer aber sagt, es gibt Merde nicht, er so tut, es gäbe sie nicht, der ist merde kitschig. Wer sich schämt, zur Toilette zu gehen und Geräusch zu machen, ist Kitsch. Und Maman, ein bißchen auch Papa, machen viele Geräusche.« Sie lacht laut. »Ich meine nicht auf Toilette.« Nun prustet es aus ihr heraus. Fast kommt sie nicht zu Atem. »Entendu – auch auf Toilette.« Sie kriegt sich nicht mehr ein. »Sogar der Kitsch macht dort Geräusch. Es ist sein Neinsagen, das so laut ist dabei, weil er sich zukneift. Und das ist ihm peinlich. Und je mehr er kneift, um so mehr wird der Ton komisch.« Jetzt schüttet sie sich aus vor Lachen und rennt hinaus in Richtung Toilette und ruft im Flur noch: »Das ist jetzt kein Kitsch. Das ist die Wirklichkeit in der Hose.«
Merde. So schön unbefangen, kindlich – kindlich? – hat mir diese ganze Scheiße, die um uns herum ist, noch nie jemand erläutert. Und Kundera habe ich nun wahrhaftig auch gelesen. Hatte ich nur die Wörter gelesen und nicht die Worte? Und gerade dieser Exkurs aus der beeindruckenden Unendlichen Leichtigkeit des Seins sozusagen in die Scheiße war eine besondere Aufmerksamkeit wert gewesen, nicht so sehr die Passage, die mir jetzt von elementarer Bedeutung scheint, über die Naziza – tatsächlich, jetzt hatte ich nicht mehr gedacht, ›mein Besuch‹, mir kam Naziza in den Sinn, ja: Naziza und in den Sinn – so köstlich frei referiert hatte. Köstlich? Na, ich weiß nicht. Vielleicht nicht doch ein bißchen infantil? Mir geht das Unterscheidungsvermögen verloren. Ich bin fatal beeindruckt. Wovon? Von ihrer äußeren Schönheit? Nun denn, doof ist sie nicht. Das zeichnet sich schon irgendwie ab. Ach, Aubertin, du bist ein arrogantes Arschloch.
Ich stehe auf und gehe in meine kleinere Arbeitshöhle. Dort stehen alle Standards, deckungsgleich mit den beiden wandschmückenden, tief in der Romantik wurzelnden Totenköpfen des multitalentierten Schauspieler-Künstlers. Standards sind die Bücher, die ich immer irgendwie dauernd in die Hand nehme, um dies oder das nachzulesen – die erkleckliche Summe der Kunst mit ihren manischen Interpretatoren sowie die Restphilosphen dösen drüben im großen Zimmer in den Regalen von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke so vor sich hin –, durchaus die Klassiker, die ich eigentlich gerade erst zu lesen beginne. Ebenso wie die Philosophen, denn ich bin mir längst im klaren, daß ich nichts, aber auch gar nichts verstanden habe von dem, was ich über zwanzig, dreißig und mehr Jahre in mich hineingestopft hatte. Deshalb gehe ich jetzt vermutlich auch erneut zu Herrn Kundera und suche nach ihm im Regal. Er steht irgendwo zwischen Montaigne, Morgenstern, Kleist, Karl Kraus und den Œuvres Completes des Monsieur Isidore-Lucien Ducasse, Comte de Lautréamont – die einen vom andern Stern, der hier vom anderen Berge, dieser Seher vom Monte Video, L’autre à mont. Zwischen diesen Lichtgestalten und der Wortschleuder wider den wienerischen Ungeist muß er wohl auf jemanden wie diese – ja, kluge – Frau gewartet haben, die mit seiner Hilfe endlich den Staub aus meinem verdunkelten Hirn bläst. Das Buch ist überladen mit diesen kleinen, an sich sehr praktischen kleinen gelben Klebepapierchen. Doch wer so damit haushaltet wie ich, tut sich schwer, besondere Stellen zu finden. Offenbar gibt es in diesem Roman nur entscheidende Stellen. Oder ich kann mir nichts merken. Ich suche und blättere. Es ist schwierig, da ich es seit einiger Zeit unterlasse, in Bücher hineinzuschreiben. Es ist mir nicht klar, ob es aus Ehrfurcht vor einer solchen Arbeit geschieht, oder ich beginne, Sachwerte zu schätzen.
Mit einem Mal steht Naziza seitlich hinter mir und schaut mir über die Schulter. Ich bilde mir ein, daß sie gut riecht. Sind es diese vielen kleinen schwarzen Sternchen auf ihrer Haut, die diesen Duft ausströmen? Duftsterne? Solche feinen Gebilden Sommersprossen zu nennen, wäre ein Sakrileg. Außerdem haben nur blonde und hellhäutige Menschen Sommersprossen. Die an dieser Frau sind vereinzelte Veredelungen durch Pigmente, wie sie nur in südlichem Schatten wachsen. Bilde ich es mir nur ein, oder ist es so?
»Sie riechen gut.«
»Ja? Eigentlich müßte ich stinken nach alle den Innereien, die aus mir gekommen sind in der letzten Zeit.«
»Sie meinen doch sicher etwas anderes als Innereien, also Leber, Niere, Darm.«
»Ouf. Oui, provençalische Küche. Auch. Nein, merde, oh, schon wieder, nein, sicher das meine ich nicht. Ich meine die Transpiration.«
»Tränen sind kein Schweiß!«
»Doch doch, es ist so etwas wie Schweiß. Es kommt bei harter Arbeit, bei einem Kampf mit einem Goliath.«
Dazu fällt mir nicht einmal mehr etwas Dämliches ein. Es ist mir unangenehm. Ich fühle mich durch diese Erhöhung erniedrigt, aber weniger durch sie als durch mich selber. Andererseits – gesiegt hat ja David mit seiner Geduld. Wie auch immer – sie hat das so frisch gesagt, wie sie mir vorhin ihre Sicht auf die Kitsch-Scheiße erläutert hat. Ängstlich drehe ich meinen Oberkörper von ihr weg, als ob ich in dem nicht eingeschalteten Computer etwas suchte.
»Didier?«
Ich drehe noch weiter ab. Ich habe einen Klos im Hals. Wenn der sich löst, bricht ein Damm. Ich schäme mich unendlich. Sie rückt nicht nach, so daß ich wieder durchatmen kann und die Haltung zurückgewinne. Und ich finde die Stelle, die es mir in Kunderas Abhandlung über den Kitsch so angetan hatte, daß – offenbar – wieder einmal rechts und links des Weges alles unsichtbar wurde. Ich drehe mich, mit dem aufgeschlagenen Buch in der linken Hand, ihr zu.
»Naziza ...«
Ein Lächeln aus hundertstel Millimetern sind ihre Lippen. Ein Euphemist würde da heraus Zärtlichkeit deuteln. Ich bleibe lieber im sicheren Lager meines Pessimismus'.
»Es gibt in Kunderas Buch eine Passage, die bei mir besondere Aufmerksamkeit erregt hatte, weil sie genau das ausdrückte, was ich seit langem dachte. Ich muß vielleicht hinzufügen, daß ich sein Buch Die unendliche Leichtigkeit des Seins ...«
»Was ist das? Ich kenne es nicht.«
»Nun bin ich aber schon sehr verblüfft! Wie, Sie kennen dieses Buch nicht?!«
»Ich weiß nicht. Ich habe viel gelesen von ihm. Jedoch nicht deutsch.«
Schon wieder Merde. Klar. Ich schlage die ersten Seiten auf und schaue nach, wo der Originaltitel steht.
»Ah! Von wegen, Madame.« Mein leicht rechthaberischer Ton läßt ist ihr Lächeln verschwinden. »Von wegen französisch! Hier steht es. 1984 erschienen – in tschechischer Sprache.« Und sofort muß ich mich entschuldigen. »Ja, doch, richtig. Es ist aber im selben Jahr auch in französischer Sprache erschienen. Und in Deutsch! Wie hat der das wohl gemacht? Also: L’insoutenable ...«
»Oui-oui – légerté de l’être. Das habe ich gelesen, direkt nach der Publication. Daraus sind auch meine Gedanken. Ich finde es auch heute noch groß, und ich lese sehr gerne darinnen.«
»Sie haben das Buch direkt nach dem Erscheinen gelesen? Das ist achtzehn Jahre her! Wie alt sind Sie denn, gute Güte?«
Nun ist kein Lächeln mehr in ihrem Gesicht. Es ziehen sich zwei kleine Furchen von der Nasenwurzel nach unten. Es ist mir unerklärlich. Was habe ich denn jetzt wieder gesagt? Solches müßte doch eigentlich ein Lächeln produzieren, und sei es, ein kokettes. Doch diese südsternschöne junge Frau schaltet das Trauerlicht ein, wenn ich sie nach ihrem Alter frage. Als ob sie ein paar Jahre verloren hätte und ihnen nachweint. – Doch dann weicht der Trauerflor einem selbstbewußten, nun doch koketten leichten Grinsen.
»Compter! Monsieur. In meinem früheren Leben war ich jung. Wie alt bin ich dann in meine alte Leben?«
Sie scheint auf alles eine Antwort parat zu haben. Es geht mir wie mit meinen Büchern. Ich muß offensichtlich lesen lernen. »Sie machen mich verlegen. Vielleicht bin ich nicht wirklich ein höflicher Mensch, aber ich möchte gerne wenigstens den Anschein wahren. Deshalb werde ich den Teufel tun und irgendeine Zahl nennen. Doch, er reitet mich. Ich sage es. Nein. Ich sage es nicht. Sie haben mich schon genug geprügelt.«
»Ich prügele nicht. Die Blume der Unterwelt vergiftet. Je suis la paralysie. – Das erste, was Maman und Papa getan haben, war, darüber nachzudenken, daß es ist besser, nicht zu denken. Und sofort bin ich gekommen.«
»Ich verstehe nicht. Sie sagten doch, Sie seien nicht aus Algerien.«
»Das stimmt auch. Maman et Papa – als Papa aus Algerien gekommen – und dorthin kam er zuvor mit seine Eltern aus Tunisie, seine Name, mein Name, pardon, ma nom de jeune fille, ist auch von dort –, seit er von dort gekommen ist und in Marseille Maman gesehen hat, so sind sie aufeinandergefallen, irgendwo in den Calanques, auf den Calanques, auf dem Château de la petite histoire oder – ich glaube es war eher dort, non, ich weiß es – in diesem kleinen Fenster zum Meer auf der Île Ratonneau, direkt neben dem Digue Berry. Man ist sehr schnell dort unten. Wir haben es oft ... Denn ich habe Sand im Blut. Es knirscht immer so. Oder ist das das Alter?«
Ihre Koketterie brachte mich völlig raus, denn ich war tatsächlich dabei zu rechnen. Wann hatte sie gesagt, daß ihr Vater in Frankreich gelandet war? War das nicht Anfang der sechziger Jahre?
»Oui-oui, mon amour. Ich bin bald so alt wie Du. Ich muß nur noch einmal in die Schule zu Antonio Tabucchi und bei ihm lernen, wie Calypso das macht mit der Zeit, und dann kann ich zu meinem Héros du voyage und mit ihm in den Tempel des jungen Alters, und wir heißen dann nicht Philemon und Baucis, sondern Marius et Jeannette, weil es nicht ist in Griechenland, sondern in l’Estaque. Jedoch, das ist fast Griechenland. Unser neues Alt-Griechenland.«
»Ich glaube, ich lasse das mit dem politischen Kitsch von Kundera und gehe lieber in die schöne Scheiße, die Sie mir so schmackhaft gemacht haben.«
»Non-non, ich will das schon wissen, wie das so ist mit euch, mit dem schönen Mai damals, mit eure Monter au créneau. Ich habe noch Felsen erklommen zu dieser Zeit.«
»Schöne junge Marianne! Ich hatte nicht das Vergnügen wie unser Daniel Cohn-Bendit ...«
»Er ist auch geflüchtet.«
»So'n Quatsch! Er wurde rausgeschmissen aus dem Heimatland France.«
»Ich weiß es, Didier. Es ist schlimm. Nur, weil er einen deutschen Passport hatte. Es ist peinlich für unser Land.«
»Na also. Nun, wie er in Paris auf die Barrikaden zu gehen und die Bourgeoisie zu schleifen. Ich habe in Berlin geschossen. Aber nicht mit Steinen auf die Staatsmacht, sondern mit kleinen Pucks auf Tore. Ach was, nicht einmal das. Ich befand mich schon damals in der Abwehr. Deshalb wurde ich auch nicht ausgewiesen. Doch, einmal. Aus den Niederlanden. Weil ich verbotenerweise bei Coca Cola in der Fabrik Flaschen gereinigt habe, um mir Coca Cola kaufen zu können.«
»Oui-oui, ich weiß. Du bist nur im Kopf ein Combattant de révolution. Pardon. Ich scherze nur.«
Schon wieder eine dieser lakonischen und noch dazu intimen Anspielungen, die mich aus der Bahn bringen. Ich dachte, Sie würde das jetzt lassen. Grimmig schaue ich sie an. Ganz behutsam und sehr kurz nur berührt sie mit ihrer linken Hand meine rechte Schulter
»Ich weiß, Didier. Es ist gut. Alles ist gut, ich weiß es. Komm, ließ mir Dein Kampf vor.«
»Also. Das ist es, was mich so begeistert hat, weil es endlich – ich muß zu meiner Schande hinzufügen, daß ich mich diesem Buch in den Anfängen verweigert habe, obwohl es beruflich eigentlich eine Verpflichtung gewesen wäre. Aber alles stürzte sich darauf, und alles sprach darüber, vor allem diejenigen, die es nicht gelesen hatten. Wie kürzlich bei Houellebecq.«
»Kürzlich? Du meinst vor gute drei Jahre – Les particules élementaires.«
»Meine Güte, ist das schon wieder solange her? Aber Moment mal! Hier ist Elementarteilchen später erschienen.«
»Kaum später. Doch wir haben, Du, Maman, Papa und ich, ich glaube es waren sogar Mirjam und ihre Mann dabei, trotzdem viel diskutiert. Und ich kann mich vielleicht en passant daran erinnern, daß Du gelesen hast ein Exemplaire presse d'avance ...«
»Sie wissen, glaube ich, mehr als ich.«
»Ich beginne auch, es zu glauben – Bon. Wir waren sogar im Streit einig in der Meinung, daß es ein schlechter Roman ist, aber trotzdem ein gutes Buch, weil es aufrichtig ist und in seiner Kritik an unserer Gesellschaft die Wahrheit sagt, die uns trifft, die wir jünger sind als ihr – und die euch seziert. Und auch, weil es eine schlimme Wirklichkeit ist von diese arme Homme de isolation – diese, wie heißt es deutsch, ich glaube, arme, einsame Schwein. Maintenent er ist mehr eine Arschloch – mit seine Plaidoyer für Prostitution dans Thailande.«
Ich gebe es auf. Das alles kann sich doch niemand ausdenken. Ich soll mit dieser Frau, bei der ich an alles denke, nur nicht an diesen völlig ausgelutschten Houellebecq und seinen Weltuntergang, mag er noch so recht und mich beeindruckt haben, sondern viel eher an einen händchenhaltenden Sonnenaufgang, mit dieser Frau soll ich – ich gebe es auf.
»Allez. Le Kitsch.«
Ich schlage die Seite erneut auf. Ich lese:
»Seit der Französischen Revolution nennt sich die ein Hälfte Europas Linke, während die andere sich die Bezeichnung Rechte erworben hat. Es ist nahezu unmöglich, den einen oder den anderen Begriff aufgrund irgendwelcher theoretischer Prinzipien, auf die er sich stützte, zu definieren. Das ist nicht weiter verwunderlich: politische Bewegungen beruhen nicht auf rationalen Haltungen, sondern auf Vorstellungen, Bildern, Wörtern und Archetypen, die als Ganze diesen oder jenen politischen Kitsch bilden.«
»Ja, Kundera hat recht. Ich sage es. Es ist dasselbe, es ist die gleiche Merde. Sie glauben, sie würden denken. Doch sie denken nicht daran, daß es jemand anderer war, der gedacht hat und sie in einen Rahmen eingetreten sind, in – eine Réligion, in der das ist verboten und das und das auch. Moment. Gib mir das Buch, bitte.«
Ich drücke es ihr in die Hand und achte darauf, sie zu berühren. Sie zieht sie nicht zurück. War das jetzt Kitsch?
»Hier – ›Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das kategorische Einverständnis mit dem Sein. Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.‹ Es ist vor allem verboten, zu sagen daß es eine Toilette gibt. Wie sagt ihr? Die stille Ort. Genau. Scheiße macht kein Geräusch, weil es sie nicht gibt. Und alles, was verboten ist, ist Scheiße! Also gibt es viel davon. Man achtet darauf, daß es gibt viel davon. Und deswegen ersticken wir langsam in ihr. Aber sie zu sehen, ist verboten. Und am schlimmsten ist dieser Kitsch der Gebildeten. Diese eitle Kitsch. Allen voran Deine Freunde Glucksmann und Finkielkraut und wer sie alle sind. Les nouveau philosophe. Ich muß lachen. Damals. Heute nicht mehr. Doch Kundera hat es ihnen gesagt. Und ...«
Sie schiebt mich, beinahe ein wenig unsanft, zur Seite, um näher an das Licht der Schreibtischlampe zu kommen, nimmt meine Position ein. Sie blättert weiter.
»Vielleicht geben Deine ordnungsvollen Klebermaterialien ja auch diese Quelle frei.«
Sie wird offenbar fündig. »Ja, hier ist es. Ich hätte mich sehr geirrt in Dir, Chéri. Hier, das ist es, was mein Freund Deinen Freunden in das Buch ihrer Gebete geschrieben hat. Höre mir zu, pardon, Kundera: ›Die französischen Intellektuellen, die mit Franz eingetreten waren, fühlten sich zurückgesetzt und erniedrigt.‹ – Da hast Du es! Passe auf, was jetzt kommt! – ›Der Marsch nach Kambodscha war ihre Idee gewesen, und nun waren es auf einmal die Amerikaner, die mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit die Leitung übernommen hatten ...‹ – das machen sie gerne, wie ihre Hauptkuhjunge aus dem Bush ...«
Sie sprach den Namen des amtierenden US-Präsidenten aus wie die junge, ein wenig übertrieben gepflegte Frau in der Kneipe am Alten Hafen von La Rochelle, wo ich im vergangenen Jahr dreimal meinen frühabendlichen Pastis getrunken hatte. Allerdings ging es da nicht um diesen Mann mit dem Gang eines zwölfjährigen Jungen, der den der bulligen Männer aus diesen vielen, von seinem Vater und dessen patriotischen Voreiferer initiierten schlechten Filmen imitierte, sondern um eine zarte Frau mit ausdrucksstarker Stimme. Viermal hatte ich nachfragen müssen, wer, bitte, nochmal das sei. Und dann hatte ich es herausgehört aus diesem Büch-e – ah! hatte ich dann mit einem Lachen ausgerufen, das nichts anderes sein sollte als freundlich, aber sich auf einmal, als ich meine Unhöflichkeit bemerkte, als etwas verklemmt darbot: Bush, Kate Bush. – Seitdem höre ich auch ab und zu einer US-Amerikanerin zu. – Ihre Reaktion war nicht gerade angenehm gewesen. Da gibt man solch einem terrible französisch radebrechenden Boche freundlich Auskunft, und dann wird man auch noch besserwisserisch korrigiert. Denn welcher artikulationsfähige und stilvoll erzogene Mensch konnte solch ein Wort schon aussprechen, das nach einem Mund voller marsh mallows klang?!
»Didier! Du hörst nicht. Du hast diese alte schlechte Art von früher. Du bist nicht konzentriert. Du träumst schon wieder.«
»Pardon.« Ich drehe mich vom Fenster weg, vom dem aus man noch besser nach Süd-Südwest hinträumen konnte als von dem im anderen Zimmer, von wo die Aussichten in eine verheißungsvolle Zukunft teilweise von eternitverkleideter Dauergegenwart aus den Anfängen der sechziger Jahre verstellt wurden.
»Ja. Ich mußte an George Bush denken. Entschuldigen Sie bitte.«
»Hier hast Du unsere Büche.«
Ein Lächeln drängte sich mir auf, ich riß mich jedoch sofort zusammen.
»Der Marsch nach Kambodscha war ihre Idee gewesen, und nun waren es auf einmal die Amerikaner, die mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit die Leitung übernommen hatten und darüber hinaus auch noch englisch sprachen, ohne daß es ihnen eingefallen wäre, daß Franzosen oder Dänen sie vielleicht nicht verstehen könnten. Die Dänen hatten allerdings schon lange vergessen, daß sie einmal eine Nation gewesen waren, und so konnten sich von allen Europäern nur die Franzosen zu einem Protest aufraffen. Da sie ihre Prinzipien hatten, weigerten sie sich, auf englisch zu protestieren und wandten sich in ihrer Muttersprache an die Amerikaner auf dem Podium. Die Amerikaner reagierten mit freundlichem und beipflichtendem Lächeln, weil sie kein Wort verstanden. Schließlich blieb den Franzosen nichts anderes übrig, als ihren Einwand auf englisch zu formulieren: ›Warum wird auf dieser Versammlung englisch gesprochen, wenn auch Franzosen anwesend sind?‹«
»Aber ihr habt solche – Selbstverständlichen. Wir haben die nicht. Doch. Nein. Im Gegenteil. Offensichtlich sind wir verwandter, als die Dummheit erlaubt. Wir haben sie auch. Wir schimpfen, wenn auf der Sitzung der Europa-Erfinder und ihrer Schraubendreher das Deutsche nicht als offizielle Sprache in das Übersetzungsprogramm aufgenommen wird. Und das neben Englisch und Französisch! Ihr wart offenbar erfolgreich. Doch die Finnen! Sie hatten die turnusmäßige Führung des europäischen Stieres durch das Dickicht des Procedere' inne. Sie boten uns auf unsere Geschimpfe hin an, die Protokolle auch in lateinischer Sprache zu drucken. Das hat, bis auf die paar Esoteriker, natürlich kaum jemand kapiert. Alle haben sie geglotzt wie die blöde Kuh Europa, die vor einem neuen Stier steht. Jetzt, nach der Pisa-Studie – die bei uns der überwiegende Teil der angebildeten Bevölkerung für einen Fernsehfilm zu italienischen Architektur-Bauschäden hält – ahnt es die Kulturministerialbürokratie – und würde, heimlich natürlich, am liebsten den Lümmel aus der Randlage, diesen Provinzler erwürgen. Aber in diesem kleinen Land singen sogar ordentliche Professoren dämliche Tangoschlagertexte lateinisch – und kommen damit in die Hitparaden.«
Sie lacht wieder ihren Gesang. Und sie drückt mir meine unendliche Leichtigkeit des Seins wieder in die Hand. Allerdings zugeklappt.
»Wir haben aber auch eine wirkliche Galionsfigur, und die wird dauernd beschmiert. Pinscher hätte unser früherer Wirtschaftswunderminister Erhard oder auch diese brüllende und schwitzende bayerische Kampfmaschine Strauß ihn geheißen, Ratte, Schmeißfliege. Vermutlich haben sie es getan, ich erinnere mich nicht mehr genau. Aber alt genug ist er ja – Günther Grass. Er hat, ich glaube, im vergangenen Jahr, mit Bourdieu über die sozialen Verhältnisse in unseren Ländern gesprochen, eines der beeindruckendsten Gespräche, an die ich mich erinnere. Unser gemeinsamer Sender Arte hatte es ausgestrahlt. Ich habe es aufgenommen und verwahre es wie eine Reliquie.«
»Du bist, mon petit chéri, auch ein Kitsch. Aber nur ein wenig. Denn Bourdieu war tatsächlich ein Mensch. Und er – oder denke zum Beispiel an diese Essai von Rick Fantasia – hat uns Franzosen gesagt, daß wir es waren, die diesen ganz schlimmen Kitsch à la américain und den Supermarché und alle Schlimmheiten hier in Europa gebracht haben. Mit Scheiße sind wir immer die ersten. Wichtig nur ist, daß sie ist neu. Und dann wird sie kaschiert mit die Tricolore.«
Mir war irgendwie wie deja-vu. Von irgendwoher kannte ich das. Aber waren das nicht meine eigenen Gedanken? Aber sicher doch! Andererseits: Wer sollte nicht genauso denken wie ich? So originell oder gar originär war das ja nun auch wieder nicht. Tucholsky, dieser berlinische melancholisch-poetische David wider den wilhelminischen Ungeist hat es ja in seinem feinen, kleinen Stückchen genau beschrieben: »Es gibt keinen Neuschnee!« Nichts ist mit eigenen Gedanken, alles ist bereits einmal gedacht. Trotzdem kam es mir so vor, als ob solches schon einmal aus dem eigenen Kopf gekommen wäre. Déja-vu? Ach was, ich hätte es wohl gerne. Das Selberdenken.
Ich blättere die ganze Zeit weiterhin in dem Buch, das erhebliche Abnutzungserscheinungen aufweist. Und nun hatte ich auch die Stelle gefunden, über die sie vorhin gesprochen hatte. Merde alors! Hat die Frau ein Gedächtnis.
»Naziza, hier – ich muß Sie schon sehr bewundern. Hier ist die Passage: ›Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch.‹«
Sie reagiert nicht auf meine Anbiederung.
»Ja, ich sagte es.«
Es war fast unwirsch. Hatte ich wieder etwas falsch gemacht? Und was?!
»Didier. Ich glaube aber, daß Kundera auch eine Idiot ist. Vielleicht nicht Idiot. Es ist kein gutes Wort ...«
»Vielleicht Narr?«
»Narr? Fou? Nein, ich meine etwas anderes. Ah, später. Sag, hast Du keinen Hunger. Es ist spät, prés minuit. Und ich habe beim Warten auf Dich nie gegessen ...«
Richtig. Sie sieht extrem schlank aus. Ach, Unsinn. Halte die Klappe, schneide ich mir das Wort kurz vor dem verbalen Austritt ab.
»Hast Du nicht etwas zu essen?«
Mir ist gar nicht nach essen. Ich habe in angespannten Situationen nie Hunger, und wenn er vorhanden ist, wird er bei intensiverem Nachdenken zurückgedrängt, verdrängt. Essen kann und mag ich eigentlich nur in völlig entspannter Stimmung. Hunger habe ich des öfteren, richtiger Appetit kommt bei mir jedoch erst dann, wenn sich alle Anspannung gesenkt hat. Wenn ich spüre, daß ich unbedingt etwas essen muß, reiße ich eine Packung mit Fertigsalat oder ähnliches auf, stopfe ich irgendwas in mich hinein. Überhaupt habe ich das Kochen aufgegeben. Früher, ja, als ich des öfteren, häufig langanhaltenden Besuch hatte, da stand ich stundenlang in der Küche und habe mit den bescheidenen Kenntnissen, aber eben durchaus genießbar arrangiert, was an Phantasie und Wissen zur Verfügung stand. Es war nicht ganz wenig, was mich ein guter, in einer Modeküche der siebziger Jahre ausgebildeter Koch gelehrt hatte in den sechs Wochen, die ich bei ihm – eigentlich als Küchenhelfer – durch sein sogenannt gutbürgerliches Restaurant gehetzt – worden – war. Nie wäre mir danach in den Sinn gekommen, irgendein Fertigprodukt zu kaufen. Alles bereitete ich selbst zu. Immer hatte ich drei verschiedene Fonds hergestellt und portionsweise eingefroren, immer nahm ich nur frische Gemüse und Kräuter. Und ich hatte immer jemanden, der es gerne aß. Doch nun eben nicht mehr.
Ich ging essen, wenn ich auf Reisen war, manchmal in ein gutes Restaurant, dann achtete ich nie auf das Geld. Darum ging es ohnehin nicht. Ich hatte genug davon, weil ich kaum welches ausgab, allenfalls im Urlaub. Aber ein Restaurant mußte wirklich gut sein, etwa wie das kleine, ruhige, schlichte dieses Parisers, der es seit bald dreißig Jahren am Berliner Savignyplatz betrieb – keines dieser Modeläden, die immer abgefüllt waren mit besserverdienenden Globaldenkern. Hauptsache, sie waren aus der scheinbar italienischen, völlig überteuerten Verneinungsscheiße, die von München aus vor allem nach Berlin geflossen war. Wenn es hieß, wir gehen zu dem oder dem Italiener, dann war ich in der Regel müde oder krank – ich hatte ja immer eine gute Entschuldigung mit meiner ›Krankheit‹. Und ich ging dann zu dem Asiaten an irgendeiner Kantstraße, gegenüber diesen schnieken Paris-Bars mit den arg Zuspätgekommen, denn die Künstler gingen schon seit Ewigkeiten nicht mehr dorthin, nur noch die Camerilla der dritten Generation und deren Groupies. – Ach, Kundera, wie recht du hast. Kitsch wird nur von Spießern produziert – In der Regel bekam ich bei meinen chinesisch-thailändischen Roten Khmer der Küche etwas nach meinem Geschmack serviert. Und unter gebratene Nudeln mit Gemüse konnte man nur schwerlich Hundefutter rühren.
Seitdem das Gehirn sich mit seinem Ausfall auf das Wesentliche reduziert und mich in die innere Emigration, in die Höhle der Einsicht geführt hatte, kam es zuhause allenfalls zum halbstündigen, allerdings konzentrierten und sorgsamen Prozeß des Zubereitens von Fleischsoße, auf daß der Speiseplan nicht allzu eintönig würde. Nichts durfte mehr Zeit wegnehmen von der wenigen, die mir blieb. Ansonsten nahm ich nur noch schmackhafte Salate und bereits Vorgekochtes mit nach Hause. Allerdings war das Angebot auch enorm verbessert worden in den letzten Jahren. Das war sicherlich, nicht zuletzt, mal ein positives Ergebnis des grenzenlosen Waren-Hin- und Hergeschiebes auf den LKW quer durch Europa. Doch in erster Linie lag es wohl daran, daß es außer mir noch ein paar gab, die sich Single nannten, obwohl den meisten diese Bezeichnung wahrlich nicht gebührte, denn ihr Alleinstehen hatte überwiegend unfreiwillige Ursachen – während der eigentliche Single bewußt partnerlos lebte. Wie auch immer: Die Palette der zusehends schmackhafter gewordenen Gerichte, die überwiegend aus Italien kamen, war enorm gewachsen.
»Didier! Ich hatte Dich etwas ...«
»Ich habe aber nichts zuhause. Man müßte ...«
Um des lieben Himmels oder Götter wegen, nein, bloß nicht aus dem Haus gehen. Am Ende nimmt sie dann ihr feines Täschchen und geht ohne das alte Fischfutter für die Krabben des Vieux Port von Marseille. Ich muß sie hier festnageln. Sonst komme ich dieser Frau nie näher.
»Non, Didier. Ich mag nicht gehen. Noch nicht. Du wirst schon irgendetwas haben, aus dem wir etwas bereiten können.«
»Madame, es ist mir ...«
»Sag nicht Madame. Ich mag das nicht. Ich bin nicht Madame. Ich bin Deine – nenne mich, so wie ich bin, wie ich heiße. Du hast es getan. Du wirst es wieder können.«
»Also gut, Narzisse ...«
»Auch nicht Narzisse! Merde. Das klingt wie Scheiße. Wie der Unterschied zwischen Scheiße und Merde. Sag meinen Namen, sag ihn – N-a-z-i-z-a. Komm, flüstere ihn mir vor. Ich höre zu. Es tut nicht weh. – Oder doch?«
Ich bringe das nicht fertig. Alles in mir sträubt sich. Ich weiß nicht, weshalb. Was ist so abweisend daran? Weshalb kann ich diesen Namen nicht aussprechen, es sei denn in ironisierender Form? Ich sollte es zumindest versuchen. Sonst verliere ich sie, bevor ich sie gewonnen habe. Aber ich Ackergaul soll einen einen Meter achtzig hohen Oxer bewältigen, über dem jetzt schon der Schatten der Niederlage liegt!?
»Ich bin, Mad ... Ich bin kein Turnierpferd, Naziza.«
»Ouf. Und was für eines, mon amour! Du bist eben über Dich selbst gehüpft wie Pegasos über seine Flügel, die Du jetzt benutzt, um nach dem Helikon zu fliegen, um Deiner Thalia die komische Maske – oder mir Melyomene die tragische? – zu setzen. – Komm, wir gehen zu irdischen Genüssen.«
Sie zupft mich am Arm. Eine wohlige Berührung.
»Naziza. Ich sagte es – ich habe nichts ...«
»Taratata. Inepties. Pas de accepter. Komm, wir kochen. Wie in frü ..., wie in schönen Zeiten. Es gibt schon etwas, das wir schnell machen.«
Wieder habe ich diesen Anflug: Aha, sie kennt sich aus. Sie hat hier überall herumgeschnüffelt. Aus welchem Grund auch immer. Doch es beginnt, mich nicht weiter zu beunruhigen. Warum auch? Ich bin ja froh, daß sie hier ist. Und alleine ihre Anwesenheit sättigt mich. Oh Pathos! Oh Kitsch!
»Meinetwegen, aber ich habe keinen Hunger.«
»Oh, Didier ...«
Es erwärmt mich, daß und wie sie diesen Namen sagt, den vor ihr nie jemand gesprochen hat, immer nur geschrieben, und dann sich eher lustig machend über meine schier hoffnungslose, zugestandenermaßen bisweilen völlig kritiklose, also groteske Francophilie. Sie aber spricht ihn aus, als ob ich nie anders geheißen hätte, als ob sie ihn schon immer gesagt hätte. Und sie spricht immer mehr französisch mit mir. Ich fühle mich geehrt. Ich fühle mich angekommen im Tal meiner Sehnsüchte. Na ja, vielleicht noch nicht ganz. Aber mir abgeneigt scheint sie jedenfalls nicht zu sein. Nach Flucht sieht es nicht aus.
» ... Das kenne ich! Allez – l’appétit vient en mangeant.«
Sie zieht mich, offenbar mittlerweile frei von jeder Berührungsangst, am Handgelenk in die Küche. Willig trotte ich hinter ihr her, ein Esel, der eine wundervolle Mohrrübe vor der Nase hat und das Seil nicht spürt, das an ihm zerrt.
Sie öffnet den Kühlschrank, macht Inventur. Sie gluckst. Ich stutze, will sagen, daß ich es ihr wahrheitsgemäß gesagt hätte, daß nichts da sei. Wenn es auch nicht ganz richtig ist, denn Futter für die Jungesellenmaschine, wie ich mein Mikrowellengerät aus Frankreich nenne, ist immer vorhanden.
»Didier. Wir haben nichts mehr zu essen in France. Es ist alles in Deine Frigidaire.«
Ich muß lachen. All mein Ärger, ja, meine Bedrücktheit beginnt, sich zu verflüchtigen.
»Das ist genau das, was mir eine Kassiererin – ich glaube, es war sogar Miou Miou persönlich, vielleicht gerade ohne Engagement, oder ich war in Gedanken im Kino ...«
»Du warst mit mir im Kino! Du hast mich gezerrt hinein. Wir haben gemeinsam Deine Nostalgie-Film gesehen! Du wolltest mir junge Vergangenheit zeigen, diese Vision von Utopia. Wie heißt er noch einmal in Deutsch – Jonas, der ...? Ah. Jonas, der im Jahre 2000 fünfundzwanzig Jahre alt wird. Alain Tanner. Oui. Ein wirklich schöner Film für ein alte Combattant de rue. Und Miou Miou war wirklich charmant. Du hast recht.«
»Tatsächlich. Ich glaube – nun, jedenfalls. In Strasbourg hat Miou Miou mal genau so entzückend, scheinbar schüchtern, aber eben übel durchtrieben zu mir gesagt hat: Monsieur. Ich wußte zwar, daß es keinen Senf gibt in Deutschland. Aber daß ihr auch keine Mayonnaise habt in eurem armen Land, das ist neu für mich. Wir müssen endlich etwas tun für die deutsche Kultur. So ähnlich jedenfalls. – Ich kaufe hier überhaupt nichts. Obwohl es jetzt überall, in kleinen Gläsern, den Senf von Maille gibt. Aber eben keinen von Amora, und schon gar keine Mayonnaise. Hier« – Ich greife an ihr vorbei in den Kühlschrank. – »Mayonnaise de Dijon – von Amora. Vinaigrette de Dijon – von ...«
»’ha‚ ha. Légère. Willst Du schlank werden?«
Das begeistert mich nicht, ruckartig ziehe ich den Bauch ein und wende mich ab in Richtung des Tisches, auf der die Flasche mit dem Rotwein aus Nîmes steht. Sie schließt die Tür des Kühlschranks und macht diesen Schritt hinterher.
»Ah! Ma pauvre beau garçon. Ich darf das sagen. Es ist nicht böse. Du weißt es. Liebe ist immer schön.«
»Sie ist schön, wenn sie so schön ist wie Du ...« – Mir ist, als ob mir jemand das Maul mit einem Hammer kurz und klein ...
»Oh, ouiiiii. Sag das noch einmal: Du Naziza. Das will ich hören. Une fois, deux, fois, trois fois – einmalzweimaldreimal. De plus en plus!«
Ich stehe vorm Küchenfenster und starre auf die von ein paar Fenstern unterbrochene plane Eternitmauer. Wie Frankreich, denke ich, um mich abzulenken von dieser in mir aufkommenden Mischung aus Scham und überschwenglicher Freude. Letztere obsiegt, ganz leicht nur, verschwindet jedoch sofort wieder, denn schleichend schiebt sich der Zweifel zwischen sie und mich. Warum nur? Das ist doch eine abgekartete Sache. Das kann doch gar nicht sein – woher sollte dieses – scheinbare! Jawohl! – Gefühl mir gegenüber kommen!? Diese Frau kennt mich nicht. Aber sie sitzt an meinem Schreibtisch und tut, als wir uns seit Jahrzehnten kennten. Ach was, als ob wir seit ewigen Zeiten einander zugehörig wären. Sie steht neben mir und schaut mich unentwegt an.
»Wollen wir weinen, mon amour? Müssen wir weinen, mein verlorener Mann? Wir haben Grund. Wir haben Grund zu weinen. Jedoch wir haben auch Grund zu lachen! Was wollen wir tun zuerst? Oder beides zusammen?«
Sie legt ihre rechte Hand auf meine rechte Schulter und zieht mich sanft herum. Sie schaut mir intensiv in die Augen mit ihren höllenschwarzen Boules.
»Komm, wir schweißen den Tiegel wieder zu mit unseren Tränen. Wir sperren die Schmerzen wieder ein. Pandora war dumm, ihn zu öffnen. Ich glaube, ich bin Pandora. Ich bin vielleicht schön, wie Du sagst, aber ich bin eine Idiot. Ich habe den Deckel gehoben.«
»Was reden Sie ...«
»Du! Chéri ...«
»Gut gut, ja ja. Was reden Sie – was redest Du da? In Sachen Schönheit will ich nicht widersprechen. Wenn sie mir auch ungeheuerlich vorkommt. Gerade so, als ob der Teufel eine Teufelin wäre. – Aber ich wiederhole mich.«
»Merci pour le compliment. Doch es ist zuviel Ehre. Oder nicht. Ich bin Deine Frau – pardon.«
Es war zu spät. Es war raus. Und ich war wieder im obersten Bereich der Wutskala angelangt. Ich schnaube, ich sauge Unmengen von Luft ein, um sie in Flüchen wieder auszuspucken. Ich sehe, wie sie sich auf die Lippen beißt und mit den Tränen kämpft. Das wollte ich jetzt nur auch wieder nicht. Eigentlich hat sie mir ja nichts getan. Sie spinnt. Ja, wahrscheinlich ist sie irgendwo abgehauen und in irgendeiner Weise hier hineingelangt und spielt mir jetzt ihren Traum vor, und ich bin zufällig ihr Zielobjekt. Und so intelligent und gebildet und differenziert und gefühlvoll und charmant, wie sie ist, kann sie ja wahrhaftig nur eine Verrückte sein. Aber solange sie lediglich auf diese Weise in mich eindringt? Was verliere ich dabei? Was kann mir schon passieren? Um Himmels willen – viel! Ich habe mich ja bereits in sie verknallt. Was ist, wenn jetzt die Bullen kommen und die Tür aufbrechen, mit zwei Weißkitteln im Schlepptau? Ich werde die Tür vernageln. Hier kommt niemand rein – und raus.
»Excusez-moi. Es ist mir gerutscht. Komm, wir nehmen une grande Gorgée.«
Was wird das jetzt? So lange ist es noch nicht her, daß sie sich besorgt zeigte wegen eines Schluckes. Sollte das mit einem Mal keine Gültigkeit mehr haben? Will sie mich jetzt besoffen machen? Ach, Aubertin, wahrscheinlich siehst Du schon wieder ein neues Gespenst in dieser Geisterbahn. – Sie hat die Gläser aus dem großen Zimmer geholt, stellt sie auf den kleinen Küchentisch, nimmt die Flasche.
»Er wird zu warm.«
Sie hebt die Flasche an.
»Oh là là! Didier. Sie ist fast leer. Wie in gute alte Zeit – Merde!!!«
Jetzt muß ich schallend lachen. Es wirkt seltsam frei. Seltsam, weil ich fast nie frei lache. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal frei herausgelacht habe. Es muß Jahre her sein – irgendwann, glaube ich, am Mittelmeer. Wo auch sonst? Ich hatte aber auch nicht viel zu lachen in letzter Zeit. Es gab keinen Grund. Aber jetzt? Mein Lachen verdünnt sich zu einem Glucksen.
»Ist schon in Ordnung. Ich gewöhne mich langsam daran. – Ich habe schon noch eine Flasche. Ich habe auch noch zwei. Oder drei. Oder das ganze rote Meer. Wir können es aussaufen. Es ist mir egal. Aber ich saufe es nur aus, wenn Sie ...«
»Man säuft nur mit einem Du. Sie säuft nicht. Sie ist eine Dame. Aber ich bin keine Dame. Ich bin Du. Und weil ich Du bin, saufe ich mit Dich das ganze alte tote Meer lebendig.«
»Und laß dir raten ...«
Ausgerechnet jetzt fällt mir dieser unsägliche Dichterfürst, dieser Frauenverächter ein. Aber er hat sie ja, glaube ich, wirklich geliebt, seine Christiane. Doch ich mag ihn trotzdem nicht.
Naziza steht vor mir und schaut mich fragend an.
»Oui? Wen soll ich raten?«
»Ach, es ist eher unbedeutend, wie so vieles, das dieser Allesbesserwisser aus Weimar abgesondert hat.«
»Ah! Monsieur Conseiller privé, le Magnificence, le Größte Deutsche Dichter. Spreche!«
»Und laß dir raten, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne,
Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab!«
»Faust?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, ja. Er hat so verdammt viel geschrieben.«
»Keine gute deutsche Lehrer.«
»Das glaube ich auch. Er hat die Deutschen bis heute verseucht. Manchmal könnte man meinen, es habe keine anderen Dichter gegeben.«
»Non. Ich meine Dich. Du bist nicht mein guter Lehrer.«
Ich entziehe mich der neuerlichen Niederlage, indem ich sie an der Hand nehme, als ob ich ihr die meine auf den Mund legte. Doch ich handele wie Faust bei Margarete.
»Fühlst du mich? Hörst Du mich? Komm! Ich bin’s, ich befreie dich.«
»Da hinaus?«
»Es ist nicht zu fassen. Den hast Du auch drauf! Du wirst mir ungeheuerlich.«
»Ich mag euren Geheimen Rat. Er hat ja auch, die Histoire hat es geschrieben, gewirkt auf Frauen.«
Ich zerre weiter.– Was tue ich da? – Sie entzieht sich mir nicht. Sie hat eine wundervolle weiche, zarte, kühle Haut. Es durchfährt mich. Seit Urzeiten hatte ich kein solches Gefühl in und an mir. Sie hält meine Hand fest, nicht hart, aber die meine an der Wurzel umschließend. Es durchströmt mich. Ich bleibe stehen, bin nicht in der Lage, weiterzugehen. Sie schaut mich an.
»In welches dunkle Reich gehst Du hinab mit mir?«
»In Morpheus Reich.«
»Mir wird so eng! Die Mauernpfeiler
Befangen mich!
Das Gewölbe
Drängt mich! – Luft!«
Sie schaut mich mit leicht schräg gestelltem Kopf und zusammengekniffenen Augen an – beinahe? – entrüstet. Und wieder muß ich fessellos lachen.
»No, Madame. Keine Angst, ich bin stockschwul.«
Nun knickt ihr das Gesicht leicht ein, ihre Hand fällt aus der meinen, ihre Augen drehen sich leicht, das Kinn klappt ein wenig nach unten, der Mund steht offen. Sie sieht jetzt nicht sehr schön aus. Wie Mensch im Schlaf, leicht betäubt eben, alle Muskulatur ohne irgendeine Spannung. Es fehlt nur noch, daß ihr Speichelfäden aus den Mundwinkeln herausrinnen. Ich merke, wie ich mich an ihrer Verblüffung ein wenig labe. Es ärgert mich, aber ich lege trotzdem nach.
»Aber ich bin nicht wie dieser jüngere Leidensbruder im Geiste von Houellebecq neulich im Fernsehen, dieser französische Hochsensibilist, der sagte, ihn öde dieses Getue der Heteros an, die doch immer nur in Richtung Lotterlager werkelten. Er meinte: Immer erst vögeln, dann lieben. Das sei angesagt. Er mag ja recht haben mit diesem Hochzeitstanz der Tiere, bei dem der Pfau sein Goldkettchen, sei es nun edelstes Metall vom Hofjuwelier oder Imitat aus dem Versandhandel, immerfort auffächert, und nichts anderes will als dem anderen Pfau aufs Hinterteil hüpfen. Ich mag sowieso keinen Firlefanz und Eiertanz. Doch ich möchte – ich möchte, daß das Werben nicht endet. Das können schlichte Mitteilungen sein, die meinetwegen Kitsch sein dürfen wie Préverts Verse – Houellebecq nennt ihn deshalb Arschloch. Doch sie sollten anhaltend sein! Also immer erst lieben und dann lieben und dann zwischendrin ein bißchen bumsen. – Aber egal. Ob blond, ob braun, ich liebe ja sowieso alle Frau’n. Wahrscheinlich lieben deshalb alle Schwulen alle Frau’n, eben weil die nicht sofort aufs Lager springen, sondern lieben. Aber Du bist ja weder blond noch braun. Du bist schwarz. so schwarz wie die Katakomben von Morpheus Reich. In Morpheus, Madame. Nicht auf des Sohnes Lager. In Hypnos Bett befinde ich mich gerade. Sozusagen. Mit Ihnen, äh, mit Dir. Und träume wirres, wildes Zeugs.«
Sie schüttelt fassungslos den Kopf und bewegt zuckend die Schultern auf und ab.
»Mais non? Pourquoi pas? Mon Dieu? Ich werde leben mit solcher Mutation. Nicht gut. Doch ich werde.«
Nun ist es an mir, seltsame Anwandlungen zu bekommen. Was sind das für Reaktionen? Erst reagiert sie völlig indigniert, als ich sie vermeintlich aufs Lager schleppen will. Und nun äußert sie sich absolut konträr dazu. Ich bin kurz davor, diese dämliche Großdichter-Platitüde in mich hineinzulassen: Kenne einer die Weiber. Doch Einsicht hält Einzug. Es muß etwas anderes sein.
»Morpheus Lager befindet sich da hinten. Derrière – in dem dunklen Loch da liegt der Wein.«
Ihr Körper strafft sich wieder, alles hebt sich, kehrt zurück in ihre schöne Form, der Rücken richtet sich auf, die Schulterblätter kehren zurück in ihre angestammte Position. Sie reicht mir ihre Hand.
»Schwule sollen sehr zärtlich sein. Betrunkene Homosexuelle noch mehr. Allez les bleus. Gehen wir in die Catacombe.«
Sie eilt mit zwei, drei großen Schritten voraus und zieht mich hinterher.
»Warte. Naziza. Ich möchte nicht, daß Dich Zerberus anfällt und Dich in den Styx zerrt oder Dir die Hölle auf den Kopf fällt. Laß mich. Ich weiß die Fackel anzuzünden.«
Sie bleibt stehen und wartet, bis ich die Tür zur Kammer geöffnet und das Licht eingeschaltet habe. – Ich beuge mich nach unten zum Regal, in dem die Flaschen liegen, die ich nicht der Gefahr einer unwürdigen Kehle aussetzen möchte. Es ist zu warm hier oben und zu trocken, was durch Feuchtigkeitszugaben ein wenig zu korrigieren ist, doch die Weine reifen zu schnell. Aber der Holzverschlag im Keller ist mit einem Ruck zu öffnen, das Vorhängeschloß würde standhalten, aber nicht die lediglich angenagelte Halterung. Zudem habe ich in der Kammer hier oben immer ein paar Flaschen für solche Besuche vorrätig, von denen mir bekannt ist, daß sie mehr als einen Mundvoll benötigen, die den Wein hinunterschütten wie eine Maß auf der Münchner Wies‘n. Es ist immer eine ordentliche Frucht, meist aus dem Südwesten, auf jeden Fall Süden, die ich, wie heute, meistens auch selber trinke, ein, zwei kleine Gläschen am Abend, der bei mir seit Jahren früh in die Nacht übergeht. Niemand soll umgebracht werden bei mir, und mit schlechten Wein will ich auch bei mir nicht Hand anlegen. In diesem Fall soll es schon was Edles sein. – Es gibt offenbar keinerlei Distanz mehr. Naziza drückt nach, beugt sich körpernah weich über mich. Es ist mir sehr angenehm. Am liebsten verharrte ich in dieser Haltung.
»Mon amour. Ich sehe schon, daß Du – Ihr Deutsche! – da ein paar Schätze hast. Aber wir sind Schweine heute abend. Und Schweine bekommen keine Trüffel. Sie dürfen sie suchen. Die Trüffel bekommen die Herren – und manchmal auch die Damen. Und wenn wir beide wieder Dame sind und Herr, dann dürfen wir auch Trüffel haben. – Mon Dieu, was ist denn das?! Chabert de Barbera von 1983, Vin doux naturel de Maury! Du bist verrückt! Papa hat mir erzählt, daß sie ihn im Sommer im Marché du vin am Cours Palmarole verkauft haben ...«
Ich biege meinen Rücken vorsichtig gerade. Auch eine Feder vermag einen alten Knochen zu beugen.
»Dort habe ich ihn gekauft.«
»Mon Dieu! Mon Dieu! Am Cours Palmarole? In Pérpignan? Und Du warst ...?«
»Oui. Es war wunderschön. Genau gegenüber dem Hotel. Erst wollte ich nicht hin, weil ich dachte, der ist nur für Touristen. Aber dann war ich doch neugierig. Und weil ich am Vortag am Morgen auf dem Flohmarkt, überhaupt in Pérpignan kaum welche dieser Tand-Touristen gesehen habe, bin ich hingegangen. Es war sehr angenehm. Ich hatte den Eindruck, als ob die Vignerons diese Fête ohnehin nur für sich veranstalten, auf daß sie sich wenigstens einmal im Jahr sehen. Es waren nur angenehme Menschen. Die zwei Amerikaner, die ich gesehen habe, waren offensichtlich gut erzogen – sogar im leichten Suff assimilé.«
»Das ist wohl so. Papa hat es erzählt. Es muß sehr schön sein. Was aber schlimm ist – er wollte diesen Wein. Er ist ein so Süßer! Du wei ... Er hat ihn nicht gekauft, weil er so teuer gekostet hat. Und hier liegt er. Du bist ein Fou. Und Du stinkst. Mit Geld!«
»Du bist beleidigend. Ausgerechnet eine Französin sagt mir – ach, Naziza, so schlimm war es auch wieder nicht. Die Flasche hat glaube ich, wenn ich mich recht erinnere, zweihundertfünfzig, vielleicht dreihundert Francs gekostet.«
»Ah? Nicht teuer? Weißt du, was die Miete kostet von die Wohnung in Pérpignan? Dreitausend Francs. Und Deine Bibine, Dein Piquette de luxe ist ein paar Tage für Essen! Pour deux personnes!«
Sie ist sehr erregt. Sie dreht sich um, sie will hinausgehen. Ich versuche sie zu fassen. Ich kann sie an der Schulter greifen. Ruckartig bleibt sie stocksteif stehen und verharrt in dieser Position.
»Naziza. Bitte. Wir wollten nicht streiten. Hast Du gesagt. Und nun bin ich artig, aber Du fängst an.«
»Pah. Ich streite nicht. Ich mag aber keine Bourgeois. Und gar keine deutsche. Wie heißt ihr? Besserverdienerer. Besser dienen. Pour le argent.«
Nun werde ich ungehalten, will hinaustrompeten, daß sie das doch nun wirklich einen feuchten Kehrricht anginge, was ich mit meinem Geld anfinge und daß das meine Angelegenheit sei und daß sie sich zum Teufel scheren solle mit ihrem Franzosenkommunistenkram. Mein Protest wird jedoch wesentlich leiser. Zum einen, weil ich ja diesen Franzosensozialdenkplan des Gemeinsinns sehr schätze, und überdies annehme, daß sie vermutlich irgendwo recht hat, und vor allem, weil ich alles andere als der Meinung bin, daß sie sich zum Teufel scheren soll. Sie dreht sich zu mir um, ihr Gesicht ist von abflauender Wut gezeichnet. Ihre Mundwinkel neigen sich leicht abwärts.
»Didier. Ich glaube ...«
»Was glaubst Du? Ach was. Es ist ein Mißverständnis.«
»Non. Es ist kein Mißverständnis. Es ist schon richtig, wie ich es sage. Doch es ist falsch, Dich einen Bourgeois zu nennen und als Deutsche zu schimpfen. Ich weiß, daß Du beides nicht bist, et avant tout nicht schlecht. Ich muß mich entschuldigen bei Dir.«
Es gibt Menschen, bei denen eine Entschuldigung so aufrichtig daherkommt, daß man sie sofort glaubt. Ich bin dennoch ein bißchen peinlich berührt.
»Es ist nur wegen Papa. Es geht ihnen beiden nicht so gut. Die Pension ist nicht so viel, wie es sollte. Er kann nicht mehr verdienen. Und er liebt Süßes. Und er liebt diesen Wein, seit er einmal ihn hat kosten dürfen bei seine Beschimpfung der Juden. Er muß wunderbar sein. Ich mag ihn auch, obwohl ich nicht weiß, wie er ist. Aber wenn Papa sagt, er ist gut, dann muß er es sein.«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht probiert. Aber nachdem ich mit dem 95er bereits solche Wonnen hatte, habe ich zwei Flaschen gekauft.«
Sie schraubt sich nach unten ins Regal und schaut intensiv.
»Nach was suchst Du?«
»Nach zwei Flaschen. Ich sehe nur eine. Du hast eine ausgetrunken?! Du ganz alleine. Du hast die Sucht der Verschwendung. Du bist ein Égoïste.«
»Nun höre! Erstens wäre ich tot, wenn ich eine Flasche dieses Weines mit seinen siebzehn oder gar achtzehn Prozent alleine ausgetrunken hätte, weil mir mein Kopf geplatzt wäre. Zweitens habe ich eine Flasche verschenkt ...«
»Du bist eine Idiot. So etwas verschenkt man nicht. So etwas trinkt man.«
Es ist zum Durchdrehen. Was war das für eine Logik? Aber es ist auch schön, dieses Gedankenspringen. Wenn ich es auch sonst nicht sonderlich mochte. Doch es war der Ausnahmefall eingetreten. Das Gefühl hat der Vernunft das Licht abgedreht.
»Hör zu! Und diese Flasche werde ich auch noch verschenken. Oder besser: Ich schicke ein Fax nach Maury, sie sollen eine Flasche zu Deinem Vater nach Pérpignan schicken. Wenn Du mir seine Adresse gibst?«
»Mon Dieu! Du bist verrückt. Du willst das tun? Aber sicher ich gebe Dir die Adresse. Du hast sie nicht? Oh, merde. Mais oui. Ich gebe sie Dir. Er wird sich freuen wie wahnsinnig! Wegen ... Ja, machen wir das.«
»Bon alors! Aber vorher müssen wir jetzt eine Flasche für uns heraussuchen.«
»Oui, aber kein Truffe. Die Schweine trinken Wasser.«
»Wie bitte? Wasser. Also wirklich nicht. Jetzt mag ich noch einen Schluck trinken. Es muß kein alter Herr oder keine alte Witwe mit Épaulette von 1970 sein. Aber es muß ein Schluck sein. Ich habe das Gefühl, ich müßte eine Kleinigkeit feiern.«
»Mais oui! Mais avec plaisir! Also, was war das? Nehmen wir noch so ein Flasche Wasser wie zuvor.«
Ich konnte ihr das Wasser nicht reichen. Ich beuge mich hinunter. Gerne hätte ich gehabt, sie hätte es mit mir getan. Aber diese Verbeugung blieb aus. Ich hoffe dennoch, es wird sich wiederholen. Ich beuge mich ihr gern. Ich finde noch einen aus Nîmes.
»Es ist die letzte. Dann ...«
»Dann wir trinken noble – wie heißt es deutsch? Ah – edle Fäule.«
»Naziza. Willst Du mich töten? Außerdem ist das wirklich nichts, wenn man bereits solch Schlichtes getrunken hat. Du nennst es selber Wasser.«
»Mais oui. Ich scherze. Es wird zuviel sonst. Aber das trinken wir. Ich habe Lust. Viel Lust.«
Mit einem Mal schießt es mir in den Kopf – ich habe vergessen, mein Medikament einzunehmen. Fünf Stunden ist es über die Zeit. Das geschieht sonst nie. Es ist eine Arznei, die Hirnaussetzer verhindern soll. Solche, das mir so eine Art kleinen, na ja, nicht diesen zu recht berühmten französischen kleinen Tod, aber doch einen sehr schönen, weil absolut schmerzfreien bescheren kann – wenn es stattfindet wie vor ein paar Jahren.
Mir ist seltsam zumute. Nicht, daß mein Körper das Fehlen des Medikamentes spürt. Doch ich denke darüber nach, wie es wäre, jetzt ein Ende zu machen. Das wäre doch die im Wortsinn heilvolle Beendigung eines Kapitels, unter das längst ein Schlußstrich gezogen gehört. Seit langer Zeit gelten meine Überlegungen immer wieder den eventuellen Versuchen, allem ein Ende zu machen, dieses jammervolle Dasein der Einsamkeit zu beenden. Hier und jetzt. Das wäre es doch. Vielleicht geschieht es noch einmal wie damals. – Ganz leicht entgleitet alles. Ich sehe mich liegen. Ich höre die Stimmen der anderen Menschen um mich herum. Eine Frau ruft nach dem Notarzt. Ein Galerist, der zuschaut, wie ich langsam in mich zusammensinke, schaut unsäglich dämlich, vielleicht aber auch nur hilflos drein. Später werden sich die Ärzte aus beruflichen Gründen um mich sorgen. Im Krankenhaus habe ich mehrere dieser Anfälle. Das jeweilige Erwachen danach ist nicht so schön wie beim ersten Mal, als ich mich über allem fühle. Aber die Hoffnung, es könnte wieder einer dieser Anflüge des Elysischen sein, wünscht weitere herbei. – Doch es wird nie wieder so sein.
Aber jetzt. Das wäre eine Gelegenheit. Einmal noch. In Anwesenheit, besser: unter diesem Engel auf Erden, der offenbar nicht nur alle Menschen liebt, sondern auch mich. Dafür alleine liebe ich ihn. Weil er mich liebt. Vielleicht wenigstens so, wie Slavoj Zizek Hegel paraphrasiert hat: »Wir lieben uns nicht direkt – was wir wirklich lieben, das ist, von anderen geliebt zu werden, was nichts anderes heißt als: Wir lieben andere dafür, daß sie uns lieben.« Das wäre doch ein Gnadenakt – in den Armen dieses zauberhaften Geschöpfes zu sterben. Und dabei vielleicht auch noch daneben zu stehen und zuschauen zu dürfen. Ein Dankeschön für alle diese Unbilden, die man mir ins Leben geworfen hat. Nach dem mich niemand gefragt hat. So, wie mich niemand gefragt hatte, ob sie mich denn zurückholen sollen aus diesem Zustand. Ich war sehr böse gewesen deshalb.
»Ist Dir nicht gut, Didier? Kann ich helfen? Vielleicht sollten wir doch keinen Wein mehr trinken?«
»Doch doch. Wir trinken noch einen Schluck. Ich bin nur am Nachdenken. Und dabei sehe ich immer krank aus. Demnach könnte man annehmen, ich dächte fortwährend.«
»Mais – Du siehst nicht krank aus. Bist Du krank? Nein. Du siehst nur seltsam aus, wie – wie soll ich sagen? Absent? Loin de monde? Du bist nicht da. Wo bist Du?«
Sie nimmt mich in den Arm. Die Welt zerfließt in Myriaden von Bächlein, die über üppiges, unglaublich facettenreiches Grün harmonisch polyphon die Hänge hinunterhüpfen. Ich schwimme ins Elysium. Im Elysium. Zu Lebzeiten. Alles in mir wird zu dem, was es ist: Wasser. Salzwasser. Ich bin das Meer. – Ich schwimme im Toten Meer des Selbstmitleids. Ich schwimme in Kitsch. Ich beschließe, das Medikament wegzulassen. Lieber eine platzende Illusion als einen Eimer voll ätzender Lebenslauge. Mir ist übel. Kommt es daher, daß ich widerlich bin? Ich löse mich von ihr.
»Hier. Hier ist noch eine Flasche Wasser aus Nîmes. So schlecht ist das Zeug ja wirklich nicht.«
»Aber wir gehen in die Küche. Wir werden etwas essen.«
Erneut nimmt sie mich an der Hand und zieht mich. Ich trotte hinterher in die Küche. Sie öffnet erneut den Kühlschrank, sie wühlt in ihm herum, nimmt dies in die Hand, begutachtet es, verwirft es. Sie schaut in das Gefrierfach des Kühlschrankes. Lachend und kopfschüttelnd registriert sie drei Einliterpackungen Mövenpick-Eis derselben Sorte. Wenn mir etwas schmeckt, dann esse ich es, bis ich schon die Verpackung nicht mehr sehen kann. Schon wieder will ich mich für diese Peinlichkeit entschuldigen und hebe an. Sie dreht den Kopf, das Gesicht ist beißende Ironie. Na ja – ein wenig gemildert von einer Paarung aus Sanft- und Langmut und Amusement. Sie zuckt mit den Schultern. Sie scheint ein wenig ratlos. Dann entdeckt sie das Gemüsefach und zieht heraus: vier große Packungen italienischer grüner Nudeln – die in meiner Junggesellenmaschine von Moulinex innerhalb von drei Minuten zum Mundverbrennen heiß sind. Selbstverständlich esse ich sie nicht ohne Beilage. Das wäre selbst mir zu trocken. Sie entdeckt fünf kleinere Kunststofftüten Sauce Florentina. Ich werde mir der Groteske bewußt. Schriebe dies jemand in ein Drehbuch, ich hielte es für einen platten Gag. Aber ich befinde mich nicht in einem Filmchen. Ich stehe neben der Wirklichkeit, als sei ich der Besuch. Und der schüttelt ungläubig lächeln den Kopf.
»Ich kenne dies nicht von Dir. Solches hast Du früher verabscheut. Bon. Un peu. Es wird gehen. Du hast vermutlich etwas ...«
Sie reißt die Tür zum Gefrierfach wieder auf und entnimmt eine Packung gefrorener Kräuter.
»Naziza!« protestiere ich. Diese italienische Sauce besteht nahezu ausnahmslos aus Kräutern. Und sie schmeckt sehr gut ...«
»Ah! Taratata.«
Ich lasse mich zur Seite schieben, zum Rollkoffer hin, der zur Nebensache geworden ist. Nebensache zur Nebensache. Aber ich habe Beschäftigung. Ich bugsiere ihn in den von mir kokett Lagerzimmer genannten Raum: Die Kunst und ich und andere Nebensächlichkeiten werden darin gelagert.
»Naziza!« rufe ich vernehmlich, als ob es eine Situation wäre, die sich seit zwanzig Jahren wiederholt, und eile in die Küche zurück. »Ich habe noch etwas.«
Ich beuge mich nach unten zum Gefrierschrank, den sie offensichtlich nicht wahrgenommen hat. Dort lagere ich Vorräte, die ich teilweise selbst zubereitet habe, um nicht an der Eintönigkeit zu ersticken und aus dem Haus zu müssen, wenn mir nicht danach ist. Und mir ist fast nie danach. Was soll ich dort, wo längst alles gesagt ist, was es an Bedeutungslosigkeiten gibt? Oft genug muß ich ja zu denen, die sogar dem noch Wirkung zumessen – Hauptsache, sie haben es persönlich abgelesen. Erbsen- und Linsensuppe befindet sich in der Vorratshaltung. Ebenso schmackhafte, pikante Fleischsauce, von der ich allerdings weniger esse. Ohne trivialpolitischen Zwang oder Ekel vor toten Tieren – oder vielleicht doch ein bißchen beides? – hat sich mein Geschmack mehr zum Gemüse hingewurzelt. Möglicherweise aber hat, wie beim Verzicht auf größere Mengen Alkohols, jemand in meinem Kopf auch hierbei den Schalter umgelegt. Alles ist portionsweise eingefroren und liegt neben Kaninchenfleisch und Knoblauchbutter und Knochen zum Zubereiten von Grundsaucen. Und auch die vorgekochten kleinen Kartoffeln sind nicht nur praktisch zu verarbeiten, sondern auch aus Frankreich.
»Ich habe hier.«
Ich bin fast sicher, daß sie nicht weiß, was Erbsensuppe ist. Auf deutsch. Ich grübele. Im Süden, zumindest in der Provence, werden Eintöpfe ja gegessen. Ich sollte es wissen.
»Purée de – pois.«
Leicht irritiert schaut sie mich an. Dann lacht sie. »Ah. Oui. Nicht Nebel. Sondern Erbsensuppe. Wie Berlin. Aschinger. Nicht Purée de pois, sondern Soup aux pois. – Non. Das mag ich jetzt nicht. Lieber diese Nudel hier.«
»Und es gibt noch Ragout de – Sauce de viande.«
»Bien. Das nehmen wir auch. Das ist eine Menge! Fast viel.«
Es kommt Wind auf, wie fast immer aus dem Westen. Es schlägt etwas Dunkles, für sie nicht einordenbar, gegen das Küchenfenster. Ein wenig erschrickt sie.
»Keine Angst. Es ist kein Gespenst. Oder vielleicht doch. Denn es kommt wie Du aus Frankreich. Und es gerät immer dann in Erregung, wenn es Besuch bekommt aus der Heimat.«
Ihre wunderschönen Eierbriketts bekommen einen leicht dümmlich-lächelnden Blick. Ich bin sehr angetan von meiner Äußerung, die solches bewirkt.
»C’est la tricolore! Et le visite est le vent de Atlantique.«
Ich bemühe meine beste französische Aussprache, derentwegen man mich in Frankreich immer für einen Schweden oder einen Amerikaner hält. Denn nur diese sprächen so überprononciert, klärte mich mal eine Rezeptionistin auf, die ich nach der möglichen Ursache dieser Zuordnung gefragt hatte. Schweden sei in Ordnung, hatte ich darauf geantwortet. Und die andere Staatsangehörigkeit sei geschenkt. Irgendetwas schien ihr an meiner Entgegnung zu fehlen.
»Du bist verrückt.« Sie geht näher zum Fenster hin. Sie erkennt tatsächlich die Flagge der Grande Nation. »Du bist unglaublich«, schüttelt sie es aus sich heraus. »Du mußt Franzose sein.«
»Wenn es danach ginge, wäre ich ein schlechter, denn ich muß bei den Paraden des 14. Juli immer lachen. Mittlerweile, nachdem ich mir ein paarmal böse Blicke eingefangen habe, tue ich es vorsichtshalber heimlich. Aber mit dieser Tricolore habe ich die Vereinigten Staaten von Amerika besiegt, habe jeden guten Franzosen gerächt für alle Kulturschäden, die diese Cowboys in französischen Fluren angerichtet haben.«
»Ich verstehe nicht? Was hast Du getan? Hast Du geschossen? Mit French frites und der Marseillaise? Und wenn ja, gegen wen?«
»So ähnlich. Vor vielen Jahren erdreistete sich gegenüber, dort oben in der letzten Etage, jemand, Stars and Stripes ins Küchenfenster zu hängen. Nicht so extrem, sie wollten ja noch durchschauen können, vielleicht so groß wie ein DIN-A-4-Blatt. Aber es hat mich geärgert. Ziemlich. Und da bin ich am nächsten Tag losgezogen und habe eine schön große Tricolore gekauft. Und da es frühsommerlich war, habe ich noch einen der beiden bald dreißig Jahre alten, aber immer noch fein tösenden Lautsprecher zur Tür der Loggia hingeschoben und dann die Marseillaise donnern lassen. Ich glaube, ungefähr eine halbe Stunde lang. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich gleich für alles mögliche an Lärm gerächt, was als Musik aus allen Richtungen auf mich losgelassen wurde.«
Nun lacht sie wieder dieses Lachen, dessentwegen Touristen vor irgendeinem Rathaus irgendwo auf der Welt gebannt stehenbleiben, um diesem Glockenspiel aus der Renaissance zu lauschen. Ich befinde mich mittendrinnen in diesem Pulk und genieße Töne, an denen ich sonst immer gehörlos vorübergezogen bin. – Sie nimmt zwei der kleinen Kunststoffbehältnisse mit der Fleischsauce, hält sie kurz unter den Wasserstrahl, klopft den Inhalt heraus und wirft sie auf die Abdeckplatte neben dem Herd.
»Sie sind auch von zu Hause.«
»Die Tricolore? Bien sûr! Woher soll sie sonst sein?«
»Nein, die Tricolore ist aus Thüringen, aus einer Fabrik, in der sie Fahnen aller Nationalitäten herstellen. Ich meine die kleinen Boxen, die da, in der das Fleisch war. Sie kommen aus La Rochelle, aus einer kleinen, alteingesessenen Boucherie-Charcuterie in der Rue Saint Nicolas, gegenüber der Boulangerie, wo es noch richtige Baguettes gibt, dreimal am Tag, für drei Francs fünfzig, mit den ganzen Münzen auf der Ladentheke, eine ungeheuerliche Praxis, für die hier dieser Drecksladen von der Lebensmittelaufsicht geschlossen würde. Und selbstverständlich Pain au chocolat, ebenfalls dreimal täglich. Vielleicht auch nur zweimal. Beim diesem Fleischer mit seiner Filmkulisse kaufe ich immer Salate ein. Wahrscheinlich fahre ich nur wegen dieses Sträßchens in diesem hugenottischen Touristensammelplatz an den Atlantik, in den sich, obwohl nur ein paar Schritte vom Trubel entfernt, keines dieser Herdentiere verirrt. Na ja, vielleicht ist's auch nicht mehr so, wie's mal war. Und wegen dieser Kunststoffbehältnisse, die ich nur aus dieser Metzgerei kenne, und die ich dann zweitausend Kilometer durch Europa karre.«
»Tu es cinglé! Sag, was ist mit Dein Kampf geworden?«
»Was für ein Kampf? Ich kämpfe schon lange nicht mehr.«
»Ah. Avec la tricolore et la marseillaise?!«
»Ach so. Am nächsten Tag war die Amiflagge weg.«
»C’était le triomphe de la Grande Nation.«
Sie versucht eine Packung mit Fettucine verde aufzureißen. Es gelingt nicht. Ich reiche ihr eine Schere.
»Merci. Aber warum ißt Du keine Nudel aus Frankreich? Es ist ein Stilbruch!«
»Weil es sie hier nicht gibt. Hier ist und ißt man italophil. Gäbe es sie wie diese Kartoffeln hier ...« Ich öffne den Gefrierschrank und demonstriere die kleinen praktischen Kartoffeln aus Frankreich, von denen man nicht weiß, ob sie nicht aus Deutschland oder sonstwoher kommen, aber von einer französischen Nahrungsmittelfabrik verarbeitet und als französisches Landprodukt angepriesen und verkauft wurden. Für Genießer wie mich. »... ich würde sie kaufen.«
Sie kommentiert es nicht weiter. Sie lacht nicht mehr und hantiert weiter.
Offensichtlich ist der Witz ausgereizt. Der Clown muß sich etwas Neues einfallen lassen. Muß er? Muß er überhaupt Clown sein? Wer zwingt mich dazu, den Clown zu geben. Ich unterliege schon wieder, wie so oft draußen in der feindlichen Welt, der zwanghaften Vorstellung, immer witzig sein zu müssen. Bei Männern eher seltener, nur bei irgendwelchen Absichten, die dem Nützlichkeitsprinzip unterworfen sind, was durchaus auch das Heischen nach Sympathie bedeuten kann. Nie geschieht das bei diesen Illustriertenschönheiten, wie sie in der deutschen Hauptstadt der Liberalität und des Kitsches, die Kundera bei seiner Definition des Verbergens von Scheiße wohl vor Augen hatte, noch entschieden häufiger vorkommen als Touristen in La Rochelle. Aber sowie jemand auftaucht, der Gesichtszüge erkennen läßt, die nach Inhalten aussehen: Balz. Der Pfau will bei Frau Pfau in den Kopf. Den Einwurf der Eitelkeit schlage ich im Vorfeld rhetorisch nieder, indem ich als Legitimation ganz unbemüht das frühchristliche, also quasi vorläufig alttestamentarische Sinnbild der Auferstehung des Fleisches in den Ring werfe. Manchmal ist ein wenig Klappentextwissen recht hilfreich. Vor allem zur Verteidigung aus Positionen heraus, in die man sich selber manövriert hat. Aber hier, vor diesem Gesicht aus Pygmalions Hand und vom Blut der aus des Meeres Schaum Emporgestiegenen, muß ich mich doch aus gar nichts herausmanövrieren. Hier muß ich doch offensichtlich keinerlei Geschütze auffahren, um meine Sandburg zu verteidigen. Weit und breit ist kein Feind in Sicht. Oder doch? – Vergesse ich so schnell?
»Ich habe auch Bettwäsche in den Farben der Tricolore. Ich will sie Dir gerne geben nachher.«
Nun lacht sie wieder. Es tut gut. Aber ich bin nicht mehr sicher, ob sie mich an- oder mittlerweile auslacht.
»Weshalb?«
»Ich will, daß Du Dich wie zu Hause fühlst.«
»Ich fühle mich wie zuhause. Na, ein wenig. Mit Dir. Wegen Dir. Oder heißt es nicht – Deinetwegen?««
»Oh là là! Woher können Sie – kannst Du nur so gut? Ich meine nur. Ich möchte einfach nicht, daß Du gehst. Weggehst. Ins Hotel. Ich möchte, daß Du hierbleibst. Deine Anwesenheit tut mir gut. Ohne Deine Nähe wird es mir schlecht gehen.«
»Und dann willst Du mich einwickeln – in die Tricolore? Und mich im Compartiment des trophées ablegen?«
Sie ist unerbittlich. Ich bin ohne Chance. Und es macht mich zunehmend hilfloser. Ich weiß nicht, wie ich’s anfangen soll. Und mit jedem Schritt, den sie auf mich zumacht, weiche ich zurück mit Hilfe von platten Witzchen, und beruhten sie noch so auf Wirklichkeit. Es geschieht immer genau das Gegenteil dessen, das ich tatsächlich möchte.
»Ich glaube Dir mittlerweile sogar die Tricolore im Bett.« – Sie knallt die Steingutschale mit den Nudeln auf die Platte, eilt ins Lagerzimmer und kehrt augenblicklich zurück. »Du lügst. Ich sehe keine Tricolore. Alles ist schwarz. Wie Deine Seele.«
Es scheinen die Ausläufer eines Taifuns auf mich zuzukommen. Wann gerate ich vollends in ihn hinein und werde weggeschleudert, um irgendwo in einer dreckigen Gasse aus diesem Hirngespinst aufzuwachen?
»Ich meine – wenn Du bei mir übernachten möchtest, was ich mir wünsche, dann würde ich Dir gerne das Bett im kleinen Zimmer bereiten.«
»Ach? Nicht einmal in der Compartiment des trophées? Du sortierst mich weg?«
Ich sehe in ein absolut undeutbares Gesicht. Was ist das? Steht da eine Chimäre vor mir? Selbstverständlich. Es war von Anfang an ein häßlicher Traum mit einer viel zu schönen Hauptdarstellerin – die mich vernichten will. Dieses göttliche Ungeheuer vom mittleren Meer zieht mich an sich heran, bis ich ihm nicht mehr aus den Fängen komme und zerreißt mich dann noch in der Luft in partikelhafte Hostien, um mich anschließend zahnlosen Fischen zu opfern. Das Monster kommt auf mich zu, rückt mir mit seiner Fratze ganz nahe ans Gesicht, glüht mit seinen Augen in die meinen hinein.
»Didier. Mon amour. Ich will nicht in die Tricolore schlafen. Ich will in Dir, also mit Dir ruhen. Ich habe nicht vor Zeus gekniet, ihn gebetet, er möge Aiolos bitten, den Südwind aus der Grotte zu lassen, der mich hierher tragen soll. Zu Dir! Ich will mit Dir sein. Bei Dir. Begreifst Du es nicht? Ich bin hier wegen Dir. Meinetwegen auch Deinetwegen. Und wenn es ist die Zeit zu ruhen, dann ruhen Mann und Frau zusammen.« Sie dreht ab. »Aber vorher müssen sie essen. Komme, wir essen eine bißchen Euro-Merde mondialement d‘Italie.«
Wie geht das? Eben hält ihr noch Petrarca auf dem Heiligen Berg Südfrankreichs die Lyra – und findet sofort den Direktanschluß in die schnöde Welt des Hybridfutters der Europäischen Weltunion.
»Es hat mich Amor waffenlos gefunden,
offen den Weg zum Herzen durch die Augen,
und nun der Tränen Tore sind die Schleusen. –
Ich denke am Amor, und Du sprichst von Hybridfutter. Wie soll man dann von dieser Pappe etwas in den Schlund bekommen?«
»Bouleversant. Wo sollen wir essen? Es gibt keine Platz in dieser ganze großen Wohnung. Überall ist nur Papier. Davon kann vielleicht ein Geist wie Du sich nähren, aber nicht ein Körper wie meiner, der muß kämpfen.«
Richtig. Es scheint mir völlig entglitten zu sein. Daß wir gekämpft haben die ganze Zeit, seit Stunden. Doch diese David denkt ans Essen, während Goliath offenbar so entkräftet ist, daß er nicht einmal gefüttert werden will.
»Ich mache Platz auf den Tisch im Flur. Er ist normalerweise dafür gedacht. Aber ich bekomme so selten Besuch vom Mittelmeer. Sie dient er eben der geistigen Nahrung als Lagerplatz für Hungersnöte. – Aber ich habe keinen Hunger! Naziza.«
»Das ist Unsinn. Ich werde es Dir geben wie Deinem Lieblingstier aus dem Périgord.«
»Seit wann fressen Flußkrebse Euro-Plastik?«
»Oh! Hast Du Dein Animal de héraldique geändert? Fin avec foie gras?«
Woher hat sie, verflucht nochmal, das nun wieder?! Woher weiß sie von seiner früheren Vorliebe für dieses wunderbare fiese Zeug aus der Gans? Foie gras hatte ich mal in mich hineingestopft, bis mir fast schlecht wurde. Das aufkommende Gefühl der Übelkeit war jedoch in der Regel mit viel Rotem und zwischendrin fast reinem Alkohol niederzuspülen gewesen.
»Seit ich die Mengen reinen Weines zunächst völlig weggelassen und dann auf, wie ein guter Bekannter aus dem Périgord es nannte, homöopathische Dosen reduziert hatte, schmeckt dieses naturparfümierte Fett nicht mehr so recht. Und als im vergangenen Sommer diese köstlichen Flußkrebse aus den Bächen der Dordogne in Massen ins Knoblauchöl der Wirtin des abgelegenen Gasthofes in die Pfanne schwammen, habe ich endgültig die ›Kleinen Toten Roten Tierchen‹ zum neuen Wappentier erkoren. Und Du, meine mir aus dem Muttermund der Rhône zugeschwommene Leihköchin hast vorhin selber gesagt, ich sei fett. Und da ich mir dachte, daß mir eines Tages der Besuch einer solchen Fee ins Haus stehen würde, habe ich prophylaktisch auf die etwas höheren Fettanteile im Blut verzichtet, um sie nicht sofort abzuschrecken.«
»Und nun? Nun soll ich mit Dir für immer Diététiques aus Europe essen? Dafür soll ich bleiben? Oder?«
»Ich sagte es bereits: Es hat mich Amor waffenlos gefunden ...«
»Kannst Du nur diesen Vers von unserem Dichter?« Sie nimmt mit ihrem dazugelieferten Lachen meinem neuerlichen Protest sofort die Luft. »Oui! Petrarca hat in der Haute-Provence gesungen, von dem Du eine Strophe nachsagen kannst.«
»Er kommt, wie alles Gute, aus Italien. Wie das Essen! Das hat Catharina di Medici zu euch gebracht.« Ich ziehe vorsichtshalber den Kopf ein.
Mir fällt ein, daß ich den Tisch freimachen wollte für das üppige Mahl. Schnell schiebe ich die Bücher zusammen – und stelle dabei fest, daß hier offenbar seit Jahren keines dieser Staubmäuse verjagt worden war. Schon wieder ist mir peinlich, was mir ansonsten schnurzegal ist. Naziza steht in der Tür und beobachtet, wie ich einigermaßen fassungslos vor dieser sich auf dem Tisch angesammelten Banalvergangenheit stehe und ich mich bemühe, sie zu kaschieren. Ich sehe sie zu spät, um ihrem Spott noch entgehen zu können.
»Willst Du Kitsch machen?« Sie hat bereits einen Lappen in der Hand – und lacht. »Werfe Deine Geistnahrung in die Ecke und mache Platz für die Liebe im Magen.«
»Das ist der reine Positivismus. Vorhin hat Dir jeder Wink aus der Köche Himmel gefehlt. Und nun sprichst Du angesichts dieser Profan-Nahrung schon von Liebe.«
»Nicht Hunger, sondern Liebe ist der beste Créateur.«
»Ach. – Und nun gab er im Weiler, auf dem Lande/uns eine Sonne. Sei der Ort gepriesen,/wo solche Frau das Licht der Welt geseh’n!«
»Mon Dieu! Didier. Hat er das geschrieben, daß Du es wirst eines Tages mir so schön sagen?«
»Vielleicht hat er – der Italiener! – das nur geschrieben, weil er wußte, daß auch ich mich – einst wird kommen der Tag – nach einer Laura sehnen werde.«
»Doch dann bist Du falsch. Laura ist blond. Ich bin schwarz, so schwarz wie Dein Bett und Deine Seele.«
»Woher will eine afrikanisch-vorderasiatische Strandkrabbe mit Blut aus Sand wie Du wissen, daß der Dichter eine renaissanceblonde Laura angebetet hat?«
»Es ist simple. Auch Krabben können lesen. Sogar italienisch. Nicht nur wegen Korsika. In Marseille ist nicht nur Korsika. Ich habe es Dir gesagt. Allez!«
Sie bugsiert zwei Schüsseln auf den mittlerweile einigermaßen bücherbefreiten und notdürftig gereinigten Tisch. Offenbar stört es sie nicht weiter, daß ich den Tisch nicht gänzlich freigeräumt habe. Das ist mir nicht nur angenehm, sondern auch ausgesprochen sympathisch. Denn die sogenannte Tischkultur, vor allem die, wie sie überwiegend in französischen Restaurants für Touristen obligatorisch und allerorten verbreitet ist, gehört nicht in meinen Vorstellungsbereich besseren Lebens.
»Wie? Du hast Canzoniere im Original gelesen?«
»Canzoniere? Rerum vulgarium fragmenta! Bon, neu – Canzoniere. Nun, einigermaßen ein wenig ich kann italienisch. Ich mußte es für das Studium, und die Arbeit benötigt es ebenso. Ich kann es sogar recht gut sprechen und auch schreiben. Zuhause spreche ich es oft, und nicht nur mit meine geliebte Touristes. Auch mit Marseillaise et Marseillais. Im Restaurant, auf der Straße. Ich lese auch Zeitung und Bücher. Doch es reicht nicht immer für diese Langue cultivée. Mais, ich habe eine zweisprachige Ausgabe. Italo-allemand! Sie ist mir geschenkt worden von eine wunderbare Mann. Es ist wunderschön. Ich lese sehr gerne und sehr oft darin. Es ist manchesmal – es kommt an auf meine Disposition – noch schöner als die pornographique partie du bible.«
»Fürwahr. Es muß ein guter Mann sein, der solches verschenkt.«
»Es gibt Männer, die Süße spenden. Par exemple exquis vin doux aus Maury.«
»Wie? Ich verstehe nicht. Dein Vater hat Dir den Petrarca geschenkt? Enorm. Finde ich großartig.«
»Non, Chéri. Sein Gendre – wie heißt das deutsch?«
Ich muß nachdenken. Es fällt mir nicht ein. Mein Französisch ist, trotz andauernder Reisen in dieses Land, miserabel. Die Mutter hat mit ihren Einpeitschungsversuchen dem Kind eine Mauer vor die eigene Sprache gebaut. Mühsam versucht das mittlerweile gut fünfundvierzig und mehr Jahre ältere Kind und seit ewigen Zeiten darin eine Lücke zu finden, um hineinschlüpfen zu können in diese Sprache, die es für die schönste überhaupt hält. Die sich ihm aber nach wie vor hartnäckig verweigert.
»Gendre?« – Ich greife in das Regal, das sich unter der Decke um den gesamten Flur zieht. Es ist zu weiten Teilen den Sprachen reserviert. Auf den sechs, vielleicht acht Bänden Wörterbüchern liegt ein kleiner Robert, den ich am liebsten benutze, wenn es schnell etwas nachzuschauen gilt, denn er ist sehr ergiebig. Doch ich komme nicht hinauf, ich muß den Steighocker holen. Ich will ins Zimmer nach nebenan gehen. Sie hält mich zurück.
»Wohin willst Du? Hier, es gibt etwas zu essen.«
»Ich habe Dir doch gesagt, daß ich keinen Hunger habe.«
»Dann sitze mit mir. Ich mag nicht alleine hier sein.«
»Oh, Naziza. Ich will nachschauen, was Gendre heißt.«
»Ah! Assez de paroles! Es ist der Sohn von einem Vater.«
»Der Sohn eines Vaters ist der Sohn – ah, ich verstehe. Du meinst Schwiegersohn!«
»Oui. Sitz, essen, trinken. Schwiegersohn.«
Nun kehren mit einem Schlag alle langsam entwichenen Bedenken zurück. Jetzt fängt sie schon wieder damit an, obwohl sie eigentlich versprochen hatte, es zu unterlassen. Und sie macht dabei ein völlig unbeteiligtes Gesicht. Sie hat es offensichtlich nicht aufgegeben, mir auf die Nerven gehen zu wollen. Es war so angenehm ohne dieses leidige Spielchen. Und nun geht es von vorne los.
»Naziza. Du hattest mir versprochen ...«
»Ich habe nichts versprochen. Ich habe nur ein wenig geschwiegen. Nie würde ich etwas versprechen, das ich nicht kann halten. Es gibt etwas, von dem ich sprechen muß. Und das ist das. Nicht nur über den Schwiegersohn eines Vaters, der Du bist.«
Ich muß über dieses lustige Deutsch dann doch lachen, das sie immer dann spricht, wenn Erregung in ihr aufkommt. Glücklich schätzte ich mich allerdings, ich spräche auch nur annähernd ein solches Französisch.
»Naziza, ich ...«
»Fermez-la! Ich rede.«
Sie wird schier unglaublich bestimmt. Ihr zartes, langgestreckt ovales Gesicht drückt wilde Entschlossenheit aus, ja Härte. – Ich nehme mir nun doch – Betretenheit? – ein paar Nudeln aus der Schüssel, die ich mit etwas Sauce beträufele, stochere aber nur darin herum.
»Es ist gut. Esse. Also: Du willst mich gerne haben. Sagst Du. Ich bin hier. Du könntest mich haben. Ich bin willig. Jedoch Du mußt mich nicht haben wollen. Du hast mich! So ist das. Oder was glaubst Du, warum ich hier bin? Um mit eine mir ganz wilde fremde Mann in einer noch schlimmeren Stadt ...«
»Merci.«
»Boucle-la!«
Es mutet mich seltsam an, wie ich kusche. Sie schaut mir fest in die Augen, wie in die eines Kindes, das bei einem üblen Streich ertappt wurde. Ich fühle mich auch so. Das Kind weiß nur nicht, was es ausgefressen hat. Aber da es immer etwas ausgefressen hat, schweigt es vorsichtshalber erstmal.
»Du hast mich verlassen. Und ich bin eigentlich weit gefahren, um aus Wut zu wissen, warum ein Mann von mir geht, der mich begehrt hat, wie nie ein Mann das zuvor je hat gekonnt. Und den ich geliebt habe wie nie eine Mann zuvor. Nicht einmal meinen Papa. Und jetzt bin ich nicht mehr hier, um das zu wissen. Jetzt bin ich hier, um wieder mit ihm zu sein. Denn ich sehe, daß er mich liebt wie damals in unsere kleine Paradis. Er sitzt neben mir, aber er ist nicht bei sich. Er ist ein wenig gestört vielleicht. Es ist etwas. Ich weiß nicht, was es ist. Jedoch ich weiß, daß er nicht spielt, denn er ist nie eine grand Comédien gewesen. Und nun will ich wissen, was. Und vielleicht es ist besser, ich packe diese Mann in mein Tasche und nehme ihn ...«
»Und verfüttere ihn an die Krabben im Vieux Port de Marseille?« Ich wundere mich über meine Gelassenheit.
»Oui. Ich nehme ihn mit an den Alten Hafen von Marseille und zeige ihm, wo er mich das erste Mal hat beleidigt, weil ich wollte, daß er mich nimmt, in seinen Arm, und mich küßt und mich säugt, jedoch hat gesagt, bonsoir Madame, ich freue mich, morgen Sie zu sehen. Notre-Dame ist Zeuge! Sie hat gegenüber gestanden. Wir an die Treppe zur Place du Lenche. Didier Aubertin. Das war vor bald vier Jahren. Ganz Marseille ist vor unsere Liebe paradiert, la armée, la police, les pompiers haben gezeigt mit ihre Finger an die Stirne. Le quatorze juillet 1998.«
Sie spuckt mir ein paar Krümel italienischer Europa-Nudeln ins Gesicht. Sie merkt es, aber es ist der ansonsten überaus höflichen und gesitteten jungen schönen Frau offensichtlich völlig schnurz. Ich wische mir ostentativ die aus diesem offenbar wutschnaubenden Mund kommenden Partikel vom Nasenrand. Doch es zeigt keinerlei Wirkung.
»Contenance. Madame«, sage ich, so gelassen wie möglich.
»Merdemerdemerde. Contenance. Je n’en ai rien à foutre. Je faire ...«
Die Furie springt auf und zischt ins große Zimmer, an den Ort unserer ersten Kämpfe. Es ist mir unklar, weshalb ich immer ruhiger werde. Normalerweise bin ich derjenige, der mehr als leicht schnell erregbar ist und sofort oben ist. Empfinde ich das gar als angenehm, wenn sich über mich jemand so aufregt? Das kann nicht sein. Wenn, dann muß es an dieser Frau liegen. Sie muß der Grund dafür sein, daß ich mir das, ohne mit der Wimper zu zucken, bieten lasse. Und mich auch noch seltsam wohl dabei fühle.
Sie kehrt fliegend zurück, baut sich vor mir auf und schüttelt etwas in der rechten Hand. Es ist unschwer als französischer Reisepaß zu erkennen.
»Was ist das!? Monsieur Aubertin.«
»Es sieht aus wie ein Ein- und Ausreisepapier der Grande Nation République Française.«
Sie macht nun ein fast abfälliges, geringschätzendes Gesicht. Sie sieht beinahe vulgär aus. Das gefällt mir nicht. Ich nehme mit betonter Lässigkeit das Weinglas und einen nachgerade überdosierten Schluck. Ich hatte ja ohnehin vor, mich ein bißchen zu betrinken. Vielleicht hatte ich jetzt Grund dazu, denn das zarte Pflänzchen Hoffnung auf Liebe, das in mir zu keimen begonnen hatte, scheint sich bereits wieder in sich zurückzuziehen. Adieu le paradis sur terre. Das war’s denn wohl. Nun denn, wenn sie sich jetzt so aufführte, würde es mir nicht allzuschwer fallen, sie hinauszuschmeißen. Aber traurig machte es mich doch. Ich nehme schnell noch einen gewaltigen Schluck, trinke das Glas, leer, stehe auf, um es in der Küche nachzufüllen. Als ich zurückkomme, steht sie immer noch da. Wie Notre-Dame de la Garde. Doch die Härte verschwindet aus dem Gesicht, es erhält zunehmend seine fragile Zartheit zurück, die Augen öffnen sich weit, sie werden sehr groß, noch größer, da die Augenbrauen sich weit zur Stirn hin aufheben. Sie intensivieren sich fragend. Hartnäckig hält sie den Reisepaß in der Hand.
»Was steht hier darinnen. Monsieur Aubertin?!«
Es irritiert mich jetzt doch sehr, daß sie mich nicht mehr duzt, nein, schlimmer, mich offensichtlich bewußt unpersönlich anspricht. Gleichwohl sie nicht mehr so schäumt wie noch vor vor wenigen Augenblicken.
»Ich nehme an, Ihr Name, Madame, Ihr Geburtsdatum ...«
»Oui. Monsieur Aubertin. Mein Geburtsdatum, meine Name. Und wie ist meine Name?«
»Ich weiß es nicht. Naziza. Mehr weiß ich nicht. Sie waren nicht höflich genug, sich mir mit Ihrem kompletten Namen vorzustellen. Es kommt mir gerade – das hätte ich nicht von Ihnen gedacht.«
Sie schlägt den Paß auf, biegt in um, auf daß er eine einigermaßen plane Fläche bekomme. Sie kommt auf mich zu. Sie drückt mich sanft auf den Stuhl. Sie beugt sich zu mir hinunter. Ihr Gesicht rückt extrem nahe an meines. Sie riecht gut. Nicht wie Parfüm. Wie ein Mensch. Nein, wie eine Frau. Mit Innenleben. Ich lasse es mit mir geschehen. Sie legt den Paß auf den Tisch.
»Schau hinein, Monsieur Didier Aubertin. Hier steht geschrieben, wie ich heiße.«
Ich will mich erheben.
»Non. Sitz. Ich hole Deine Brille. Aber Du wirst sie nicht benützen müssen. Er steht groß dort genug, der Name. Und Du kennst ihn sehr gut. Du hast ihn sehr oft gesagt in Deinem Leben. Une fois d'une voix forte. Dans le mairie de Marseille.«
Sie geht dennoch flugs ins Zimmer an den Tisch, neben dem ihre schöne Handtasche steht, aus dem sie ihren Paß geholt hat. Sie kommt mit meiner Lesebrille zurück, schaut sie kurz an, nickt, sagt kurz, »Ah, bleu, comme Maman Aubertin.« Sie reicht mir die Brille und lächelt dabei.
Mir ist nicht ganz geheuer. Ich spüre, daß Unheil im Anzug ist. Sie ist mir zu selbstsicher. Ich schaue in den Paß. Ich lese Al Arfaoui. Na ja, war irgendwie klar: Araberin. Schöner Name. Paßt gut zu ihr. Klingt irgendwie so, wie sie aussieht. Wie eine schöne orientalische giftige Narzisse. Naziza Al Arfaoui. Nein, halt – née Al Arfaoui. Lieu de naissance: Arles. Jour de naissance: Septembre 16, 1960. Ich schaue weiter. Ich lese. Ich stocke. Ich fühle mich seltsam. Ich hätte mein Medikament doch nehmen sollen. In meinem Kopf melden sich Anzeichen eines sirrenden Kreisens. Wie damals, zu den ersten Anflügen eines Gefühls, das ich damals noch nicht kannte und das ich später als elysisch bezeichnen und das ich des öfteren herbeisehnen sollte. Ich weiß nicht, ob es das wieder ist. Ich wünsche es mir. Ich möchte wieder verschwinden wie damals. Denn es steht Unfaßbares in diesem Paß. Es steht geschrieben: Naziza Latifa Marietta Taline Aubertin, née Al Arfaoui. Ich verliere mich. Ich spüre gerade noch, wie ich vom Stuhl rutsche.
Aus weiter Entfernung, als ob extremer Nebel in einem Moos alle Höhen und Tiefen nivelliert, höre ich Rufe. Langsam kommen sie näher, wie Schritte. Sie beginnen zu hallen. Aha, denke ich, das kommt mir bekannt vor. Ich bin im Krankenhaus. Es ist aber nicht so schön wie damals. Das war keiner dieser Orgasmen im Kopf. Nach wie vor höre ich Rufe, die zunehmend lauter werden. Weshalb muß es im Krankenhaus eigentlich immer so laut sein? frage ich mich. Aber vermutlich bin ich in der Notaufnahme, da geht es ja notgedrungen lärmend zu. Aber angenehm ist es nicht. Mir wäre es lieber, sie verfrachteten mich gleich ins Bett. Sie müssen ja wissen, was mit mir los ist, denn ich trage ja immer dieses Papier mit mir, aus dem hervorgeht, daß ich Carbamazepin-Empfänger bin. Da müßten sie ja in etwa wissen, was mir fehlt. Es ist nicht angenehm hier. Und feucht. Ja, ich schwitze. Ich kenne das. Gleich wird diese Eiseskälte kommen. Aber bis dahin werden sie mich hoffentlich ins Bett gepackt haben. Ich möchte auch nicht hier auf dem Boden liegend den nächsten Anfall bekommen. Lieber ins Bett, einen ordentlichen Schub Pharmazie, am nächsten Morgen die freundlichen, zudem hübschen Krankenschwestern. Dann wieder alle Gerätschaften der Klinik amortisiert. Ach, ich werde weitermachen müssen. Ich glaube, mir wäre wohler, wenn der kalte Fließenweg endlich ein Ende hätte. Ich werde demnächst einfach die Medikamente nicht mehr nehmen und das Saufen wieder anfangen. Vielleicht klappt es ja dann. Anders wird es ja nichts mehr. Aber immer diese Rufe. Jetzt rüttelt auch noch jemand an meinem Kopf, an meinen Schultern. Ein Gesicht ist über mir. Oder bin ich doch im Elysium? Vermutlich eher weniger. Aber die Krankenschwestern sind noch hübscher geworden. Und sie haben extra für mich mal ihre Blonden gegen so etwas feines Dunkles ausgetauscht. Ach ja, mittlerweile kommen sie ja aus Spanien, aus Südfrankreich. Dort haben sie keine Arbeit, und hier werden sie gebraucht. Man sieht es an mir. Meine Güte, hat die schöne Augen. Der würde ich noch viel eher einen Heiratsantrag machen als dieser netten Blondine beim letzten Mal. Meinen Namen kennt sie auch schon, tief in die Augen schaut sie mir und spricht mich an. Aber wie kommt sie dazu, mich Didier zu nennen? So heiße ich doch gar nicht. Jetzt fährt sie mir auch noch mit einem nassen Lappen übers Gesicht. Ich versuche, ein bißchen mehr zu erkennen. Ach du liebes bißchen, kommt die aber nahe an mich heran. Es ist angenehm. Es sind halt andere Menschen, die aus dem Süden. Sie wird den armen Kranken guttun hier, diese menschliche Wärme, die Freiheit, jederzeit jemanden anfassen zu können. Berührungsängste kennt man dort eben nicht so wie hier. Und sanft ist die. Da mache ich die Augen gleich wieder zu, auf daß es anhalte. Noch eine Weile wenigstens.
»Non. Didier!« höre ich nun ganz deutlich. Ich öffne die Augen. Über mich beugt sich tatsächlich ein Engel. Und schön! ist der.
»Didier. Ouvrier les yeux! Augen auf!«
»Weshalb soll ich die Augen öffnen?! Es ist so hell hier. Aber könnt ihr mich nicht mal ins Bett bringen. Auf diesem Fließenfußboden werde ich ja noch krank.«
»Didierdidierdidier. Non! S’il te plaît. Réveille-toi! Allez. Monte à bord. Allez les bleus! Allez, en bateau. Un voyage en Îl de Frioul. Pour l’amour de dieu! Didier. Wache auf! Bitte!«
Ich liege nicht auf Fließen. Ich liege auf Teppichboden. Und es ist auch nicht hell, sondern eher diffus. Was ist das jetzt wieder? Werde ich andauernd hin- und herverschoben. Ich sehe meinen Engel. Ich kucke ein bißchen durch, döse aber sogleich wieder weg, um sofort wieder eine Art Wachheit zu erlangen.
»Bist Du’s, mein Engel, Schwester Naziza?«
Die Antwort ist ein Sturzbach aus Lachen und Weinen. Alles strömt über, auf mich. Ich weiß nicht, ob es mein Schweiß ist oder es Tränen dieser entzückenden Krankenschwester sind. Sie liegt jetzt neben mir auf dem Fußboden.
»Sind Sie auch krank, Schwester?«
Es hat den Anschein, denn es durchzuckt und rüttelt sie in einem fort. Und sie hält sich an mir fest. Mir ist nicht unwohl dabei. Aber weshalb liegen wir auf dem Fußboden?
»Im Bett wäre es mir aber sehr viel lieber mit Ihnen, Schwester Naziza.« Wie komme ich bloß darauf, sie Naziza zu nennen. Kenne ich jemanden, der so heißt? »Sie sind doch Schwester Engel Naziza? Oder?« Nun bedeckt sie mich mit Küssen. Augen Mund Nase Ohren und wieder von vorn. Was ist das für eine Behandlung. »Ich bleibe, Schwester. Aber ich möchte ins Bett. Gehen sie mit?«
Sie erhebt sich, zerrt an mir, an meinen Schultern, versucht mich hochzuhieven.
»Vorsichtig, Schwester Engel. Sie müßten doch wissen, daß das so nicht geht, nicht statthaft ist. Vorsichtig, nicht, daß sich da etwas löst, was sich nicht lösen soll.«
Ich komme in eine halbsitzende Position, hinter mir meine, mir aus dem Himmel gesandte Schwester, die mit ihren festen und auch dennoch weichen Oberschenkeln, die ich durch ihre Jeans spüre, den unteren, gekrümmten Rücken abstützt und den oberen mit Impulsen belebt, der aus einer mir unbekannten Energiequelle in mich strömt, verstärkt noch von einem mich leicht streifenden Atem.
»Ja, so ist es besser. Gut. Jetzt ganz langsam aufrichten.«
Je mehr ich in die Vertikale gelange, um so klarer wird es in meinem Kopf. Ich sitze, meine warme, weiche, mich fest umschließende Stütze nach wie vor hinter mir. Ich sehe einen weißen runden Tisch, um ihn herum schwarze Stühle. Das ist nicht das Krankenhaus.
»Wo bin ich?«
Meine Stütze dreht ihren Kopf seitlich beugend um mich herum. Ich schaue in völlig verweinte, aber nichtsdestoweniger wunderschöne schwarze Augen. Ich beginne, zu erkennen.
»Naziza?«
Sie nickt heftig, nach wie vor vom Schluchzen gerüttelt. »Komme, ich helfe Dir ins Bett.«
»Nein, ich soll nicht liegen. Es könnte sein, daß ein Gerinsel irgendwo hängt. Das haben sie jedenfalls das letzte Mal so gesagt. Es ist besser, zu sitzen. Kommt der Arzt? Das dauert ja mal wieder ewig.«
»Non, Chéri. Es ist vielleicht zwei oder drei Minuten. Soll ich eine Arzt rufen?!«
»Ach so, nein, dann laß es. Es wird, glaub ich, gehen. Gehen ist gut. Hilf mir bitte auf den Stuhl. Aber ich brauche etwas Stabiles, nicht diese klapprigen Ikea-Dinger. Da muß man ja umfallen.«
»Du machst Witze, mon amour, Du machst Dummes.«
Sie rennt los.
»Nein!« rufe ich. »Komm, hilf mir, bitte.« Sie kehrt zurück.
»Komm, hilf mir auf. Und dann geleite mich auf den Friedhof.«
Sie schüttelt den Kopf. »Du bist verrückt. Sage das nicht. Man sagt es nicht.«
Ich stehe, sehr wacklig zwar, aber ich befinde mich in aufrechter Positition. Das ist viel, gemessen an der vorausgegangenen Lage. Ich mache vorsichtige Schritte in Richtung des großen Zimmers. Dort gibt es den einzigen stabilen Stuhl in der gesamten Wohnung. Alles andere ist so hinfällig wie ich. Ich mache Witzchen, wie damals, als ich zum ersten Mal meinte, ins Nirwana zu entkommen. Das ist gut. Ich fühle mich wunderbar. Vor allem, weil ich eine solche Gehhilfe damals nicht hatte. Sie war vorhanden und ebenfalls weiblich. Aber sie war weitaus professioneller als diese hier. Wir kommen an dem Stuhl an, der gemeinsam mit dem Tisch schon vor siebzig, achtzig Jahren einige schwäbische Wirtshausraufereien überstanden haben dürfte. Ich setze mich gerade aufgerichtet hin. Die normale Durchblutung scheint wieder einzusetzen.
»Didier. Soll ich nicht doch den Arzt herbeirufen?«
»Non, Chérie ...«
Mit einer ruckartigen Drehung direkt vor mein Gesicht und scheinbar fassungslos fragt sie: »Was hast Du gesagt, Chéri? Chérie? Bist Du sicher?«
Ich drehe meinen Kopf leicht, um sie besser anschauen zu können. »Bist Du es nicht? Aber Du verhältst Dich so!«
»Oui-oui! Ich bin es. Und ich bleibe es. Und ich mag es sehr, daß Du es sagst.«
»Im Deutschen würde ich das nie sagen. Da finde ich es schrecklich.«
Ihr leicht verklärter Blick entweicht, eine vernunftartige Ernsthaftigkeit bezieht Stellung. Sie entstellt sie dennoch nicht. »Sag, ist es nicht besser, einen Arzt zu rufen? Wohin soll ich rufen ...«
»Nein. Ich glaube nicht, daß es nötig ist. Es kann geschehen, daß ich nochmal ein bißchen zusammen ...«
»Mon Dieu! Non!«
»Es ist nicht weiter schlimm, Naziza. Ich kenne es. Es ist zwar lange her, aber es wird vermutlich genauso sein wie damals. Ein paar Anfälle, die aber immer leichter werden.«
»Doch ich habe Angst.«
»Das mußt Du nicht. Du mußt nur bei mir bleiben und mich halten. Wenn es passiert.«
»Ich bleibe auch ohne bei Dir und halte Dich.«
Ich beschließe, für alle Zeiten auf professionelle Krankenhilfsdienste zu verzichten. Solches leistet keine gute deutsche blonde Krankenschwester. Die geht am Abend ohnehin nur nach Hause zu ihrem ein bißchen zu sehr an sie gewöhnten Ehemann oder langjährigen Freund, wäscht Wäsche oder kriegt Kinder oder geht mit dem Cockerspaniel spazieren oder absolviert sonst irgendwie das Leben. Nein. Wenn ich eine solche Amateurin haben darf, dann will ich niemanden aus dem Heer der Marketenderinnen. Es wäre schön. Und die Sachlage ist offenbar nicht schlecht.
»Sag mir, was soll ich tun?«
»Nichts, Naziza. Bleib hier und sing mir was vor.«
Sie lacht, dieses Mal eine Oktave höher als bei ihren vorherigen Konzerten.
»Du weißt – ich kann nicht singen.«
»Woher soll ich das wis ...« Die Erinnerung kehrt zurück und gebietet mir Einhalt. Dieses Mal ist es an mir, keine unnötige Diskussion herbeizuführen. Es wird sich weisen. »Ah, ich bin sicher, daß Du das kannst. Wenn nur ein wenig der Harmonie dabei herauskommt, die Du mit Deinem Lachen komponierst ...«
»Comme c’est beau! was Du sagst – merveilleux. Aber ich singe trotzdem nicht. Vielleicht die Marseillaise. Aber die singe ich nicht, es ist wie – wie heißt das: brailler?«
»Ich kombiniere mal: grölen.«
»Ja, das ist. Grölen. La parole de la nation. – Didier. Ich muß Dich noch einmal fragen, weil ich habe Angst: Nicht wirklich ein Arzt?«
»Nein. Es geht mir hervorragend. Nichts tut weh. Ich bin ja nicht krank.«
»Mon Dieu! Was ist das? Du liegst tot vor mir, jedoch Du bist nicht krank?!
»Richtig. Tote können nicht erkranken. Das ist sehr vorteilhaft.«
»Oh! Merde. Complèment idiot.«
»Das kommt dem schon näher.«
»Also, Didier. Was ist das? Was war das. Ist das wie Du schon einmal? Ich glaube ...«
»Ja. Wie damals, vor drei, vier Jahren. 1998. Es ist das erste Mal seither. Ich hatte eigentlich seither keine Probleme mehr damit.«
Nun fällt mir ein, daß ich die Ereignisse vermutlich selber herbeigeführt habe. Vermutlich? Vermutlich sicher.
»Naziza ...«
»Oui, mon trésor.«
»Ich glaube, ich habe etwas Dummes getan.«
»Das tust Du die ganze Zeit.«
»Ich meine – ich glaube, ich habe das Schicksal herausgefordert. Ich glaube, ich wollte das Schicksal herausfordern.«
Sie schaut mich sehr fragend an. Sie bemerkt, daß diese Bemerkung außerhalb der üblichen Witzeleien steht.
»Es wäre vielleicht besser. Ich weiß zwar nicht, ob es richtig ist. Aber es könnte doch sein ...«
»Was ist?! Sag es mir.«
»Ich habe mein Medikament nicht genommen.«
»Oh, grosse merde!«
»Und es könnte doch sein, daß das die Ursache, der Auslöser war. Vielleicht sollte ich es doch, auch jetzt noch, nehmen?«
»Ich rufe doch einen Arzt«, entscheidet sie mit wild entschlossener Vernunft.
»Nein, laß es sein. Es wird schon gehen. Der kommt bloß auf die Idee und steckt mich in ein Krankenhaus zu blonden Krankenschwestern.«
»Ich werde mitgehen. Dann mußt Du keine Angst haben vor Brünhild. Ich werde Deine Kriemhild sein und den Roi du Hunnes rufen, und wir werden die Bourgogne retten vor die germanische Barbares und später an France geben. Wir schreiben Geschichte neu. In die Lazarette.«
Es ist wunderbar, solchen Esprit in direkter Nachbarschaft zu haben. Aber woher, verdammt nochmal, kennt sie das alles?! Ich weiß, daß viele Franzosen über deutsche Geschichte und Literatur besser Bescheid wissen als unsereins. So manches Mal hatte ich anhaltende, hochinteressante Gespräche. Gerne erinnere ich mich an zwei Nachmittage in Besançon, damals mit Fadila – ach, Fadila, hin und wieder meldest du dich eben bei mir! –, den wir, trotz aller Sprachschwierigkeiten, gänzlich mit Stefan Zweig ausfüllten oder der literarischen Romantik, die ansonsten Franzosen nicht eben geläufig ist. Fadila schon. Es war eine Wonne, Sprachstörungen hin oder her, die, jedoch, fast logisch, auch immer geringer wurden. Ein genußreiches Zurückdenken gibt es auch an den LKW-Fahrer auf dem Boule-Turnier. Zwischen dem dritten und dem neunten Pastis versuchte er mir Walter Benjamin madig zu machen, gab sich alle Mühe, mir zu erklären, weshalb der der Philosophe de larmoyance schlechthin sei, während ich ihm entgegenhielt, die Franzosen seien nur stinkesauer, weil er in Spanien ins Wasser gegangen sei, um sich so für die Unbilden zu rächen. Es war ein amüsanter Kampf. Nun, mittlerweile beginnen die Franzosen Benjamin zu entdecken. Ich bin nicht sicher, ob mein Plädoyer dazu beigetragen hat. Aber daß jemand mit dem Nibelungenlied daherkommt und auch noch souverän mit ihm tändelt, das hatte ich noch nicht. Ich lehne mich arg weit aus dem Fenster.
»Sag, Naziza – was macht Dich so kenntnisreich in Literatur und Geschichte und, nicht zuletzt, Poesie? Und dann auch noch in der des Barbarenlandes. Du bist schließlich asiatische Afrikanerin!«
»Indogermanische Nord-Afrikanerin! S’il vous plaît! Monsieur! – Ah, Didier. Hast Du alles vergessen. Es ist terrible. Später werden wir – es ist mir, bitte, wichtig, was da ist, was war. Und was es kommt! Was ist mit diesem Medikament? Wo ist es? Warum hast Du es nicht genommen? Du bist verrückt. Absolu! Du hast es vergessen?!«
»Ach, darüber, glaube ich, möchte ich jetzt doch eher weniger sprechen. Vielleicht später. Jetzt interessiert mich doch vielmehr, was hier eigentlich passiert. Was ist hier los. Was geschieht hier. Das ist doch alles sehr mysteriös.«
»Bin ich ein Geheimnis?«
»Aber ja doch! Und ich wüßte gerne mehr über Dich Sagengestalt.«
»Oui. Wir können das aufnehmen. Aber ich will jetzt wissen, was das ist mit Deine Krankheit! Ich werde Dich fesseln.«
»Das hast Du bereits getan.«
Sie gluckst vor sich hin – »Es geht Dir gut?!«
»Ach, da wir gerade darüber sprechen. Bitte sei so lieb und gehe in die Küche. Im hohen Schrank liegen mehrere rot-gelbe Packungen mit dem Medikament. Sei bitte lieb und hole mir eine Tablette.«
Sofort ist sie draußen. Sie bringt eine ganze Schachtel mit.
»Ich habe gesagt: eine Tablette! Willst Du mich ermorden.«
Sie sieht aus, als hätte ich ihr einen gewaltigen Schrecken eingejagt. »Non, das will nicht! Gar nicht! Überhaupt nicht! – Was ist das?«
Ich öffne die Packung, entnehme ihr den Beipackzettel und reiche ihn ihr. Sie nimmt ihn mit leicht angewidertem Gesicht entgegen und fächert ihn auf.
»Merde. Das ist ein Buch! Une affiche. So groß.«
»Richtig. Eine Art Merde-Buch. Es kann einem schlecht dabei werden. Vor allem, wenn man die Gegenanzeigen durchliest. Ich habe es aufgegeben. Nein. Ich will es gar nicht wissen.«
»Ich kann das nicht lesen. Ich will es nicht. Hier: Grand mal. Non.«
Sie gibt mir den im aufgefächerten Zustand etwa zwanzig Zentimeter langen, in fünf oder sechs Punkt großer Schrift bedruckten Zettel zurück. Ich nehme eine Tablette heraus.
»Oh, bitte, holst Du mir etwas Wein.«
»Du bist Wahnsinn!«
»Ja, Du hast recht. Es ist wohl besser, wenn ich Wasser nehme.«
Sie rennt los.
»Halt, nimm das mit.«
Sie kehrt sofort zurück, nimmt die Tablettenschachtel wieder mit. Im Nu ist sie mit einem Glas Wasser wieder da. Ich schlucke eine Tablette.
»Adieu, belle maladie.«
Völlig verständnislos starrt sie mich an.
»Ich erklär‘s Dir später.«
»Also, Didier. Sag mir, was das ist? Einmal nur, und ich werde nicht mehr fragen. Ich verspreche es.«
»Ach, es ist ja nicht weiter dramatisch.«
»Das ist schlimme Coquetterie.«
»Nein, wirklich nicht. Es tut mir ja nichts weh, ich habe keinerlei Schmerzen. Und der körperliche Zustand mag von außen bedrohlich wirken. Na gut, wahrscheinlich ist er es auch. Aber es ist nicht zu vergleichen mit den armen Menschen, die leiden müssen, Schmerzen haben. Mir fehlt nichts. Es geht mir gut. Jetzt besser denn je.«
»Doch was geschieht? Mit Dir?«
»Es ist eine Fehlfunktion des Gehirnes. Genau weiß ich es selber nicht. So richtig hat es mich auch nie interessiert. Der Chefneurologe hat es mir, seltsam umständlich, als ob er selbst noch nach den Ursachen forsche, zu erklären versucht, auch seine Kollegen an den kleineren, den Malstrom des Blutes zum Gehirn hin preisgebenden Maschinen, ebenso die an den großen, den Bratröhren, wie ich sie nenne, haben im Versuch, mir das entlatinisiert zu erläutern, fast schon komisch herumgeredet, vom Untergang der Neuronen war unter anderem die Rede. Es könne daran liegen und auch daran, ein genetisch bedingter Defekt könne Ursache sein, meine Mutter war erwiesenenermaßen nicht richtig im Kopf, und auch wieder anderes, etwa eine Hirnverletzung, verursacht vielleicht durch das allzu häufige Rennen mit dem Kopf gegen die Wand, es möchte einmalig geblieben sein, könne aber ebenso wieder auftreten, man müsse weiter untersuchen, die Medikamente müsse ich jedoch auf jeden Fall nehmen, weil sonst die Gefahr bestünde ... Ich habe irgendwann aufgehört, weiter danach zu fragen. Ich empfinde es tatsächlich als unwesentlich. Sicher wäre es etwas anderes, wenn mir etwas wehtäte. Es kommt offensichtlich, wenn unterschiedliche Faktoren aufeinandertreffen, zu Ausfallerscheinungen. Mal weniger, mal mehr ausgeprägt. Du hast es eben erlebt. Wie es von außen aussieht, weiß ich nicht. Ich habe es mir auch bewußt nicht beschreiben lassen. Ich will es gar nicht wissen. Was mich interessiert, ist dieser Zustand. Ich würde ihn, würde ich mich besser auskennen, mit der Einnahme einer bestimmten Droge vergleichen. Ich weiß nicht, welche. Ich habe nur einmal LSD genommen, vor etwa dreißig oder noch mehr Jahren. Das war phantastisch. Im wahrsten Sinn des Wortes. Aber es war doch nicht so wie hierbei. Wie gesagt, ich kenne mich nicht aus. Aber es könnte gut eine chemische Reaktion im Hirn sein, die diesen Zustand auslöst. Bei mir sind es wohl, neben einer Störung des zentralen Nervensystems, auch manchmal psychische Anfälle. Aber damals mit Sicherheit auch die Unmengen Alkohols, die ich in mich Faß hineingeschüttet hatte. Es ist eben so bei genialen Menschen. Schließlich habe ich Einsteins Krankheit. Hat der Neurologe gesagt.«
Nun klappt ihr die Kinnlade herunter. Wobei ich mir nicht im klaren darüber bin, ob es wegen meiner Anzüglichkeit oder wegen des berühmten Namens geschieht.
»Du bist schon wieder coquet. Was meint Einsteins Krankheit?«
»Ach, es ist nicht wirklich interessant, glaube ich. Der Arzt hat festgestellt, daß einer der Hirnlappen, ich glaube, es ist der rechte, wie bei Albert Einstein extrem verlängert ist, und meinte daraufhin, möglicherweise, um mir ein wenig schön zu tun und mich so häufiger in seine sündhaft teure Praxis zu locken, vielleicht sei ich deshalb so intelligent. Ich habe es, mit großem Genuß, Isaac erzählt. Die ist daraufhin ausgerastet. Das hat gerade noch gefehlt, hat sie mehrfach gerufen.«
Mich wundert, daß sie nicht fragt, wer Isaac ist. Aber vielleicht hat sie es gar nicht realisiert. Und sollte sie es interessieren? Und weshalb interessiert es mich? Gehört es dazu, daß Pfau sich ärgert, wenn sich Pfauin nicht um die anderen Pfauinnen des Pfaus kümmert. Dabei ist Isaac noch nicht einmal Nebenpfauin. Jedenfalls schon ewig nicht mehr.
»Eines mag ich noch wissen, dann ende ich damit: Psychische Anfälle? Was meint das? Bist Du krank in der Seele?«
»Auch das weiß ich nicht so genau. Aber ich glaube schon, daß es so ist. Sehr oft habe ich schlimme depressive Schübe. Es kann allerdings auch sein, daß die schlicht von der Einsamkeit kommen, in der ich mich befinde. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich psychische Störungen sind. Wie auch immer – ich habe die Einsamkeit selbst gewählt. Niemand hat mich in sie gezwungen.«
»Wenn es von der Einsamkeit kommt, dann werde ich Dich heilen. Wir werden Dich heilen. Doch Du darfst nicht weglaufen.«
Nun ist es mal wieder an mir, nicht an mich halten zu können. Wie so oft. Viel zu oft in letzter Zeit. Ein nicht ortenbarer Druck schiebt sich den Hals hinauf und will den Tränen freien Lauf lassen. Ich bemühe mich, sie zu unterdrücken. Naziza sieht es. Sie tritt hinter mich und legt sanft ihre Arme um mich. Ich kann die Tränen nicht mehr aufhalten.
»Es sind unsere Tränen, mon amour«, flüstert sie mir ins linke Ohr. »Gebe sie frei. Ich fange sie mit meinem Mund auf und gebe sie Dir zurück. Sie sind nicht Vergeudung. Sie sind Liebe.«
»Ja«, schluchze ich, »Selbstliebe.«
»Non, mon chéri.« Es ist Leid. Non – nicht Selbstmitleid. Leid. Das Herz ist krank. Ich kenne es. Ich habe auch solche Schmerzen gelitten. Du warst weg. Ich wußte nicht, wo Du bist. Und ich bin glücklich, daß Du bist wieder hier.«
Ich richte mich auf. Ich spüre, daß es ihr nicht gefällt. Sie würde wohl lieber in dieser Position verharren. Aber mir ist es nicht recht. Ich möchte nicht dauernd darüber sprechen. Es ist mir unangenehm. »Naziza. Lassen wir es sein. Es bringt nicht weiter. Laß uns, bitte, über Dich sprechen. Ich will mehr wissen. Weshalb bist Du mir so vertraut? Ganz hinten in meinem Kopf tut sich etwas auf ...«
Mit einem Mal läßt sie mich los und springt um mich herum, schaut mich wie gebannt an. »Es tut?!«
»Ja, aber ich weiß nicht, was es ist. Ich habe ein paar Lücken, glaube ich.«
»Ein paar? Du bist ein Loch. Alles ist verschwunden in Dir. Sogar ich. Deine Nymphe, wie Du zu mir sagst.«
»Ich nenne Dich Nymphe? Das ist mir neu. Du bist keine Nymphe. Du bist Skylla und Charibdis!«
Eine leichte Melancholie breitet sich in ihrem ohnehin sanften Gesicht aus. »Sehe ich aus wie die schlimmen Schrecken von Ulysee?«
»Alle wirklichen Schrecken dieser Welt sehen nicht aus wie Schrecken.«
»Ah? Wie dann?«
»Wie Nymphen – oder Elfen. Wie Naturgeister eben. Seltsam filigran und transparent. Sie sind nie zu fassen. Will man an sie heran, entschweben sie, lösen sie sich auf.«
»Was sprichst Du? Du kannst mich fassen. Hier bin ich. Nimm mich. Ich gehöre Dir. Du mußt mich nicht fassen. Ich laufe nicht weg. Du bist weggelaufen. Du bist ein Geist. Eine schreckliches Untier. – Ich bin eine Nymphe. Ich bestehe auf dem, wie Du mich genannt hast. Und ich bin Calypso. Ich habe es Dir gesagt. Wir gehen in die Tempel von l’Estaque.«
»Oh ja, l’Estaque ist schön. Dorthin würde ich gerne gehen, zu diesem bürgerlichen französischen Modellkommunistenpack. Ich glaube, es ist das Paradies. Das Paradies kann nur am Meer sein. Und dort ist das Meer. Kurz vor Afrika. Adam geht ins Paradies. Aber wo ist Eva?«
»Hier, Didier. Sie steht vor Dir. Und sie ist schon einmal aus Dir gekommen. Wahrscheinlich hast Du jetzt immer Schmerzen, weil Dir ein Stück fehlt. Aber was sage ich? Ich rede travers wie Du.«
»Weißt Du, Naziza, wie ich nach l’Estaque gekommen bin? Eines Tages sah ich diesen zauberhaften Film mit dieser nicht minder schönen Ariane Ascaride – Ob sie auch algerisches Sandblut hat wie Du?«
»Ich glaube schon. Doch es klingt auch wie armenisch. Vielleicht Ascaridijan? Und ihr Mann ist auch aus Armenien.«
»Robert Guédiguian. Ja. Und seine Mutter ist Deutsche.«
»Didier! Guédiguian ist Marseillais!«
»Ja, ich weiß es. Ich habe mich nach Marius et Jeannette – Sei so lieb und schalte mal den kleinen Computer dort« – ich zeige nach links, wo mein mobiles Büro steht, nein, liegt – »schalte ihn bitte mal ein. Ich habe etwas Material darin. Hier, nimm diesen Hocker hier. Ich habe ihn extra dafür gekauft.«
Sie nimmt den federleichten Hocker und setzt sich vor den Computertisch, der in einem früheren Leben mal einer IBM mit Kugelkopf auf den Leib geschneidert worden war und die nun im Lagerzimmer unter vielen anderen Geräten steht, von denen ich mich nicht trennen mag. Als ob sie nie etwas anderes getan hätte, öffnet sie den Verschluß des DIN-A-4-großen iBook – es scheint nur logisch, denn die beiden Zarten sind offenbar voneinander abgeschaut – und drückt den Knopf. Mit dem typischen Gong von apple gibt er zu erkennen, daß er sein Triebwerk einschaltet. Ich werde dennoch stutzig.
»Du kennst Dich aus. Dieser Computer ist eher selten im Gebrauch. Und in Frankreich sind diese Dinger ja unglaublich teuer.«
»Ah, da steht ja Ariane Ascaride.« Sie deutet auf eine Photographie, die mit einer freundlichen Widmung der Schauspielerin versehen ist.
»Eine der Freundinnnen in Paris hat sie mir besorgt. Die Mishpoche kennt sich eben. Aber im Grunde machen sie sich lustig über den Narren, der die Frauen liebt.«
Sie bleibt sitzen, als ob, ich spüre es, nichts weiter wäre, als warte sie ungemein gespannt darauf, bis das System hochgefahren ist. Sie ist mir zu demonstrativ unbeteiligt. Da ist etwas.
»Was ist, Naziza?«
Sie dreht sich langsam um. Ich sehe, wie ein Rest von Röte aus ihrem Gesicht weicht. Nun schaut sie mich fest an, schluckt jedoch dabei.
»Was hast Du? Fällst Du jetzt um? Machen wir Paarlauf?«
»Oui, Didier, ich falle gleich um. Aus Scham.« Sie neigt den Kopf. »Ich muß gestehen.«
Nun ist die Verwunderung an mir. Kommt jetzt doch ein Geständnis. Hat der Hinweis auf Paris das schlechte Gewissen losgetreten? Bricht jetzt nach mir auch der Rest zusammen? Hat jemand die untere Dose des Stapels herausgezogen? Es war also doch alles ein übles Spiel. Sie stecken doch unter einer Decke. Ich habe es geahnt. Nun ist es doch aus. Mir wird schlecht. Ich glaube, es geht wieder los.
»Didier. Ich war sehr ungezogen. Ich war an Deine Computer. Ich habe gewartet auf Dich, und es hat mir so gefallen. Ich habe ihn gesehen bei FNAC in Lyon. Er ist so schön. Und da wollte ich ...«
Ich bin erleichtert. Ich schlucke, sehr erleichtert. Nur eine solche Banalität. Kein umfassendes Geständnis des Verbrechens an meiner Seele.
Doch es ist schon mehr als seltsam. Normalerweise gehe ich ohne dieses Gerät nie auf Reisen, da sich mein komplettes Büro darin befindet, die gesamte Korrespondenz, alle Texte, das gesamte Archiv. Auch meine Emails frage ich zweimal täglich damit ab. Nur ungern bin ich ohne den Kleinen losgezogen. Aber nachdem mir die Höllenhündin der Hochschule, so eine ganz persönliche Assistentin, im Vorfeld ungefragt und wohl in erster Linie gut Wetter machend fünfmal versichert hatte, es sei alles erdenkliche Material vor Ort, wie sie sich im Politiker- und Journalistenneudeutsch ausdrückte, ja auch ein apple für die Sektierer, was sie dann wieder sehr locker und freundlich sagte, dann hatte ich mich eben den Gesetzen der Logik gebeugt, zumal ich wußte, daß ich in meinem Stammhotel in der Fasanenstraße jederzeit über irgendwelche Elektronik verfügen konnte. Und in dieser Zeit tritt diese Göttertochter durch die verschlossene Tür dieser Wohnung und spielt mit meinem Computer. Man kann nicht aus dem Haus. Aber ich bin doch sehr froh, daß es diese Kleinigkeit war.
Ich lege einen gespielten Ton der Wut auf. »Aber Du hattest kein Glück. Er hat sich Dir nicht freiwillig geöffnet, weil er niemanden in das Serail seines Herrn läßt. Seine erotischen Phantasien gehören allein ihm. Du hattest keinen Schlüssel.«
Sie nickt betreten.
Irgendwo, ich glaube, es war in Lyon oder in Paris oder sogar in Marseille, habe ich vor zwei oder drei Jahren im Hotel festgestellt, daß jemand an meinem Labtop war. Als ich ins Zimmer zurückkam, waren die Kabel so gesteckt, wie ich das nie tat. Vorsichtshalber überprüfte ich die Daten, was mittlerweile sogar mir relativ leicht fällt, und richtig: Es war jemand mit meinem Computer im Internet, hat sich auf meine Kosten und mit meinem Rechner verlustiert. Schrecklich erbost war ich und wollte deshalb sofort in die Rezeption toben. Doch dann fragte ich unter irgendeinem Vorwand erstmal nach den vertelephonierten Einheiten. Und als die sich als sehr gemäßigt herausstellten, verzichtete ich auf eine Anzeige und wohl auch den Rausschmiß der Computerfanatikerin. Auch auf diese Weise trage ich unentwegt zum Erhalt französischer Arbeitsplätze und dem globalisierten Bruttosozialprodukt bei. Wahrscheinlich war es jemand wie meine entzückende Daten- und Herzensdiebin. Aber seither habe ich – es hatte für einen technisch absolut Unterbelichteten wie mich ewige Zeiten gedauert, bis es eingerichtet war – eine Kodierung eingegeben, so daß man wenigstens nicht auf die Schnelle ins System kam. Aber daß ich ausgerechnet in der eigenen Wohnung – und im Zusammenhang mit dieser ohnehin schon mysteriösen Situation – damit konfrontiert würde, das bringt mich dann doch zum Lachen. Ich lache über die zunehmende Erkenntnis, daß es keine Zufälle gibt. Vor mir sitzt offenbar das Schicksal.
Und das sitzt jetzt da wie ein kleines Mädchen, die dem Papa die achtlos ins Glas geschmissenen fünf Mark geklaut hat. Fast am selben Platz kam ich mir vor wie ein Gassenjunge, der ein uraltes, defektes Telephon geklaut hatte.
»Ach, vergiß es. Ich weiß nicht, was ich an Deiner Stelle getan hätte. Allerdings bezweifle ich ohnehin, solches je leisten zu können. Denn Sterbliche kommen nicht durch verschlossene Türen. Aber, Segen der Technik: Selbst mißratene Töchter des Himmels vermögen es nicht, das aus banalen Einsen und Nullen bestehende Schlüsselwerk eines Computers zu klauen.«
Sie ist sichtlich erleichtert, erhebt sich, geht auf mich zu. Sie kniet vor mich hin, der ich nach wie vor mehr oder minder unbewegt auf dem Wirtshausstuhl sitze, um bloß keine allzu gefährlichen Blut- oder Denkgerinsel zu lösen, legt beide Arme und den Kopf dazu auf meinen linken Oberschenkel. Intensive Wärme strömt in ihn und von dort aus direkt in das von Amor-Cupidon mit spitzestem Goldpfeil waidwund geschossene Herz. Ich lege meine linke Hand auf ihren Kopf, den sie wohlig hin- und herbewegt. Es kriecht sofort Angst in mir hoch, dies könnte bald wieder ein Ende haben.
»Nun schau schon nach, was ich gesammelt habe über Marius et Jeannette.«
»Du schickst mich weg, und auch noch zu einer anderen Frau.«
»Ach, Naziza. Sie hat ja ihren deutschen Armenier. Deshalb sollst Du ja dorthin ...«
»Wegen Guédiguian? Ich bleibe bei meinem deutschen Franzosen voller Blut.«
Sie hat eine unnachahmliche Art, mir Liebevolles zu sagen. Und sei’s drum, daß ich voller Blut war. Aber mit Liebe. So etwas hatte ich vorher nie. Nicht, daß es je eine Frau in meinem Leben gegegeben hätte, die nicht in irgendeiner Weise liebevoll gewesen wäre, von meiner Mutter abgesehen. Doch in einem Fall, in der sich eine dafür an mir gerächt hatte, was ihr durch ihren Ehemann Schlimmes zugefügt worden war. Bis auf diese haben alle gutgemacht, was eine Mutter an Schlechtigkeiten ihrem Kind gegenüber hervorbringen kann. Da kann ich mich nun wahrhaftig nicht beklagen. Doch Mädels, es hat nicht viel genutzt. Aber dieses milde, von der inneren Sonne bewärmte Seiden- und Chiffonkissen konnte es auch noch ausdrücken, als ob der Hymnendichter Salomon persönlich ihr immerfort das Wort führte. Denn so viel anders klingt das auch nicht:
»Ich bin die Herbstzeitlose von Sharon,
die Hyazinthe der Täler. ...
Seine Linke
unter meinem Kopf;
und seine Rechte
umschlingt mich
Ich beschwöre euch,
Töchter Jerushalahijms, bei den Gazellen
oder den Damhirschkühen
des Feldes –
wenn ihr sie weckt!
wenn ihr sie aufweckt!,
die Liebe,
bis es beliebt ...!
Die Stimme meines Liebsten,
horch doch – da –
er kommt gesprungen
über die Berge,
gehüpft
über die Höhn.«
Himmel, hab’ ich eine Angst!
»Didieeer! Mon rêveur. Komm, wir wollen fahren. Du wolltest mir etwas zeigen in meiner Stadt! Pardon. In unsere Stadt.«
Ich erschrecke fast ein bißchen. »Ja. Richtig. Marseille. L’Estaque. Jeannette. Marius. Geh bitte mal in die Datei Encyclopédie.«
Sie findet sich schnell zurecht. Sie muß also schon mit einem apple gearbeitet haben. Mit meinem? – Und sie kiekst schon wieder.
»Mon Dieu! Hier ist ja auch alles französisch. Es ist ja ein Heimatspiel für mich. Oui – Encyclopédie. Et maintenant?«
»Nun öffnest Du bitte den Ordner Film.«
»Ahh! Es gibt bei Dir nur französischen Film?«
»So ist es. Es gibt keinen anderen.«
»Ich werde Dich für die Légion d’Honneur eingeben. Mitterand würde sie Dir sofort geben. Aber unser Sonnenkönig der Culture für Arme ist ja nicht mehr. Und Chirac. Ich weiß nicht.«
»Merci. Da müßte ich aber erstmal Franzose werden.«
»Du bist Franzose, mon chéri!«
»Ich wäre es gerne. Aber ich bin Deutscher. Zwar zwangsweltgereist, aber Deutscher. Ich bin nicht einmal im Mutterland geboren.«
»Premièrement: Deine Mutter war eine Franzose. Deuxièment: Du bist mit eine Franzose verheiratet ...«
»Wenn, dann mit einer Französin.«
»Fous-moi la paix! Du hast ein Adresse à Marseille. Sie giltet. Dein Name steht an diese klappige Schild in 16, rue de l’Évêché. Wir haben Dich nie entfernt. Du bist ein – jusqu’a la moelle. Wir haben – zu sieben Leute sind wir in die Préfecture gegangen – Maman, Papa, Mirjam, Raymond, Aaron, ich und Du – und haben dann Champagner getrunken, weil er gesagt hat, es wird nicht dauern lange, weil es wird geben ein neue Gesetz, das es kürzer macht. Ein Jahr nur. Wir haben uns énorme gefreut. Für uns. Für Dich. Weil wir gerne Franzosen sind, weil wir alle keine Franzosen sind. Weil wir so sein wollen, so durcheinander. Wie Du immer sprichst: des bâtards. Weil das sind die besten Franzosen. Die besten Européen. Die besten Cosmopolites. Wir haben Dich geliebt dafür, als Du das gesprochen hast! Kein Catalunya nur für Catalan. Der blöde Hund der reinen Rasse von Hitler, hast Du gesagt, muß ein bâtard werden. Chéri. Ich habe im Novembre 1999 einen Brief bekommen! In diesem Brief geschrieben war ein – réception de réponse positive! Didier!«
Aus dem Dunkel kam etwas an mich herangekrochen. Schemenhaft zog etwas aus der fernsten Erinnerung auf. War es ein Orkan? Bekam ich wieder einen Anfall? Ja, irgendetwas war da.
Sie ist aufgestanden und hat sich an mich geschmiegt. Sie streicht mir übers Haar. »Ich sage es die ganze Zeit. Du bist eine volle Franzose. Du bist ein wunderschöner Franzose. Es liegt ein Brief in 16, rue de l’Évêché, an die place de Lenche. Seit 1999. Darin steht geschrieben, daß Du Deine Passport abholen sollst. Und ich bin zu Dir gekommen, um Dich zu holen und ihn mit Dir zu holen, um mit Dir zu gehen in die Préfecture. Wir werden wieder alle zusammen dorthin gehen und allen Champagner von Marseille austrinken.«
»Das kann schon deshalb nicht sein«, murmelte ich mehr, als daß ich sprach, »weil ich 1998 mit totem Kopf in der Universitätsklinik zu Köln lag.«
»J’en suis absolument certaine – es war der Brief, der Dich vor Glück hat umgebracht.«
»Naziza, ich verstehe überhaupt nichts. Das ist doch kein Spiel mehr. Ja, ich weiß, es war da etwas. Aber ich erinnere mich an Angst. An viel und große Angst.«
»Allez, mon amour. Wir werden uns an anderes erinnern. Nicht an Angst. Fangen wir an: Wie bist Du nach Marseille, nach l’Estaque gekommen? – Ah. Guédiguian.«
Sie springt an den Computer, der mittlerweile bereits in den Ruhezustand geschaltet hatte.
»Ah! Ici. Marius et Jeannette. Da. Es ist – ich weiß, was Du meinst. Was Guédiguian gesagt hat. – ›Wie viele Menschen in Marseille habe ich mehrere kulturelle Wurzeln. Mein Vater ist Armenier, meine Mutter Deutsche. Mein Vater war Hafenarbeiter, er hatte mindestens zwanzig Arbeitsunfälle. Vielleicht sehe ich deshalb die Dinge realistisch. Meine Mutter lehrte mich eine fremde Sprache und den Geschmack der Erinnerung, sie litt sehr unter Heimweh. Wie alle armen Leute würde mich die Einsamkeit umbringen. Marseille ist meine Sprache: das Licht und die Farben, die Häuser, das Meer und die Hügel, die Menschen und ihre Gesten ...‹ Ja, das ist es ...«
»Und Joseph Roth«, unterbreche ich sie, schrieb: »Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.«
»Ouf! Ist das schön. Das von Guédiguian ich hätte das auch sagen können. Aber das ist gut. Es ist richtig. Aber l’Estaque! Deshalb leben wir dort. Non uniquement Marius et Jeannette, mais encore Didier et Naziza. Es ist nicht Utopie. Wir haben eine Wohnung angeschaut. Unten die café de retraite. Und auf der andere Seite unser Mer méditerranée. Dann bist Du verschwunden. Du warst weg. Weg. Disparu. Und mein Herz war tot.«
Ich erinnere mich, daß ich oft die Zeitungen studiert habe, La Provence und La Marseillaise. Ich weiß noch, daß mir die kleine, ein bißchen kämpferischere, wohl eher links und sozial orientiertere Zeitung immer sympathischer war als dieses Allerwelts- und Massenblatt La Provence mit seinen Ausgaben für den gesamten Bouches-du-Rhône, Hérault und Vaucluse, also Avignon. Wenngleich La Marseillaise es ebenfalls versucht, bis nach Avignon oder in die Haute-Provence, in den Luberon hineinzureichen. Aber so richtig wahrgenommen wird sie dort nicht. Sie wird zwar angeboten, aber gekauft wird die Konkurrenz. Wie auch immer – ich war sicher, daß nur dort eine Wohnung von Menschen für Menschen angeboten werden könnte. Heute weiß ich natürlich, daß es illusorisch oder auch töricht war. Denn La Provence hat nunmal den Anzeigenmarkt fest im Griff. Nun denn, oft saß ich lange in den Cafés und studierte die Immobilienanzeigen. Tatsächlich war immer wieder mal eine Wohnung in l’Estaque angeboten worden. Ich erinnere mich sogar an eine, die, wie Naziza eben davon sprach, mittendrin lag, ein Haus weiter von dem, in dem sich unten das Rentner-Café befand. Ach, was – Rentner-Café. Alles war da drinnen. Die meisten waren wohl nicht sonderlich betucht. Doch es war jeder willkommen. Auch Araber und ich. Auch mir wurde der Café in kleinen Gläsern serviert, wie oft, allerdings auf Wunsch, überall in Marseille. Den Fußboden vor dem Tresen zierten unzählige Kippen und Lotterielose aus den Nachbargeschäften. Das ist allerdings in ganz Frankreich so, denn es existiert eine geradezu groteske Bestimmung, nach der auf der Theke keine Aschenbecher stehen dürfen. Es könnte ja was in die Gläser hineingeraten. So wird eben alle Stunde zusammengefegt. Oft fuhr ich alleine wegen dieses Cafés die halbe Stunde mit dem Bus nach l’Estaque. Weit und breit kein Tourist, weil sich Touristen ohne Touristen unwohl fühlen. Und aufmerksame, zurückhaltende Reisende – nun, man erkennt sie zwar, aber man sieht ihnen auch ihre Behutsamkeit gegenüber den Menschen an, die ständig in dieser Umgebung leben. Außerdem ist vor l’Estaque das Meer befestigt und der kleine Strand weiter oben und außerhalb des Ortes versteckt. Da fahren am Wochende eigentlich nur diejenigen hin, die die Übervölkerung der Calanques oder die Massen an den Stränden nicht mögen, an den Plages du Prophète, Roucas Blanc, des Petits, du David, Prado oder wie sie sonst noch alle entlang der Promenade Georges Pompidou heißen. Und dieser Ausblick! Nach vorne hinaus ins Meer, auf dem ab und zu eine Fähre oder auch mal ein mittlerer Lastkahn zu sehen waren, die Kurs auf Afrika oder Sète nahmen, und in leicht nordwestlicher Richtung, zum Flughafen nach Marignane, diese dünenartigen Hügel, die Kalkfelsen. Eine beeindruckende Schönheit und Ruhe, weil alles die oberhalb liegende Autoroute entlangdonnerte. Allein diese köstliche, hier jedoch bereits, gegenüber dem Zentrum der Stadt, gemäßigtere Mischung aller möglichen Menschen, ein gemächliches Durcheinander – wie im Film von Guédiguian eben. Die Bourgeois aus den besseren Arrondissements von Marseille, dem achten, also Perier oder die Corniche, mit seinen Villen und den Reichen hinaus aufs Meer bis bald nach Afrika blickend, oder der neubürgerliche, schnieker gewordenen Teil des altehrwürdigen siebten Arrondissements, also der behütete Part von Endoume, Saint Victor oder Roucas Blanc oder Vallon des Auffes mit seinem werbefilmreifen kleinen feinen Hafen, sie alle blieben weg, weil sie ihren Kindern das nicht zumuten konnten – eine Gegend, in der sich aufgelassene Fabriken und das dazugehörende Gesindel befinden, hinter dem Städtchen, das seit 1946 als sechzehntes Arrondissement zu Marseille gehört. Im langsam gewachsenen sechsten um die Préfecture leben einige mit etwas tiefer geschwärzten Bankkonten, die ihren Kindern ein Leben vor dem Tod gönnen würden, die den Begriff Heterogenität nicht nur buchstabieren können. Aber weshalb sollten die nach l’Estaque? Hier existierte ja bereits die Erkenntnis, daß es unterschiedliche Menschen gibt. Vor allem bergan in Richtung Notre-Dame du Mont, um die place Cézanne oder den Cours Julien wird's ja ausgesprochen gemischt. Jedoch auch immer jünger. Zumindest in den Terrassencafés. Außerdem, wenn man auf die im Sommer doch arg stickige Metro verzichtete, um die zwei Stationen zum Quai des Belges zu fahren, und müßig die Rue de Rome oder die Rue Paradis oder vielleicht sogar diese Budengasse Rue Saint-Férréol, die mit ihrem Markennamenterror versteckt Sehnsüchte aufwedelt, nach Westen hinunter mehr oder minder lustwandelte, war man vom place Castellane in zwanzig Minuten am Vieux Port, am Alten Hafen. Im – für Marseille allerdings eher ungewöhnlichen – Schnellgang hätte man's auch in der Hälfte erledigt. Wie auch immer – Marius und Jeannette würden zwar nicht freiwillig hierherziehen, aber auch nach einer Zwangs-umsiedlung könnten sie hier in Frieden leben.
Naziza hatte wohl die ganze Zeit meines Ausflugs in die Erinnerung auf dem Hocker gesessen und mich angeschaut. Jedenfalls sah sie so aus. Konzentriert blickte sie mich an. »Allons enfants de la patrie – wie bist Du nach l’Estaque gekommen?!«
»Mit dem 35er Bus.«
»Merde! Didier. Hast Du l’Estaque gekannt?«
»Ja, aus Marius et Jeannette.«
»Oh! Rage! Warst Du dort? Vorher?«
»Nein. Aber ich wollte hin. Das wollte ich sehen, wo es aussieht wie in einem kleinen französischen Film. Und ob es so wirklich so aussieht. Und ob ich endlich einziehen kann in das Kino.«
»Bien. Was hast Du gemacht. Hast Du gefragt, wie kommst Du dorthin?«
»Ich hatte mich bereits im Vorfeld kluggemacht.« Ich geriet ins Stocken. »Ich wollte noch etwas anderes wissen. Es war, warte mal, ich hatte im Fernsehen, im Sender Arte, eine faszinierende Sendung über ein Musikfest gesehen, das in Marseille stattfand ...«
»La Fiesta des Suds. Und geschrieben hast Du an den Office de Tourisme à Marseille?«
»Ja, das war wohl so. Woher weißt Du ...«
Da war wieder das Nebeltier, das aus dem Moos aufsteigt. Es wummert in meiner Brust. Ich bekomme schlimme Platznöte. Die Luft wird dünn. Das Blut drückt nach oben in das Gehirn, das hinaus will aus seinem Gefängnis.
Mit einem Mal steht Naziza seitlich von mir, kommt schnell ganz nahe an mich, hält mich fest, umschlingt mich. Doch diese Fessel befreit mich von meiner Atemnot. Dieses Geschöpf aus des alten Griechen Lügenbuch beatmet mich allein durch seine enge Nähe. Sie schmiegt ihre Wange an die meine und flüstert etwas in mein Ohr, das ich nicht verstehe, was mir aber auch egal ist, Hauptsache sie tut es. Sie spürt, wie ich wieder freier atme, und läßt sich sanft an mir hinabgleiten, legt, wie vorhin schon einmal, beide Unterarme auf meinen linken Oberschenkel, hält den Kopf dieses Mal jedoch aufrecht und schaut mich an.
»Weißt Du nicht mehr, wer Dir geantwortet hat? Es war jemand, der sich sehr über Deine Höflichkeit gefreut hat, über Deine heitere Leichtheit. Es war jemand, der gerne Antwort geschrieben hat, weil sie anders als sonst gepflegte Briefe in Deutsch bekam, die sie auch in Deutsch beantworten wollte, weil sie neue Antwort wollte. Es ist jemand ...«
»Ich beginne, etwas zu verstehen, das ich nicht verstehe.«
»Weißt Du nicht mehr, daß diese Frau Dir auf Deine Frage, ob Du sie sehen könntest in Marseille, geschrieben hat: Monsieur, ich bin eine öffentliche Person, wie ein Monument de commune, ich bin immer zu besichtigen im Centre unserer schönen Stadt?«
»Richtig.« Ich muß lachen. »Sehr ermutigt hat mich das, der ich sowieso nicht zu den Eroberern in der weiblichen Weltgeschichte gehöre, nicht gerade.«
»Und was hast Du gemacht? Bist Du zu dem Monument gegangen?«
»Directement. Nachdem ich mein Zimmer bezogen und den Schweiß weggeschwemmt hatte, der sofort an mir runtergelaufen war, nachdem ich meinen fahrenden Kühlschrank verlassen hatte. Ich wußte ja, wo das Denkmal stand. Ich konnte es gar nicht verfehlen. Direkt neben meinem Hotel in der Rue Beauvais, an der Ecke Canebière, das es mir noch abspenstig machen wollte, das Denkmal, und mich in ein anderes verschicken. Wahrscheinlich, weil es da Prozente gab.«
»Puhhh. Du gehst in ein Hotel, das inabordable ist und das zu einem Global Player gehört!«
»Was Du alles weißt!«
»Ich weiß noch mehr. Didier. Verstehst Du nicht. Schaue mich einmal an! Bin ich ein Monument de la commune?«
Es kriecht in mir hoch. Ich beginne langsam zu begreifen, wer hier neben mir kniet. Herr im Himmel, ist das schlimm. Schnell, bevor ich wieder in den tiefen Krater des Nichtwissens abtauche, lege ich noch eine falsche Spur.
»Nicht im entferntesten käme ich auf die abwegige Idee, eine Skulptur von Pygmalion für eine jederzeit öffentlich zugängliche profane Figur zu halten.«
»Didier. Kann es sein, daß Du Pygmalion bist? Nein. Arrête! Daß Du hast Angst vor Aphrodite, daß sie kommt und der Sculpture Blut gibt? Bist Du vor Aphrodite weggelaufen, weil sie Deinem ganzen merde Leben aus Stein Blut geben will?!«
Unter dem Krater, in dem ich mich verstecken wollte, kommt es zu einer Eruption. Der Krater will mich nicht. Ich bin ihm zu ekelhaft. Ich gehöre nicht zu dieser Erde. Er spuckt mich aus. Ich befinde mich in der Hölle, die den Standort gewechselt hat. Oder sie hat eine Filiale in den Orkanen eröffnet, die mich von dieser Welt fernhalten sollen und mich deshalb dort herumschleudern, wo es bis in die Ewigkeit hin keinen Halt mehr geben wird. Jetzt muß ich mich, zum ersten Mal in meinen Leben, selbst retten. Ich muß einen Anker werfen, der nur in einer einzigen winzigen Öffnung Halt finden wird. Diese Öffnung sitzt unmittelbar vor mir.
»Naziza. Ich habe es vor ein paar Minuten zu ahnen begonnen. Ich bitte die Götter, nein, ich bitte Dich, Göttin, Dich meiner Seele anzunehmen und sie von dieser Schmach zu befreien. Ich flehe Dich um Hilfe an. Ich habe vor Sekunden versucht, mich endgültig der vergangenen Vergessenheit hinzugeben. Jetzt weiß ich, daß ich es mit dem Leben versuchen muß. Deinetwegen.«
»Non, Didier. Sie schüttelt traurig den Kopf. »Nonnonnon. Es ist nicht Dein Leben. Es gehört Dir nicht. Und mein Leben ist nicht meines. Es ist immer unser Leben. Wir können nur gemeinsam gehen. Wenn Du das gehst, dann wird es vielleicht so sein, wie wir das einmal geträumt haben. Du und ich. Philémon et Baucis. Marius et Jeannette. Calypso et Ulysse. Didier et Naziza. Didier et Naziza Aubertin née Al Arfaoui depuis à 15 août 1998. Es war ein mariage d'amour! Ich weiß es.«
Eine Liebesheirat? – Nach einiger, nicht bestimmbarer, Zeit entziehe ich mich so langsam der magnetischen Energie des reinen Gefühls, in dem es ein leichtes ist, in vernunftwidrige Rauschzustände zu geraten. Eine Liebesheirat? Gibt es heutzutage denn einen anderen Grund, zu heiraten? Gibt es überhaupt einen Grund, in den sogenannt heiligen Stand der Ehe einzutreten? Mit Gütertrennung und sonstigen vorwegnehmenden Absicherungen? Ehevertrag! Einbeziehung des möglichen, fast sicheren Zerreißens eines gesegneten Bandes. Jedem Anfang wohnt ein Ende inne? »Die neueren Theorien«, schreibt Ortega y Gasset, »haben den kosmologischen Gesichtspunkt verloren und sind fast ausschließlich psychologisch geworden. Die verfeinerte Psychologie der Liebe hat, indem sie eine scharfsinnige Kasuistik ausbildete, unsere Aufmerksamkeit von der kosmischen, der elementaren Seite der Liebe abgelenkt.« Wie recht er hat! 1933 hat er das veröffentlicht. Meine Güte – wenn der geahnt hätte, was da noch alles den Lauf der Liebe bestimmen würde! Wenn ich nur daran denke, wie dieser Mann verunglimpft wurde während meiner späten Jugend, also während des Studiums. Es war sozusagen ein Verbrechen, den überhaupt zu lesen. Dabei hat dieser Klarseher davon geschrieben, daß er die Liebe meint und nicht die Verliebtheit, diese »psychische Angina«. Es ist wie heute – man sagt Erotik und meint die Sexualität. Damals sprach man vom Bumsen und meinte – heimlich – die Verliebtheit. Rausch eben. Aber Liebe? Das war ein absolutes Tabu. Zumindest in unserem Elfenbeinturm der gebildeten Abgeklärtheit. Liebe hatte ein Anachronismus zu sein. Und Stendhal – den Theoretiker des Don-Juanismus, nicht etwa den geradezu glorifizierten Erzähler! – hat Ortega y Gasset ebenso der Unfähigkeit zur wirklichen Liebe geziehen wie auch Platon mit seinem platonisch-naiven, ja theoretischen Geplappere. Doch auch die durfte man ja nur aus der Perspektive der reinen (gesellschaftspolitischen) Vernunft, für die Theoriefestigkeit lesen. Zu Diskussionszwecken eben. Also haben – mal wieder – ein paar Zusammenhänge gefehlt. Und dann wundert man sich, daß unsere Kinder die Blaue Blume mit der Roten Rose im Knopfloch verwechseln. Aus der Möglichkeit, das Leben als Roman, als Liebe zu leben, wird ein Leben, von dem man für die Brunft den Klappentext hernimmt. Da werden dann Anzeigen geschaltet, in denen vom zärtlichen Abendessen vorm kerzenscheinbestandenen Kamin bei einem Glase roten Weines gesäuselt wird. Dabei war's arschkalt an den Kaminen der Romantik. Aber man fühlte eben hoffnungslos glücklich, weil man die Kälte der Beziehungslosigkeit nicht kannte und die innere Zimmertemperatur eher damit aufheizte: »Über den Turbinen und Maschinen mannigfaltiger Art, die wir in den Strom hineinsenken, dürfen wir nicht seine uranfängliche Kraft vergessen, die uns geheimnisvoll umgibt.« Das hat Ortega geschrieben, als das zweite Jahrtausend bereits gute dreißig Lenze zählte. Das also könnte ein Anlaß zur Heirat sein! Heutzutage. Wieder? Das ist durchaus eine Erkenntnis. Und vielleicht war es ja genau das, was geschah und sich lediglich aus einem bedauerlichen biologischen Ereignis heraus meiner Kenntnis entzieht. Aber damals?
Hatte ich nach der Scheidung, deren eigentlichen Gerichtstermin ich damals wegen des eindeutigen Tatbestands des ›Böswilligen Verlassens‹ gar nicht hatte wahrnehmen müssen, nicht die ersten eigenen Gedankens meines Lebens produziert: Nie mehr! Es war auch zu absurd gewesen. Auf ihn, den doch arg jungen Studenten, ach was, das Jüngelchen, hatte die noch Jüngere blondäugige Blitze geworfen, auf den überdurchschnittlichen Rock’n-Roller. Dieser Tanz war damals sein einziges Aphrodisiakum. Es funktionierte recht ordentlich. Sie fielen übereinander her, wie wegen des Saftüberdrucks kurz vor dem Platzen stehende junge Menschen sich eben – ineinander – verschlingen. Sie blieben länger in dieser wirren Körperhaltung, als ich es gewohnt war. Es war nicht unangenehm gewesen. Denn als sie ihre meerwasserblauen Augen in meine nicht ganz so reinrassigen ähnlicher Pigmentierung versenkt hatte, um mir zu eröffnen, daß sie gedenke, bei mir zu bleiben, kam Wohlgefühl auf. Dies würde mich wohl aus dem Gefühl der heimlichen Einsamkeit befreien, das mich seit meiner frühesten Kindheit peinigte. Ich gab meine Bude in der rein wirtschaftlich begründeten Wohngemeinschaft in Charlottenburg auf, da man dem jungen Paar eine kleine Wohnung vermietete, obwohl es nicht verheiratet war. Berlin war in den späten sechziger Jahren dabei, sich an seinen Ruf als ehemalige metropole de tolérance zu erinnern. Ach, Studenten, die sind eben anders, und wenn dann auch noch eine dabei ist, die richtig arbeitet, also Geld verdient! Vielleicht war es auch einfach nur die Not des Vermieters, die Wohnung nicht so ohne weiteres für teures Geld vermieten zu können. Der große Treck aus West-Deutschland war damals noch nicht so recht in Schwung gekommen. Man richtete sich ein. Das erste Asko-Regal wurde gekauft. An Geld mangelte nicht – Mama konnte es nicht verhindern, daß Papa den Sohn wahrlich nicht darben ließ. Nach drei Monaten kam das jüngste Gericht in Form eines Paares über sie. Es kam aus einer nordhessischen Kleinstadt. Er stand in der Mitte des Zimmers und dirigierte Mutter und Tochter mit einer einzigen Armbewegung in Richtung Tür. Solange ihr nicht verheiratet seid, lebt ihr auch nicht zusammen! Die verweinten Augen der Jüngeren und die wohl im Weiblichen begründete Sanftmut der Älteren stimmten den Feldherrn der Moral unter der Bedingung um, daß innerhalb von zwei Monaten geheiratet würde. Es geschah der Wille des Herrn. Da der Aussteuerschrank, der im Zonenrandgebiet stand, von beachtlicher Größe war, mußte die Wohnung im Umfang angepaßt werden. Auch die Umgebung wurde einem jungen, solventen Ehepaar gerecht, dem die Zukunft gehörte. Der Mietpreis für die hundert oder hundertzehn Quadratmeter des parzellierten Jugendstilhauses befand sich bereits außerhalb der gesetzlichen Preisbindung. Sie paßte zur Entfernung zum Zentrum der Stadt, kurz vor dem Johannis-Stift. Spandau bei Berlin, sagte der Busfahrer beim Grenzübertritt. Und wenn er besonders berlinisch eingefärbt und auch noch Spandauer war, rief er in der Gegenrichtung in der Ruhlebener Straße: Berlin bei Spandau. Doch das junge Paar machte seine mitternächtlichen Zwanzig-Kilometer-Ausflüge zur Bowling-Bahn am Lehniner Platz – dort, wo das ehemalige Revolutionstheater ›Schaubühne‹ von Peter Stein eine postmoderne neue Heimat gefunden hat – mit dem väterlichen Geschenk männlicherseits, mit dem Volvo. In diese mittelständische Karosse war ich, weitere drei Monate später, dann auch eingestiegen, nachdem ich mich von der jungen Ehefrau, bis übermorgen, verabschiedet hatte. Um in einer anderen großen Stadt als Beklagter eines Vaterschaftsprozesses auszusagen. Mein Wunschkind mit einer anderen Frau war zu diesem Zeitpunkt etwa ein Jahr alt. Zu den beiden fuhr ich nach der Gerichtsverhandlung. Ehefrau und Schwiegermutter gaben eine Vermißtenanzeige auf.
Wiederholt Geschichte sich auch im Mikrokosmos? Gibt es kein Entrinnen auch aus den unangenehmen Faktoren der Erbanlagen? Ich wußte es nicht. Denn im Gegensatz zu der gut fünfunddreißig Jahre zurückliegenden Station konnte der Seefahrer sich an die jüngste Reise nicht erinnern. Hatte er, nur um einen ihn nicht anerkennenden Heimathafen anzulaufen, so sehr allen Stürmen zu trotzen versucht, daß ihm deshalb und dabei der Himmel auf den Kopf gefallen war? Ohne jeden Zweifel lag ein Dysfunktion des Gehirns vor. Das hatte ich schriftlich vom Chefarzt der Universitätsklinik. Von einer Amnesie hatte der nichts gesagt. Aber der weiterbehandelnde Neurologe hatte immer dann herumgedruckst, wenn das Thema angesprochen worden war. Weitere Fragen hatte ich mir dann erspart und bin überhaupt nicht mehr zum Arzt gegangen. So folgte auf die Amnesie die Auto-Amnestie wenigstens aus dem Gefängnis der grüblerischen Selbstdiagnose. Denn daß mir etwas fehlte, das wußte ich. Ich wußte nur nicht, was mir fehlte. Und so spannend war's dann auch wieder nicht.
Möglicherweise war es diese Frau, die sich aus meinen Ganglien davongemacht und lediglich Duftpartikel in ihnen zurückgelassen hatte. Doch allem Anschein nach war ich es, der nach einem schlimmen Unfall mit erheblichem Personenschaden die Flucht ergriffen hatte.
»Didier. Me voilà! – Marius ist auch weggegangen – verschwunden. Aber er ist nicht weit gewesen, er ist quasi nur hinter das Haus gegangen, in die Wiese, wo eine coquin spielt. Er ist ein großer Junge, aber nicht so dumm. Er hat Jeannette eine Möglichkeit gegeben, nicht nur ihn zu suchen. Er wußte auch, daß sie wird finden ihn. Und Du? Du hast gesagt, nur une tasse de café – und hast dann Deine Heaume invisible auf den Kopf getan. Nicht mehr sichtbar. Du warst nicht auf der Wiese. Ich habe dort Marius gefragt, ob er Dich hat gesehen. Marius hat gezuckt mit der Schulter und hat gesagt, er weiß es nicht, und er hat gesagt, keine Zeit für solche Kinderspiel, weil er muß zu Jeannette. Du warst unter Deinem Helm verschwunden. Es war kein Kinderspiel. Wo warst Du? Bist Du nach Ithaka gefahren?«
»Nein. Vermutlich nach Italien. Wahrscheinlich hab ich's gemacht wie Goethe. Flucht vor Frau vom Stein.«
»Du bist vor der Liebe geflohen?«
»Naziza. Ich weiß es nicht, glaube mir, ich weiß es nicht so genau. Du mußt mir helfen. Es ist so weit weg.«
»Ja, es ist weit weg. Ich konnte Dir nicht folgen hinter das Haus wie Jeannette. Sie hat gesagt, wenn er nicht ist hinter dem Haus auf die Wiese, dann ist er auf dem Spielplatz der Männer. Was habe ich getan? Ich war überall in alle maisons de tolérance, in alle Puffs, in Marseille, in Aix, in Toulon, in Toulouse, ich habe gefragt in Lyon, in Montpellier, sogar in Narbonne. Du warst nicht auf alle Spielplätze der Männer. Wo warst Du? Warum gehst Du nicht spielen wie andere Männer?«
»Es geht so nicht, Naziza. So finde ich den Weg nicht zurück. So gerate ich in ein anderes Labyrinth. So komme ich nicht aus dieser Höhle.«
»Soll ich Dir geben den Faden, daß Du mich – wieder verläßt? Ich lasse Dich lieber in dem labyrinthe.«
»Du könntest einen wunderbaren Gott zum Mann haben.«
»Nachdem Du mich verlassen hast. Non. Es ist genug. Und er ist mir zu anstrengend. Man muß immer mit ihm und den anderen ziehen, und es ist so laut. Immer nur singen und lachen und trinken – Du weißt, daß ich kleines Lachen liebe. Ich habe einen Mann. Er ist ein grand mal, un vagabond, un caractère désagréable, doch ich werde ihn ketten.«
»Ich glaube nicht, daß das vorteilhaft wäre ...«
»Mit meiner Liebe!«
»Ich glaube, das hast Du getan.«
»Was habe ich getan?«
»Deinen Mann an die Kette gelegt.«
»Ich verstehe nicht?!«
»Ich erinnere mich nicht richtig. Ich hab es Dir gesagt: Du mußt mir helfen. Aber das, glaube ich, weiß ich mittlerweile.«
»Was weißt Du, was ich nicht weiß?!!! Merde plus grande que tout!«
Wenn Wut und Verzweiflung aus einer Quelle kommen, dann entspringt sie direkt neben mir. Doch so sehr ich mich bemühe, auf Anhieb will es mir nicht gelingen, sie zu kanalisieren. Wenigstens dorthin, wo sie keine eindämmbare Überschwemmung anrichtet. Diese Zärtlichkeit, die mich eben noch einschmiegte, ist einer unkaschierten Ruppigkeit gewichen. Doch bei allem Verständnis, das ich dafür aufzubringen gewillt bin – mit Gewalt ist dieser Graben in mir nicht freizulegen. Der Eindruck, sie würde mich einigermaßen kennen, ist dahin. Sie kennt mich nicht. Sonst würde sie so nicht re-agieren. Solches produziert in mir nur Fluchtgedanken. Ich bin ein Flucht-, kein Haustier. Doch ich wüßte nur selbst zu gerne, was da geschehen ist. Sie sollte mir das Garnknäuel schon reichen, um herauszufinden aus dieser zugeschütteten Erinnerung. Und nur zu gerne würde mich ihr nähern. Ich möchte ihr sehr gerne wieder so nahe sein wie noch vor kurzer Zeit.
Sie sitzt mit durchgedrückten Kreuz still auf dem Hocker und starrt aus dem Fenster. Ich sitze mit krummem Rücken still auf dem Wirtshausstuhl und schaue angestrengt nach draußen, als ob ich mich dort finden könnte. Ich wende mich ihr zu.
»Naziza. Glaubst Du mir nicht? Ich bin auf der Suche. Hilf mir. Vorhin hast Du es auch getan. Und ich bin so in l’Estaque gelandet, zumindest in Marseille. Bei Dir.«
Nun weint sie still vor sich hin. Sie macht keinerlei Anstalten, die Tränen aufzuhalten. Alles fließt aus ihr heraus.
»Bitte sprich mit mir.«
Wie in Zeitlupe dreht sie sich mir zu und schaut mich mit unendlich traurigen Augen an. Gern würde ich aufstehen und sie so in den Arm nehmen, wie sie es mit mir gemacht hatte. Doch ich fühle, daß ich dazu die Kraft nicht aufbringe. Körperlich ohnehin nicht.
»Ich würde Dich gerne – embrasser.«
»Pourquoi pas? Viens! Viens ici!«
Französisch ist leicht gesprochene Zärtlichkeit. Das Französische hat nicht so viele Wörter wie das Deutsche. Doch deshalb ist es wahrlich nicht sprachloser. Es handelt. Es handelt sanft. Faire l'amour.
»Ich getraue mich nicht.«
»Du getrauest Dich nicht, Deine Frau zu umarmen?!«
»Nein, ich glaube, es geht nicht ...«
»Oh, pardon, ich tue es. Ich bin so weit gegangen. Es gehen diese wenige centimètre auch noch.« Sie kommt auf mich zu und umschlingt mich. Diese Liebe hat mich. Sie hat mich wieder. Ich sitze vor lauter Rührung steif wie ein Stock.
»Es ist Dir nicht angenehm?«
»Doch. Bitte. Bleib. Geh nicht weg. Bleib bei mir.«
Nun quellen die Tränen aus mir. Ich spüre, daß alles – erst? – beginnt. Ich habe Angst, daß es endet.
»Didier, es sehr incommode hier. Können wir nicht gehen auf die canapé, drüben, in Deine bibliothèque? In die kleine.«
»Laß es uns versuchen. Aber Du mußt mir helfen.«
»Ich habe Dir gesagt, daß ich Dir werde helfen.«
Ich erhebe mich vorsichtig. Es scheint problemlos. Sie faßt fest unter meinen linken Arm. Wie eine Professionelle. Für den Augenblick soll es mir recht sein. Mit langsamen Schritten gehen wir durch den Flur. Auf dem Tisch stehen noch die Teller, auf denen unsere Euro-Köstlichkeiten gerademal angeknabbert herumliegen. Es geht, das Gehen. Im kleinen Bücherwurmzimmer räumt sie mit einem Wischer die beiden Zeitungen vom Sofa. Wir setzen uns, ich in die stützende Ecke neben der Lyrik, sie sich hautnah neben mich. Über uns wachen freundlich die beiden Totenköpfe von Stefan Hunstein, die er sich bei Malewitsch ausgeliehen hat. Es ist, als ob sie lächeln. Unsinn. Sie tun es. In der Romantik wird ja gelächelt. Ich atme auf. Die Distanz ist aufgehoben.
»Bitte nicht böse sein, Didier. Ich bin sehr traurig. Und ich denke vorhin, daß Du mir es nicht sagen willst.«
»Was nicht sagen wollen?«
»Wohin Du gegangen bist, anstatt Café zu trinken.«
»Ich weiß es wirklich nicht so genau. Aber ich hoffe, dahinterzukommen. Deshalb bitte ich Dich ja, mir zu helfen. Es hat ja geholfen vorhin, als Du mir direkte Fragen gestellt hast.«
»Ah, Du meinst der marche durch den Anfang von uns?«
»Oui. Ich habe bis dahin tatsächlich nicht angenommen, Dich aus Marseille zu kennen.«
»Woher sonst? Bin ich eine andere Frau?«
»Nein. Aber ich kann es nicht zusammenreimen. Laß uns den Weg doch zurückgehen. Es ging doch vorhin so gut.«
»Donc, il faut se frayer le chemin. Wo beginnen wir? Wo ist der Anfang? Dein Anfang?!«
»Wir haben tatsächlich geheiratet?!«
Sie lacht ein bißchen gereizt auf. – »Lüge ich so gute Geschichten?«
»Sei nicht ungehalten, bitte. Hilf mir doch. Wo haben wir geheiratet?«
»Wo heiraten Menschen wie wir? Ich, Sand im Blut. Du, Wasser im Blut.«
»Im Meer?«
»Nicht ganz. Am Meer. An die stinkige wunderschöne kleine Teil davon. Wo zwei Liebende in einen Hafen fahren.«
»Du meinst, am ...«
»Wo sonst geht es? In der mairie. Und wo ist unsere Rathaus?«
»Der Bürgermeister residiert mit Blick auf Notre-Dame de la Garde – am Quai du Port.«
»Eh bien, alors!«
»Und dann? Was war dann?«
Ich bekam es nicht zu fassen. Wie oft bin ich da entlanggegangen. Es ist der einfachste und schnellste Weg vom Quai du Port ins zweite Arrondissement. Es nehmen ihn vermutlich überhaupt nur Einheimische – andere sind mir jedenfalls nicht aufgefallen –, weil es nicht eben ein attraktiver Anblick ist. Die Touristen – es sind ohnehin und glücklicherweise insgesamt wenige –, die diese zweitausendsechshundert Jahre alte Stadt anlaufen, werden gegenüber, auf der anderen Seite des Hafenbeckens, am Quai de Rive Neuve in den zahllosen mittelmäßigen Restaurants ausgenommen. Zum Bummeln oder gar zur Einkehr laden die fünfstöckigen Reißbrett-Häuser auch nicht gerade ein. Ihre Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert wurden im Januar 1943 von den Deutschen geschleift, um so die Résistance plattmachen zu können. Was den Stadtplanern von Marseille klammheimlich recht kam, denn die hatten hier bereits in den dreißiger Jahren einen Kahlschlag vorgesehen. So sieht die Architektur der hinteren der beiden Häuserreihen denn auch aus. Unglücklicherweise erinnern sie dann doch an deutsche Gebäude der dreißiger Jahre: eine Art in die Länge und die Höhe gezogener Kleinteiligkeit, die sich in erkerförmigen Backsteinapplikation ausdrückt, die in mir die Assoziation schießschartenartigen Kleinbürgertums hervorruft. Es ist ein für das ganze Land ungewohnter Anblick. Allerdings ist es der einzige mir bekannte Hinweis darauf. Man hat ihn aber auch schnell überwunden. Den Blick geradeaus gerichtet, und man ist schnell vorbei an diesem Fremdkörper, an dieser Marseiller Mauer, die den Alten Hafen von der zu ihm gehörenden alten Stadt trennt. Ein paar hundert Jahre zuvor hatten es die Franzosen allerdings selbst vorgemacht, wie man sogenannte Kriminelle wegsaniert – den über die Ufer getretenen Hafenstrich. Der hat sich dann zwar wiederlebt, wie Joseph Roths dräuendem, nachgerade apokalyptisch-katholischem Entsetzen zu entnehmen ist: »Seit dem Augenblick, in dem sie die Finsternis der Welt erblicken, kennen Sie das Lager der billigen Liebe. Die Rätsel der Welt werden ihnen mit der banalen Auflösung zugleich geliefert.« Nun denn, die nächste Generation der immer siegeswilligen Deutschen hat etwas später sich als des Rätsels Lösung einquartiert. Wie auch immer – hinter diesen riesigen Blöcken liegt das Zweite mit seinen Häusern, wohl überwiegend aus dem 18. Jahrhundert, aber eben auch sehr viel älter. Dieses Viertel ist schließlich der alte Kern von Marseille. Wenn das quasi klassische, das antike Marseille auch unter diesen Gemäuern liegen dürfte. Manchmal lugt's jedoch zwischen den Häuserritzen hervor, wenn man die Gassen nur langsam genug durchstreift. Oder es blitzt auf wie bei Notre-Dame des Accoules an der place Daviel, von der Revolution entweiht und erst seit etwa fünfzehn Jahren als Kirche wieder in Betrieb – unten grundmassive, tiefgläubige, vierkantige Romanik, obendrauf beinahe zuckergußartige höfische Gotik. Grotesk, aber schön anzusehender Nachweis gewachsener Historie. Fast lächerlich hingegen ist die Situation an der nicht weit davon entfernten Cathèdrale de la Major, unübersehbar, wenn man aus nördlicher Richtung von der Autobahn her in die Stadt hineinfährt – rechts der Hafen, links dieses pseudobyzantinische göttliche Zebra. Es geriert sich wie viele Jahrhunderte älter, ist aber erst Mitte des 19. erbaut. Genau wie die hoch oben im Quartier Vauban thronende Notre-Dame de la Garde auf der anderen Seite. Aber dieses kirchenarchitektonische Monstrum nimmt einer zauberhaften romanischen Kirche jedes Meereslicht. Und über eine der drei Treppen gerät man schließlich über die Rue Henri Tasso direkt auf die wunderbar stille place de Lenche, wo einfach nur herumgesessen und durcheinandergeschwatzt und am Abend gegessen und getrunken wird. Wie auf dem Dorf. Mitten in der zweitgrößten Stadt Frankreichs. Na ja, man streitet sich mit Lyon, darüber, wer mehr oder weniger als 1,2 Millionen hat. Dabei sind es gerade mal knapp neunhunderttausend. Für Frankreich jedoch gigantisch. Und wenn man die unmittelbar anschließenden Städte wie Allauch, Aubagne und Penne-sur-Huveaune hinzuzählt, dann dürften es mehr als eine Million sein. Und die Universitäts-Partnerstadt Aix-en-Provence hängt ja dran wie Leverkusen an Köln. Zum Flughafen nach Marignane direkt am Etang de Berre sind's gerademal fünfzehn Kilometer. Die Bewohner dieser durchweg mittelalterlich anmutenden, allerdings alles andere als touristisch herausgeputzten Sträßchen und Gäßchen bringt das jedoch nicht weiter aus ihrer Balance.
Jetzt legt sich eine Skizze in mein Gedächtnis.
»Naziza. Du hast vorhin von der place de Lenche gesprochen. Da war ich oft. Habe ich da nicht ...«
»Oui, mon cher. Du hast dort gewohnt, nachdem ich Dich aus dem Gefängnis hinter La Bourse befreit habe.«
»Gefängnis?!«
»Was ist eine Caisse wie das Hôtel Mercure dort anderes? Es sieht ja bereits so aus wie mit Gitter.«
Ich muß lächeln – sie hat recht. Es sieht ein bißchen aus wie ein Knast mit Sichtblenden vor den Fenstern. Sonderlich attraktiv ist die Fassade also tatsächlich nicht. »Aber die Zimmer sind, im besten Wortsinn, großartig. Wir sprachen aber vorhin darüber, daß Du mich aus dem Mercure Beauveau vertreiben wolltest.«
»Weil es ist eine citadelle für bourgeois. Es ist nicht gut für jemanden wie Dich. Vielleicht habe ich Dich schon geliebt, als Du mir geschrieben hast, daß Du willst wohnen dort. Deshalb ich wollte Dich behüten davor.«
»Aber ich habe mehrere Male dort übernachtet.«
»Ich sage es doch. Grand misère. Für eine Nacht zur Miete dort sind wir im réstaurant an der place de Lenche einen langen und sehr guten Abend gewesen – Du, ich, Maman et Papa et Mirjam et Raymond! Und das weiche Bett von Dir und Deine warme Frau direct nebenan.«
»Tatsächlich. Ich glaube, ich erinnere mich. Ich glaube.«
»Was ist es nur, daß es ist alles weg?! – Que faire? Bon. Wir holen es zurück. – Du hast, also, um die Ecke geheiratet. Mich. Damals Naziza Al Arfaoui. Ich habe noch gut gehört, wie der Standesbeamte zu seinem collègue gesagt hat: Wenigstens hat diese boche hinten einen Namen, den man sprechen kann. Non, ich lüge, ich habe es nicht gehört. Maman hat mir das erzählt. Und daß Papa ihn beinahe umgebracht hat. Und am Abend hat Papa dann gesagt, es ist wichtig, daß Du auch vorne einen Namen brauchst, den man sprechen kann. Das hast Du nicht verstanden. Dieu merci! Dann habe ich Papa erzählt, daß Du Dich Didier heißt. Die Lüge von mir hast Du – Dieu merci une fois!!! – auch nicht verstanden. Du hättest mich gewürgt, ich weiß es. Du bist manchmal so ambivalent. Du weißt nicht mehr? – daß Papa eine Stunde lang immer gerufen hat – à votre santé, Didier! Bonne année, Didier! Ich glaube, der Champagner zu Beginn war zu alt.«
»Es ist unglaublich. Aber die Erinnerung beginnt aus der Skizze ein Bild zu machen. Ja, ich weiß jetzt, daß ich einmal mit vielen Menschen einen ganzen Abend – war es die ganze Nacht?«
»Es waren drei Nächte, mon trésor. Manchmal hat uns Papa weggeschickt. Und wir sind gegangen.«
»Weshalb hat er uns weggeschickt? Und wir sind wiedergekommen?«
»Er hat gesagt, wir sollen gehen üben für den Erhalt der al Arfaoui. Und Maman hat ihm entgegnet: Doch Naziza ist nun eine Aubertin! Papa: bon alors, un français. Maman: Monsieur mon époux, c’est un nom de lorrain. Papa: Es gibt wunderbare Pieds-noirs von dort und dort. Wir haben gegen sie gekämpft und mit ihnen gekämpft. C'est bien. Maman: Didier ist ein Deutscher. Papa: Ich habe doch gesagt, wir haben gegen sie und mit ihnen gekämpft. Hauptsache, sie sind alle Franzosen. Es war unmöglich. Er war ein wenig sehr heiter. Es war viel Champagner. Viel. Und sehr alt. Du hast immer diese dumme cliché von alte Wein und junge Frauen gesagt. Papa hat es gut gefallen. Nachdem ich es übersetzt hatte. Ich mußte es mehrere Male übersetzen. Dann er hat immer gesungen – alte Frauen, junge Wein, junge Alte, voll mit Wein et vice versa, c'est pareil. So ungefähr. Es hat uns alte Frauen gut gefallen. Immer hast Du gesagt: Mademoiselle – auf den Tisch! Du hast zum Glück damit den Wein gemeint. Die Quelle darf nie versiegen! Und Papa hat sich herangelegt an sie. An die Quelle. Ein Musulman ist das nicht gewohnt. Er sagt dann jedoch, wohl als Entschuldigung, es steht nicht eindeutig geschrieben im Coran, daß er Alkohol nicht trinken darf. Und Du hast nichts verstanden. Ich habe fast nicht übersetzen können, weil ich immerfort habe lachen müssen. Aber es war très, très bien.«
»Und wir haben drei Tage gesoffen?«
»Manchmal haben wir ein bißchen geschlafen. In der Liebe.«
»Und haben wir – ich traue mich fast nicht ...«
»Non. Didier. Wir haben keine Kinder. Und jetzt bin ich zu alt.«
Schweigen. Ich habe wieder einmal das Hirn nicht eingeschaltet. Ist es überhaupt – wieder? – in Betrieb? War es das je? Das hätte ich schon noch früh genug erfahren. Ich Idiot sollte doch nun wirklich wissen, wie Frauen darauf reagieren. Oft genug hat solches herbe Reaktionen hervorgerufen. Zwar war es immer wieder eine – für Männer – plausible Gegenargumentation, wenn ich entgegnet hatte, ich hätte welche, und das sei genug. Oder: Es gebe so viele Sozialwaisen. Damit wähnte mich außerhalb der Herberge. Heute weiß ich, wie unsäglich dumm Männer sein können, weil sie nicht versuchen, dieser weiblichen Ur-Sehnsucht gedanklich wenigstens etwas beizukommen. Das unziemliche männliche Prinzip der sogenannten Vernunft kann daran aber auch nicht haften. Und an das androgyne Element, ja, an die Vielfache in sich, an das denkt ein richtiger Mann nicht. Ich Trottel zum Beispiel, der ich gerade dabei bin, überhaupt einen Weg aus dem Schlamassel zu finden, reite mit solcher akkuraten Peinlichkeit geradewegs wieder zurück in den Sumpf. Oh Herr, wer auch immer du bist, wenn es dich denn gibt, kannst du mir denn nicht einmal den Mund zuhalten?!
Ich spüre Nazizas Hand sanft an meiner Wange.
»Vielleicht ist das nicht so ganz schlimm.«
Sie sagt es, als ob man ihr gesagt hätte, sie müßte ihre Gebärmutter einer anderen geben.
»Vielleicht ist es das doch? Ich bitte um Vergebung. Ich hätte das nicht sagen dürfen.«
»Was? Du hast gefragt, ob Du noch einmal, mit mir, fruchtbar warst. Weil Du es nicht weißt. Es ist Dein Recht.«
Jetzt nimmt sie den tumben Tor auch noch in Schutz.
»Hat Dich unser marche etwas hingeführt? Und wo hat Deiner Dich hingeführt?«
»Ich möchte noch ein wenig an der place de Lenche bleiben. Es ist schön dort. Am Abend. Im warmen Mond. Unter dem Südstern. Mit den vielen Menschen. – Waren es tatsächlich so viele? Alle Al Arfaouis?«
»Nein, nicht alle. Wir sind nicht reich. Non. Wir sind arm. Es ist Unsinn! Wir haben genug für das Leben. Doch eine Fahrt von Algier nach Marseille ist sehr teuer für Menschen, die nur für das Leben arbeiten. Wenn sie arbeiten können. Doch die Al Arfaoui in Frankreich waren alle da.«
»Und das sind viele?«
»Alle zusammen mit Frau und Mann und Kind und Hund sind es viele. Aber es kommen noch die Malakian!«
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor ...«
»Ja, wir sind verwandt. Weit entfernt. Es ist insgesamt eine große Familie, die ist geflüchtet vor den Türken. «
»Deshalb weiß ich aber immer noch nicht, wer es ist. Ist das nicht irgendein Industrieller?«
»Ah! Du weißt es nicht? Ich dachte, Du wüßtest es. Non. Es ist Henri Verneuil. Achod Malakian.«
»Ui! Der Filmregisseur. Donnerwetter. Ach ja. Ich habe es mitbekommen, daß es sehr viele Armenier gibt, die in Frankreich Karriere gemacht haben. Aznavour, Silvie Vartan. Sie doch auch? Oder?«
»Ihre Familie kommt aus la Bulgarie.«
»Ach, stimmt ja. Ich habe ja ‘ne Platte von ihr, auf der sie bulgarisch singt und spricht. Mein ebenfalls vom pervertierten Kommunismus vertriebener Freund Nicolai hat ganz stolz und souverän wissend genickt, als ich ihm das erzählt habe. Trotzdem sonderbar. Aus welchem Grund mich das wohl interessiert? Demnach habe ich offenbar auch noch berühmte Verwandtschaft.«
»Ich habe zu Dir gesagt, daß sie nicht alle sind berühmt, die geflüchtet sind – in diesem Fall vor den pervertierten Türken. Arméniens sind in alle Welt zerstreut. Sehr viel leben in Marseille. Die meisten en France. Mais – es gibt doch sehr viele bekannte Namen. Von vielen weiß man es nicht, daß sie aus dem Land von Maman stammen. Welche kennst Du?«
»Keine Ahnung.«
»Du bist nicht so extrême interessiert an Sport. Doch Du wirst André Agassi kennen oder Alain Prost?«
»Was? Prost auch?! Nun gut. Agassi, klar. Ganz so ungebildet bin ich ja auch nicht. Wenn sowas auch eher das Revier von Isaac ist.«
»Sie ist interessiert an Sport? Es überrascht mich. Es ist selten bei Frauen.«
»Ach. Sie ist ganz verrückt danach. Skirennen. Tennis. Autorennen. Sie schaut sogar Fußballergebnisse im Internet nach. Ich traue ihr zu, daß sie das auch mit dem Portable macht. Verrückte Kuh.«
»Ça, alors! Dann wird sie kennen Jouri Djorkaeff ...«
»Den kenn' ja sogar ich. Er spielt in Kaiserslautern. Ich war schließlich der einzige, der damals im Bekanntenkreis auf France gesetzt – und gewonnen hat! Die hatten mich alle für völlig bescheuert gehalten.«
»Du hast für Football?!«
»So ist es. Ich bin sogar mit der Tricolore durch die Stadt gefahren. Vermutlich als der einzige Deutsche in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Ach, was sage ich – im Geiste war ich ja längst Franzose. Es war nach dem Gewinn der Europameisterschaft. Sie hat mich in meiner Frankreich-Sehnsucht richtig aufgebaut. Sogar in die Kneipe bin ich gegangen deshalb. Ich war der einzige, der die Tricolore hochgehalten hat. Sie haben alle ziemlich dumm gekuckt, als wir gewonnen haben. Frag mich bloß nicht mehr, gegen wen! Es war bei einem lieben Marokkaner, dem die Kneipe gehörte. Er war, glaube ich, der einzige, der sich gefreut hat, daß ich mich gefreut habe. Von daher kenne ich Djorkaeff. Es ist deshalb für mich unverständlich, wie ein solcher Fußballspieler in diese Diaspora gehen kann. Na ja, an die Diaspora ist er ja gewöhnt.«
»Es ist nicht sehr freundlich, was Du sagst. Doch es ist nahe an France. Und es ist – so habe ich es vernommen – eine gute Stadt für Football. Dann es gibt noch – für Dein Terrain – Arshile Gorky, William Saroyan, Aram Khachaturian. Doch auch – aus Deiner Jugend – Cherylin Sarkissian ...«
»Wer ist denn das – aus meiner Jugend?!«
»Du wirst doch kennen diese beiden Sonny and Cher!«
»Ach du liebes bißchen! Dieses wandelnde Ersatzteillager der Schönheitschirurgie. Doch es ist richtig – damals habe ich sie sehr gemocht. Auch heute noch. Das war ja mal eine sehr schöne Frau – als sie noch I got you babe gesungen hat. Ich behalte sie lieber so in Erinnerung. Aber das sind ja fast jüdische Zustände. Die halbe Kultur in armenischen Händen.«
»Und auch das Geld! Kirk Kerkorian, diese große Investor in den USA, Besitzer von MGM und große Actionnaire von Daimler-Chrysler. Doch auch Artem Mikoyan, der Constructeur dieses russischen Fluzeuges MIG. Überall sind sie. Doch bei uns vielmehr in die culture. Wenn man eine Name von Schuhen hinzurechnen kann – Stéphane Kelian.«
»Sagt mir nichts. Interessiert mich auch nicht. Das letzte paar Edelschuhe, das ich mir gekauft habe für fünfhundert Mark, ging nach einem dreiviertel Jahr kaputt. Das Leder ist gerissen. Seitdem kaufe ich wieder meine Italiener für hundert-, jetzt wohl hundertfünfzig Mark. Jedes Jahr neu. Mittlerweile nur alle zwei Jahre, da ich ja fast nur noch barfuß gehe.«
»Comment? Barfuß? In die Straße?«
»Quatsch. Da ziehe ich schon Schuhe an. Aber da ich kaum mehr unterwegs bin, brauche ich weniger Schuhe. In Marseille brauche ich allerdings drei Paar, weil ich soviel rumlatsche. Zuhause gehe ich grundsätzlich barfüßig durch meine kleine Welt. Es ist das erste, was ich mache, wenn ich nach Hause komme – alle Klamotten weg. Und ab fünfzehn Grad aufwärts auch keine Strümpfe mehr in den Schuhen. Alles Einengende weg. Das ist meine Freiheit. So habe ich wenigstens in diesem Bereich das Gefühl, korsettfrei durchs Leben gehen zu dürfen. Doch zurück zu meiner Verwandtschaft. Das heißt also doch, daß ich verwandt bin mit dem Clan der Sizilianer, auch mit Aznavour ...«
»Du legst Deinen Kopf in die Sonne eines Héros?«
»Ach, nein. Ich mag die singenden Damen ohnehin lieber.«
»Ich weiß, daß Du magst sowieso eher Frauen.«
»Das ist richtig. Ist es schlimm? Sehr?«
»Du bist doch homosexuell, hast Du gesagt.«
»Habe ich das? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Ich weiß. Der Mann von Welt muß manchmal ein bißchen spielen mit die Coquetterie.«
»Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Du mich tatsächlich ein bißchen kennst.«
»Mais oui! Un peu. Du bist nicht schwer zu durchleuchten. Jedoch es ist auch schön.«
»Also – wieviele Menschen waren auf meiner, auf unserer Hochzeit. Und wann war die nochmal, sagst Du?«
»Le 15 août 1998. Eine Monat, nachdem Du mich geküßt hast und gesagt: Das ist eine Antrag zum Heiraten.«
»Ouf. War das ein samedi? Alle Franzosen heiraten am Samstag.«
»Auch Du Franzose hast an einem Samedi geheiratet. Jedoch nicht nur dieses! Es war Asencion de Jésus-Christ.«
»Bitte – was war mit Jesus Christus?!«
»Wie heißt es in deutsch – ich glaube, Maria in Himmel ...«
»Ach du meine Güte – Maria Himmelfahrt!«
»Aber geküßt und beantragt hast Du mich an eine sechzehnte Juli. Zwei Tage nach die Fête nationale.«
»Wäre ich ein guter Franzose, hätte ich das an diesem Tag tun müssen.«
»An diesem Tag bist Du mir das erste Mal weggelaufen. Hier, auf der Treppe zur place de Lenche. Ich habe es Dir gesagt. Notre-Dame ist meine Zeugin.«
»Weshalb bin ich Dir weggelaufen?«
»Das will auch gerne wissen.«
»Ich meine, auf der Treppe.«
»Das weiß ich so wenig wie das danach. Doch, ich glaube, ich habe Dich eingeschüchtert. Ich war, glaube ich, sehr schnell nah. Und ich war böse. Sehr.«
»Warst Du etwa böse, weil ich Dir nicht sofort an die Wäsche gegangen bin?«
»Non, chéri. Nicht wirklich. Ich war ein bißchen traurig. Non. Enttäuscht vielleicht. Mais, es hat mir auch gut gefallen, daß Du es nicht getan hast. Es hat Dich angehoben vor mir. Ich habe es noch nicht erlebt gehabt. Es war groß.«
»Groß? Wie meinst du das?«
»Es gibt keine Gentleman in Marseille. Nur Macho. Ob in einem T-Shirt oder einem Anzug aus Maß.«
»Das ist ja wie bei Antonioni! Bei dem hat der junge Mann seine Schöne auch nicht gekriegt, weil er ein souveräner, weltmännischer Kavalier sein wollte, der warten kann. Am nächsten Tag war sie verschwunden.«
»Du bist verschwunden. Jedoch erst später. In dieser Zeit war ich noch Al Arfaoui.«
»Also, ich heiße jetzt Al Arfaoui ...«
»Non-sens. Ich heiße – ah, Du machst mich ganz dumm. Ich heiße Aubertin. Nach Dir! Aber ich muß auch zugeben, daß es mir schwergefallen wäre, wenn es nicht ein Name gewesen wäre, der nicht auch französisch klingt.«
»Ich glaube, es ist ein französischer Name. Im Elsaß ist ja nun wirklich nicht alles deutsch. Du mußt ja nur in südlicher Richtung durchfahren. Weiter unten gibt es auch Orte, die heißen Sélestat oder so. Aber ich habe immer gedacht, es wäre ein Name aus der Lorraine. Meine Mutter hat das gesagt. Sie hat auch immer gesagt, daß sie von dort käme.«
»Ja, genau, ich erinnere das jetzt auf einmal. Wie Du es gesagt hast. Wir haben ja immer davon gesprochen, daß Du ein Lorrain bist. Und ist es nicht?«
»Ich bin durch Zufall darauf gekommen. Vor ein paar Monaten war ich in Metz, wo meine Mutter gelebt hat. Dort war ich bei einer Familie zum Essen eingeladen, und ich habe dort von meiner Mutter und meinem Namen gesprochen. Und ein Mann, ein Alsacien, sagte mir, das sei kein lothringischer, sondern ein elsässischer Name. Ich hatte es rasch vergessen und nicht weiter darüber nachgedacht. Doch kürzlich bin ich im Internet zufällig darauf gestoßen. Ein Namensforscher hat mir dann geantwortet. Nun bin ich Elsässer. Dabei kann ich den Elsaß mit seiner Mentalität und seinen putzigen Lebkuchenhäuschen aus Fachwerk nicht ausstehen.«
»Lebkuchen?«
»Pah – pain d’épice. Weißt Du, wie die kleinen Häuschen, une spécialité allemand, die auf dem Marché de Noël verkauft werden. Weihnachtszuckerbäckerei eben.«
»Ah. Oui. Ich erinnere mich.«
»Also, ich mag den Elsaß nicht sonderlich. Er ist mir zu deutsch. Ich fahre immer schnell durch. Oder ich fahre auf westlicher Seite der Vogesen in den Süden.«
»So ist es, wie Du sagst, daß Du immer viel nach France fährst? Das ist sehr schwierig für mich.«
»Ja. Ich verstehe. Laß es noch etwas ruhen, Naziza. Vielleicht kriegen wir es ja zusammen. Hab bitte noch Geduld.«
»Ich habe sie. Dennoch es ist trotzdem schlimm, daß ich Dich drei Jahre suche und Du bist immer neben mir.«
»Es ist eben etwas geschehen, von dem ich nicht weiß, was es war. Ich weiß nur, daß ich zusammengebrochen bin und ins Krankenhaus kam. Zweimal.«
»Deux fois?!«
»Ja, zweimal, kurz hintereinander. Aber nie habe ich daran gedacht, daß es solche Folgen haben würde. Jetzt, im Nachhinein, wird mir einiges klar ...«
»Was ist auf einmal klar?«
»Langsam, bitte, Naziza.«
»Die Ärzte haben immer so seltsam herumgeredet, haben sich nie klar und deutlich ausgedrückt. Ich glaube, ich habe es vorhin schon einmal erzählt. Und es hat mich auch nicht weiter interessiert. Aber anschließend kam eine schlimme Zeit ...«
»Das ist zu sagen.«
»Naziza, bitte! Soll ich mich erinnern oder nicht?!«
»Mais oui. Pardon. Ich höre zu.«
»Es ging mir sehr, sehr schlecht. Alles hatte sich geändert. Mein ganzes Leben. Ganz entfernt in meinem Kopf ist ein diffuser Gedanke. Ich war immerfort von einer brennenden Sehnsucht erfüllt. France, das war klar, das war längst meine Heimat geworden und Marseille noch mehr. Wie bei Joseph Roth? Vielleicht. Aber – und jetzt kommt es! –, es war ohne Unterlaß ein bestimmtes Frauenbild in mir. Es war nicht mehr wegzudenken aus meinem Kopf. Es war festgenagelt, sozusagen, wie ein Brett im Kopf. Gut, mir war der dunkle Typ Frau schon seit meiner Hinwendung zu der Erkenntnis näher, in dieses Land, in diesen Landstrich zu gehören. Aber hinzu kam, daß ich im Lauf der Jahre viele von euch und damit eine zuvor nie gekannte Wärme kennengelernt habe.«
»Du hast nicht Naziza Al Arfaoui geheiratet. Du hast ein Bild von einer Frau geheiratet.«
»Ja, merde, es stimmt! Und was für eines! Ein Bild von einer Frau! So sagt man das im Deutschen. Laß mich doch bitte weitersprechen. Aber so extrem war es – ich verzehrte mich danach. Ich durchsuchte regelrecht Kino und Fernsehen danach. Nichts anderes wollte ich mehr sehen. Ich versank regelrecht in diese Bilder, wenn sie denn auftauchten, egal wo. Ich verbrannte innerlich vor Kummer. Zwei- oder dreimal war ich sogar versucht, in Marseille eine Bekanntschaftsanzeige aufzugeben.«
»Ich weiß nicht, ob ich geantwortet hätte. Ich war auf der Suche nach meinem Mann und nicht eine Boche, der in Marseille auf einer Frau zur Ruhe gehen will.«
Die Sanftmut machte sich mal wieder davon – jetzt auf lauten Sohlen.
»Und, aber mit dieser Sehnsucht flammte immer sofort Angst auf. Aber das Bild wurde immer größer und stärker.«
»Du meinst, es war ich?«
»Mittlerweile, jetzt, ja, ich bin sogar davon überzeugt. Wenn das alles so war, wie Du es erzählst – und ich zweifle nicht mehr daran ...
»Merci.«
»Oh, Naziza. Merde! – Ich glaube, es warst immer Du, die ich gemeint habe. Ich wußte es nur nicht. Es war ohnehin alles geheimnisvoll. Auf der einen Seite kam zusehends mehr Erinnerung in mir auf, sogar aus meiner Kindheit, die mir völlig entschwunden schien. Bilder erschienen mir, Filme liefen ab in mir, die völlig klar waren, auch in ihrer schlichten Wahrheit, der Wahrheit der Wirklichkeit. Es war mir klar, daß ich dieses oder jenes erlebt hatte, nur daß es vierzig Jahre oder meinetwegen dreißig völlig in meinem Kopf verschwunden war. Ich wußte genau, daß es so gewesen ist, daß mir kein träumerisches Wollen irgendwas hinzugefügt oder weggenommen hatte. Auf einmal spielte ich mit Puppen bei Nachbarmädchen. Vier, fünf oder sechs Jahre war ich da alt. Fünfzig Jahre war es weg. So kommt’s mir zumindest vor. Ich kickte irgendwo mit anderen Jungens herum, einmal sogar mit meinem Bruder. Nie, nie mehr hatte ich daran gedacht all die Zeit zuvor. Doch ich maß dem keine weitere Bedeutung zu. Manchmal sagte ich mir auch, es ist wohl das Alter. Je mehr die Haare verschwinden, um so mehr wächst die Erinnerung. Das muß wohl so sein. An meinen Hirnabsturz dachte ich dabei eher weniger. Allerdings wunderte ich mich dann schon sehr über Lücken aus der jüngeren Zeit. Das war etwas, das ich zuvor nicht gekannt hatte. Und da ich mein Leben so gänzlich, so grundsätzlich geändert hatte ...«
»Wie hat es sich geändert?«
»Ich ging nicht mehr weg. Aus dem Haus ging ich nur noch um der Arbeit willen. Ich igelte mich ein. Ich wurde ein Eremit. Eine Zeitlang haben andere noch versucht, mich herauszulocken aus dem Haus. Sie haben es dann aufgegeben. Das Schlimmste aber war wohl dieses Stefan-Zweig-Gefühl in mir. Du kennst ihn ja.«
»Denke ich an Dich, muß ich immer an ihn denken. Nicht immer, jedoch oft. Doch nun bist Du neben mir. Dann schwindet diese Traurigkeit, sie löst sich auf. Mais – sie scheint in Dir, la mélancolie. Welche meinst Du? Beziehst Du Dich eine bestimmte Scène bei Zweig?«
»Weniger die Melancholie im allgemeinen. Die schlepp‘ ich ja ohnehin in mir herum.«
»Ich weiß es. Doch diese Mélancolie hat immer wieder einmal sehr hell, auch schon einmal erheiternd geklungen. Allez – spreche. Was ist es gewesen.«
»Du kennst Phantastische Nacht?«
»Ich habe es gelesen. Sogar in deutsch. Und ich ahne. Der Verlust des Gefühls?«
»Ja. Auch Aber in erster Linie diese schlimme Zwiegespaltenheit. Auf der einen Seite diese zehrende Sehnsucht. Und dann diese, wie’s bei Zweig heißt, ›merkwürdige Gefühlsstarre in mir‹. ›Als kurz darauf ein Freund von mir starb und ich hinter seinen Sarg herging, horchte ich in mich hinein, ob sich nicht eine Trauer in mir rührte‹ – ich hab gar nicht mehr in mich reingehört, als ich wieder mal, was in letzter Zeit immer öfter geschieht, na ja, die Alten eben, ‘ne Mitteilung eines Todes erhielt. Wie bei diesem einstigen Sonnyboy ...«
»Was Du nie warest, Didier! Einen solchen Günstling eines beglückenden Schicksals hätte ich nicht in mich hineingelassen. So wäre ich auch nicht mit ihm verheiratet. Mit Dir bin ich es jedoch. Pardon. Ich wollte Dich nicht unterbrechen.«
»Na ja, irgendwo heißt es bei Zweig dann: ›Nun, sosehr ich mich bei diesem Anlaß und manchen ähnlichen auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu Gefühlen überreden wollte, es kam keine Antwort aus jener inneren Starre zurück‹. Das gab’s bei mir erst gar nicht. Gar nicht mehr, muß ich wohl sagen. Ich war tot. Nichts regte sich mehr. In dieser Richtung. Aber die Sehnsucht zerrte ständig an mir. Nun denn, also fuhr ich in der Urlaubszeit ich los. Manchmal auch zwischendrin. Wenn ich es einrichten konnte. Immer öfter.«
»Vers la France.«
»Oui. Nur. Jedes Jahr. Und wenn ich die Möglichkeit hatte, auch zwischendrin. Und immer in den Süden, auf jeden Fall mußte ich immer südlich von Lyon sein, denn nur dort, habe ich erfahren, leben Menschen ...«
»Es trifft zu. Es trifft jedoch auch zu, Didier – diese Nacht bei Stefan Zweig wird tatsächlich eine phantastische! Es geht affirmatif aus. Sein Unglück weicht von ihm. Das Glück geht in ihn hinein. Weil er sich öffnet für andere Menschen! Die Du suchst. Wo hast Du gesucht?«
»Am liebsten in der Provence, im Languedoc. Einmal war ich ein paar Tage in Narbonne, in Narbonne-Plage, weil ich ans Meer wollte, aber aus unerfindlichen Gründen nicht nach Marseille oder wenigstens nach Cassis.
»Was willst Du in die classe touristique?!«
»Ach, Naziza. Es ist hübsch dort. Vor allem im späten Frühling. – Als es auf der Fahrt hieß, links Marseille, rechts Espagne, wäre ich um ein Haar in Richtung Marseille gefahren.«
»Du hast Marseille nicht am Fuß. Du hast es im Herzen?«
»Ja, ich glaube, Marseille hat mich herzkrank gemacht.«
»Maladie du cœur – du fond du cœur?«
»Ja, aber nicht Marseille allein, Naziza. Ich glaube, Du warst es. Und ich habe die Zeit nach meinem Krankenhausaufenthalt es nur nicht mehr gewußt. Und Du mußtest es mir zurückbringen – destinée? – Doch ich frage mich, Dich: Weshalb hast Du mich nicht gefunden?! Wo hast Du gesucht? Ich habe immer hier gewohnt.«
»Ich habe immer zu Dir telephoniert. Du warst nie da.«
»Nein. Naziza. Es ist richtig, daß ich viel unterwegs war. Ich habe mich in Arbeit außerhalb gestürzt. Das Büro hier habe ich schon seit langem aufgegeben. Und, ja, jetzt, wenn ich zuhause war, bin ich grundsätzlich nie ans Telephon gegangen. Für das Dienstliche habe ich ein anderes Telephon, ein Portable, die Nummer hatte ich gewechselt, weil ich zu einer anderen Telephongesellschaft gegangen bin. Auch die Email-Adresse habe ich geändert.
»Ich habe es gemerkt.«
»Ich tue das auch heute, nach wie vor, nicht. Ich reagiere nur.«
»Was meinst Du mit – reagiere?«
»Nur dann, wenn jemand auf das Band spricht, gehe ich entweder dran oder rufe zurück. Aber meistens höre ich es auch nicht. Ach was, ich höre es nie. Es ist ganz leise gestellt.«
»Oh! Merde! Que Dieu me vienne en aide!«
»Hast Du es oft versucht?«
»Im Anfang nicht. Da war ich böse. Nein. Erst war mein Herz tot ...«
»À propos Tod. Hast Du nie daran gedacht, ich könnte nicht mehr unter den Lebenden weilen?«
»Puh! Naturellement ich habe darüber gedacht. Jedoch ich habe diesen Gedanken immer wieder weggeworfen. Du hattest nie einen Grund, es zu tun ...«
»Davon spreche ich ja nichtmal. Obwohl das durchaus auch hätte der Fall sein können.«
»Didier! Weshalb. Du warest ein glücklicher Mensch. Wir waren glücklich miteinander.«
»Und weshalb bin ich dann abgehauen?«
»Das möchte ich wissen von Dir.«
»Dann bin ich der falsche Gesprächspartner. Ich weiß es nicht. Ich kann nur mutmaßen. Vielleicht finden wir ja zu einem Ergebnis. Aber es hätte mir ja etwas zugestoßen sein können. Ein Unfall.«
»Man hätte mir darüber eine Mitteilung gemacht.«
»Wie denn? Wer denn!?«
»Didier – wir sind verheiratet! Wir sind eingetragen in ein Register. Wenn ein Unfall geschieht, geht die Polizei auf die Suche nach der Familie.«
»Und weshalb hat sie das nicht getan, als ich ins Krankenhaus eingeliefert worden bin?«
»Mon Dieu! Es war en Allemagne. Und Du warest vermutlich nicht alleine.«
»Was Du alles weißt.«
»Es kann nicht anders sein. Man kommt in Deutschland nicht auf die Idée, in einem anderen Land nach einer Famille zu suchen, wenn der Patient ist eine Deutsche. Es gab mit Sicherheit Menschen an Deiner Seite, die sich bemüht haben um Dich.«
»Das ist so logisch, daß ich dem nichts entgegenzusetzen habe. Wenn's mich auch ein wenig verblüfft.«
»Was verblüfft Dich?«
»Deine Logik.«
»Pah! Es wäre absurd, wäre es nicht so gewesen. Es ist auch nicht anzunehmen, daß Du neben Deine Passport eine Hinweis hattest, daß man Deine Frau Naziza Aubertin anrufen solle, wenn Du tot bist. Du hattest mich aus Deinem Leben gestrichen.«
»Ach. Verflucht. Gar nichts gestrichen habe ich. Ich weiß nichts. Ich lebe allenfalls in Ahnungen. Aber jetzt sag doch mal, wie du reagiert hast, als ich verschwunden war.«
»Ich war böse. Ich habe geblutet vor Wut. Dann kam die Traurigkeit zurück. Und seit zwei Jahre immer und immer. Dann habe ich versucht, anzurufen bei Dir.«
»Dann weiß ich ja, wer hier immer angerufen hat. – Tagsüber auch?«
»Toujours. Sans arrêt. Tag und Nacht. Seit zwei Jahre. Mais, avec intensité, nachdem ich jemand getroffen habe, der Dich kennt. Er hat mir gesagt, daß Du immerfort an diese Adresse wohnst.«
»Wer war denn das?«
»Ich sage es nicht.«
»Das verstehe ich nicht. Aber es spielt ja auch keine Rolle.«
»Sag mir, Didier, warum bist Du gegangen?«
»Ich weiß auch das nicht, Naziza. Ich wüßte es selbst gerne.«
»Wohin bist Du gegangen?«
»Ich weiß es nicht! Das einzige, was aus meiner Erinnerung kommt, sind Ängste.«
»Ängste?«
»Ja, Plural von Angst.«
»Merde. Ich bin nicht dumm.«
»Pardon.«
»Wovor? Ängste. Warum Angst?«
»Ängste hatte ich eigentlich immer. Es war immer diffus. – Du mußt mir helfen. Was war nach unserer Hochzeit?«
»Es war – ravissant. Wir sind gereist. Man hat mir Urlaub gegeben in der Office de Tourisme und mir Glück gewünscht. Ich habe es gehabt. Nur kurz. Bien. Wir sind erst zu Mama et Papa nach Pérpignan gefahren. Wir waren in Catalogne. Wir waren in den Pyrénées. Wir waren im Bett. Wir waren in die Dordogne. Wir waren im Bett. Am Tag und Nacht. Und wir waren bei die Albigeois pour la méditation.«
»Arrête! In Albi war ich auch.«
»Didier. Wir waren dort. Du und ich!«
»Ja, ich habe schon verstanden. Ich bin alleine dorthin. Später. Ich weiß es jetzt.«
»Du hast Deine Frau verlassen und bist – allé prier Dieu?«
»Nein. Oder so ähnlich. Ich mußte alleine sein. Ich habe die Einsamkeit gesucht. In der Einsamkeit ist meine Angst nicht so schlimm.«
»Du kannst nicht die Frau, die Du hast eben geheiratet, verlassen und gehen in die Einsamkeit. Hat sie Dich so schlimm geärgert?«
»Weshalb das so war – ich bin mir nicht im klaren darüber. Es ist alles so verschwommen. Wir müssen noch weiter zurück.«
»Wohin zurück?«
»Wir müssen ganz an den Anfang – unserer Liebe.«
»Das sagst Du schön. Aber ist es nicht nur Wort? Je finis par avoir des doutes.«
»Bitte jetzt nicht an mir zweifeln. Nein. Bitte nicht. Ich brauche Dich.«
»Um Dich zu finden?«
»Auch. Aber vor allem uns.«
»Ich weiß, wer ich bin. Und ich weiß, wo ich bin. Doch Du weißt nicht, wer Du bist. Du bist eine chimère. Es gibt Dich nicht.«
»Also gut. Ich gebe auf.«
Ich bin am Ende. Ich weiß nicht mehr weiter. Wo war sie hin, die vor kurzem noch so verständnis- und liebevolle Frau. Sie war entschwunden. Sie war mir abhanden gekommen. Sie war mir entglitten. Mit einem Mal. Ich werde ins Bett gehen. Ich werde ein Schlafmittel nehmen, mich in Morpheus Arme begeben, wenn diese Frau es schon nicht tat. Schlaf war immer gut. Vielleicht würde ich einen schöneren Traum haben als diesen hier. Ich raffe mich auf. Es ist schwer. Ich weiß nicht, ob es an meiner körperlichen oder an meiner seelischen Verfassung liegt. Ich stehe. Ich gehe. Ich gehe in Richtung Flur, in Richtung Küche, wo die Pharmazie ihr Sammellager hat. Ob es jetzt gut ist, ein Schlafmittel zu nehmen? Es ist egal. Mehr kaputtgehen kann nicht. Ich nehme eine Tablette. Ich fülle mir ein Glas mit Wasser. Dort steht noch ein Glas mit Wein. Ich werde sie mit Wein hinunterspülen. Ich werde alles mit ins Schlaf-zimmer nehmen. Ich werde die Tür schließen und mich eingraben. Damit hatte ich weitreichende Erfahrung. Das konnte ich am besten. Ich gehe.
In der Schlafzimmertür steht meine schwindende Göttin. Sie füllt den gesamten Raum, hat die Hände in die Winkel des Rahmens gestemmt. Sie versperrt den Weg. Sie schaut mich starr an. Starr?
»Ich gehe mit meinem Mann dorthin, wohin er gehen muß. Ich werde ihm leise einen Traum ins Ohr singen. Dieser Traum wird in sein Univers sensible dringen und ihn ganz ruhig machen. Ich werde an seine Seite liegen und wachen über ihn. Aber vorher werde ich ihn um Verzeihung bitten. Morgen werden wir le Grand Pardon feiern. Und dabei wird er alles mich fragen, und wir werden alles erzählen. Und es wird gut werden. Wird es das, Didier?«
Sie nimmt mir die beiden Gläser und die Tablette aus der Hand und legt alles auf den Tisch zu den Anfängen eines Abendessens. Sie schlingt mir die Arme um den Hals und weint leise in mich hinein. Währenddessen zieht sie mich in Richtung Bett und mich dann auf das Bett. Wir rollen zur Mitte des Bettes hin und halten uns umschlungen und weinen und trösten uns gemeinsam. Morgen: le Grand Pardon.
Ich träume. Ich befinde mich in einem Konzert in Paris. Nein, es ist im Kino. Es ist ein Konzert in einem Film. Nein, ich sitze im Film. Es ist Haut bas fragile von Jacques Rivette. Ich bin Darsteller. Es ist mir peinlich. Zwar wollte ich schon immer wieder mal Schauspieler sein, hatte auch zweimal die Gelegenheit dazu bekommen, diesem Trieb zu folgen: Hier, schaut, ich bin da, ihr dürft mich lieben, denn wer berühmt ist, hat eben geliebt zu werden. Aber es hagelte im Anschluß daran nicht eben Angebote. Man liebte mich offenbar nicht sonderlich. Doch nun sitze ich da. Eine kleine Rolle nur mal wieder, aber immerhin. Die Rolle vergrößert sich enorm, als die Chanteuse von der Bühne herabkommt und direkt auf mich zusteuert. Doch es ist Patricia Kaas, die zusätzlich aufblondierte, eitel glänzende, affektierte Pariser Landpomeranze aus dem Elsaß oder aus Lothringen, so genau weiß ich es nicht, die wunderbare Lieder singt. Dafür mag ich sie und kaufe ihre Platten. Doch daß sie mich so direkt einbezieht in ihr Singspiel, das müßte nun wirklich nicht sein. Sie setzt sich auch noch neben mich auf den einzigen freien Stuhl im Saal und legt das Mikrophon auf den Fußboden. Sie schmiegt sich an mich. Es ist mir sehr unangenehm, denn ich bin eher schüchtern veranlagt, auch wenn es selten sichtbar wird. Außerdem muß ich an meine Frau denken, die gerade zuhause zusammen mit den Freunden Marius und Jeannette und unseren Kindern Mirjam und Aaron in l’Estaque vor dem schönen kleinen Schachtelhäuschen sitzt und darauf wartet, daß ich vom Meer zurückkomme und ein Schiff voller Austern mitbringe, die wir immer in die kleine Badewanne kippen und diese dann mit mindestens hundertfünfzig Jahre altem Champagner auffüllen. Wenn die Austern sich völlig aufgelöst haben und zu reinem Schaum geworden sind, steigen sie alle fröhlich zusammen hinein und sind damit wieder glücklich für ein paar Monate sterblich und dürfen wieder etwas altern. Aber ich bin mit dem Schiff vom Hafen aus direkt ins Olympia und in diesen Film gefahren, habe die quälende Unsterblichkeit meiner Lieben wegen meiner schnöden Lust auf singende Frauen einfach ignoriert. Hoffentlich gibt es diesen Film nicht heute abend im Fernsehen. Ich bin ja nicht da. Sie werden sich sicher alle zusammen vor den Fernseher setzen und weiter auf mich warten, gar in Angst um mich und vielleicht auch ein bißchen um sich. Es ist sicher nicht angenehm, unsterblich zu sein. Ich spüre warmen Atem an meinem Ohr. Doch wegzurücken getraue mich nicht. Es wäre auch nicht mehr viel Platz. Denn meine derben Seefahrerkollegen sitzen alle dicht gedrängt und schauen zu, mit hämischem Grinsen im Gesicht. Ich drehe den Kopf leicht, um zu sagen, daß sie doch besser ins Mikrophon als in mein Ohr sänge, das seit der Sirenen Gesänge sehr empfindlich sei. Da sehe ich, daß es Enzo Enzo ist, die wunderschöne polnische oder russische Französin aus Paris. Das ist mir schon sehr viel angenehmer. Auch grinsen die Kollegen jetzt eher giftig, neidisch. Dennoch muß ich an meine Frau denken, die ich sehr liebe und die Calypso heißt. Ich habe mein Floß nach ihr genannt. Sie liebt mich nicht nur, weil ich ihr manchmal ein Schiff voll köstlicher Sterblichkeit bringe, sondern auch meinetwegen. Ich bin jedenfalls fast sicher. Aber gut, wenn Enzo Enzo schon singt, dann will ich mich meinem Schicksal gerne fügen. Doch sie singt ein Lied von Patricia Kaas, und die Stimme ist die meiner Frau. Die aber doch gar nicht singen kann! Stimmt das denn tatsächlich? Denn ein bißchen Ähnlichkeit hat sie ja auch mit jener Julie Driscoll, die ich etwa 1970 in der Heidelberger Aula bestaunt habe. Und nicht nur wegen ihrer Stimme. Aber nein. Vermutlich sind's lediglich die kurzen schwarzen Haare, die den Eindruck erwecken. Denn dieses Gesicht hier ist weitaus feiner ziseliert. Auch röhrt hier kein Rock-Organ. Auch wenn es noch so beeindruckend war damals. Hier schwebt, flirrt, summt, säuselt, atmen die filigranen Stimmbänder einer Chansonnière vom Reinsten.
»Pépère tellement pépère/Pas pressé d’arriver/Se laisser la rivière/Gentiment déborder/Nager c’est magnifique/Même s’il y a qu’l’océan/Qui reste pacifique/Et pas pour très longtemps.//Reste sur moi/Que je respire avec toi /Reste sur moi/Que je respire avec joie.«
»Mon chéri. Mon amour. Wo bist Du gewesen?«
Oh, ist das gut. Ich bin zuhause. Paris ist nie so schön wie in der französischen Provinz, hat Tucholsky geschrieben. Hier muß ich dem ansonsten nahezu ausnahmslos großartigen Rechthaber mal widersprechen. Die wirkliche Landbevölkerung käme gar nicht auf die Idee, irgendwas mit Paris im Sinn zu haben. Es sei denn, sie wollte pariserisch werden. Davon gibt’s jedoch einige. Und denen bin ich gerade entkommen, bin nicht mehr in Paris bei diesen ganzen provinziellen Franzosen, die von sich behaupten, die anderen seien die Provinz. Ich bin bei meiner Calypso. Sie ist nach wie vor ganz nahe an meinem Ohr. Sie singt nicht mehr, aber ihre Sprache ist wie ein Lied, gesungen von Enzo Enzo, mit leichtem Akzent aus Marseille.
»Didieeer – un peu en désordre?«
Ich öffne die Augen. Ich bin nicht in einem Film. Aber dunkel ist es doch sehr. Also ist es ein Traum. Vor allem ist da noch dieser zärtliche Atem an meinem Ohr. Neben mir lacht es leise und liebevoll.
»Wo warst Du? Hast Du mich schon wieder verlassen und Amusement gehabt?«
Es ist sehr angenehm, so aufzuwachen. Ich drehe mich zur Seite und tauche in die Dunkelheit unterhalb ihres Halses. Sie riecht nach Austern. Am liebsten würde ich darin baden. Aber dann wird man sterblich. Ich aber will weiterleben in diesem Liebeslied. Vielleicht lassen wir den Champagner weg. Ich bade nur in Naziza, in der reinen Naziza.
»Es ist gut«, grummle ich ihr nun in den Solarplexus, »daß Du mich herausgeholt hast aus dieser Höllenhöhle.«
»Ich verstehe Dich nicht.« Sie zieht meinen Kopf zärtlich, aber bestimmt ein wenig nach oben.
»Das ist mir egal. Ich will weiter in Dir baden. Außerdem schäme ich mich.«
»Warum? Wir haben nichts gemacht – pas de luxure. Du hast einfach nur geschlafen.«
»Nein. Ich war bei anderen Frauen.«
»Au bordel?«
»Non, bei Enzo Enzo ...«
Sie lacht kräftig.
»Bei Deine Zweitfrau, Du Musulman.«
»Und ich war bei Patricia Kaas.«
»Oh merde. Mon Dieu. Was machst Du? Ich lasse mich scheiden.«
Ich will sagen, daß wir dazu erst einmal verheiratet sein müßten und ob sie das tun wolle mit mir, einander heiraten. Dann fällt mir ein, daß ich es offensichtlich schon bin. Doch der Gedanke gefällt mir trotzdem, diese Frau zu heiraten.
»Willst Du mich heiraten?«
Ich hätte es nicht sagen sollen. Schon wieder solch ein Fauxpas. Ich hätte, verdammt nochmal, meinen Mund halten sollen. Bedenklich ernste Gesichtszüge entstellen ihr eben noch gänzlich entspanntes Gesicht.
»Toi alors!« Sie begibt sich zur Wand hin in eine halbsitzende Position. »Ich habe gedacht, es wird gut. Mais maintenant ...«
»Excuse-moi! Es war ein Scherz. Dennoch glaube ich, daß es schön wäre. Vielleicht wäre es auch gut für uns, pour la mémoire.«
»Du willst ...« Ihr Augen weiten sich, der Kopf schiebt sich leicht verzogen nach vorn und dann zu mir hin. Ich liege nach wie vor an der Stelle, an der sie mich vor Augenblicken verlassen hat. »Du meinst, noch einmal heiraten!?«
»Na ja, nicht nach dem und mit dem Gesetz. Das ginge ja wohl kaum. Denn wir sind ja verheiratet.« Ich wage keinen zweifelnden Blick. »Ich meine, daß wir alles noch einmal feiern. Ich habe etwas Geld gespart. Ich glaube schon, daß ich es bezahlen könnte. Und vielleicht finde ich auf diese Weise zur kompletten Erinnerung.«
Sie schüttelt den Kopf. Es ist kein ablehnendes, sondern eher ein ungläubiges Staunen, das sich in ihrem Gesicht ausbreitet. Nun schiebt sie sich an mich heran, nimmt meinen Kopf in beide Hände und setzt mir kurz hintereinander feuchte, ja nasse Küsse überall ins Gesicht. Sie riechen nicht nach Austern. Diese sind aus diesem köstlichen alten – ja! ich bitte um Vergebung – Bourguignon aus der Gegend von Beaune, der schmeckt wie die reifen, zwar süßen, aber eben auch leicht säuerlichen Kirschen – Weinkirschen! –, die die Quellnymphe soeben gepflückt und sich in den Mund gesteckt hatte.
»Mon Dieu! Quelle chance! Quelle idée! Romanesque! Wir wiederholen die Fête?! Auf die Lenche?«
»Ist Deine Wohnung denn noch dort?«
»Was glaubst Du?! Sie wartet auf Dich, daß Du abholst einen Brief und eine Frau. Sie wartet auf ihre verlorenes Kind.«
»Und meinst Du, daß alle kommen werden?«
»Sie werden es. Alle haben mit mir geweint. Und sie werden wieder mit mir weinen – pour le bonheur tout neuf. Trois jours à pleurer et pinter. Alle Mäuse werden tanzen, weil die Katzen sind bis oben gefüllt und liegen unter den Tischen.«
»Aber ein bißchen macht mir das schon Angst.«
»Schon wieder. Was macht Angst? Wovor?«
»Dieses Mal, weil ich mich schäme.«
»Eh! Merde! Das magst Du vergessen. Alle werden sein froh, daß Du vorhanden bist. Das ist Marseille! Nicht Deutschland. Bei uns bringt man erst jemanden um und geht dann auf den Cimetière und dann auf das Fest der Begrabung und ißt und trinkt.«
»Und dorthin soll ich gehen? Die Al Arfaoui und die Malakian bringen mich erst um und versaufen dann meine Leiche.«
»Oh, chéri. Du bist ein poule mouillée – wie sagt ihr?«
»Bei uns ist es ein Hase. Angsthase oder auch Hasenfuß.«
»Oh, Didier, mein Angsthasenfuß. Ich werde alle anrufen. Non, erst Maman et Papa. Und die werden überall anrufen und schreiben und es sagen, daß Naziza ihre Boche wiederhat.«
»Ich bin ein Boche? Ich sage doch, ich habe Angst«
»Du bist ein Boche, wenn Du wegläufst vor einer Frau. Du bist ein Marseillais, wenn Du Dein Frau schlägst. Raclée. Compris? – Non. Oui. Ja, sie sprechen von eine Boche. Doch es ist nicht böse gemeint. Aber nun sie werden es nicht tun, nicht mehr tun. Es werden nämlich auf den Hügel de Bataille sein: Mon feld-maréchal Marietta Taline Al Arfaoui née Malakian mit weiblichem Blut aus der Famille der Hagopian, ein wildes Volk aus den Bergen. Sie sitzt und reitet das Cheval de bataille – Mohamed François Al Arfaoui. Aaron Al Arfaoui ist ein Cannonière. Mirjam und ich sind Partisans. Es gibt noch ein paar andere Krieger, par exemple Al Arfaoui aus Tunesien und Saint-Louis aus die Sénégal und auch eine militante Celtique aus die Bretagne. Und Du in der Mitte. Sie werden sein sehr brav. Sie haben Angst vor uns.«
»Meine Güte. So viele Combattanten. Aber eigentlich wollte ich nicht in eine Schlacht ziehen. Und schon gar nicht möchte ich geschlachtet werden. Du hast doch richtig erkannt – ich bin kein Mann, sondern ein Poule mouillée. Ich mache mich in die Federn, wenn die Militärkapelle loslegt – bei der Fête nationale.«
»Oui. Du machst Dir Deine Federn voll – vor Angst, weil der Tambour-major Dir seinen Stock auf den Kopf schlägt, weil er glaubt, Du lachst über ihn.«
»Nie täte ich solches! Ich will ein guter Franzose sein.«
»À propos – soll ich in der Préfecture anrufen?«
»Wegen der Heiratspapiere?«
»Sacré nom! Es liegt alles in die Rue de l’Évêché ...«
»Du weißt, ich bin ein wenig vergeßlich.«
»Wegen Deine nationalité! Du Français modèle.«
»Du meinst, man könnte mich gleich wieder ausgebürgert haben wegen böswilligen Verlassens der – des Landes.«
»Oui. Wir werden für kurze Zeit die Guillotine wieder aufstellen, im Parc Borely. weil sehr viele Franzosen kommen werden. Sie alle wollen sehen, wie Didier Saint Jean-Baptiste seine Kopf verliert.«
»Ich habe ihn doch längst verloren. Du hast ihn doch bereits am Schopf. Er liegt sozusagen auf der Hand, fast auf'm Teller. Was willst Du mehr?«
»Bon. Ich klebe ihn wieder an Dich. – Un moment de réalisme, s’il vous plaît Monsieur. Ich will fragen, ob das Papier vom Ministerium an Dich dort noch liegt.«
»Wird das nötig sein? Wir fahren doch ohnehin nach Marseille. Und ich bin mir überdies gar nicht so sicher, ob das so ohne weiteres möglich sein wird.«
»Was wird nicht möglich sein?! Ich habe einen Brief von der Ministère! Darin steht geschrieben, daß Du ein Franzose sein wirst. Du sollst nur hingehen zu einem Gespräch. Es ist Gesetz.«
»Ich meine, nach unseren Gesetzen hier, ich werde die deutsche Staatsangehörigkeit abgeben müssen.«
»Et alors? Willst Du nicht? Willst Du lieber ein Boche bleiben? Hast Du schon wieder Angst? Du Hühnchen. Du bist doch eine Boche. Ihr habt immer Angst, Angst, Angst. Angst vor die Autorité. Ihr fahrt immer auf die richtige Seite von der Straße. Alles ist voll mit Schilder. Für alles habt ihr ein Gebot. Gebot – Verbot. Daß ihr – mon Dieu! – bloß nicht einen Fehler macht. Überall hat eure Kaiser Wilhelm den Säbel in euch gesteckt. Wir nennen das obéissance aveugle. Jedoch ihr habt ein viel besseres Wort dafür – ihr hört auf eine cadavre. Auch wenn er schon nicht einmal mehr stinkt. Mille tonnerres! Was habe ich für eine Mann. Und damit bin ich verheiratet.«
Meine Güte, wie recht sie hat. Wie hat Birgit Vanderbeke verwundert von der aus Berlin nach Südfrankreich Übergesiedelten geschrieben? »Ich hatte daran gedacht, daß nicht überall alles erlaubt ist, mir waren Hinterhäuser, zugesperrte Vorderhaustüren und die Revolution eingefallen, und mir waren etliche Schilder vor Augen gekommen, auf denen gestanden hatte, daß etwas nicht erlaubt ist; ich hatte gesagt, hier scheint einiges erlaubt zu sein, was woanders verboten ist. René hatte mir geholfen und gesagt, nun, in New York zum Beispiel darf man fast nirgends rauchen. Jo hatte abgewinkt und gesagt, versuchen können sie es, einem dies und das zu verbieten, aber es wird hier nicht klappen, und dann hatte er einen Schluck getrunken und zu René gesagt, was will ich auch in New York: nicht trinken, nicht rauchen und den Frauen nicht mehr auf die Beine gucken, das machen sie nicht mit mir.« Und richtig. Außerhalb der Literatur ist es mir persönlich mehrfach untergekommen. So wies mich Madame Reverchon in einem Gespräch über südfranzösische Gepflogenheiten darauf hin, daß es in Marseille erst gar keine Papierkörbe gebe. Es würde sie ja doch niemand benutzen. Die etwa fünfzigjährige, sehr gepflegte bürgerliche Dame setzte dann noch ein d’accord, ein entendu drauf – geht in Ordnung. Da haben die Menschen Arbeit, und der Dreck kommt zweimal täglich wieder von der Straße. Verbote? »Die Kinder wollten keine Pfefferminzlimonade, sondern Coca-Cola, und ich fragte die Eltern, ob sie Coca-Cola haben dürften, weil ich gewohnt war, daß Kinder keine Coca-Cola haben dürfen. Die Eltern schauten mich erstaunt an und sagten sehr verständnislos, warum nicht. Ich sagte, kann sein, wir müssen noch einiges lernen, wie es hier ist.«
Ja, es fällt mir nicht schwer, es an mir selbst zu beobachten. Kaum habe ich die Grenze im Nordosten überfahren und mich in dieser aberwitzigen Verbesserung Mitteleuropas – dieser nach jahrelanger Beobachtung des Straßen-verkehrs der Überfahrung der aus Frankreich in die Bundesrepublik Deutschland führenden Kreisstraße, dieser in monatelanger, mehrpersoniger Beratung aus dem Ruder gelaufenen und wider jede Klarsicht dennoch vor die Köpfe der immerzu kerzengeradeausgerichteten Verkehrsteilnehmer gesetzten neuerlichen Umordnung zur Schaffung der Neuordnung einer Ordnung – wieder einigermaßen zurechtgefunden, wobei es, wohl wegen der kleinen grenzverkehrenden deutsch-französischen Freundschaft im Elsaß bereits beginnt, sehr deutsche Formen anzunehmen –, schaltet das Denkgetriebe auf Automatik. Es ist darauf zu achten, die durchzogene Linie nicht mehr zu berühren, nie zu vergessen, den Blinker zu setzen, nicht bei Rot die Straße zu betreten, sich an der Volkszählung zu beteiligen. Das geht bei uns soweit, daß viele Menschen sogar vor Banken in Furcht erzittern, weil sie sie für eine Behörde halten. Und die Bankbeamten der Kreditinstitute führen sich auch dementsprechend auf. Ich blicke auf die hinab, die sich diesem Kadavergehorsam unterwerfen, diesem Bild, das Naziza so treffend herangeholt hat. Aber ein bißchen dieser Mumienanbetungsmentalität trage ich schon in mir. Und das, obwohl mein Vater eher das Gegenteil zu vermitteln versuchte. Aber die autoritätshörige Mutter hatte ja die Befehlsgewalt über das gefälligst erwachsen zu werdende Kind. Schon alleine deshalb liebe ich die Franzosen, weil sie sich nicht weiter mit der Nichtigkeit irgendwelcher Erlasse aufhalten.
Bei ihnen hat der Begriff seine Heimat, vor denen wir Deutschen so gerne die Augen verdrehen – die einen vor Glück, weil sie dabei das bequeme Denkschema im Erinnerungskopf haben, alles fallenlassen zu dürfen, auch die Scheiße in den Windeln der Gören. Und die wiederum, die damit so schlimm durchgefallen sind, daß sie ihre Alten dafür heute am liebsten mit dem Gegenteil dessen provozieren, was die damals für laisser-faire oder laisser-aller hielten: immer sauber frisiert, am besten auch das Auto, und bloß nicht anecken, schon gar nicht mit dem Auto. Daß dieses französische, vor allem im Süden beheimatete Sein- oder Gehenlassen sozusagen aus dem Substantiellen herrührt, nämlich den anderen in seinem Sein nicht zu behindern, also dem Nachbarn auch nicht meine ganz persönliche Interpretation von Freiheit zu oktroyieren, wird bis heute auch als Mißverständnis nicht anerkannt. Mein Handeln gehört mir.
Nun gut, es sind auch in Frankreich lediglich die kleinen, die inneren Freiheiten. Denn unterm Strich erhalten sie dort genauso ihre Befehle von der Obrigkeit, ihre Strafmandate, ihre Steuerscheußlichkeiten. Und noch rigider als bei uns. Und vor ein paar Jahren haben sie den TÜV eingeführt. Die deutsche Dekra hat die Schulung übernommen, man sieht’s auf allen Straßen. Die Franzosen haben begonnen, Golf und Mercedes in ihr Herz zu schließen, auch wenn zuhause die schöneren Autos gebaut werden. Gut, der Golf wurde schon immer ganz gerne von denen chauffiert, die in der klassenlosen Gesellschaft meinten, mit deutscher Qualitätsunauffälligkeit auffallen zu müssen. Aber Mercedes! Wer 1990 mit seinem etwas größer dimensionierten Stuttgarter Gefährt tatsächlich einen Ausfall hatte, mußte, je nach Pannenlage, auf Hilfe aus Lille, Paris, Bordeaux, Lyon oder Marseille warten. Zehn Jahre später verdichtet sich während einer Reise durch das Land von Citroën, Peugeot oder Renault zunehmend der Eindruck, Frankreich befände sich schon wieder einmal kurz vor der feindlichen Übernahme aus dem Osten.
In Erstaunen kann einen die französische Vollbremsung versetzen, wenn ein Flic oder einer von der Police National auch nur den Finger ausstreckt, um sich an der Nase zu kratzen. Dafür fährt man bei uns bei einer Verkehrskontrolle Panzerwagen auf und hängt den Polizisten Handgranatengürtel um. Das stammt aus der Zeit, als sechzig Millionen Deutsche die sechs restlichen um Baader-Meinhoff jagten. Wenn man es schon mal eingeführt hat? Wie andere Gesetze, die den Notstand im Zaum halten sollen.
Entscheidend ist die immer spürbare Sicherheit der Franzosen, die Bastille jederzeit wieder stürmen, das Fallbeil aus dem Keller der Geschichte holen, den politisch degenerierten Adel wieder enthaupten zu können. Wenn sie dabei allerdings manchmal auch ein bißchen das eigentliche Ziel verfehlen. Und sicher hat Tucholsky nicht ganz Unrecht, wenn er schreibt, viele wüßten gar nicht mehr, aus welchen Gründen sie am 14. Juli auf den Straßen tanzten. Es dürfte sich noch mehr verflüchtigt haben als vor rund fünfundsiebzig Jahren, als er das notierte. Doch ich spüre es immer – die Ereignisse haben einen festen Platz in ihren Köpfen, wenn auch ein wenig vergraben. Na ja, vielleicht parkt der revolutionäre Geist ja überwiegend in der Seele, in der Illusion. Aber er ist allgegenwärtig. Und durchaus auch wegen dieser Vorstellungsmöglichkeit des Anarchischen wäre ich so gerne einer von ihnen. Möglicherweise bin ich – wenn das überhaupt alles so stimmt und es sich nicht doch als deftiger Schwank herausstellen sollte – dieses Passes aber gar nicht würdig.
Ganz leicht tippt es an meine Schulter, eine Hand wischt vor meinem Gesicht hin und her wie der R-4-Scheibenwischer aus Jacques Tatis filmischem Geniestreich Trafic. Ich sehe mitten hinein in eine Art Heilige Johanna. Das kann nicht sein. Denn die war, kann man der Geschichtsschreibung glauben, rotblond.
»Ohé! Vous là-bas. Ohé! du bateau! Ist der Capitaine von meinem Herzen schon wieder auf großer Fahrt mit seinem Floß im Mer méditerranée untergegangen?«
»Ahoi zurück, meine Steuerfrau. Nur einmal überläßt Du mir kurz das Ruder, und schon befinde ich mich mittendrin in der Fata Morgana France. Wo bin ich? Immer noch im Paradies ohne Grenzen?«
Es ertönt wieder das höheroktavige Lachen. Ich unterliege der Kraft einer Stahlfeder und befinde mich in wohliger Unterwürfigkeit. Ich denke nicht mehr daran, mich noch vor kurzem in einem völlig desolaten Zustand befunden zu haben. Ich schaue meine Heilige Jungfrau in Schwarz an.
»Sprich, bin ich in France? Bin ich Franzose und mit einer fée morgane verheiratet? Mit einem Trugbild?«
»Kann ein trompe-l’œil hungrig sein? Du Bâtarde, Du Mélange von eine Boche und Sibérien mit französische Nationalité, gepaart mit eine Africaine du nord de l’Asie. Du Franzose aus Kitsch. Du bist nicht im Paradis. Mais non. Das Paradis ist gerade zu Besuch in Allemagne.«
»Ich bin ein Kitsch-Franzose? Du meinst, ich sehe die Scheiße nicht?«
»Bin ich Scheiße? Peut-être que oui.«
»Oh! Merde. Naziza. Du redest dummes Zeug.«
»Ich habe von Dir gelernt.«
»So langsam glaube ich das.«
»Du glaubst nicht!? Quand-même!«
»Naziza. Ich will damit sagen, daß das bißchen, das Du von mir gelernt haben kannst, dummes Zeug ist.«
»Das sage ich doch.« Es gab Zeiten, in denen ich das letzte Wort führte.
»Jetzt sagst Du mir, daß ich in die Préfecture anrufen soll. Und außerdem will ich etwas essen. Wenn Du etwas hast.«
»Ich bin ein guter Franzose. Ich habe immer etwas im Gefrierschrank.«
»Das ist gut. Doch Du lenkst ab. Soll ich?«
»Ich glaube, es ist Dimanche. Ich weiß das, weil ich am liebsten samstags mit der Bahn fahre, weil sie am Nachmittag immer so schön leer ist. Die Deutschen liegen dann bei Maman in der Badewanne und anschließend vor der Sportschau.«
»Dann wirst Du keine Änderung haben, wenn Du in die Heimat wechselst. – Ist es richtig? Heute ist ein Sonntag?«
»Ich vermute es stark. Aber Du kannst morgen anrufen, wenn Du möchtest.«
»Ich möchte das. Aber ich möchte das nur mit Deine Zustimmung. Ich möchte nichts ohne Dich tun.«
»Nun gut. Wenn's der Wahrheitsfindung dient.«
»Ich verstehe nicht!«
Es klang schon wieder bedrohlich. Deshalb schickte ich sofort eine Erklärung hinterher.
»Es ist eine Floskel – une phrase. Man sagt das so im Deutschen. Ich bin zwar Franzose, wie Du mir andauernd versicherst ...« Schnell unterbrach ich mich selbst bei meiner neuerlichen Entgleisung. »Ich kann nicht französisch denken. Und es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich französisch träumen kann. Wenn ich auch einen französischen Traum habe.«
»Ich bin Dein Traum?«
»Oui. Du bist.«
Wieder werde ich mit sanfter Gewalt bedeckt. Dieses Mal ist es schwarze Johannisbeere – Cassis, ich muß beginnen, französisch zu denken. Crème de Cassis ist es, der über mich kommt, langsam überspült von dem weißen Bordeaux, den hier keiner trinken würde, ihn aber auch nicht zu kaufen bekäme, weil die Winzer ihn lieber selber schlucken. Diese Bordeaux sind so trocken, daß sie, wie ich gerne zum besten gebe, kurz davor sind, zu stauben. Erst nach dem zweiten, besser: dritten Schluck kommt dieser Geschmack des absolut Reinen. Es gibt sie hier auch. In der Pfalz habe ich mal bei einem Winzer welchen getrunken. Er sagte mir, solche Weine seien gar nicht verkaufbar. Man könne sie nicht lange lagern. Den meisten seien sie auch zu sauer. Und diese eher eindimensionale Charakterisierung trifft eben nicht zu – ich liege unter einem sich auf mir zum Bouches du Rhône ausbreitenden heiteren Quell aus feinsten, sorgsam dosierten edelherben Früchten.
»Chéri. Liebe macht nicht genug. Oder macht Hunger. Ich will ein Café!«
»Der geht mir nie aus. Aber Du wirst leider italienischen trinken müssen. Denn den können eure Nachbarn im Osten nunmal besser rösten.«
»Nos.«
»Wie bitte? Ich verstehe nicht.«
»Nos. Unsere Nachbaren. Deine. Italie – le voisin de Didier Aubertin. Von dort kauft er wunderbaren schwarzen Café für seine schwarze Frau. Bien. Mais, die Italien haben die Culture de café von uns.«
Kurz überlege ich, ob ich widersprechen soll. Doch da mir einfällt, daß sie wohl recht hat, lasse ich es sein. Ich erhebe mich flugs, merke aber, daß ich mich nicht so schnell bewegen sollte. Schnell fährt die Erinnerung an damals in mich hinein, als ich monatelang Probleme hatte mit dem Kreislauf, als ich zusätzliche Medikamente einnehmen mußte gegen diese Symptome parkinsonscher Art. Wie nach einem Schlaganfall, dozierte der erfahrene Künstler, der meine bewegte rechte Hand gesehen hatte. Hoffentlich wiederholt sich das nicht alles! Vielleicht sollte ich besser doch zum Arzt gehen? Naziza bemerkt meine Schwierigkeiten und macht ein besorgtes Gesicht.
»Soll ich nicht besser – Café machen?«
»Laß uns gemeinsame Sache machen. Ein gutes Ehepaar macht alles gemeinsam. In erster Linie Café. Komm, hilf dem Wrack aufs Trockendock.«
»Non. Wir sind Marseillais. Wir gehen in die Dock flottant. Komme, ma vieille épave, wir schwimmen in die Restauration.«
Sie ist dieses Mal eher semi-professionell. Ich bin aber auch nicht ganz so wacklig wie vor ein paar Stunden. Der behütete Schlaf hat mich eher, nein, mehr gestärkt, als es die Hilfe der Pharmazie vermocht hätte. Wir landen in der Küche, wo die Reste der jüngsten Schlacht herumliegen. Es stört keinen von uns beiden. Sehr angenehm ist das. Wir schieben zur Seite, was zur Seite zu schieben ist.
»Pour le moment un express – ah, italien, Espresso?«
Ich frage nicht weiter und hantiere wie gewohnt an meiner großartigen Espresso-Maschine für hundert Mark. Das einzige, worauf man achten muß, sind die einwandfreien Filtertrommeln. Viele sind defekt, haben nicht sichtbare Haarrisse. Dann fällt der Espresso zusammen, er hat keine Crèma. Ich kaufe von Zeit zu Zeit fünf dieser Kunststofftrommeln und probiere sie alle durch. Zwei sind meistens dabei, die in Ordnung sind. Die hüte ich sorgsam, vermeide, sie irgendwo anzustoßen, geschweige denn, sie hinunterfallen zu lassen. Dann sind sie unbrauchbar. Ich habe viel Übung, denn Café schütte ich in Unmengen in mich hinein. Vermutlich ist es eine Substitution für nicht eingenommenen Alkohol. Alle sagen, ich solle das nicht tun. Doch ich habe damit keine Probleme, so, wie ich mit dem Alkohol keine Probleme hatte. Ich reagiere schon lange nicht mehr auf irgendwelche Ratschläge, die meine Gesundheit betreffen. Meine Gesundheit gehört mir. Ich ziehe eine Packung tiefgefrorener Croissants aus dem Gefrierschrank und lege sie mit der dem Kühlschrank entnommenen Butter bereit. Aus dem Schrank hole ich Sauerkirschkonfiture aus der Bourgogne.
»Merde alors! Du bist ein Franzose! Wie ich gesagt – Français modèle! Écoutez tous! Ich rufe Marseille. Nous sommes au complet. Micro-ondes. Brioche. Croissant. Beurre. Confiture. Café. Lait. Monsieur – lait? Pas de lait?!«
Sie reißt den Kühlschrank auf und schaut nach. Ich kann Milch im Café nicht ausstehen. Schon bei dem Gedanken daran wird mir übel. Deshalb sind meine Besucher auch immer wieder übel dran, weil ich nie daran denke. Doch, ein paar dieser Döschen Kondensmilch sind immer vorrätig. Als Ersatz. Aber einem Franzosen wage ich das nicht anzubieten.
»Ich konnte nicht wissen, daß ich überraschend Besuch von meiner langjährigen Gattin bekomme. Ich bitte tiefstbeugend um Vergebung.«
Es rächt sich, wenn man letztlich dann doch dem Folge leistet, was einen eine nicht sozialisationsfähige Mutter gelehrt hatte: Nachbarschaftliche Kontakte sind ein Grundübel. Eigentlich müßte es ein leichtes sein, jemanden nach etwas Milch von der Kuh zu fragen. Ich habe ja mit niemandem im Haus Streit. Doch ich bin von einer fast schon krank zu nennenden Kontaktschwäche, die sich lediglich im Berufsleben nicht zeigt, also keine schlimmeren finanziellen Ausfallerscheinungen herbeiführt. Ich bin ratlos.
»Naziza. Was machen wir? Die Kuh hat auch Sonntag.«
»Ich verstehe nicht. Man kann nicht kaufen!?«
»Nein, man kann nicht. Wir befinden uns unglücklicherweise auf dem Terrain der Bundesrpublik Deutschland. Hier gibt es nur Brötchen in der Bäckerei. Dort gibt es auch Milch, mais seul homogénéise.«
Sie verzieht angewidert das Gesicht. Sie hat nicht nur mein Mitgefühl, sondern darüber hinaus auch mein volles Verständnis. Denn ich mag Milch durchaus. Nur eben nicht im Café. Aber homogenisierte Milch ist etwas, mit dem man mich foltern könnte. Deshalb verstehe ich auch nicht, wie Menschen das palettenweise aus den Supermärkten tragen. Doch mein Sinnieren über die Eßgewohnheiten der deutschen – und französischen! – Menschheit kühlt meinem geliebten Besuch den Café nach dem Espresso auch nicht. Und aus dem Haus gehen mag ich ohnehin nicht. Außerdem gib es hier weit und breit kein Café, wo man Café au lait bekäme.
»Les voisins?« fragt sie.
»Ich kenne niemanden«, lüge ich ein wenig.
»Pardon? Wieviele hundert Jahre wohnst Du hier?«
»Es stimmt. Ich habe alle überlebt. Die Alten sind alle weg. Tot oder im Abschiebeheim. Es sind fast nur noch junge Menschen im Haus. Mittlerweile sogar ganz junge.«
»Mon Dieu! Pour l’amour de Dieu! Ich habe einen wunderbaren Mann. Wo es gibt sehr junge Menschen, es gibt ein Kuh. Ich mache das.«
Und schon ist sie entschwunden. Es ist mir hochnotpeinlich. Es kann nicht gut sein, daß eine solche Frau einen solchen Mann geheiratet hat. Andererseits hatte ich dieses manische Abschottungsstreben nicht immer. Nach dem ersten Klinikaufenthalt kamen die ersten Anzeichen, und es multiplizierte sich zusehends. Es war offensichtlich, es waren die Gene der Mutter, die mich in die Isolation trieben. Was soll es sonst sein, das einen an sich sehr geselligen Menschen in die hinterste Ecke einer Daseinshöhle treibt?
Ich höre durch die offenstehende Wohnungstür eine lebhaft phrasierende, mir bekannte Stimme. Sie singt ein Lied vom ungezwungenen Miteinander. Ich höre Wörter und Satzfetzen wie: Vergeßlicher Mann. Hauptsache, sie haben was zu trinken. Frauen müssen immer mitdenken. Ach? Nachbarin?
Es ist offensichtlich die junge, äußerst sympathische junge Frau des nicht minder angenehmen jungen Mannes. Die beiden direkten Nachbarn haben kürzlich ein niedliches Etwas in die Welt hinausgelassen. Meine Schande ist selbstquälerisch und treibt mich. Sie will sich selber hören. Ich schleiche zur Tür, in gebührendem Abstand. Ich lausche.
»Das ist aber nett, daß ich Sie kennenlerne. Ich habe Sie ja noch nie gesehen.«
»Er zeigt mich nicht vor. Er ist ein typisch Araber. Die Frau muß immer hinten gehen.«
»Ihr Mann ist Araber?! Das erstaunt mich aber. Sind Sie neu, ich meine neue Nachbarn, und ich verwechsle Sie?«
»Non non. Sicher nicht. Er sieht ein bißchen nicht so aus wie eine normaler Araber. Doch es gibt auch blaue Augen bei uns! Wir haben ihnen einmal eine Zeit ein Nest geboten. Vor eintausendsechshundert Jahre. Doch meine Mann hat seine blaue Augen trotzdem behalten dürfen. Wir sind sehr tolerant. Doch er ist der schlimmste, den es gibt in der ganzen arabischen Welt.« Sie lacht ihren Glockengesang. »Allez, chéri! Komme nach hier! Ich habe Dich gesehen.«
Wieder einmal in meinem Leben habe ich mich zu weit vorgewagt.
»Ich habe nichts an, Naziza.« Ihr Lachen wird schamlos.
»Sie hat ein kleines Kind. Also weiß sie, wie eine nackte Mann aussieht. Allez, les bleus.«
Ich gehe gramgebeugt ins Badezimmer, ziehe mir den Bademantel über und schleiche beunruhigt in Richtung Wohnungstür. Ich bleibe im Türrahmen stehen.
»Ah! C'est assez! Viens ici!«
Ich bewege mich zögernd vorwärts. Auf Distanz bleibe ich stehen, lächle aber.
»Hier ist er. Er hat seinem Kind keine Milch gekauft.«
Nun tauchen auch die zwei Meter des netten Nachbarn hinter den etwa einsfünfundsiebzig seiner immer freundlichen Frau auf. Nun muß ich wohl doch ein bißchen näher herangehen. Ich bin ja kein unhöflicher Mensch. Er schaut ein wenig ungläubig.
»So kenne ich Sie ja gar nicht.«
Er spielt damit wohl darauf an, daß ich immer irgendwie ein flottes Sprüchlein zum besten gebe, wenn wir uns sehen, im Flur oder auch im Fahrstuhl. Und immer entspinnt sich daraus ein nettes, nicht ganz unintelligentes Geplänkel. Doch es dauert immer nur die kurze Fahrt bis zum Erdgeschoß oder in die Tiefgarage, wenn sie mit dem Kinderwagen unterwegs ist. Naziza rettet mich, indem sie kurzerhand das Wort an sich reißt.
»Nun, er wußte nicht, daß seine Frau ihn kontrollieren kommt. Sonst hätte er Milch für sie gekauft. Und ich habe gedacht, wo ein Kinderwagen steht, ist auch eine Kuhbrust. Es stimmt?«
Die freundlichen Nachbarn lachen herzlich und herzhaft und sind sichtlich erfreut über die Unterbrechung des tristen sonntäglichen Alltags.
»Ich brauche nur ein wenig für den Café. Er braucht das nicht. Er hat mich.«
Ich mag solche vulgären Anzüglichkeiten überhaupt nicht und verfinstere mein Gesicht. »Naziza!«
»Ah, chéri. Laisse tomber!« – Augenblicklich steht sie vor mir und knallt mir einen dieser wohlschmeckenden Küsse mit halbgeöffnetem Mund auf die Lippen. Er ist so etwas wie ein Beruhigungsmittel. Sofort löst er alle Anspannung in mir, die aus dieser Situation entstanden ist. Inzwischen ist er wieder zurückgekommen und hat auf dem einen Arm den Kleinen und in der Hand des anderen Arms eine Tüte mit Frischmilch.
»Ah! Mon petit chéri. Oder ist es ein Mädchen?«
»Max«, sage ich einigermaßen fest. Und in Richtung der drei: »So ist es doch, wenn ich mich recht erinnere?«
Die beiden schütteln freudig-freundlich den Kopf. »Raffael. Mit zwei F. Aber Max stimmt auch ein bißchen. Maximilian. Mit zweitem Namen.«
Naziza greift nach der Milchtüte.
»Darf ich mir etwas für meine Café nehmen?«
»Sie können die ganze nehmen«, sagt er. »Es gibt genug. Er säuft so viel.«
»Wie er«, kichert Naziza, auf mich zeigend. »Nur immer Café. Ohne Milch. Aber jetzt ist das vorbei. Jetzt muß er jeden Tag Milch kaufen für seine Frau.«
Sie bekommt fragende Augen. »Ach, das ist aber schön. Sie bleiben jetzt hier?«
Ich will antworten, merke aber, daß ich aus diesem Gespräch völlig draußen bin. Eigentlich bleibe ich nur stehen, um mich nicht allzu lächerlich zu machen. Wenn ich mir auch so vorkomme. Meine Gattin hat alles fest im Griff.
»Non. Ich bin gekommen, um ihn abzuholen. Er muß endlich nach Hause zu seiner Frau, zu seine Familie. Ein Mann gehört zu seiner Famille.«
»Schade«, kommt es aus der netten Nachbarin. »Wo ist denn ihr Zuhause? Wenn ich fragen darf.«
»Allem Anschein nach in Frankreich«, fügt er an. Ich nicke. Mehr kriege ich nicht heraus.
»In die schönste Stadt der Welt«, gibt Naziza geradezu euphorisch zum besten und drückt dabei die Milchtüte an ihre Brust, als ob’s von der Sorte wäre, die auf Papas Arm herumwackelt. »Marseille.«
»Jetzt bin ich aber platt«, sagt sie zu mir hin, »das hätte ich von Ihnen aber nicht gedacht.«
Nun ist es an mir, zu lachen. »Ist es schlimm, in der ärgsten Verbrecherstadt des deutschen Kinos der fünfziger Jahre zu leben?«
Sie bemerkt ihren Versprecher und lächelt leicht verlegen. »So hatte ich das nicht gemeint. Ich meine ja nur – das ist so weit weg. Und ich kenne es nur vom Hörensagen. Ist es schön dort?«
Wieder reißt Naziza das Wort an sich. »Wo gibt es das, daß ein Mann mitten in eine Stadt sich in seine Barque setzen kann und hinüberschwimmen in seine Calanque, um Fische zu ermorden?«
Ich erinnere mich, daß der Vormieter der beiden mir erzählt hat, daß sie in der Gastronomie, wenn ich mich recht erinnere, sogar in der Hotellerie tätig ist. Demnach versteht vermutlich zumindest sie französisch. Und er? Entweder ebenfalls, oder er fragt nicht weiter. Wahrscheinlich haben sie sich bei der Arbeit kennengelernt. Denn aufgetaucht ist er im Haus erst vor kurzer Zeit. Doch das sind Mutmaßungen meinerseits. Es kann auch sein. daß er schon seit Monaten hier wohnt und ich es nur nicht wahrgenommen habe.
Er bekommt träumerische und sie verklärte Augen. »Ich war mal dort. Nur kurz. Bei 'nem Workshop im Medienzentrum. Aber ich hab's mitgekriegt: Es ist wirklich schön. Ich glaub, da kann man gut leben.«
»Pardon«, strebt Naziza dem Ende der nachbarschaftlichen Plauderei entgegen, »dürfen wir Sie verlassen und zum Café gehen? Ich komme sonst um. Und wenn ich sterbe«, sie deutet mit dem Kopf zu mir hin, »dann er auch. Das wollen Sie sicher nicht.«
»Selbstverständlich nicht«, antwortet er, seine Frau liebevoll aus der Tür ziehend.
Sie verabschieden sich, und sie ruft Naziza noch zu, sie möge doch noch einmal klingeln, bevor wir abführen.
Ich nehme mir das Recht heraus, sie mit sanftem Arm über beide Schultern über den lichtdurchfluteten Hausflur abzuführen. Kurz blitzt es mir in den Kopf, daß es doch wirklich keine Besonderheit ist, sich bei Nachbarn mal etwas Milch auszuleihen. Wir gehen direkt in die Küche. Der Café ist durchgelaufen. Auch für die Café-Maschine nehme ich den italienischen. Lange habe ich gebraucht, den richtigen zu finden. Und wenn ich mal irgendwo angelangt bin, ist es äußerst schwierig, mich von anderem zu überzeugen. So bin ich ein absolut treuer Mensch, zumindest Genußmitteln gegenüber. Fast unangenehm ist es mir nun, als guter Franzose keine Caféschale im Schrank zu haben. Es ist klar, denn ich trinke nunmal keinen Milchcafé. Ich benötige eben meine Energie, an mich und nur an mich zu denken. Etwas ratlos stehe ich vor dem geöffneten Schrank und tue so, als würde ich etwas suchen.
»Qu’est-ce qu’il y a?«
»Nichts ist los. Ich habe keine coupe à café.«
»Bof! Ich trinke auch aus eine Eimer. Hauptsache ist Café. Mit Milch. Du bist ja ein Poule mouillée, keine Kuh. Du gibst mir keine.«
Dafür, daß ich auch ansonsten nicht sonderlich viel hergebe, sinniere ich so vor mich hin, scheint mich auf die alten Tage das Glück wenigstens noch zu streifen. Ganz geheuer ist mir das alles nicht. Zu viele Ungereimtheiten liegen da vor. Und mich den Drehbuchautoren Münchhausen und Homer so einfach zu unterwerfen, widerstrebt meinem Charakter sehr. Aber zu dem tiefen Mißtrauen haben schon auch ein paar andere beigetragen. Problemlos ist es vor allem Männern gelungen, einen einstmals fast – eben – zu gutgläubigen Menschen in einen mittlerweile aber auch alles abwägenden zu verwandeln. Was auszugleichen, war, erledigte die weibliche Seele, und an Psyche war es nun offenbar wieder einmal, die Ursuppe Gutgläubigkeit zum Köcheln zu bringen. Aus der ohne jeden Zweifel vorhandenen Amnese werden immer mehr Erinnerungsflocken nach oben gedrückt. So scheint es eine Tatsache, daß ich irgendwann auf diese caféschlürfende, leicht bettverknuddelde Elfe neben mir gestoßen bin. Vermutlich ist es die Königstochter persönlich. Dieses Bild ist kaum mehr umzumalen.
»Naziza. Hilf meinem Sieb im Kopf bitte mal, die Löcher etwas zu verkleinern. Ich erinnere mich an eine freudige Überraschung, als ich auf meine Anfrage an das Office de Tourisme nicht nur eine Antwort bekam in nahezu fehlerfreiem Deutsch, sondern auch noch, daß diese Korrespondenz persönlicher wurde. Was war denn der Grund für diese Öffnung einer Behördendame?«
»Es ist nicht oft, daß ein Boche schön an ein Office de Tourisme schreibt. Non. Non uniquement la lettre. Mais encore – Du hast so euphorisch geschrieben über la Fiesta des Suds, über die schönen Menschen, die dort gemacht haben so schöne Musik. Du hast mir geschrieben, daß Hegel Dir auch dabei eingefallen wäre – oder gerade dabei. Es soll die Musik die Seele erheben – und Deine geschriebene Musik hat meine Seele erhoben –, soll Musik die Seele erheben und so eine Region ihr bilden, wo die Zurücknahme aus ihrem Versenktsein, das reine Empfinden ihrer selbst ungehindert statthalten kann. Du hast überhaupt nicht eine Form behalten. Es hätte ja auch Le Pen oder Chirac antworten können. Es war Dir égal. Das hat mir gut gefallen. Da habe ich gedacht, es muß doch Menschen geben im Norden von Lyon. Und so habe ich sehr schnell diese Gelegenheit genutzt und ihn geheiratet.«
Sie grinst mich an. Es schmeichelt mir das alles zwar ungemein. Aber es geht mir zu schnell. Ich benötige Nachrüstmaterial.
»Aber vorher war ja noch etwas. Wir haben doch keine Fernheirat vollzogen.«
»Non. Wir haben doch darüber gesprochen. Am Quai du Port, Mairie, Monsieur.«
»Ja, Naziza. Langsam. Ich weiß ja – ich habe dann die öffentliche Person besichtigt. Und habe ich Dir dann sofort einen Heiratsantrag gemacht?«
»Gespielt hast Du damit schon in die courrier éléctronique. Doch es ist ein Spiel. Man weiß es. Der richtige Angebot kam dann aber schnell.«
»Angebot?«
»Einen menschliche Boche zu heiraten.«
»Offensichtlich hast Du ja gesagt.«
»Ich wollte Dich aus dem Verkehr ziehen. Nur, daß Du nicht verletzt wirst. Non. Daß niemand andere Dich kriegt. Ich bin eine schlimme Egoïste. Ah, Didier. Wir waren ganz schnell ein Couple d’amoureux!«
»Die Vorstellung fällt mir nicht schwer, wenn ich Dich so anschaue.«
»Du sagst es schön. Mais l’amour rend aveugle.«
»Im Deutschen sagt man: Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. Und ein Huhn, das hast Du mehrfach gesagt, bin ich ja.«
»Willst Du damit sagen, daß Du mich – auch – aus Angst geheiratet hast?!«
»Das kann schon sein. Vermutlich aus Angst, ein anderer könnte Dich mir wegschnappen. – Aber ein bißchen erstaunt bin ich schon über meine Furchtlosigkeit, mich in die Fänge eines solchen Monsters begeben zu haben.«
Sie haut mir zärtlich eine runter.
»Wie geht es weiter? Wie machen wir weiter. Wie finde ich mich. Uns haben wir ja schon gefunden? Wollen wir nach Marseille fahren. Ich glaube, ich würde das sehr gerne tun.«
»Mon amour. Ich muß sowieso fahren. Und ohne Dich ich fahre nicht. Also fahren wir. Basta.«
»Was heißt, Du mußt sowieso fahren? Weil der Briefkasten überfüllt ist von den vielen Liebesbriefen?«
Nun tritt sie mich in den Hintern. Etwas heftiger.
»Ich habe nur eine Woche Urlaub. Wenn ich nicht zurückgehe, werfen sie mich weg.«
»Dann kaufen wir uns eine cabane de pêcheur. Oder ziehen aufs Château.«
»Und verkaufen Coca Cola?«
»Ein Tabac wäre mir zwar lieber. Aber warum nicht?«
»Du bist nicht Mitglied von Front National. Nur diese kriegen eine Débit de tabac dans Marseille. – Ernst, Didier. Ich muß zurück. Es gibt nicht viel Arbeit bei uns.«
»Bei Deinen Fähigkeiten?«
»Ich bin surqualifiée. Es ist schon genug schlimm, wenn man immer weiß mehr als ein Chef. Doch ich bin froh, diese Arbeit zu haben.«
»Immer noch Office de Tourisme?«
»Mais oui! Ich sage doch, es gibt nicht viel Arbeit. Manchmal mache ich noch Job, ich helfe ...« – sie geht gespielt in Deckung – »in Mercure. Im Gefängnis. Dort bin ich auch auf die Frau gekommen, die mir gesagt hat, daß Du wohnst immer noch an diese Adresse.«
Ich bin nun sehr verblüfft. Wer mag das wohl gewesen sein? Ich kenne nicht viele Menschen, die nach Marseille fahren. Hier fährt alles nach Italien. Weil dort die Menschen so freundlich sind und alle Franzosen arrogant und borniert. Es muß wohl jemand aus Frankreich gewesen sein. Der Kreis zieht sich enger. Da tun sich enorme Vermutungen auf. Es kann sich nur um Paris handeln. Es fahren ja mittlerweile viele Pariser nach Marseille. Der TGV benötigt ja nur noch drei Stunden. Man ist schneller am Mittelmeer als an der Seine-Mündung, in Le Havre oder Deauville oder sonstwo, wo das Häuschen steht, weil freitags die Autos von Paris bis Rouen stehen.
»Du sagst mir nicht, wer das war?«
»Ah. C'est pareil. Es war eine Frau, sie kennt Dich. Sie hat gut gesprochen von Dir. Sehr gut. So gut, daß ich wütend geworden bin. Doch sie hat geholfen. Sie hat gesagt, sie will das nicht, das Schlimme. Vielleicht sage ich es Dir. Später.«
»Also gut. Es soll mir recht sein. – Also, was machen wir, wie machen wir’s? Wann mußt du zurück sein?
»Am besten sofort. Du und ich.«
»Das wird schlecht gehen.«
»Pourquoi pas? Mußt Du arbeiten?«
»Das auch. Aber es wäre mir egal. Ich habe in letzter Zeit soviel liegenlassen. Da käme es darauf nun wirklich nicht an. Ich könnte es auch nachholen, das Dringlichste wäre in drei Stunden zu erledigen. Aber ich möchte nicht hetzen. Denn so komme ich nie zu mir. Es ist alles ein bißchen viel.«
»Du kannst zuhause ausruhen. Deine Frau geht arbeiten. Wie das ist bei die Arabes.«
»Mein Zuhause ist ...« Gerade noch rechtzeitig hat sich das Kurzzeitgedächtnis eingeschaltet und mir mitgeteilt, daß ich das wohl besser nicht sagen sollte.
»Dein Zuhause ist jetzt noch in 16, rue de l’Évêché. Vielleicht später in l’Estaque. Ein écrivain mit eine Frau, die arbeitet, kriegt dort eine Wohnung.«
»Ich bin kein Schriftsteller. Ich bin Journalist.«
»Wer solche Briefe schreibt, ist eine écrivain! Und ein philosophe. Und der muß denken. Das geht nur in l’Estaque.«
»Ich will aber nicht denken. Das ist so anstrengend.«
»Dann mußt Du sein eine Ehemann ohne fantaisie. Jedoch dann gehen wir nicht nach l’Estaque. Denn ich lasse mich scheiden. Der Mann von Naziza Al Arfaoui muß denken.«
»Ich dachte, Du heißt Aubertin?«
»Dann nicht mehr.«
»Gut. Genug geplänkelt. Fin de l'escarmouche.«
»Oh! Mon français! Avec la poitrine gonflée d’orgueil ...«
»Stolz? Am Ende gar – Du hast zwar eine schöne Brust. Und immer absolut unfranzösisch brustungepanzert – nein, also ja eigentlich eher zwei. Zwei süße kleine wunderschöne, aber ...«
»Du erinnerst Dich? Es ist ein wenig. Jedoch es ist schön. Du wirst sie nehmen müssen zuhause. Vielleicht zuvor?«
Mit entrückend leichter Zärtlichkeit legt sie mir die Arme um den Hals und drängt sich sanft an mich. Sie riecht leicht nach Malve – nach Moschusmalve? Und sie ist wundervoll derrangiert. Und in mir steigen die Säfte. Und schon ist sie wieder weg.
»Wie fahren wir? Ich habe ein billet d’aller et retour.«
»En train?«
»Non. Es gab einen billigen Flug. Auch deshalb muß ich. Es geht morgen.«
»Nein«, lege ich entschieden Protest ein, »wir lassen ihn verfallen.«
»Oh! Monsieur vieux grigou.«
»Ach, Naziza. Ich bin kein Geldsack. Alt vielleicht, aber kein Geldsack. Und Du weißt das. Aber es ist Unsinn. Wenn ich eine einfache Strecke buche, kostet das genausoviel. Und Du willst ja, daß ich bleibe. Also muß ich einfach buchen.«
Sie lacht herzlich und laut. »Frapper. Mais – wie willst Du ...
»Ich möchte gemütlich ...«
»Aller à pied?«
»So ähnlich. Wie zu Fuß. Ich habe ein entzückendes kleines Gefährt. Und in diesem möchte ich meine Braut ins Heim entführen.«
»Was ist das – Gefährt? Du bist meine Gefährt in mein tour du monde.«
»Ich bin Dein Gefährte, nicht Dein Gefährt. Auch wenn Du mit mir Schlitten fährst. Aber ein Gefährt – es kommt von fahren – ist ein Véhicule. Eine Karre.«
»Deine grosse bagnole nennst Du ein véhicule? Pouah! Ich will nicht damit fahren. Es ist gênant. Dann wir fahren mit der Bahn, mit TGV.«
»Ich habe keinen Mercedes mehr, Geliebte. Ich habe eine Cane.«
»Comment? Du reitest auf eine Ente?«
»Dieses Automobil, das mich reitet, nennt man hier Ente. Es ist ein 2 CV.«
Sie spuckt den Café, von dem sie gerade einen sehr großen Schluck genommen hatte, da er so angenehm abgekühlt war, gerade noch in ihre Hand. Doch diesem Druck hält die Hand nicht stand, und die Finger waren nicht ausreichend dicht aneinandergepreßt. Das mit der Nachbarsmilch versetzte italienische Gebräu verteilt sich gleichmäßig auf dem Geschirrschrank, auf dem Boden, in meinem Gesicht. Und ein Teil davon geht als Schuß zurück in diese vor Lachen laut Schreiende. Sie sieht auch in dieser mißlichen Lage zauberhaft aus. Doch ein Teil des Gemischs ist wohl in die Luftröhre geraten. Sie rennt ins Bad und spuckt und spuckt. Doch das Lachen nimmt kein Ende. Nach einer Weile ist die Luftröhre wieder frei. Sie kommt leicht hüpfend über den Flur in die Küche zurück, nach wie vor kieksend. Sie nimmt den Lappen aus der Spüle und wischt mir damit über das Gesicht.
»Mon petit. Un peu bavé. Hast Du nicht aufgepaßt? Muß Mama Dich saubermachen.«
Der Spüllappen ist zwar nicht sonderlich angenehm. Er riecht nicht eben nach Malve. Doch ich lasse es geschehen, auch weil es schön ist, auf diese Weise gehänselt zu werden. Und sie hört überdies sofort damit auf, als sie merkt, daß ich mich nicht sträube. Ich werde mir das merken für die Zukunft.
»Ich kann es nicht glauben. Du fährst eine 2 CV. Ich glaube es nicht. Du bist ja wirklich eine Kitsch-Franzose. Wo ist Dein béret basque? Du bist wie eine Figur von Jacques Tati. Bist Du Tati? Vielleicht? Ich bin mit Jacques Tati verheiratet? Quel honneur! Je suis folle d’amour. – Warum hast Du das gemacht?«
»Ich wollte nicht mehr. Es war genug. Die dicke Kiste hat mich mehr behindert, als daß es mir noch Spaß gemacht hätte. Zehn Jahre Mercedes war genug. Und außerdem wollte ich nicht mehr autofahren. Bei uns sind die Straßen übervoll. Und ich hatte das Bahnfahren entdeckt. Aber da ich einen fahrbaren Untersatz brauchte, auch für den Urlaub, habe ich diesen genommen.«
»Woher hast Du die 2 CV. Es gibt sie nicht bei uns. Sie sind alle tot.«
»Es stimmt. Hier gibt es mehr als in Frankreich. Doch es gibt hier jemanden, der sie verleiht. Und ich habe einen in Dauermiete. Sie läuft wunderbar. Tour de France. Trois fois.«
»Merde alors! Jedoch immer ohne mich. Und damit sollen wir fahren. Es braucht zwei Jahre bis Marseille.«
»Mon aimée. Dieses wunderschöne, überaus zuverlässige Automobil ist einmal von Narbonne direkt nach München gefahren, in einem Stück.«
»Wann war es?«
»Vor zwei Jahren.«
»Und Du bist gestern angekommen? Logique. Ihr paßt gut zusammen, ihr beide. Doch ich vielleicht auch. – Willst Du das wirklich machen. Bien. Pourquoi pas? Es macht mir nichts. Aber wirklich in eine Fahrt?«
»Nein. Erstmal: Wann mußt Du zurück sein? Wann mußt Du wieder arbeiten? – Komm, laß uns an den Tisch setzen.«
»Erst nächste Montag. Es geht. Aber ich muß noch viel machen – erledigen. Ich muß in die préfecture ...«
»Das machen wir zusammen ...«
»Wir machen das?! Mais oui!«
»Ich glaube, wir werden viel machen. Aber Du wirst vor allem Geduld mit mir haben müssen. – Aber vorher muß ich hier noch einiges erledigen. Denn wenn ich wegfahre, offenbar länger ...«
»Ich muß das auch ...«
»Wie? Du. Hier? Kennst Du denn jemanden hier?«
»Mais oui. Ich muß Dank sagen für Hilfe ...«
»Wie bitte? – Ich ahne, mir schwant. Für das entrée. Bei Isaac.«
Sie nickt mit leicht betretener Miene. »Du darfst nicht böse sein darüber. Es war wunderbar. Es ist wunderbar. Sie ist admirable. Sie hat geholfen. Alle haben geholfen. Ich bin voll mit émotion. Es gibt neben Dir noch Menschen im Norden von Lyon.«
»Meine ganzen Pariser Weiber also. Ist es richtig?«
»Ich glaube, es sind Deine Pariser Weiber. Es sind alle Marianne.«
»Mein Gott. Es stimmt also doch. Und ich habe gedacht, sie würden ein übles Spiel spielen mit mir.«
»Alle haben gesagt, es geht nur so. Alle haben gesagt, sie kennen Dich. Du bist, ich weiß es nicht mehr auf deutsch, wie sie das gesagt hat – une bourrique.«
»Ein Esel? Ach, ich weiß – starrköpfig. Wir sagen: Stur wie ein Bock. Das kann nur eine gesagt haben.«
»Oui. Es war ...«
»Isaac. Klar. Wer auch sonst?!«
»Aber alle haben gelacht und es confirmiert.«
»Scheißweiber. Du warst also in Paris? Ihr habt euch dort getroffen und habt das ausgeheckt.«
»Oui. Es war, nachdem ich Anne in Marseille getroffen habe. Sie hat dort ein écrivain et musicien getroffen. Wir sind – ich war im Mercure Bourse an die réception – in ein freundliches Gespräch gekommen und haben uns am nächsten Tag getroffen zum café trinken am Vieux Port. Wir haben über Marseille gesprochen. Sie hat erzählt von eine Mann, der ist völlig verrückt mit Marseille. Er würde immer im Gespräch darauf kommen. Und er würde immer von den Frauen sprechen – un exalté. Es wäre terrible mit ihm. Dabei sehen die Frauen hier alle etwas aus wie à droite et à gauche, hat sie gesagt.«
»Womit sie recht hat. Das hat mich auch schon oft gewundert. Selbst die bürgerlichsten Damen haben in Marseille etwas Nuttiges an sich. Alle irgendwie seltsam aufgetakelt. Komisch.«
»Sehe ich so aus? Doch ich bin auch keine bürgerliche Dame. – Ich habe auch Anne sehr angeschaut. Sie hat lachen müssen. – Und immer irgendwie von eine Frau würde er sprechen. Dann hat sie mich angeschaut, hat ein wenig fremd geblickt und hat gesagt: Du könntest diese Frau sein, von der immer phantasiert. Es hat mich ein wenig elektrisiert. Ich habe Angst bekommen ...«
»Du und Angst?«
»Espèce d’idiot! – Ich habe Ahnung bekommen und sie gefragt, ganz vorsichtig, ob er ist eine ...«
»Boche?«
»Mais oui! Und sie hat gesagt ja. Es war terrible. Ich habe geahnt. Ich habe noch mehr Angst bekommen. Doch ich habe weitergefragt. Ich habe gefragt, ob er ist aus München. Sie hat genickt. Und dann war ich Stein. Eine weinende Stein. Und dann hat sie mich ausgefragt. Und ich habe alles erzählt.«
»Ich verstehe. Ich verstehe jetzt einiges. Jetzt weiß ich, weshalb die mich dauernd gefragt haben, wann ich wieder nach Marseille fahren würde. Und ob ich immer noch in dasselbe Hotel ginge. Und so viel mehr. Jetzt wird mir einiges klar. Was ich aber nicht verstehe – warum habt Ihr alle – vor allem Du! – nie versucht, mich normal darauf anzusprechen?! Ist das etwa weibliche Logik? Warum seid ihr nicht den normalen Weg gegangen, sondern habt diesen Schlingerkurs genommen, diesen Partisanenangriff. Ach ja, France, Marianne. Kampf.«
»Du kennst diese Begebenheit mit Picasso ...«
»Ich kenne viele Begebenheiten mit Picasso. Es gehört schließlich zu meiner Arbeit, Gegebenheiten zu genialen Menschen zu kennen. Wer nicht genial ist, muß sich in ihnen sonnen.«
»Ich meine diese mit Guernica, als er gefragt wird, ob er das gemacht hat.«
»Ach so.« Ich muß leicht verbittert auflachen. »Ich habe es also gemacht.«
»Oui. Doch nicht das Bild. Den Krieg.«
»Das ist mir klar. Nicht klar ist mir, weshalb ihr mich zum Kriegsauslöser, zum Kriegstreiber, zum Krieger erklärt. Das ist doch zum Kotzen!«
»Nicht alle. Nur Anne und ich. Wir beide waren sicher, daß Du mich einfach so verlassen hast, ohne sehbaren Grund. Schlechter, schlimmer Mann eben. Doch nach eine Zeit ist sie auf einmal sehr zum Nachdenken gekommen und hat sofort telephoniert. Sie hat sich erinnert, daß etwas passiert ist mit Dir. Sie hat Isabelle angerufen. Und wir waren entsetzt. Der Krieg war auf einmal anders. Er war anders. Es war keine Krieg mehr. Es war Lazarette. Dann haben wir uns in Paris getroffen. Und wir haben das beraten.«
»Kriegsrat gehalten, heißt das. Aber es ist mir völlig unverständlich, weshalb Du dann zu Beginn mir gegenüber so hart warst. Anstatt mich erst einmal zu fragen.«
»Ich mußte so sein. Sonst hätte ich das nicht vollbracht. Doch wir waren auch d’accord, daß es wird besser sein, es so zu machen. Als ein Thérapie vielleicht. Dich aufzuwecken. Ich glaube, es hat funktioniert.«
»Hast Du immer gewußt, daß ich es nicht weiß?«
»Non. Ich habe lange das nicht geglaubt. Ich habe lange geglaubt, daß Du ein Fable erzählst. Horreur.«
»Aber ich weiß nichts.«
»Ich glaube es jetzt. Jetzt müssen wir es zurückholen. Es wird uns gelingen.«
»Das wird auch nötig sein. Ich sagte es: Ich weiß nichts. Zumindest sehr wenig. Du wirst immer deutlicher. Du bist mir von Anfang an seltsam vertraut gewesen. Ich habe nur immer gedacht, ihr spielt mir dieses Horrortheater vor, ich befände mich in einem Horrorfilm. Ich war sehr böse.«
»Ich habe es gemerkt. Und ich habe gedacht, das ist Deine Stratégie der Abwehr.«
»Und jetzt. Ich bin ziemlich fertig mit den Nerven. Obwohl aus dem Horrorfilm ja ein Melodram zu werden scheint. Seit wann geht das?«
»Geht was?«
»Eure Schlachtplanung.«
»Oh. Wir haben uns in Décembre in Paris getroffen. Ich war Gast bei eine Freundin von Anne und Isabelle.«
»Bei meiner deutschen Freundin? Die also auch?«
Sie nickt, etwas befreiter lachend. »Ist es schlimm?«
»Nein.« Nun ist es an mir, durchzuatmen. »So langsam wird eine Komödie daraus. Irgendwie ist es auch lustig, das mit den dreien. Obwohl mir nicht zum Lachen zumute ist. Ihr wißt alles. Und ich nichts. Ich bin gewaltig im Hintertreffen.«
»Mais – chéri. Es wird gut werden. Wir werden alles suchen und finden. Du hast es selbst gesagt – vielleicht am Ort liegt alles verborgen und kann hervorgenommen werden. Wenn wir in Marseille sind, werden wir überall hingehen. Zu alle Orte und zu alle Menschen. Sie kennen Dich, und wenn Du sie sehen wirst, wirst Du sie kennen. Und wir werden viel sprechen. Du wirst fragen, und ich werde antworten.«
»Ja, es wird wohl das Beste sein. Also – wann wollen wir fahren? Ich lasse dieses Ding sausen. Ich sag einfach, ich bin krank. Seit meinem Um-Fall habe ich immer eine prächtige Ausrede.«
»Was wirst Du lassen? Die Arbeit? Das ist schön, daß Du das für uns tust. Doch wir müssen auch Geld verdienen. Meine Geld ist nicht genug.«
»Das ist klar. Ich will sehen, was ich machen kann. Und für den Moment – ein bißchen Geld auf der Seite habe ich auch, etwas gespart. Einiges kann ich von unterwegs aus tun. Glücklicherweise ist das mit der heutigen Technik alles kein Problem mehr. Im Grunde mache ich das ja schon lange so. Auch wenn ich häufig hier in der Wohnung bin, erzähle ich den Leuten immer wieder, ich sei unterwegs. Das kriegt ja niemand mit. Aus einem Email ist nicht ablesbar, von wo es kommt. Und im Zweifelsfall telephoniere ich vom Mobile aus. Ich lasse mich dann zurückrufen. Sie sehen meine Nummer im Display ihrer Telephone, und damit ist es in Ordnung. Es fällt bei mir nicht weiter auf, da ich ohnehin nicht viel telephoniere. Und so werde ich das auch von Frankreich aus tun können. Wenn ich herumreise, erledige ich auch einiges. Ich bin immer im Dienst. Ich tue jedenfalls so. Ach, was soll’s, es stimmt ja auch. Ich habe ja sonst nichts zu tun. Obwohl? Jetzt?«
»Du meinst, es wird gehen? Gagner sa vie? Von Marseille? Ich wäre glücklich. Es öffnet sich meine Paradis? Wir treten ein?«
Ich bin mir zwar selbst nicht im klaren, wie es funktionieren soll, vor allem in einem Land, in dem kulturell alles nur von einem zentralen Ort ausgeht – wer nicht in Paris lebt, hat kaum eine Möglichkeit. Doch ich nehme mir vor, guter Dinge zu sein. Und ich nehme meinen mir zugeflogenen Engel in den Arm und – oh Wunder! – tröste ihn. Eine Menge Goldstaub von seinen tränennassen Flügeln bleibt an mir hängen und zieht in mich ein. Energieaustausch.
»Ich werde aber auf Dauer diese Wohnung hier dann nicht halten können. Sie kostet viel Geld. Ich werde überhaupt vermutlich weniger verdienen. Vermutlich? Sehr viel weniger! Obwohl – es ist gleichgültig, von wo aus ich in die Bahn oder, besser, in das Flugzeug steige. Und meine Hauptarbeit kann ich von Marseille aus machen. Ich muß vielleicht einmal im Monat nach München oder nach Hamburg. Aber nein. Wenn schon, denn schon. Ich werde die Wohnung aufgeben müssen. Wollen. – Also, nochmal. Wann fahren wir? Und wir fahren mit dem 2 CV!«
»Mais oui! Ich freue mich. Ich mache es gerne. Wie lange werden wir fahren. Ich kann auch fahren.«
»Ja, gut. Aber ich will nicht rasen. Mit einem 2 CV rast man nicht. Ich fahre nie schneller als neunzig ...«
»Es geht schneller?!« – Sie lacht wieder. Es tut gut.
»Ein bißchen schon. Aber ich mache es nicht gerne, weil es sonst so laut wird. Außerdem ist in France auf der Landstraße ohnehin nur neunzig erlaubt, und überall stehen die Flics.«
»Du willst die grande route, die nationale fahren? Bist Du verrückt. Dann kommen wirklich Philémon und Baucis in die Tempel an.«
»Nein, das wäre tatsächlich zu arg. Aber zwischendrin schon. Bis Besançon fahre ich meistens durch. Ganz schnell durch meine Heimat.«
»Deine Heimat ist die Mund der Rhône! Es ist Deine Utérus! Dein Blut ist dort! Ich weiß es.«
»Brav. Dort übernachten wir. Im Mercure! Es gibt zwei dort. Dort geh‘n wir essen. Und dann stelle ich Dir die Frau vor, für die ich Dich kurzzeitig gehalten habe.«
Und wieder kriege ich eine Ohrfeige. Ich habe bis heute nicht gewußt, wie wonnevoll es ist, Prügel zu beziehen.
»Oh! Ich werde mit meine andere Teil durch die Hôtel ziehen wie zu unsere Voyage de noces! Ich freue mich sehr! Et après Besançon?«
»Travers Bourgogne, en direction Lyon. Hôtel Libertel Beaux-Arts, Rue du Président Edouard Hérriot.«
»Du bist doch eine vieux Grigou. – Wir brauchen das Geld!«
»Erstens kriege ich Ermäßigung. Die steht mir zu. Zweitens habe ich noch Gutscheine vom vielen Übernachten in den Mercure. Die müssen weg.«
»Deine Frau ist Dir nur eine Rabattschein wert. Was habe ich geheiratet?!«
»Das sind keine Rabattmarken. Das sind Gutscheine, die ältere Herren erhalten, wenn sie mit jungen Damen in diesen Hotels logieren.«
Ich kriege dieses Mal keine Ohrfeige, sondern einen sehr skeptischen Blick.
»Mon gifle, s’il vous plaît, Madame!«
Als Ersatz kriege ich eine dieser sehr feuchten, fruchtigen Weintrauben. Der Café harmoniert durchaus, lediglich die Milch paßt nicht dazu.
»Bon. Lyon. Paquebot de luxe. Und wohin schwimmen wir dann? In den Hafen von Marseille?«
»Ja, dann könnte man durchfahren. Aber es ist noch weit! Zumal es eine wunderschöne Strecke gibt auf der rechten Seite der Rhône entlang, über die Dörfer. In Richtung Ardèche. Aber das zieht sich. Das letzte Mal habe ich bis Arles ungefähr sechs Stunden gebraucht.«
»Oh. Arles? Mais – es ist ein trou perdu. Es war einmal Metropole. Doch die Römer sind gegangen und haben es dem tourisme als Arène de soûlerie überlassen.«
»Soûlerie?«
»Alles betrinkt sich dort. Während der Corrida.«
»Ich kann es nicht beurteilen. Ich war nur einmal dort. Letztes Jahr. Da war allerdings sehr tote Hose. Und das Hotel war mir zu abgelegen. Ich bin schnell nach Marseille weitergedüst.«
»Merde!«
»Aber meine schöne Arlesierin habe ich ja bereits. – Also, was meinst Du. Dann wären wir – halt. Morgen muß ich hier einiges erledigen. – Ach was. Die Zeitung bestelle ich per Fax ab. Ein paar Emails muß ich verschicken, ein bißchen lügen. Wir können morgen früh fahren.«
»Mais – ich muß ...«
»Du mußt was?«
»Ich muß meinen Dank ...«
»Ach so. Du kannst sie anrufen. Ich muß das ohnehin tun. Erstens muß ich sie verprügeln ...«
»Du wirst ...« – sie springt auf und kriegt geweitete Augen. Nie hätte ich gedacht, daß diese Augen noch größer werden können. Ich ziehe sie wieder zum Stuhl hin und rücke näher an sie heran. Ganz nahe.
»Nein, Naziza. Ich muß sie bitten, daß sie die Wohnung hütet, die Post erledigt. Dann kannst Du mit ihr sprechen. Aber vorher muß Du mir noch genaueres erzählen. Daß ich nicht so dumm dastehe.«
»Was meinst Du – genau? Was wir verboten getan haben?«
»Ach Gottchen. Verboten getan? Was habt ihr denn getan? Sie hat Dich in die Wohnung hineingelassen. Wer sonst. Es war ja klar. Jetzt ist es klar. Denn ich war gar nicht so sicher, ob ich doch tatsächlich durchgeknallt war.«
»Durchge ...? Pardon. Ich verstehe nicht.«
»Durchgeknallt. Durchgedreht. Wie – laß mich nachdenken, vielleicht finde ich ja das richtige Wort. Dérang ...«
»Au! Oui. Déranger. Dérailler. Ob der Zug in Deine Kopf etwas ist aus der Bahn gehüpft. Déranger – in falsche Ordnung. Wie Franzosen. Dérailler – aus dem Gleis. Auch wie Franzosen. Wie Du.«
»Merci pour le compliment. – Ja, am Anfang habe ich wirklich gedacht, es ist ein schlimmes Stück, das hier gespielt wird.«
»Ist es auch. Ein bißchen schäme ich mich. Aber es ging nicht auf eine andere Art. Ich wußte sonst keine Hilfe. Und ich wußte ja nicht, wie das wirklich ist. Terrible. Und Isabelle hat mir geholfen. Nicht nur, weil sie mich hineingelassen hat in die Tür. Wir haben viel gesprochen. In Paris. Und hier auch. Wir haben lange darüber gedacht, wie es sein soll, daß nichts zerbricht. Und beinahe ist es doch. Ich fürchte mich noch immer. Mon Dieu!«
»Es ist ja alles in Ordnung. Und vielleicht war es der beste Weg. Nein. Ich bin sogar sicher. Es brauchte diesen Schock. Die Ursache damals war ja auch ein Schock.«
»Un choc? Woher?«
»Die Ärzte haben es gesagt – einer der auslösenden Faktoren sei ein Schock gewesen. Eine Streßsituation habe ihn ausgelöst und eine Kettenreaktion bewirkt, so daß alles zusammen den völligen Zusammenbruch der Gehirnfunktionen zur Folge hatte. – Isabella hat mir damals unglaublich geholfen. Das war mehr als rührend. Sie hat sich um mich, um alles gekümmert. Sie hat mich in Köln in der Klinik abgeholt. Sie hat sich um das Hotel, um das Gepäck, um alles gekümmert. Sie hat den Flug besorgt – doch sie hat gleich wieder ein Theaterstück daraus gemacht. Ich glaube, ach was, ich weiß es – sie war sehr enttäuscht, daß sie mich nicht im Rollstuhl fahren lassen durfte. Lassen durfte! Sie nebenher gehend. Wohlgemerkt. Denn sie hatte mich bei der Fluggesellschaft sicherlich als kurz vor dem Exitus gemeldet. Auf jeden Fall war ich als schwieriger Fall angekündigt. Sie hat das so perfekt gemacht, daß sogar die Stewardeß, so eine Lufthansa-Barbie-Puppe, richtig enttäuscht war, daß sie nichts weiter für den armen Passagier tun konnte. Denn der hatte immer nur mit dem Kopf geschüttelt, er brauche nichts. Ich stand aber vermutlich auch unter behördlich genehmigten Drogen. Das seid ihr Mädels, Euer mütterlicher Instinkt – den wir Männer aber auch brauchen, bereits bei einer leichten Erkältung. Wir brauchen euch eben.«
Ich sehe, wie ihre Hand wieder nach unten sinkt. Vermutlich hätte ich ohne den letzten Satz wieder meine schönen Prügel bezogen. Ich kann einfach nie das Wasser halten.
»Wie dieses Mal auch wieder. Wie immer. Das dramatische Fach ist eben das von Isaac. Sie wird immer Schauspielerin bleiben. Ich bin sicher, daß sie erwartet, daß ihr auf ihrer Beerdigung applaudiert wird.«
Nun erhalte ich wenigstens einen Knuff. Aber er hat bei weitem nicht das zärtliche Element, das ich dabei erwarte. Es fühlt sich an wie eine ernsthafte Rüge.
»Salaud. Sie hilft Dir, und Du sprichst so von ihr.«
»Wem hat sie beim letzten Drama geholfen, ganz vorne an die Rampe zu kommen? Aber richtig, da stand ja jemand anderer. Sie scheint älter zu werden. Sie schwächelt. Denn sie drängt sich nicht mehr in die erste Reihe.«
»Du bist eine Idiot. Un monstrueux idiot! Monstre! Wie kannst Du so sprechen? Sie hat lange mit mir überlegt, was wir tun sollen. Und vor allem – sie war immer auf Deine Seite. Sie war immer Dein Verteidigung. Sie hat nie – hast Du mich verstanden, Nigaud?! nie! – hat sie gesagt, daß Du das spielst. Immer hat sie gesagt ...« – nun kommt ein leichtes Lachen in ihr auf, das ihr den eigenen Satz fast zerschmeißt – »so ein guter Schauspieler ist er nicht.«
Nun prustet es aus ihr heraus. Mich berührt es nicht weiter, da dies der Tonfall ist, die Art und Weise, wie Isaac und ich miteinander umgingen. Und so ein Witzchen, durchaus auch anderen gegenüber, rührt nicht an unserer festen Freundschaft, die tief in den Jahren einer Zweisamkeit wurzelt, die zerbrach, obwohl das niemand für möglich gehalten hätte. Wir hatten uns in entgegengesetzter Richtung entwickelt. Auch die Temperamente ertrugen sich auf Dauer nicht in unmittelbarer Nähe. Es geschah leicht, daß aus dem Phlegmatiker ein Choleriker sprang. Sie zog ins Universitätsviertel, aus der gemeinsamen Wohnung aus, in der jetzt diese Frau mir gegenüber sitzt, die sie heftig verteidigt. Sicherlich mit Recht. Denn wenn sich alles so zugetragen hat, wie es zusehends deutlicher wird, dann war sie die Ausgeburt des analytischen Denkens. Vor allem aber ist sie diejenige, die mich kennt wie sonst niemand anderer, und es gibt aus keinem Anlaß irgendeinen Grund, ihr etwas zu verschweigen. Vermutlich weiß sie sogar mehr als ich, denn sonst hätte sie Naziza gegenüber nicht so reagiert, hätte ihr nicht diese Hilfe angedeihen lassen. Möglicherweise würde sie mir sogar helfen können, diese zerplatzte jüngere Vergangenheit wieder anein-anderzufügen. Aufgrund ihrer Kenntnisse hat sie vermutlich diesen Bruchteil des zerstörten Bildes ins Licht gehalten. Aus einem Hologramm ist immer der komplette Inhalt zu lesen – Holos, das Ganze. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich ein solches Barbarenstück nicht aufführen würde. Sie hat schlicht das kleine Einmaleins bemühen müssen. Das kann wahrlich nicht jeder in unserer Gesellschaft der Großrechner. Und sie mag es auch gerne, da waren wir ähnlich wie ein altes Ehepaar, das Glück anderer zu schmieden. Dann streift es einen eben auch selber ein wenig.
»Wo bist Du schon wieder? Wohin reist Du ohne mich? Wir wollen gemeinsam fahren, Cheri. Und immer träumst Du alleine.«
»Ach. Ich habe nur über Isaac nachgedacht. Daß sie als einzige mal wieder den Überblick behalten hat. Hat sie Dir denn irgendwas erzählt?«
»Etwas erzählt? Von Dir. Sie ist eine Dame.« Nun muß ich, wenn auch unfreiwillig, lachen, und das eher dreckig. »Du bist ein unverschämt ...«
»Ja, ist ja gut. Du mußt das nicht so eng sehen. Wir sind Freunde. Sehr gute Freunde. Vielleicht ein bißchen wie Bruder und Schwester. Wenn ich auch nicht annehme, daß sie das gerne hört. Ihr wär' ein Mann lieber. Ein richtiger. Nicht einer wie ich. Nicht mehr. Nun, ich ich wollte ja immer eine Schwester haben. So habe ich sie auf diese Weise gekriegt. Es tut gut. Sie ist die einzige.«
»Ja, ich glaube es auch. Sie hat sich sehr gesorgt. Ja, und sie hat auch einiges erzählt. Sie hat sich bemüht, sich genau zu erinnern. Denn sie hat etwas gewußt – es war etwas. Sie hat gesagt, daß Du sehr gestört gekommen bist – aus France. Damals, eines Tages, wie sie hat gesagt. Sie hat gesagt, daß Du dann nie mehr weggegangen bist aus dem Haus. Mit Dir sei, dies ergab sich aus unserem Gespräch, nichts mehr anzufangen gewesen. Immer nur zur Arbeit und in die Wohnung.«
»Wo ich auch gearbeitet habe. Wenn auch anders. Nicht für die Kunst und die Kultur. Nur für mich. Reminszenzen. Polemiken. Alles das, was ich mich früher nicht getraut hatte zu tun. Aber irgendwie habe ich das letzten Endes wahrscheinlich mit allem getan, was ich je produziert habe: für mich arbeiten. Selbstfindung über das Andere. Und da ich das Andere außerhalb der eigenen vier Wände meinte zu kennen ...«
»Oui. Nicht mehr dorthin, wo Du sonst gerne und viele Jahre, Jahrzehnte gegangen bist, in ein Café oder ähnlich. Nur manchmal hast Du – immer s’asseoir à terrasse und schauen in die Süden. Und immer träumen. Und immer von Marseille sprechen. Und manchmal hast Du« – nur beschwerlich spricht sie weiter – »von eine Frau gesprochen. Wie Anne in Marseille und in Paris das erzählt hat. Es ist oft seltsam gewesen, hat sie berichtet.«
»Ja – es ist ja mittlerweile klar. Ich muß dann auch die ganze Zeit, vor allem nach diesem Vorfall, nach dem Krankenhaus, etwas in mir herumgetragen haben, von dem ich nicht wußte, was es war. Ich hatte Dir ja erzählt von dem Bild, daß immer in mir war, das ich fortwährend gesucht habe. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, hättest Du eines Tages auf einmal vor mir gestanden. Vermutlich ...«
»Du hast nicht versucht, zu gehen in das Office du tourisme?! Warum nicht? Dort wäre ich gewesen?«
»Ich hatte keinen Anlaß, Naziza. Es war etwas, das lediglich diffus vorhanden war. Ich wußte immer, wenn ich vorbeigegangen bin, daß da mal was war. Und ich wußte auch, daß es etwas Schönes gewesen sein mußte. Aber ich wußte nicht mehr, was es war. Vor allem bin ich ja umgezogen gewesen in das andere Mercure, kam also nicht mehr so häufig vorbei an der Ecke Rue Beauvais-Canebière. Obwohl – ich weiß es nicht genau, vielleicht habe ich ja unbewußt einen Bogen gemacht.«
»Du meinst, Du bist einen anderen Weg gegangen?«
»Es kann sein. Obwohl es ja fast schon schwierig ist. Gehe ich zur schönen Bäckerin, die mich an der Ecke der Rue Beauvais und Rue Bailli de Suffren anlächelt, muß ich dort vorbei. Gehe ich die Canebière hinunter direkt zum Hafen, muß ich vorbei. Oder zur Metro. Oder zum Autobus 35 nach l’Estaque. Ebenfalls. Zumindest gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Den Weg hinten- oder obenherum über die Rue Colbert, über die place Sadi-Carnot und die Rue de la République mag ich nicht so. Da ist mir zu wenig los. Zu wenig Menschen. Nur Autos, die nach La Joliette runterbrettern. Allenfalls dann, wenn ich direkt ins Zweite will oder mal einen Café trinken beim Korsen in der Bar Paris. Ansonsten hab ich immer den direkten Weg zum Hafengetümmel gesucht.«
»Wie oft bist Du gewesen in Marseille seit achtundneunzig?«
»Einmal im Jahr bestimmt. Eher öfter. In der letzten Zeit häufig. Sehr häufig. Eigentlich dauernd. Wann immer es ging. Die Sehnsucht nach der Heimat hatte unerträgliche Formen angenommen. In München hab ich's nur noch hier in der Wohnung ausgehalten. Es gibt einen Direktflug. Viermal täglich.«
»Mon Dieu! Mon Dieu! Was habe ich getan?«
»Was? Wieso? Naziza? Du hast doch nichts Schlimmes getan!«
»Ich hätte in Marseille schauen müssen. Einmal schauen nur, um die Ecke. Und nicht in die ganze Welt.«
»Ach was. Der Irrsinn ist eigentlich der, daß wir uns nie mehr begegnet sind. Denn irgendwie bin ich ja doch immer vorbeigekommen. Ich sagte doch – Metro, Hafen, manchmal place Thiars, immer gerne das Haus betrachtend, wo La Marseillaise drinnen sitzt ...«
»Es ist nicht place Thiars. Die place Thiars ist eine kleine an der Rue Saint-Saëns, wo diese vielen Réstaurants sich befinden. Das Haus von La Marseillaise ist am Cours Honoré d'Estienne d'Orves. Dieses große ...«
»Also gut. Ja, das ist wohl so. Meinetwegen. Der Platz meiner Lieblingszeitung, wo ich in der Nähe manchmal einen abendlichen Pastis ...«
»Dennoch hast Du ein Abonnement von La Provence! Ich habe es gesehen.« Sie deutet auf den Stapel der Zeitungen neben dem Sessel, von denen ich mich, im Gegensatz zu allen anderen, nur schwerlich zu trennen vermag. »Ich weiß es, daß Du immer sehr viel lieber unsere kleine Zeitung hattest. Weshalb nicht sie?«
»Es hat eher schlichte Gründe. Bestimmt fünfmal habe ich denen ein Telefax geschickt, ob ich abonnieren könne. Allerdings nur die Wochenendausgabe, wegen ...«
»Wegen?«
»Wegen – ab und zu ein paar Nachrichten aus der Heimat eben. Jeden Tag wäre mir zu viel gewesen. Das packe ich zeitlich nicht. Ich habe wichtigeres zu tun. Außerdem sitzliege ich lieber im Sessel oder auf dem Balkon und lese Bücher. Und schaue ab und zu in Richtung Marseille. Die hiesige Zeitung lese ich ja kaum mehr. Und wenn, dann ohnehin nurs Feuilleton. Innerlich habe ich dieses Land längst verabschiedet. Die Stadt, dieses eitle, letztendlich unsäglich spießige Provinznest, verlasse ich zwar schon seit dreißig Jahren. Aber die spärlichen Bande definitiv gekappt habe ich etwa achtundneunzig. Ja, Zeitung: Hinzu kommt, daß mir das Französischlesen doch erhebliche Anstrengungen bereitet. Zumindest geht es nicht so schnell.«
»Dann Du hättest doch auch oder besser La Marseillaise haben können!«
»Das ist es ja. Sie haben nie geantwortet. Ich war ziemlich sauer. Und übers Internet bin ich auch nicht drangekommen. Sie stehen ja nicht drin.«
»Es ist eine kleine Zeitung.«
»Ja. Das ist mir klar. Wenn ich auch den Eindruck habe, daß die ihre kleine Welt vor der großen abschotten wollen. Heutzutage, da jedes überflüssige Käseblatt meint, weltweitweb präsent sein zu müssen. Wie auch immer – die Reaktion war schon sehr französisch.«
»Wie meinst Du es? Dieses sehr französisch? Wir sind Marseillais! Wir sind etwas wie eine Insel im Süden des Festlandes, une presqu’île du sud de France. Es ist überall leicht in die Histoire nachzulesen. Und jeden Tag wird es uns als Attestation gegeben. Man macht darüber dumme Witze. Was Belgien ist im Norden, sind wir in die Sud. Wir sind nicht France! Unsere Kanonen sind dorthin gerichtet, nach oben. Jedoch: Mir ist auch nicht bekannt ein französisches Verhalten. France est multiplicité! Ich kenne Engagement oder Bequemlichkeit, manchesmal vielleicht auch Faulheit. Oder simple Interessenlosigkeit. Das gibt es überall auf der Welt.«
»Da hast Du sicherlich nicht ganz unrecht. Ich habe solche Erfahrungen auch mit anderen gemacht. Doch da bin ich eben anders gestrickt. Bei mir wird etwas sofort erledigt. Auf daß ich’s weghabe. Das ist meine Art von Faulheit. Vielleicht ist’s ja auch nur der Neid, nicht so gehäkelt zu sein. Aber Letztere! Interessenlosgkeit. Gepaart mit den von Dir genannten Negativismen. Ich kenne es von meiner Arbeit. Franzosen antworten meistens erst beim dritten oder vierten Mal. Wenn sie überhaupt antworten. Und das ist nunmal französisch! Sogar die Pariser. Und dabei tun die immer so, als seien sie Agilsten überhaupt. Und dann schalten sie mittags das Faxgerät ab und den Anrufbeantworter ein, der aber nicht ganz korrekt so genannt wird, weil er nie zurückruft. Um ungestört essen gehen können, keine störende Post im Fax zu haben. Und das Band läßt sich leicht löschen. Denn: Ça me tue! Dieser Boche stupide wird sich schon wieder melden, wenn er was will. Und wenn er das dann tatsächlich tut, fangen sie an zu suchen. Wenn sie’s wirklich tun. Das zu finden, was sie nicht wirklich suchen. Wenn sie überhaupt wissen, wo sie suchen sollen, in ihrer nahezu unglaublichen, verworrenen Bürokratie. Jedenfalls in größeren Institutionen.«
»Malheur!«
»Ja. Scheiße. Es ist schon sehr ärgerlich. Und es ist einfach so! Vor allem, wenn Du dringend etwas benötigst. Ich terminiere schon nichts mehr, wenn's mit Frankreich zu tun hat. Fast so schlimm wie mit Lateinamerika. Doch dort ist es das vielzitierte Mañana. Irgendwann eben. Wenn man es weiß, kann man damit leben. In France ist jedoch eine dämliche Ignoranz, die aus einer mir unverständlichen Arroganz kommt. Denn hinzu kommt, was Orsenna in Deux été geschrieben hat: Auch in einer dichten Menge namenlos gemacht, reitet das Ego des Franzosen immer ein Einzelschlachtroß.«
»Didier! Orsanna mag nicht ganz unrecht haben damit. Doch Orsenna – so köstlich dieses Buch ist, das ich gerne gelesen habe –, er ist einmal mehr einer dieser Écrivain ministériel, un fonctionnaire de l’État. Du weißt, daß er Berater von Mitterand war in unserem Ministère de l’Éducation?«
»Ach ja, Handreicher des Kulturministers. Aber das sind sie doch alle. Sie werden alle irgendwie Hofschriftsteller bei euch.«
»Das ist Unsinn. Wir nehmen nur sehr gerne ...«
»Womit Du natürlich recht hast. Ich find’s ja sogar gut. Bei den Deutschen kommt das wohl kaum vor, daß Intellektuelle in eine beratende Funktion irgendwelcher Ministerien geholt werden. Daß wir jetzt einen Philosophen als Kulturminister, nein, nicht Minister, lediglich Staatssekretär, denn die Kultur ist ja Terroir der Bundesländer, haben, grenzt ja fast schon an Revolution. An die französische. Ich reibe mir immer wieder die Augen und glaube im falschen Sender zu sein, wenn ich unseren schönen Julian auf dem Bildschirm sehe.«
»Julian Nida-Rumelin?«
»Ach, und Du sprichst es auch noch so schön französisch aus. Doch es paßt herrlich zu dem Bild, das ich anskizziert habe. Ja. Und dann hat er auch noch eine schöne junge Frau – obwohl sie blond ist –, die in France aufgewachsen ist. Und auch noch Schriftstellerin ist. Da haben ein paar andere Mädels ziemlich geweint, als er in diesen französischen Hafen der Ehe eingelaufen ist.«
»Woher willst Du es wissen. Ohne Zweifel er ist ein attraktiver Mann ...«
»Den ich seit langer Zeit kenne. Und schätze. Sehr schätze! Und achte. Mit dem man gute Gespräche führen kann. Der zuhört. Dem sogar ich zuhöre, und das will was heißen. Und gerne höre ich ihm zu. Weil er was zu sagen hat. Er entspricht exakt dem Bild, das ich mir von einem Politiker und dessen Zuarbeitern wünsche und das mir in France immer gezeigt wird. Eure ganzen Schriftsteller und Philosophen eben. Die trotzdem einen solchen Riesendampfer durch die Unbilden der Politik zu lenken vermögen. Nicht diese tumben Toren, diese sogenannten Pragmatiker, denen man die Rechenmaschine im Hirn im faden Bleich- und Flachgesicht ansieht – na ja, ein paar andere haben wir glücklicherweise auch noch. Aber die kommen von den Grünen. Irgendwie zerstört das fast mein Kampfbild von Deutschland.«
»Es gibt in France ebenso viele von diesen, wie Du sie nennst, tumben Toren. Du stellst eine extrème Idéal her.«
»Das ist mir wurscht. Zumal unser Kanzler auch noch damit prahlt, daß er nicht gerne liest. Und wenn's Koketterie ist, dann gehört ihm dafür in den Arsch getreten. In seinen Zweiten-Bildungsweg-Pisa-Arsch. Es paßt zum Sozialismus, aus dem diese sogenannte Sozialdemokratie hervorgegangen ist. Nicht bilden. Machen. Da darf man sich nicht wundern, wenn bei uns der Turm von Pisa schiefhängt. Ja, es ist ein völlig anderes System dans France. Sogar Künstler kriegen Stellen an Universitäten, auf daß sie ungestört arbeiten können.«
»Was wiederum dazu führt, daß les Beaux-arts français nicht diese Rolle spielen im Geschehen der großen Welt, wie wir das so gerne wünschten.«
»Das hat wiederum andere Gründe, meiner Meinung nach. Es liegt weniger am System – es gibt genügend Deutsche, die an Hochschulen lehren und trotzdem erfolgreich sind –, als am französischen Kunstverständnis, das eher an der Schrift orientiert ist. Was ich persönlich ungeheuer spannend finde. Die Franzosen haben’s eben eher mit der Sprache, der geschriebenen. Mir gefällt’s. Sehr. Und außerdem bringt diese Eigen-Art den Vorteil mit sich, daß die zeitgenössische französische Kunst nicht so extrem auf dem Markt vertreten ist ...«
»Was unsere Artistes jedoch sehr bedauern! Und darüber schimpfen.«
»Ach ja. Aber viele eben doch auch nicht. Und deshalb kann man mit diesen Künstlern noch ein vernünftiges Wort reden – beim Essen, in einem normalen Restaurant oder in einer Kneipe. Sie kommen im Gespräch nicht alle zwei Minuten auf den Markt zu sprechen. Auf den Kunstmarkt. Ich spüre dabei viel mehr die Inhalte, daß es Verknüpfungen gibt, daß alles miteinander verbunden ist. In dem Moment, in dem das Welt-, sprich Marktgeschehen reinregiert, wird’s nämlich dramatisch. An den Museen zum Beispiel. Womit wir wieder beim Thema wären, bei der Administration. Denn die vor allem sind es, mit denen ich diese abenteuerlichen Erfahrungen mache. Ans Pariser Jeu de Paume haben sie – so wurde mir das zumindest erzählt – deshalb eine Deutsche geholt. Ob’s wirklich der Anlaß war, sie dorthinzu setzen, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber es ist tatsächlich so – wenn man von der was braucht, dann geht das ruckzuck. Unbürokratisch! Keine Formblätter in hundertneununddreißigfacher Ausfertigung. Trotz Computer und Email und Internet. Dieser irrsinnige Widerspruch! Einerseits diese nachgerade wahnwitzige französische Technikfreundlich-, ja Gläubigkeit, und auf der anderen Seite diese Bürokratie aus den Anfängen der Revolution. Das ist es, was mich an meinen geliebten Franzosen wahnsinnig macht. Aber wahrscheinlich ist’s eher ein Rudiment aus römischer Vorzeit. Das bringt mich noch um. Es sei denn, ich schaffe es, genau so zu werden. Damit meine ich nicht die Bürokratie! Die streiche ich. Ich meine diese, nenne ich’s mal so, Gelassenheit. Aber dieser Dauerfrust mit ...«
»Didier, Du hast einmal Kurt Tucholsky zitiert, der geschrieben hat: Den Deutschen muß man verstehen, um ihn zu lieben, den Franzosen muß man lieben, um ihn zu verstehen. Es stand in Deinen Zeilen damals sehr viel Achtung vor der Menschenkenntnis und auch seiner Liebe zu den Menschen dieses von Dir hochgeachteten Schriftstellers. Auch hattest Du in Deine Email geschrieben, ein Mann, der intelligente Liebesgeschichten schreiben könne wie Schloß Gripsholm oder Rheinsberg und über das Innere und Äußere eines Loches philosophieren könne, müsse auch eine Zeitlang im Innenleben der Franzosen gehaust haben, quasi wie Diogenes in einem Faß aus Bandol. Und hinzugefügt hast Du noch, es sei anzunehmen, daß ein Volk, das weit mehr für Alimentation bezahle als für eine Voiture, sei vermutlich eher in die Lage, das Unwesentliche vom Wesentlichen zu trennen. Es sind Deine Worte.«
»Oh je. Vielleicht bin ich ungerecht, und es ist auch Mañana. Ein französisches. Doch es ist so – wehe, du selbst reagierst nicht sofort. Dann sind sie stinkig. Wenigstens die Pariser. Die Erfinder der Bürokratie. Es ist so, verdammt nochmal. Gut, nehme ich, meinetwegen mal das französische Mañana. Dreimal habe ich mich an l'Estaque gewandt. Die stehen ja mit einer eigenen Seite im Internet. Ich benötigte ein paar Informationen, da ich was über die Kultur in Marseille schreiben wollte und sollte. Ich gelte ja als Experte. Was natürlich völlig hirnrissig ist ...«
»Weshalb? Du reist sehr viel dans France. Du weißt sehr viel. Das weiß ich. Immer wieder hast Du mich überrascht mit Deinem Wissen und Deinen Beobachtungen.«
»Na ja. Ist was dran. Aber die Sprache! Das macht mich noch wahnsinnig. Wie auch immer: Null Antwort! Weder auf Email noch auf Télécopie. Die Stadt Marseille hat auch erst nach mehrfachem Nachhaken reagiert. Und dann – als ich darauf hingewiesen hatte, daß die Fakten im Internet uralt, genauer: zehn Jahre alt seien und ich doch bitte gerne neuere Zahlen hätte, hat mich die städtische Angestellte, die Dame Documentaliste schlicht aufs Internet verwiesen. Auf die völlig überholten Zahlen! Auf die ich sie hingewiesen hatte! Zu faul, richtig zu lesen. Ich hab gedacht, ich krieg ‘nen Vogel. Es war mit La Provence nicht anders. Erst, als ich übers Internet rein bin. Da hat es dann geklappt. Wenn auch die mit Anfangsproblemen zu kämpfen hatten.«
»Welche waren es?«
»Sie hatten wohl arge Verdauungsstockungen. Es hat den Anschein, daß ich der einzige private Abonnent in Deutschland bin.«
»Vrai?! Es ist nicht zu glauben.«
»Doch. Es ist so. Vermutlich gehen die anderen Exemplare über eine zentrale Anlaufstelle in der Berliner Botschaft oder über Bonn. Sie hatten Schwierigkeiten, die Stadt München zu finden in ihrem Computerprogramm. Man muß sich das mal vorstellen. München. Mit 1,2 oder 1,3 Millionen Einwohnern beziehungsweise mit Hamburg die zweitgrößte Stadt der Bundesrepublik Deutschland.«
»Glaubst Du, daß alle deutsche Angestellte in Verlagen von Zeitungen Marseille kennen?«
»Ach ja. Du magst ja recht haben. Die sind genauso doof. Mindestens. Aber in einem Computerprogramm muß sowas doch drinnenstehen! Isaac hat für mich angerufen. Nachdem die mir auf den Anrufbeantworter gesprochen hatten von wegen un petit problème und so. Sie hat den dann dort mit eingeschalteten Oberbuchhalter gefragt, ob es besser gewesen wäre, Bayern München oder Beckenbauer hinzuschreiben? Bayern München gegen Olympique Marseille im Stade Olympique de village de olympique, ob sie's dann eher kapiert hätten? Ich war froh, daß Isaac es erledigt hat. Sie ist einfach lockerer. Sie kann natürlich auch sprachlich ganz anders als ich. Ich wär' wahrscheinlich ausgerastet. Aber nun läuft's ja. Allerdings wäre mir das kleine Fischblatt lieber.«
»Wir werden es besorgen. Non. Es wird nicht mehr notwendig sein. Nun wirst Du sie alltäglich haben, Deine geliebte Zeitung in Deine geliebte Stadt. In die Du immer fährst und nicht Deine Frau suchst. Und wo hast Du immer gesessen? An Deine Aussichts ...«
»Ja. Richtig. Café-Tabac au coin de la Rue Pythéas, glaub ich, daß sie so heißt, et la Quai des Belges. Du kennst es ja sicherlich.«
»Mais oui!«
»Dort habe ich oft gesessen. Fast jeden Morgen. Der Café ist ordentlich. Wenn auch um einige Francs teurer als ein paar Schritte weiter. Aber was soll's.«
»Didier, Du hast dort fast täglich auf Deine Frau gewartet. Ein braver Ehemann, der seine schwer von Touristes mißhandelte Frau abholt. Er hat sie dann immer geheilt mit Kuß und Pastis. In dieser Reihenfolge.«
»Oh weh! Ja. Meistens habe ich gewartet bis zum ersten Schiff. Ich bin ja fast jeden Tag zu den Inseln hinüber, zu den Îles de Frioul, oder habe manchmal die Fahrt nach Cassis gemacht, um abends die Nase in den Fahrtwind und in die Abendsonne aus l'Estaque zu halten.«
»Ich weiß. Immer wenn es geht, fährst Du mir dem Bateau. Du bist Wassersucht.«
»Aber was mir jetzt einfällt – aus irgendeinem Grund bin ich nur noch selten zur place de Lenche. Obwohl ich früher so gerne dort saß. Seltsam. Als ob ich Angst gehabt hätte – nach Hause zu gehen? Fürchterlich. Überall habe ich mich dann rumgetrieben. Bin mit dem Bus auch immer wieder Rive Neuve, den Boulevard Charles Livon entlang, Wasser kucken. Ich konnte mich nie sattsehen. Manchmal bin ich auch zu Fuß entlang in Richtung Pharo, unten vorbei am Plage des Catalans wieder Richtung Corniche. Aber aufgehalten habe ich mich in dieser Gegend eher weniger. Dieses Terassenleben, vor allem in der Gegend hinter Malmousque, etwa an dieser Segelschule, Peron heißt die, glaub ich, so genau hab ich das jetzt nicht mehr im Kopf, dieses Sich-zur-Schau-Stellen der mondänen Möchtegerne oder andersrum ist nicht das meine. Es hat also wohl eher mit dem Volk dort zu tun. Es nervt mich eher, wie die sich und ihre Körper dort präsentieren und auch noch Eintrittsgeld dafür bezahlen, daß man ihnen von oben auf die verwelkenden Titten glotzen kann.«
»Auch meine welken.«
»Ach Naziza. Darum geht's doch nicht. Ich mag das Welkende sogar. Nicht nur verwelkende oder verwelkte Blumen. Auch erschlaffende Haut hat etwas Sinnliches. Je nach Trägerin sogar durchaus etwas Erotisches. Fürwahr. Fettes nicht. Das halte ich nicht aus. Doch auch darum geht es nicht. Was da vorgeführt wird, ist eine unerträgliche Eitelkeit des Seins. Oder ein Sein aus nichts, absolut nichts als Eitelkeit. Ansonsten hohl im Kopf. Schaut alle her! Bin ich nicht schön? Schön doof. Ich mag auch keinen Strip-tease. Da bin ich eher heimlicher Voyeur. Weil ich als Voyeur die Möglichkeit habe, Unverfälschtes zu sehen. Dann kann es durchaus sein, daß ich – wie eben gesagt – Welkendes als erotisch empfinde, weil es natürlich ist. Und dann kann ich sogar geil werden. Welk hin oder her. Doch das ist erst nach einer Berührung möglich. Und sei es mit den Augen, mit einem Blick. Doch wer als angehendes altes Schrapnell auf einem Laufsteg herumdackelt, ist nicht anders als der, der seine Kinder in Play-back-Shows oder zum Eiskunstlauf oder zum Hundefriseur schickt oder über den Tennisplatz jagt oder am Klavier malträtiert. Widerlich. Das meine ich.«
»Ah! Didier. Ich habe es nicht anders verstanden. Du mußt Dich nicht entschuldigen dafür. Ich sehe es nicht anders als Du. Diese Frauen sind schrecklich. Doch diese sich zur Schau stellenden Männer, die immer jung wirken möchten, sind es ebenfalls: schrecklich.«
»Ja. So sehe ich die auch. Aber die jungen genauso. Dieses Geprotze. Nur Muskelgeglitter. Zeitgenössisches Design. Außen Plastik und innen 1+0-Elektronik. So doof wie ein Computer eben. Ach was, wie ein Taschenrechner für zehn Francs. Gerade mal Kapazität zum Umrechnen in Euro. Noch schrecklicher. À propos schrecklich. Weiter draußen, in Richtung Prado, schrecken mich dann die Massen am Strand ab. Ich gehe allenfalls mal zum Pétanque in den Parc Borely. Wenn das Turnier stattfindet.«
»Du hast dort gespielt?«
»Nee. Das traue ich mich nicht. Ich hab zwar eine Lizenz, die auch auch überall erforderlich ist, wenn du Turniere spielen willst. Aber das ist ein Relikt aus alter Zeit. Und bin blutiger Amateur! Und die sind durch die Bank Spitzenspieler. Selbst die der hinteren Plätze. Die haben wahrscheinlich schon im Mutterleib die Kugeln geschmissen. Aber in erster Linie waren es wohl die Sprachprobleme, die mich ein bißchen abgeschreckt haben. Von über zehntausend Spielern beim mittlerweile über vierzigjährigen Turnier von La Marseillaise spielt vielleicht ein deutsches Team mit, und das besteht aus Spaniern, die in der Bundesrepublik leben. Ansonsten ist dieses Mammutturnier fest in französischer Hand. Südfranzösischer. Ich habe gehört, daß es mittlerweile mafiotische Züge angenommen hat. Denn es ist ja enorm viel Geld sozusagen im Spiel. Und wenn du dir das Theater im Vorfeld anschaust, hast du ohnehin das Gefühl, es ist eine anders rollende Variante der Tour de France. Nichts für mich, dieser eitle Affenzirkus. Anderswo habe ich durchaus festgestellt, daß ich eigentlich ganz gut mithalten kann mit dem Kugeln der Kugeln. Aber von diesem Dialekt, indem ja nun alles mögliche drinnensteckt, verstehe ich kaum ein Wort. Ich vermute mal, daß die zum Teil auch Provençalisch sprechen. Zumindest kommt es mir so vor.«
»Es ist wohl auch die Sprache der Straße. Und diese liegt nun einmal in der Provence! Und sie ist in Bewegung. Doch Du irrst sicherlich nicht. Auch Franzosen haben Schwierigkeiten damit. Es gibt mittlerweile sogar ein Dictionnaire français-marseillais.«
»Uff. Wahrscheinlich war es dringend notwendig, daß der Franzose während des Procederes nachschlagen kann, was die Marseillaise da gerade in sein Ohr gestöhnt hat. Nun denn – es war wohl eher so, daß ich im Parc Borely immer nur ein bißchen zuschauen wollte. Denn ich bin ja nicht zum Spielen nach Marseille, sondern, um zu schauen. Immer nur kucken.
»Immer das Meer?«
»Ja. Ich kann einfach nicht genug davon kriegen. Vor dem Wasser, auf dem Wasser. Meine Sehnsucht, Du sagtest es, besteht aus Wasser. Wo ich herkomme. Und wieder hinein will. Wasser. Wie die Menschen. All die schönen in dieser schönen Stadt.«
»Du meinst sicher primaire die schönen Frauen.«
»Ja. Sowas wie Dich.«
»Doch nach mir hast Du nicht geschaut! Du hättest zur place de Lenche gehen müssen. Wir haben früher jeden Abend dort gesessen, haben mit unseren Freunden dort gegessen und getrunken und sind dann glücklich in das Bett gegangen, um noch glücklicher zu werden. Manchmal sind wir mit die Ferry Boat hinübergefahren nach Rive Neuve in das Théâtre. Doch sonst haben wir an der place de Lenche gelebt. Cette place est notre village!«
»Aber weshalb bin ich dann dort nicht mehr hingegangen? Zumindest kaum noch. Ich weiß doch, daß ich dieses Viertel über alles liebe. Dieses Gemisch aus allen Menschen, die's dort angeschwemmt hat, dieser Hafen des Südens neben dem Hafen. Diese irdische Ruhe im himmlischen Getöse. Oder andersrum? Egal. So oder so. Das Wissen, daß dort vorne das Tor zur Welt ist – und ich dennoch am liebsten zuhause bleibe. Und ich immer schon bei der Ankunft zu leiden habe ...«
»Weshalb dieses?«
»Weil ich weiß, daß ich wieder weg muß. Jedesmal, wenn ich ankam, ging die Sehnsucht nach dem nächsten Mal schon wieder los. Sofort. Manchmal sogar, bevor ich angekommen war. Als ob ich in den Knast müßte und vorher bereits die Tage bis zum Ende zählen würde. Dabei bin ich ja ins Paradies. Aber so geht es mir eben: Wenn's schön ist, rattert die Zeit. Und davor habe ich jedesmal Angst. Also fange ich vor lauter Furcht zu zählen an und schaue dauernd auf die Uhr. Anstatt sie dieser Stadt gemäß abzunehmen und auf die Straße zu schmeißen. Schrecklich. Als ich begonnen hatte, den Flieger zu nehmen, ging es dann. Da war die Trennung weniger schmerzhaft, weil es schneller ging. Ich mußte nicht mehr quer durch Frankreich, durch den Elsaß, wurde nicht mehr langsam entfernt von der Heimat. Kein Kulturdurchfall mehr. Ab in den Flieger. Augen zu und durch. Zwei Stunden. Und die Zeit vom Flughafen bis nach Hause habe ich durchs Taxi verkürzt. Direkter Weg. Bloß keinen Münchner Menschen sehen und hören! Hier in der Wohnung tat's nicht mehr so weh. Da hab ich dann meine Demoiselles d'Avignon-Musik, meine so schön von der Liebe singenden Französinnen aufgelegt, mein Trio Infernal Brel, Ferré, Brassens von links nach rechts und wieder zurück angeschaut dann leicht südwestlich in den Himmel gekuckt und den Film im Kopf abgespult.«
»Richtig. Ich sehe es immer. Immer schaust Du dorthin.«
»Ja. Die Bandmaschine in meinem Kopf springt ständig an. Alles andere schaltet dann automatisch ab. Dann schaue ich quasi ganz von oben hinunter auf den Alten Hafen, auf das Opernviertel, auf die place de Lenche, nach l'Estaque. Und nie sehe ich Touristen. Oder höchst selten. Die paar Idioten halt. Aber im Hirnkino nie. Es ist so. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich sehe eigentlich nur Einheimische. Vielleicht sind dort alle Einheimische. Auch die Touristen.«
»Wenn Du so sprichst in Deiner Liebe zu unsere Stadt, lese ich manchesmal Zeilen von Jean-Claude Izzo. Es klingt ein wenig, als ob er es geschrieben hat. Aus Deiner Seele, aus Deinem Herzen heraus. Ihr könntet Brüder gewesen sein. Ihr waret auch im selben Alter.«
»War‘t? Wie? Was? Wer ist das überhaupt, von dem Du sprichst?«
»Du kennst Jean-Claude Izzo nicht?! Das kann ich nicht glauben!«
»Nein. Ich weiß nicht, von wem Du sprichst.«
»Jean-Claude Izzo! Unser Chroniqueur! Der Erzähler unserer Stadt! Er ist bei uns, non, maintenent dans tout France, bekannt wie ein – weiße Wolf. Non, im Deutschen es heißt anders ...«
»Wie ein bunter Hund?«
»Oui – être connu comme le loup blanc. Seine Bücher liegen überall. Er ist unser Schriftsteller! Du kennst ihn nicht?!«
»Nein. Doch. Jetzt. Moment mal. Ich hab da was dunkel in Erinnerung. Ich hab da öfter was rumliegen sehen. Aber ist das nich'n Krimiautor?«
»Oui. Non. Oui. Er ist bekannt geworden als ein solcher. Es gibt auch einen Film. Doch ich sehe ihn weniger als einen solchen. Er ist nach meiner Meinung ein Écrivain d'amour, un chroniqueur de les petite gens. Er schreibt – aus meine Perspective – nur über Menschen, über die kleine Leute, über Freundschaft, über die Liebe, immer in Marseille. Und über Frauen. Ich habe es gesagt – er hätte ein Bruder sein können von Dir. Er schreibt, was Du sagst.«
»Bitte was? Und hätte? Lebt er nicht mehr?«
»Er ist gestorben zu Beginn des Jahres 2000. An Lungenkrebs.«
»Na, dann rauche ich eben noch ein paar Gitanes mehr. Eine meiner leichtesten Übungen. Vielleicht begegne ich ihm dann doch noch.«
»Idiot! Sarcaste!«
»Ich glaube, jetzt erinnere ich mich. In der Galerie Lafayette in den Nouvelle Galeries hinter der Börse oder vielleicht auch bei der FNAC habe ich mal einen ganzen Tisch voller Bücher von ihm liegen sehen. Genau, bei Lafayette war's. Irgendwie so'ne Heimatecke für Touristen: Alles aus Marseille! Jetzt weiß ich's wieder. Moment mal. Möglicherweise war das ja nach seinem Tod. Ein bißchen wie'n Altar sah das schon aus. Und bei Galerie Lafayette haben sie's ja eigentlich nicht so mit den Büchern. Eher mit den Dessous. Mit dem, was ihr französischen Mädels so demonstrativ zart versteckt, daß man's anfassen möchte.«
»Anschauen, Monsieur! Du darfst es anfassen. Bei einem Mädchen. Einem etwas älteren.«
»Spinnst Du jetzt? Du trägst doch so'n Gestänge gar nicht. Allein daran hätte ich Dich wiedererkennen müssen. Du bist ja schon deshalb keine Französin.«
»Es gibt nicht viel zu stützen. Und ich mag es auch nicht. Und nachdem Du es mir einmal gesagt hast, daß es Dir behagt, habe ich auch nie wieder mein Behagen des Körpers beengt, nie mehr das angelegt, das Du Panzer nennst. Non. Wie hast Du es einmal genannt? Ceinture de chasteté pour le caractère sexuell secondaire.«
»Sowas soll ich gesagt haben? Das verstehe ich ja nicht mal, geschweige daß ich's denn sagen könnte.«
»Du hast es gesagt. Es ging einmal gut mit Deinem Français!«
»Und was hab ich gesagt?«
»Du weißt es nicht mehr? Stelle diesen Zusammenhang her. Dann wirst Du es wieder sagen können.«
»Mit Panzer? Da denk ich an virtuelle Realität. Zum Beispiel, daß die Deutschen, nein, vor allem die Schweizer Umweltschützer der höchsten Stufe sind.«
»Weil sie Frauen schützen?«
»Nein, Naziza. Das tun die ebensowenig wie die Franzosen. Aber die Franzosen fahren weiterhin vogelwild durch die Felder, während die Schweizer beim Panzerfahren die Geschwindigkeitsbegrenzungen einhalten. Und das am Computer, weil sie nur noch rausfahren, um die Dinger nicht einrosten zu lassen. Die Deutschen mittlerweile natürlich auch. Weil sie kein Geld mehr für Sprit haben. Weil sie alles in Hermes-Bürgschaften gesteckt haben, mit deren Hilfe die Panzer in Ländern der dritten oder vierten Welt ohne Spritersparnis durch die Lande donnern können.«
»Bon Dieu! Wie kommst Du von meinen Brüsten auf cuirasses, pareil allemand ou helvetique?! Et defense de l'environment? Umweltschutz für Frauen. Ich verstehe Dich nicht.«
»Du hast doch von Panzern angefangen ...«
»Didier ich habe von Keu ..., von Ceinture de chasteté pour le caractère sexuell secondaire gesprochen!«
»Aber zunächst von einem Panzer. Es gibt also bald keinen Krieg mehr. Nur noch virtuell. Im Kinderzimmer, am Computer. Dorthin sendet die US-Armee ja bereits ihre Rekrutierungsspiele. Und in der Liebe ohnehin. Krieg der Geschlechter im Computer. Es wird nichts mehr angefaßt, was der tatsächlichen Wirklichkeit entspricht. Das sind doch schöne Aussichten. Oder vielleicht nicht?«
»Didier. Es ist einmal wieder eine Deiner bizarre Ausflüge. Du verstehst es köstlich, dem auszuweichen, was Du tun sollst. Allez. Encore une fois. Was heißt es: Ceinture de chasteté pour le caractère sexuell secondaire. Es sind Deine Worte! Français! Traduction!«
»Ich weiß es doch nicht, was ich da mal geplappert habe. Na gut. Ich versuch's. Also. Sekundäre Geschlechtsmerkmale ist klar. Was könnte das andere sein. Ah! Ich vermute, nein, ich weiß: Keuschheitsgürtel. Richtig?«
»Oui, Monsieur. Keuschheitsgürtel für Geschlechtsmerkmale secondaire. Bei mir hast Du nie einen Schlüssel benötigt. Jedoch, Didier – wir waren nicht bei Deiner Lust auf Fleisch unter einem Panzer, uniquement pour les classes privilégiées. Wir waren bei Nahrung für den Geist. Sans classes. Égalité! Schaue zu den Büchern. Auf diesen Tisch mit Izzo.
»Ach ja. Dein Fleisch ist sicher sehr viel angenehmer ...«
»Fou! Du weißt nichts von ihm. Du hast es selbst gesagt.«
»Von Deinem Fleisch – nun denn. Interessiert hätte es mich durchaus, also die Bücher. Obwohl ich eins in der Hand hatte, daß ich beinahe mitgenommen hätte. Aber nicht wegen des Inhaltes, sondern wegen der Verpackung.«
»Mon Dieu. Didier. Wann warest Du das letzte Mal in Marseille? Ich habe einen schlimmen Verdacht ...«
»Kürzlich erst. Aber was ist das für ein Verdacht, für ein schlimmer? Daß ich in Marseille war?«
»Non. Didier. Es ist schon etwas komisch mit Dir. Du bist so leicht zu durchschauen. Du warest en février in Marseille? Oder danach. Kurz zuvor, bevor ich gefahren bin, um Dich zu suchen in der Welt.«
»Ja. Richtig. Kurz. Wie kommst Du denn darauf?«
»Man hat die Bücher von Izzo, die Polars, im Februar neu herausgegeben. Mit anderen Couvertures, mit Photographies darauf. Und auf einem dieser Bücher ist eine ...«
»Genau. Ein wunderschönes Mädchen, vermutlich Algerierin.«
»Complètement fou! Du würdest sonst nie etwas kaufen, dessen Inhalt Du nicht kennst ...«
»Das stimmt nicht. Ich kaufe viele Bücher, deren Inhalt ich nicht kenne.«
»Jedoch nicht nach eine Photographie!«
»Wenn der Name mich lockt, der Titel – wenn was Französisches drauf steht. Zum Beispiel. Also durchaus. Und wenn dann noch ein derart zauberhaftes Wesen abgebildet ist ...«
»Wie hier in Deine Wohnung. Überall Frauen. Und fast nur Bâtardes. Wie ich. So kann ich froh sein, daß Du mich geheiratet hast. Und nicht ein Musulman bist.«
»Das kann ich ja noch werden.«
»Merde alors! Ich werde eine Altjude aus Dir machen ...«
»Alt genug bin ich ja. Aber zum richtigen Juden eher weniger geeignet.«
»Und gar nicht zu einem Musulman! Nom d'une pipe! Hier ist Dein Fleisch. Es ist casher. Ich bin ausgeblutet ...«
»Als Moslem esse ich doch auch nur ausgeblutetes ...«
»Didier! Du hast mich ausgeblutet! Eh bien alors. Dieses tatsächlich sehr schöne Mädchen stellt vermutlich Naïma dar. Sie ist in dem Polar Chourmo von Izzo die Freundin von Guitou, der ermordet wird. Womit wir wieder angelangt wären. Bei den Kriminalbüchern von Jean-Claude Izzo. Nicht nur der Polar von Izzo ist en vogue.«
»Du solltest wissen, was mich en vogue oder von mir aus auch die Vague d'entousiasme mal kann. Eher das Gegenteil. Da bin ich bockig wie ein kleines ...«
»Une tête de mule.«
»Auch recht. Bock. Maultier. Ich bin's. Mich interessieren keine Moden. Ich vermeide sie eher. Alsdenn. Ich hatte wohl entziffert gehabt, daß seine Bücher alle in Marseille spielen. Allerdings bin ich vor der Sprache zurückgeschreckt. Ich bin ja froh, wenn ich die Zeitung gelesen bekomme. Und da es, wie gesagt, Krimis waren, hat's mich dann doch nicht allzu betrübt.«
»Didier! Ich sagte es. Er ist bekannt geworden mit seinen Kriminalgeschichten. Doch ich weiß nicht, ob er sie in seinem Inneren wirklich auch so gesehen, so geschrieben hat. Ich habe sie auch nie so gelesen. Diese Kriminalaktionen habe ich eigentlich nur gelesen, um in diesen Erzählungen nicht den Faden, die Bilder nicht zu verlieren. Seine Äußerungen über das Leben, über die Liebe, über die Frauen, über Freundschaft haben mich immer sehr viel mehr berührt. Sicher sind auch immer seine Fakten zur politischen Situation in Marseille wichtig und interessant. Über Front National par exemple. Über die Verhältnisse im Norden von Marseille. Wo ich – zu meinem Glück! – nicht leben muß. Über den immer stärker werdenden Haß auf Fremde, vor allem Arabes. Er ist, pardon, er war ein politischer Schriftsteller. Und er war ein Schriftsteller von einem hohen moralischen Anspruch. Ich habe davor große Achtung. Nicht so sehr vor diesen vielen Toten in seinen Büchern.«
»Was sind denn das für Bücher? Hast Du mehr Titel parat?«
»Mais oui! Total Cheops. Chourmo. Das hatte ich genannt. Dann Solea. Das sind die Kriminalbücher. Policiers. Es ist eine Trilogie. Les marins perdus ist ein anderes, das Schicksale von Seefahrern beschreibt, die mit ihrem Schiff im Hafen von Marseille liegengeblieben sind, weil die Juridiction es fixiert hat. Der Eigentümer des Schiffes hatte seine Schulden nicht bezahlt. Doch Schicksale hat er immer beschrieben. In den meisten Fällen die von Verlierern. Er muß die Menschen sehr geliebt haben. Das ist, so meine ich es, sein Désir, seine Sehnsucht, sein Verlangen, es ist das, was ihn bewegt hat. Ich glaube, nicht so sehr die Verbrechen. Doch, dort, wo Verbrechen Menschen zerstört, pareil de manière. Und deren Heimat. Und alles ist eine einzige énorme Liebeserklärung, eine sehr zärtliche – an Menschen, an Freunde, an das Zusammenleben von allen, an Frauen, an unsere Stadt. Wie Du eben immer wieder. Du hast von Tucholsky gesprochen, daß Menschen unabhängig voneinander dieselben Gedanken haben. Es ist wirklich verrückt. Denn alles, was Izzo geschrieben hat, klingt aus Dir. Ich genieße es, wenn Du sprichst, wie Jean-Claude Izzo schreibt. Non. Es ist nicht richtig. Doch, es ist richtig ...«
»Bei aller Ehre, die Du da auf mich losläßt – was denn nun? Ja oder nein?«
»Ja meine ich im Denken, primaire im Wunschdenken. Die Liebe, die Sehnsucht. Sehr tief. Wie ich Dich habe kennengelernt – und wie Du bist. Ich glaube, noch mehr als früher. Nun auch Deine außergewöhnliche, fast maßlose, immer weiter hinauffliegende Liebe zu Marseille, die Izzo genau so beschreibt, wie Du von ihr sprichst. Non, er ist nicht so hochfliegend, jedoch ebenfalls von dieser Mélancolie. Wäre sie nicht meine Stadt, in der ich aufgewachsen bin wie er, die ich genau so liebe, wie er sie geliebt haben muß, ich hätte einen Grund, eifersüchtig zu sein auf sie.«
»Das verstehe ich nicht. Wie meinst Du – eifersüchtig?«
»Sie ist auch eine Sie. Marseille ist eine Frau. Du sprichst so zärtlich und voll mit Sehnsucht von ihr, wie Du von mir sprechen sollst. Das wünsche ich mir. Das meine ich.«
»Vielleicht kenne ich die Stadt besser als Dich. Es ist sogar eher wahrscheinlich. Möglicherweise ...«
»Oh! Didier. Du machst mich traurig. Du hast mich einmal gut gekannt. Du hast mich deshalb geheiratet. Auch. Du hast es gesagt zu mir. Du hast gesagt, Du würdest in mir spazierengehen wie in unserer Stadt, die Du viel länger als zweitausendffünfhundert Jahre kennst. Du hast gesagt, nur so kann man eine Stadt kennenlernen, wenn man sich in ihr treiben läßt. Wie Izzo. Ich bitte Dich, wieder in mir zu spazieren, Dich in mir treiben zu lassen!«
»Ich will's nur zu gerne versuchen. Du bist schließlich mindestens so reizvoll wie Marseille. Also, Du bist meine Marseillaise. Ohne Revolution. Ohne Kampflied. Sans Bataille!«
»Ah! Er ist wieder zurück, er kommt wieder zurück zu mir, mein Troubadour Didier! Merci. Jedoch Attention! Ich bin auch etwas Révolution. Non. Es ist mir ein wenig so, wie Du zitiert hast Joseph Roth: ›Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.‹ Nachdem Du mir dieses herrliche Zitat gesagt hast, meine ich fast ...«
»Entschuldige bitte, daß ich Dich unterbreche. Was Roth geschrieben hat, geht, im besten Wortsinn, viel, sehr viel weiter! Nur alleinstehend hat der Satz diese melancholische Poesie.«
»Was meint es?«
»Roth schreibt: ›Es ist nicht mehr Frankreich. Das ist Europa, Asien, Afrika, Amerika. Das ist weiß, schwarz, rot und gelb.‹ Dann folgt dieser Satz. Es ist mein Satz. Als Poesie hat er ihn in mich gemeiselt. Interessanterweise habe das alles erst gelesen, nachdem er seinen Satz in mir festgeklopft hatte ...«
»Woher weißt Du es dann? Woher hast Du dann diese Sentence?«
»Oh weh. Du fragst mich Sachen. Ich weiß es wirklich nicht. Irgendwo habe ich es gelesen. Mir wird sowas zugetragen. Ich bin ja nicht nur ein Sprücheklopfer, sondern auch ein Sprüchesammler ...«
»Ah! Didier.«
»Also – irgendwo gelesen. Wie auch Tucholskys Satz. Den hatte mir im Büro eine Kollegin in die Hand gedrückt. Mir, dem Franzosenverrückten. Es war ein Kalenderblatt. Und ich habe mich tatsächlich sehr gefreut darüber. Das wiederum war der Auslöser, daß ich, um dieses Zitat zu finden, um zu vermeiden, daß es möglicherweise einem Kontext entrissen, sinnentstellt ist ...«
»Ich weiß es, Du bist sehr genau.«
»Ach, Naziza. War das jetzt ironisch gemeint? Ihr Franzosen! Oder besser gesagt: ihr Marseillais.«
»Non. Ohne Ironie. Ich weiß es. Es ist Dein Mentalité. Auch ist es Dein Beruf. Und ich habe es immer sehr geschätzt an Dir. Weil man sich darauf verlassen kann, wenn Du etwas genannt hast ...«
»War das jetzt eine euphemistische Variante des Korinthenkackers?«
»Tonnerre du Dieu! Ich habe gesagt: ohne Ironie! Weshalb beißt Du nach mir?! Es ist aufrichtig. Bon alors. Ich weiß es. Solltest Du etwas nicht genau gewußt haben, so hast Du Dich gemäß geäußert. Das meine ich damit. Eh bien, was war des weiteren?«
»Na ja. Daraufhin habe ich, auf der Suche nach diesem Zitat, alles, zumindest glaube ich das, alles von Tucholsky über Frankreich gelesen. Nun, sag ich mal: fast alles. Und das ist viel. Sehr viel.«
»So hast Du es gefunden, das Zitat?«
»Ja. Es stand unter den Schnipseln ...«
»Was ist das?«
»Schnipsel sind kleine Papierstücke. Fetzen. Hier ein liebevoller Name für Notizzettel, Notizen. Ich glaube, es heißt petit Morceau.«
»Ah. Oui! Bien sur.«
»Schnipsel hat er, wenn ich nicht irre, seit 1922 geschrieben. Immer und überall. Überall hat er seine Schnipsel verstreut. Massenweise. Es war eine ziemliche Sucherei. Aber es hat sich gelohnt. Und es war gut so. Denn es hat sich herausgestellt, daß dieser Trottel oder diese Trottelin, die's in ihren Kalender gehoben haben, genau falsch herum zitiert haben.«
»Que c'est vrai?!«
»Ja. Vielleicht war's ja sogar Absicht. Wer weiß. War ja ein deutscher Kalender. Oder Gevatter Freud hat hineingewirkt. Der hat ja auch Nietzsche nicht gelesen, weil er Angst hatte, es könnte was in dessen Büchern stehen, was er selber entdecken wollte. Das ist ungefähr so, als ob ich deshalb Tucholsky nicht lesen wollte. Auf dem Kalenderblatt steht: ›Die Deutschen muß man lieben, um sie zu verstehen, die Franzosen muß man verstehen, um sie zu lieben.‹ Richtig heißt es: ›Die Deutschen muß man verstehen, um sie zu lieben, die Franzosen muß man lieben, um sie zu verstehen.‹ Ich liebe lieber.«
»Es ist schmerzhaft. Das ist unglaublich.«
»Ja. Solche Dinger bringen sie andauernd irgendwo. Keiner kuckt hin, keiner hört zu. Oder verdreht's einfach. Und die Leute übernehmen's eben. Wie sie die Fehler abschreiben, die andere gemacht haben. Keiner überprüft es. Also. Bei Tucholsky steht dieser Satz tatsächlich alleine da. Eine Notiz eben. Vielleicht taucht sie ja nochmals irgendwo auf. Ich weiß es nicht. Sie hat also diesen fast poetischen Klang. Wie der von Joseph Roth auch. Aber nur, wenn er alleine steht! Denn im Kontext liest sich das doch um einiges härter, weil es eher ein Zwischenkommentar dessen ist, was er gesehen hat, eben diese Feststellung, die ich unabhängig von ihm auch gemacht hatte, bevor ich den gesamten Text gelesen hatte, dieses: Es ist nicht mehr Frankreich. Ich würde sagen: Es ist nicht Frankreich. Der Text selbst ist fast herb. Nicht derb! Er hat überhaupt nichts von der eindringlichen Leichtigkeit Tucholskys. Nun gut, er hat ja selber notiert, sein dichterisches Talent beschränkte sich in jungen Jahren auf präzise Formulierungen in einem Tagebuch. Und das ist ja das eigentlich Interessante. Der Schriftsteller Roth – der sich allerdings selber als Journalist bezeichnet – geht in Details, die der Journalist Tucholsky lediglich anreißt, antippt. Tucholsky ist poetischer. Er läßt mehr Platz für die Phantasie. Er schreibt zwischen die Zeilen. Auch ist er melancholischer. Mir gefällt's besser. Was nicht heißen soll, das Roths Texte nicht gut sind. Aber irgendwie sind sie verbissener. Sie haben bei weitem nicht diesen feuilletonistischen Esprit Tucholskys. Bei Tucholsky habe ich immer irgendwie das Gefühl, als hüpft ein Kind durch die Kreidekästen der Landschaften, der Städte, durch die Gesichter der Menschen. Und bei dem Schriftsteller Joseph Roth liest sich das manchmal, als ob er diese Kreidestriche des Subjektiven wegradieren möchte. Aber bei Tucholsky steht – zwischen den Zeilen, also nie expressis verbis – immer, daß es seine persönlichen Eindrücke sind. Und das wirft Roth anderen vor, nämlich: sie schrieben ungenau. Obwohl er ausdrücklich darauf hinweist, daß alles sich ständig verändere. Bei Tucholsky aber spürst Du's. Roth meiselt, Tucholsky skizziert. Das Lyon von Roth, zum Beispiel, das kenne ich nicht. Und dann ist er auch noch historisch ungenau. Aus der knapp zweitausend Jahre alten Stadt werden achtzehnhundert Jahre. Das ist ein Beispiel. Das Marseille von Roth ist mir fremd, in das von Tucholsky kann ich eintauchen wie in meine geliebte Badewanne und bin sofort zuhause. Nach über fünfundsiebzig Jahren. Roth aber beschreibt, etwa zur gleichen Zeit, ein Marseille, das es so längst nicht mehr gibt. Es ist nicht so, daß Tucholsky auf Fakten verzichten würde. Nein, beileibe nicht. Auch er schreibt ›von der beängstigenden Fülle der Häuser, die sich um ein breites Wasserbecken türmen, schmale, enge, fast drohende Häuser‹. Aber es liest sich dennoch nicht so beängstigend wie bei Roth. Bei Roth habe ich das Gefühl, daß gleich die Apokalypse über mich kommt. Schau, wenn einer wie Tucho von den so geräuschvollen Straßen erzählt, dann weiß ich sofort wo ich bin: zuhause. Gut, weil ich's kenne. Aber man kann sich auch was darunter vorstellen, wenn er vom Auftritt der Sängerein und Tänzerin Maria Valente erzählt, nach dem auf den ›geräuschvollen Straßen jeder Chaffeur so viel hupt wie die ganze place d'Opera in Paris nicht an einem Nachmittag – die großen Bäume an der rue de Rome rauschen leise‹, dann möchte ich doch sofort hinfahren. Aber vielleicht haben wir ja Glück, daß es Roth gegeben hat, weil ...«
»Wie meinst Du es? Denn Du klingst nicht sehr begeistert.«
»Das Marseille, von dem Roth schreibt, stinkt und ist gewalttätig. Selbst wenn er von den weißen Häusern in seinen geliebten weißen Städten schreibt, spürt man, hier in Marseille, daß ihm die Stadt nicht ganz geheuer ist. Warte mal. Ich hole eben von da drüben die Bücher her. Also, hier, Roth: ›Aber hier riecht es wie zu Hause vor Ostern: nach Staub und gelüfteten Matratzen; nach Lack für die Türen, nach feuchter Wäsche und Stärke; nach angebrannten Speisen; nach geschlachtetem Schwein; nach gesäubertem Hühnersteig; nach Schmiergelpapier; nach einer gelben Pasta für Messing; nach einem Mittel gegen Ungeziefer; nach Naftalin; nach Bohnerwachs; nach Eingemachtem.‹ Seltsam, was in diesem jüdischen Haushalt während des christlichen Ostern alles passierte. Gut. Und jetzt Tucholsky: ›Die Stadt hat wahrscheinlich viel von ihrer Buntheit der Menschen, aber nichts von ihrer malerischen Großartigkeit der Anlage verloren. In den Straßen klingelt die Elektrische, gehen und kommen die Leute, verkaufen kleine Buden Zuckerzeug und Zeitungen‹ ... ›Die Hafengassen gehen alle fast bis unmittelbar ans Ufer, sie verlieren sich hügelan in einem engen südlichen Gewirr von Wäsche, die quer über die Straße gehängt ist, Salatkörben, Vogelkäfigen, Häuserwänden ...‹ Roth meint: ›Ich habe hier die Grenzenlosigkeit des Horizonts erwartet, die blaueste Bläue des Meeres und Salz und Sonne.‹ Ich weiß nicht, ob der immer mit gesenktem Kopf durch die Stadt gegangen ist. Tucholsky hat den Kopf eben oben: ›Da liegt ganz Marseille – viel größer, als man es sich von einer Stadt mit einer halben Million Einwohner gedacht hat; über die Hügel verstreut, von Baumgruppen unterbrochen, klettern die Häuser vom Rand des Meeres bis auf die entfernten Berge.‹ Dieses Marseille kenne ich. Streiche das Hafengewimmel, das es so eben nicht mehr gibt, weil's, wie überall, in Containern stinkt oder duftet, je nach Nase, und ich bin sofort mittendrin im Gefühl dieser Stadt. Bei Tucholsky flirrt und glitzert immer was. Und wenn's der Provinzflitter ist, den er, als ebenso eingefleischter Pariser, aber nie denunziert. Die düstere Faszination von Roth ist das Bild, das du in schlechten Filmen siehst und das noch heute in den Köpfen der Deutschen existiert. Das meine ich damit, gut, daß Roth es geschrieben hat, ständig heißt's bei ihm: ›Über allem lag eine makabre Stimmung.‹ Deshalb bleiben die meisten weg. Und wir haben unsre Ruhe.«
»Mon Dieu! Habe ich Glück gehabt, daß Du das Marseille-Bild von Joseph Roth erst gelesen hast, als Du bereits mit mir verheiratet warest. Jedoch, ich kann auch sagen, glücklich, daß es Tucholsky gibt, der den Menschen die Freiheit gibt, selbst etwas zu entdecken. Didier, ich habe nicht sehr viel gelesen von Roth. Von Tucholsky nichts, Du weißt es. Jedoch es leuchtet mir ein, was Du sagst. Woran liegt es, meinst Du, daß Roth so, wie Du es schilderst, verbissen schreibt?«
»Ich vermute, daß es in der mangelnden Liebe wurzelt. Wenn es zulässig ist, damit alles zu erklären. Vielleicht ist's ja so. Er hat offenbar wenig davon gehabt. Er selber schreibt, er sei mitleidslos. Er schreibt sogar: ›Seit jeher mangelt es mir an Herz.‹ Es war ihm offenbar eine große Wonne, Spinnen zu füttern. Mit Fliegen. ›Spinnen sind meine Lieblingstiere geblieben. Von allen Insekten haben sie, neben den Wanzen, am meisten Verstand. Sie ruhen als Mittelpunkt selbetgeschaffener Kreise und verlassen sich auf den Zufall, der sie nährt.‹ Ja, das ist es vielleicht. Leicht einen an der Waffel hatte der schon. So eine Art Besessenheit des ewig Einsamen, der sich nicht mit seiner Einsamkeit arrangieren kann. Nun gut, das eine schließt ja das andere nicht aus. Oder ist sogar einander zugehörig. Interessanterweise bezeichnete er sich ja als Revolutionär. Und richtig: Irgendwie höre ich ständig, wie er die Muskete lädt und die Guillotine wetzt. Aber um die Köpfe der Communarden abzuschlagen! Ich weiß nicht, was der unter Revolution verstanden hat. Die katholische eben. Und die kennt sich ja aus beim Kürzermachen. Geradezu fanatisch ist des Juden Roth Hang zum Katholizismus. Das ist beinahe unangenehm. Ständig jubelt er dem Herrn zu. Avignon – das Europa, das der Katholizismus geschaffen hat! Von Inquisition, Folter, Mord und Totschlag des Papsttums kein Wort. ›Das babylonische Exil der Päpste – aber dann: Es war das lustigste Exil, das die Welt je gesehn hat‹, meinte Roth. Ein Teil der lustigen Päpste waren diejenigen, die dem erzenen Katholiken Vicente Ferrer und seinen Vasallen im Palais des Papes dabei halfen, die ursprünglichen Rothschen Glaubensgeschwister aus Spanien rauszujagen und in die ganze Welt zu zerstreuen. Zwar wird in Avignon ständig getanzt, aber züchtig, was das einfache, liebliche Volk auf der Brücke von Avignon betrifft. Wie die Purpursäcke es vermutlich hinter ihrem Festungsgemäuer haben krachen lassen, darüber schweigt dieser Kreuzritter, dieser ukrainisch-österreichisch-sehr-deutsche Chevalier de la Triste Figure sich aus. ›Welch ein Trubel unter dem Protektorat der Kirche! Welch ein Fest unter den Augen des Papstes!‹ Das Avignon von Joseph Roth war bestimmt die Patentante des Kölner Karnevals. Nein. Ich will die Kölner nicht beleidigen. Die gehen ja zum Beichten. Und andauernd Mutter Gottes, die Jungfrau. Eher peinlich. Das beste Beispiel dafür ist seine Beschreibung dieser Kitschkathedrale von Lyon, Fourvière, die zweite, später gebaute, dieses unsägliche Ding. Irgendwas von besonderer Wunderkraft gegen die Pest schreibt er. Fürchterlich. Dann schreibt er zwar davon, daß dieses Marienkultverehrungsdenkmal seit 1896 steht, erbaut ›mit dem Geld der frommen kleinen Leute‹ und mit erzbischöflichem Segen. Tucholsky hingegen erzählt von einem ähnlichen, wenn auch bei weitem nicht so schlimmen Bauwerk auf sehr viel differenzierendere Weise. Notre-Dame de ...«
»Unsere?«
»So ist es. Er umschifft sozusagen die Kritik an unserer gar nicht so alten, dafür aber wahrlich schrecklich schönen Dame, unser beider Notre-Dame de la Garde, die uns lächelnd dabei beobachtet, wie Du mich auf der Treppe zur place de Lenche in Deine Bluse steckst, weil Du unsere zehn Meter weiter liegende antike Kleiderkammer nicht abwarten kannst ...«
»Didier! Man sagt solche Cochonneries nicht!«
»Wieso? Du hast mir doch erzählt, daß sie Dir geholfen hat, mich in Dich reinzukriegen.«
»Monsieur! Unsere alte Dame ist über einhundert Jahre alt!«
»Dann weiß sie doch, wie's geht. Und zugeschaut hat sie oft genug. Bei uns zum Beispiel. Unsere Zeugin. Das kommt von Dir! Oder glaubst Du etwa, sie war immer keusch?! Sie ist schließlich Katholikin. Und als solche darf sie beichten. Wie die Kölner. Die Juden dürfen sowas ja nicht. Die machen allerdings aus schweinerner Bratwurst ein Fischbrötchen. In solche Weisheiten war Joseph Roth in seinen Katholizismus-Studien offenbar nicht vorgedrungen. Er war im Netz der katholischen Kirche gefangen. Anstatt wie seine geliebten Spinnen zu agieren. Dödel. Oder darf ich sowas auch nicht sagen?«
»Voilà assez! Foufou.«
»Selber verrücktes Huhn. Also, Tucholsky. Er umschifft das Aussehen unserer Trauzeugin, indem er nichts sagt, sondern einen anderen sprechen läßt. Er macht einen kurzen Ausflug und schreibt, eingefügt in eine – für ihn eher untypische! – Klammer: (›So grüßt über Paris Sacré-Cœur, das böse Menschen Sucré-Cœur nennen und von dem mir einst ein pariser Universitätsprofessor sagte: ›Wir wünschten, es grüße uns da ein anderes Symbol herunter.‹) Das klingt doch irgendwie anders. Oder etwa nicht?«
»Es ist leichter. Mehr heiter. Und es ist subtile.«
»Oui, Madame. Subtil. Und daß die neue Fourvière gebaut wurde wegen des Schwurs, daß die Lyoner Marienverehrer dieses stileversammelnde Kitschmahnmal errichten würden, wenn die vor Dijon stehenden Deutschen nicht einmarschieren würden, das läßt er diskret weg. Es hätte gerade noch gefehlt, daß er geschrieben hätte, daß das dem Herrgott oder der Jungfrau Maria zu verdanken ist. Es gibt einen Reiseführer – einen dieser Reiseführer, von denen er meint, daß man nicht einem einzigen Glauben schenken darf – worin ich ihm grundsätzlich durchaus zustimme –, in einem solchen eben steht es. Und auch noch in einem französischen. Und die sind erwiesenermaßen ungenau.«
»Du wirst unsachlich. Wenn ich auch lachen muß über Deine Wut.«
»Ja, das mag ja sein. Aber es stimmt trotzdem. Das mit der französischen Laxheit. Wobei ich anerkennen muß, daß das Lyon-Büchlein von Sébastian Griffe mich wirklich überrascht hat. Kein Schmuß, ordentlich Selbstkritik, viele Fakten, neue Erkenntnisse. Der Bildteil, na ja. Ist ja letztendlich doch ein Reiseführer für Lyon in zwei Stunden. Mehr Zeit haben sie ja nicht, die Gestreßten. – Wut nicht. Ein bißchen ärgert mich das. Also irgendwie paßt ihm das nicht in den Kram, dem politischen Journalisten und Schriftsteller Roth. Dem Möchtegern-Katholiken. Also läßt er's weg. Das Politische. Das einschneidend Politische. Denselben Mist lese ich bei ihm über Petrarcas Jungfer Laura. Bei ihm ist sie in seinem Katholiken-Mekka Avignon geboren. Dabei dürfte erwiesen sein, daß nichts erwiesen ist. Daß sie überhaupt existiert hat. Bei Tucholsky hätte vermutlich gestanden, daß man sich zur Laute der Renaissance ganz angenehm irgendwo hineinträumen kann. Das kann man dann so oder so sehen. Von mir aus aus hin und her oder rein und raus. Je nach Vorstellungsvermögen. Nun gut, vielleicht war man zu der Zeit noch nicht so weit mit der Tiefenforschung. Das weiß ich jetzt nicht. Und von Laura darf man ja ruhig schwärmen. Aber nicht den anderen solches vorwerfen. Bei Tucholsky ist sowas immer nur ein Satz. Und der sagt mehr als fünf Seiten Roth. So ist es. Tucho tanzt Spitze, und Roth rollt mit mit Holzschuhen über die Bühne. So sehnt er sich beispielsweise immer wieder nach dem deutschen Wald. Irgendwo hat der was nicht kapiert. Ich will keinen deutschen Wald im Licht der Provence. Soll er doch in den Wiener Wald. Oder sich von Cyrano de Bergerac in der Gascogne die Nase piercen lassen. In der Provence gleißt das Licht. Von mir aus auch mystisch. Auf jeden Fall nicht so verwackelt wie der rotgüldene Herbstwald. Richtig schön hart. Aufrichtig. Die provençalische Sonne ist ein echter Bastard. Sie ist überall zuhause und gibt dort von ihrer prallen Fruchtbarkeit was ab. Mystisch. Göttlich. Aber nicht einer Religion angehörig. Die Sonne ist französisch. Égalité! Bei Roth siehst du immer gleich einen dräuenden Wald, wenn er loslegt. Immer hat er auf die Deutschen geschimpft, dieser Österreicher. Na ja, Zwangsösterreicher. Aber aufgeführt hat er sich wie die deutsche Axt, die den nicht vorhandenen französischen Wald gleich umhaut. Nein, in Frankreich entzündet sie Sonne den spärlichen Wald. Und von der Sonne schreibt er, daß Du Angst kriegst, sie fällt Dir gleich auf den Kopf. Oder du meinst, er fängt gleich an zu weinen, wenn er einen Text beginnt. Das kann man alles in seinen Romanen und Erzählungen wiederfinden.«
»Ich habe den Eindruck, ausreichend Joseph Roth gelesen zu haben. So werde ich mich Tucholsky widmen.«
»Ja! Allerdings ist das ja wirklich nicht alles schlecht. Es gibt ja einiges. Ach nee. Ich weiß nicht. Irgendwie schon österreichisch annektiertes Ost-Kaltblut. Also gut. Tucholsky. Da haste genug zu tun. Und Informationen gibt es ebenso reichlich wie bei Roth. Bessere. Und ich liebe diese Hinterlist!«
»Weshalb Hinterlist?«
»Tucho schleicht sich an. Wie Du. Mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht. Und – schnapp – hat er Dich.«
»Du bist impertinent. Ein Beispiel. Bitte.«
»Von Deiner Hinterlist?«
»Oui. Ein Beispiel von mir an einem Beispiel von Tucholsky.«
Warte mal. Hier: Band vier. Da drinnen ist gedruckt Vierzehn Käfige und einer. Also. Er schreibt: ›Die kleine Insel ist das Château d'If ...«
»Unsere petit Taule!«
»Jawoll. Unser kleiner, süßer Knast. In den wir unsere paar Touristen und vielleicht noch Herrn Roth reinsperren. So denn: ›Die kleine Insel ist das Château d'If. Es liegt – falls sie Ihren Atlas zur Hand haben – vor der Stadt Marseille, gegenüber den beiden Inseln Ratonneau und ...«
»Didier! Ratonneau! Unser ...«
»Ja, Naziza! Unser. Aber jetzt laß mich das doch mal vorlesen. Sonst kommen wir nie dort an. Nochmal: ›Die kleine Insel ist das Château d'If. Es liegt – falls sie Ihren Atlas zur Hand haben – vor der Stadt Marseille, gegenüber den beiden Inseln Ratonneau und Le Frioul, die durch einen Damm‹ – jawohl Madame, Digue Berry, auch wenn's bei Tucho nicht geschrieben steht, weil er sich zu recht veranlaßt sah, hier mal nicht zwischen die Zeilen zu schreiben, aber wir wissen es – ›... durch einen Damm verbunden sind. Ist bei Ihnen nicht drauf? Na, schadet nichts. Château d'If ist die Insel, auf der Edmond Dantès eingesperrt saß, der Graf von Monte Christo.‹ Nun erzählt er locker vom Hocker Historisches – aber nicht etwa ungenau! – und skizziert das Aussehen. Genau so, wie's heute zu sehen ist! Du kannst es ja dann selber lesen. Aber so viel noch. Zitat: ›Der Hof ist ganz klein, von vier Mauern umgeben, die nicht allzu hoch sind, von oben glänzt quadratisch der blaue Himmel. Unten ist das Licht getönt, milchig und hell kaffeebraun. Unten steht ein Brunnen und an einer Mauerwand eine Ansichtskartenbude ...‹«
»Ça alors! Es ist wie heute!«
»Sag ich doch. Ein Satz nur. Weiter. Jetzt geht's nämlich los: Also, Ansichtskartenbude. ›Und ringsherum sind die chachots, die Käfige.‹ Dann geht's 'ne Weile weiter, und dann: ›...von der aus man in die obern Käfige gelangen kann. Vor jeder Tür ist ein Holzschild angebracht, auf dem steht gemalt, wer da einmal eingesperrt war. Wie in einem zoologischen Garten, man vermißt den Zusatz: Geschenk des Herrn Konsul Friedheimer ... Ja, es zieht durch die kleine Luke, und wenn man den Kopf an die Eisengitter legt, kann man auch ein Stückchen vom Meer sehen, in dem die freien Fische wohnen.‹ ... ›Der Boden ist ausgemauert, schwärzliche Spuren an den Wänden deuten auf ehemalige Kamine. Es muß höllisch kalt gewesen sein, damals‹ ... ›Da saßen sie also. Meistens waren es politische Häftlinge, die hier gesessen haben, alles Leute, die die Regierung nicht töten konnte oder wollte, und deren Freiheit ihr höchst unbequem war. Damals war das recht einfach: man benötigte nur die lettre de cachet, um etwas zu erreichen, wozu man heute ein ganze Volksgericht auf die Sessel setzen muß‹ ... ›Manchmal ließen auch hochmögende Eltern ihren Sohn ein bißchen einsperren, bloß so.‹ Dann reiht er sie in seinem unnachahmlichen leichten, lockeren Stil auf, die Insassen, etwa so: ›Auf der anderen Seite hat Dantès gesessen, eben jener, dessen Schicksal Dumas in seinem Schmöker benutzt hat.‹ Oder ›Dann liegt da noch zu ebener Erde ein cachot, dem Publikum nicht zugänglich. Darin saßen im Jahre 1871 einhundertundsechzehn Gefangene. Communards. Einhun-dertsechzehn – das ist keine Zahl für uns andre ...‹ ... ›Herauf die kleine Treppe, auf die obere Galerie. Da saßen: Ein Abbé, der ein Mädchen verführt haben soll ...«
»Es war wohl Louis Goffridi. Er ist verbrannt worden, weil er mit Teufels Hilfe Madeleine Mandols verführt haben soll. Er war ihr Confesseur. Ich weiß nicht, wie es deutsch heißt. Beicht ...?«
»Beichtvater?«
»Oui. Sie war sechzehn Jahre. Damals hatten sie bereits Kinder in diesem Alter.«
»Und heute bereits dreimal geschieden. Ich sag's doch: Katholiken. Pfaffenbrut. Nicht dieser Herr Goff ... Dingsbums. Also weiter: ›ein Kanzelredner, der mit England konspiriert hat; ein Mann, der versucht hat, Napoleon zu ermorden; der berühmte ›Mann mit der eiseren Maske‹; Louis-Philippe Égalité. Mirabeau (kein politisches Gefängnis, in dem der nicht gesessen hätte); ein Herr Mollard, der sechzehn Jahre hindurch saß, weil seine Eltern das so wollten. In diesem Raum tagte dann später eines der Revolutionstribunale.‹ Und und und. Also – immer auffliegende Bilder. Luft für unser Vorstellungsvermögen. Eindrucksvolle Bilder. Tucholsky ist wie gutes Kino. ›Man kann sich nur schwer vorstellen, daß in diesen Räumen Menschen gelitten haben; daß der Tritt der Wache auf der Zugbrücke und der Ruf eines Schiffes die einzigen Laute waren, die man hier hören konnte, das Klirren der Waffen und das Klappern von Flaschen – wenn es nicht einer der Häftlinge einmal vorzog, stundenlang wie ein Tier zu brüllen. Oben auf der Brücke des Gebäudes segnet das Werk Gott‹. Jawoll, Herr Roth.«
»Ich muß das lesen!«
»Aber nicht jetzt. Du kannst Dich mit Tucho aufm Château in 'ne Zelle setzen, während ich den freien Fischen die Freiheit nehme. Jetzt mußt Du Dir erst noch den Vergleich anhören. Joseph Roth. Er steht, wenn er nicht hier liegt, wo er eben gerade liegt, vor Tucho im Regal, genauer: hinter Romain Rolland und vor Jacques Roubaud. Seltsame Reihung. Eigentlich gehört Tucholsky dahin, nämlich hinter die schöne Hortense von Roubaud, diesem Wonne-proppen, dieser ›Vollkommenheitsbotschaft‹ mit Schenkeln aus Milchkaramell. Aber Tucho hat sich hinter Georg Trakl plaziert. Auch seltsam. Denn das war auch so eine tragische Figur aus Österreich. Also neben der Vollkommenheitsbotschaft Hortense Joseph Roth. Der katholische, der Milchkaramell wahrscheinlich nur aus dem Trafik kennt, dem Wiener Tabak- und Zeitungsladen. Aber nur, weil bei ihm das R rollt und Tucho T macht. Des Juden-Katholen Donnergottes Rothan Rollen sozusagen. Avignon. Palais des Papes. Dieses – ohne jeden Zweifel beeindruckende und auch in seinen Ausmaßen durchaus schöne – Monstrum Palast der Päpste. Wohin ich nur gehe, um mich staunend zu fürchten. Wo er am liebsten drinnen gewohnt hätte. Den Eindruck habe ich zumindest. Er beklagt, daß er als Kaserne mißbraucht wurde, und ›zweimal täglich ist er das Ziel neugieriger Touristen und das Objekt falscher Erläuterungen, die ein Führer gegen Trinkgeld den Amerikanern erteilt‹ Er. Echter Franzose, unser Roth. ›Dann stehe ich im Hof. Er ist von vier Seiten eingeschlossen wie ein Kleinod. Er hat viele schwarze Tore in den Wänden, aber man glaubt nicht, daß sie hinausführen. In diesem Hof müßte ein Gefangener seine Ohnmacht stärker fühlen als in einer kleinen und finstern Zelle.‹ Man spürt Gott bereits nahen. Das steht nicht bei ihm, sondern bei mir. Weiter: ›In diesen Torbögen lehnten die Gewehre. Und doch hat der Hof der Kaserne, in der ich ›abgerichtet‹ wurde, ganz anders ausgesehn. Ob es nicht eine Weihe gibt, die von einem Stein, einem Glas, einer Wölbung ausstrahlt und einen Hof vor der endgültigen Vernichtung schützen kann?‹ Verstehste? Denn: ›Sie hatte recht, die Militärbehörde. Das ist kein Anblick für exerzierende Menschen. Solche Bilder könnten die Disziplin einschläfern. Gebt weißen Kalk darüber, Kalk darüber, Kalk darüber! Verdeckt die Fresken von Mattea Giovanetti de Viterbo, dem Christus am Kreuz. Er hat die armseligsten, hagersten Arme, sein Körper ist schmal wie ein Bein, seine durchstoßenen Hände sind halb gewölbt, noch offen, dem Betrachter zugekehrt, als schenkten sie noch im Tod, die Augen sind geschlossen wie bei einem Schlafenden, es ist die erste Sekunde nach dem Tod, im Gesicht ist kein Schmerz mehr ...‹ Es ist zum Losheulen. In jeder Hinsicht. Irgendwie spürt man da, daß Roth in Paris als Alkoholiker jämmerlich verreckt ist und Tucholsky es vorgezogen hat, im schwedischen Sein zu sein wie die freien Fische. Was nicht heißt, daß er nicht gelitten hat. Raddatz erkannte: Er war ein einsamer Mensch. Kurt Tucholsky, der Kumpaneien haßt, die nie in literarischen Cafés saß, der vor den damals noch gar nicht goldenen zwanziger Jahren schon 1924 aus Berlin floh und der sie zwar alle kannte, die man heute mit ihm zusammen nennt – Kästner und Mehring und Ossietzky und Hiller – Kurt Tucholsky war wohl nie mit einem befreundet. Dann also auch kaum mit Roth. Roth soff sich in den Cafés und Kneipen von Paris tot. Umbringen durfte er sich nicht. Er war ja schwerst verstrickt. Im Katholizismus, in den er sich geistig aufgemacht hat, ist das höchste Sünde, sich einfach aufzumachen zu den freien Fischen wie der Jude Tucholsky. Nun gut, der ist ja uch von der jüdischen Fahne gegangen und hat protestantiert. Aber Roth, ach, wäre er doch besser ein schlechter Jude geblieben wie Tucho. Das sag ich jetzt einfach mal so. Weil ich nicht glaube, daß er geglaubt hat, auch nicht an den evangelischen Gott. Jedenfalls nicht angesichts eines armseligsten Jesusleins oder vor einer Thora-Rolle oder sonst irgendeiner Gebetsmühle. Wenn er an was geglaubt hat, dann an den Menschen. Den guten. Den schlechten hat er einfach nichtmal ignoriert. Ach was, ich rede dummes Zeugs. Er hat so manchem Philister – und damit meine ich nicht nur die Feinde Israels – was beigebogen, sozusagen auf den Leib geschrieben. Aber eben mit spitzer Feder auf dünnes Papier. Und jeder, der sich an Papier mal geschnitten hat, weiß wie weh das tut. Und Roth: Irgendwie war's wohl ein armes Schwein. Ach ja, noch was: In Frankreich leben wollte Roth immer. Das war all sein Sehnen. Wie meins. Aber ein französischer Schriftsteller wollte er dennoch nie werden. Dazu war er zu sehr in der deutschen Sprache zuhause. Wie ich. Ich will aber überhaupt kein Schriftsteller werden. Nur Franzose im Leben. Das er nicht kannte. Offenbar. Und dennoch hat er gemeint, es ergebe keinen Sinn, ein deutscher Schriftsteller zu sein. Deutschland liege in einer Schlucht.«
»Was wollte er dann?«
»Oh! Naziza. Das ist ja so spannend. Hier wird die Heimat an der Fußsohle so klar, auch so politisch deutlich. Er war sicher ein Mitstreiter von Tucholsky. Aber ob geistesverwandt? Wohl eher weniger. Er hat eine sehr viel energischere, aber eben auch eindimensionalere Position vertreten. Nicht im Sinne von Herbert Marcuses Eindimensionalem Mensch, der von der herrschenden, verwaltenden Klasse erdrückt wird, der er sich ohnehin nicht zugehörig fühlte, unser desertierter, missionierender katholischer Salonevolutionär, sondern eher in dem einer eingeengteren Reflexionsfähigkeit, mit dem tiefergehängten Horizont – klar, wenn man immer auf den Boden schaut –, also etwa wie die dickblütige, sich durch die Humortrombose quälende Kreativität des deutschen Films ...«
»Ah! Didier. Es ist auch zu übertreiben. Wenn es auch manchesmal ein wenig komisch ist mit Deinen Vergleichen.«
»Also der eingeengte Mensch Roth und seine Fußsohle: ›Jeder Mensch trägt ...«
»... seine Heimat an der Sohle ...«
»Non! Écoute – ›... in seinem Blut fünf Rassen, alte und junge, und jedes Individuum ist eine Welt von fünf Erdteilen.‹ Dafür liebe ich ihn dann wieder. Hier – und in vielen anderen Positionen – war er schon sauber. Um nicht zu sagen kosher.«
»Das ist wirklich verrückt. Ich höre Dich. Ich höre Izzo. Es ist richtig – so klingt es anders. Doch es ist wohltuend. Trotz Deiner Kritik an ihm.«
»Katharina Ochse, die eine Doktorarbeit über ihn und sein Verhältnis zum Antisemitismus verfaßt hat, meint, daß er in Frankreich 1925/26 – die Zeit, in der Tucholsky auch in Frankreich gereist ist beziehungsweise gelebt hat, ich habe aber noch nicht herausgefunden, ob diese beiden Juden sich begegnet sind –, daß er in Frankreich 1925/26 den entscheidenden Anstoß erhält, sich – wie andere jüdische Autoren seiner Zeit – dem Katholizismus zuzuwenden, mit dem er schon lange vor der Frankreich-Reise sympathisierte. Wer nicht in Paris war – mit Paris hatte er's in erster Linie –, ›ist nur ein halber Mensch‹, hatte er geschrieben. Ein ganzer Mensch zu werden, hieß bei ihm, 1925: Jude, Katholik und Europäer zugleich sein zu können. 1935 hat er notiert: ›1922 France=la lumière, la liberté personelle‹ Ich schätze Roth sehr in dem Bereich, wo er schreibt: ›... wenn ich auf dem ›Platz der Turmuhr‹ – das ist wohl die grosse Orloge ...«
»Merci, mon professeur.«
»Tschuldigung. Ich bin halt'n Oberlehrer. Also grosse Orloge: ›... in Avignon sitze und alle Rassen der Erde im Gesicht eines Polizisten, eines Bettlers, eines Kellners leuchten sehe. Das ist die höchste Stufe der ›Humanität.‹ Dann würde ich ihn nicht gerade knutschen wollen, weil er'n bißchen arg viel Pathos vorm Maul hat. Aber ich würde ihm den Schaum wegwischen und ihn sogar küssen, da er schreibt: ›Welch eine lächerliche Furcht der Nationen, und sogar europäisch gesinnten unter den Nationen, diese und jene ›Eigenart‹ könnte verlorengehen und aus der farbigen Menschheit ein grauer Brei werden! Aber Menschen sind keine Farben, und die Welt ist keine Palette. Je mehr Mischung, desto mehr Eigenart.‹ Ihn verärgert auf den Rücken knallen täte ich ihn dann und mich zu meinen Demoiselles d'Avignon am Cours Jean Jaurès aufmachen täte ich mich dann nach diesem Ausbruch: Avignon. ›Ist sie orientalisch oder europäisch? Sie ist nichts von alledem zusammen. Sie ist eine katholische Stadt. Und wie diese Religion alle Völker umfaßt und wie diese Religion kosmopolitisch ist, so ist Avignon die Festung der katholischen Kirche, kosmopolitische, organische Verschmelzung aller Traditionen und Stile. Es ist Jerusalem und Rom ...‹ ... ›Wird die Welt einmal so aussehen wie Avignon?‹ Da kriegste doch die Krätze. Nun denn. Der für mich leicht widersprüchliche Roth besteht darin, daß er die Assimilation der Ostjuden in Berlin und Wien kritisiert, weil die Juden mit ihr auch den Militarismus und den Nationalismus übernehmen, wohingegen in Paris die Ostjuden anfangen, Westeuropäer zu werden. Sie werden Franzosen. Frankreich ist für ihn das Geburtsland des europäischen Gedankens. Womit er ja irgendwie recht behalten sollte. Auch wenn die Deutschen es nicht wahrhaben wollen.«
»Wo ist ein Widerspruch?«
»Tucholsky hat zwar auch auf die Deutschen geschimpft. Aber er hat gemeint, auch dort müsse und könne sich was ändern. Na ja, durchaus mit Zweifeln durchsetzt. Aber Roth hatte Deutschland beerdigt. Er muß es gehaßt haben ...«
»Hier hat es den Anschein, als ob ihr dennoch verwandt seid.«
»Wer weiß? Dennoch: nein. Damit habe ich nichts zu tun. Roth hat irgendwie ideologisch gehaßt. Vielleicht psychologisch. Das ist mir fremd. Außerdem besteht zwischen dem Deutschland, das ich kenne, und dem, das Roth gehaßt hat, doch ein elementarer Unterschied. Es wäre vermessen, hier einen Vergleich anzustellen. Wenn ich auch glaube, daß tief drinnen die braune Soße fließt. Aber da ich nicht glaube, ist es hinfällig, also nicht weiter diskussionswürdig. Anders: das Entscheidende ist nämlich, womit der elementare Unterschied – und zugleich der Widerspruch – aufgezeigt wäre: So sehr er Frankreich verehrt hat – er war nie wirklich bereit, zu lieben, sich zu integrieren. Er muß Frankreich verehrt haben wie eine Mariannen-Statue. Fleischlos. Und wann immer er die Freiheit in diesem Land gelobt hat, so hat er die eigene gemeint. Daß sie ihn in Ruhe lassen, das hat er hymnisiert. Das stimmt zwar, weil uns Franzosen das am Arsch vorbeigeht, was ein gewisser Boche namens Joseph Roth dazu anzumerken hat. Zumal er ja offenbar auch nicht bereit war, französisch zu schreiben. Und deutsch lesen wir nicht. Wir wissen gar nicht, was das für ein seltsames Geräusch ist ...«
»Didier. Du bist eine Idiot!«
»Aber Tucholsky – der das ja richtig erkannt hat – hat wohl die Menschen des Landes geliebt: Die Franzosen muß man lieben, um sie zu verstehen. Deshalb hat er sie wohl verstanden. Deshalb hat man ihn wohl noch weniger gesichtet als seinen Kollegen Roth, der das immer so deutlich hervorgehoben hat: Höflichkeit, laisser-faire und so weiter. Der hat nicht verstanden, daß das ein Normalzustand ist,sein sollte. Den muß man genießen. Sich nicht wundern. Ach, was rede ich? Ich bin ja keinen Deut besser. Wie auch immer – ich habe noch einen Vater. Insgeheim. Kutte Tucho, den Leichtfüßigen, den man nicht sieht. Das hätte ich jedenfalls gerne so. Vielleicht auch, weil mein eigentlicher Erzeuger aus dem ebenfalls Osten mit Frankreich nichts am Hut hatte. Na ja, vielleicht weil er 'ne Französin, diese Französin abgekriegt hat.«
»Aus der Du gekommen bist.«
»Und die mich dann deutsch versaut hat. Obwohl sie die Deutschen noch mehr gehaßt haben muß als Roth. Weshalb sie ja auch ins Land gezogen und geblieben ist. Achterbusch: Dieses Land hat mich kaputt gemacht, jetzt bleibe ich solange hier, bis man es ihm ansieht. Das hat sich wohl auf mich übertragen. Aber jetzt wechsle ich die Fahne ...«
»Du bist bereits seit lange Zeit eingewickelt in die Tricolore! Nun nimmst Du heraus das Rot. Das meine ich nicht politisch.«
»Wie soll ich diese Anspielung verstehen?«
»Ich meine das Rot der Tricolore.«
»Immer noch Bahnhof.«
»Die Farbe der Marseillaise, Du modèle d'un Marseillais, ist Blau und Weiß. La Croix-Bleu!«
»Aha. Nun hast Du mich von der Leitung gehoben. Merci. Na gut. Was soll's. Also: Roth, Tucholsky und Aubertin, die Begründer der Glorifizierung Frankreichs. Und von Marseille! Denn weiter heißt es bei Roth: ›Alle Erden aber segnet dieselbe nahe, sehr heiße, sehr helle Sonne‹ – die ich übrigens nie als so heiß empfinde, sondern als angenehm, da bin ich milde gestimmt wie Tucholsky –, und weiter steht geschrieben: ›sehr helle Sonne, und über alle Völker wölbt sich dasselbe blaue Porzellan des Himmels. Alle trugen das Meer auf seinem breiten, schwankenden Rücken hierher, jeder hatte ein anderes Vaterland, jetzt haben alle ein einziges Vatermeer.‹«
»Mon Dieu! Izzo hat es gelesen. Izzo muß es gelesen haben! Es ist ist es exact – es ist eines seiner Sujets. Jeder, der auf der Suche nach ist irgendetwas, vielleicht nach sich selbst und der nach Marseille kommt, schreibt er, der ist dort zuhause. Puh. Das sind die Worte von Joseph Roth. Ich glaube, die Leser wissen nicht, woher er das hat. Es kann nicht anders sein. Ich glaube hier nicht mehr an Tucholsky. Oder vielleicht doch auch hier Tucholsky?«
»Warum denn nicht? Izzo ist doch, wie Du sagst, aus Marseille. Ich glaube schon an diese Weisheit Tucholskys. Weshalb sollen nicht mehrere Menschen identische Gedanken haben? Ich habe ja diese Feststellung auch gemacht, bevor ich das bei Tucholsky und Roth gelesen hatte. Also, weshalb soll denn ausgerechnet ein Mann das nicht denken, der dort aufgewachsen ist, sein ganzes Leben dort verbracht hat?!«
»Du wirst recht haben. Jedoch, es ist noch etwas hinzuzufügen. Ein weiteres ist das, wovon Du immer wieder gesprochen hast, wovon wir immer wieder gesprochen haben – la vie modeste.«
»Leben was?«
»Ein bescheidenes Leben. Wenn ich auch nicht verstehe, daß er immer wieder das La Samartine so sehr lobt ...«
»Diesen Touristenschuppen an der Ecke Rue de la République und Quai du Porte?«
»Oui. Wenn ich nicht irre, erwähnt er La Samartine in jedem Buch.«
»Dann lese ich den nicht. Diese Windbeutelkneipe mit den kleinen schnöseligen Kellnern und den großen, überdimensionierten Preisen und dem Touristentand an den Wänden. Nee. Das sieht da drinnen ja aus wie an der Touristen-Reeperbahn! Also wirklich nicht. Der hat'se doch nich alle.«
»Ich weiß es auch nicht. Vielleicht war er ein Freund des Patron? Vielleicht ist die Cuisine excellent? Ich weiß es nicht. Ich gehe auch nicht dorthin. Égal. Eh bien. Wir beide, Du und ich, haben immer davon gesprochen. Lange bevor ich Izzos Bücher gelesen habe. Mon Dieu! Immer wieder Tucholsky. Immer mit gutem Essen und gutem Wein. Mit einfachen Zutaten. Facile. Italienisch wie französisch. Italienische Küche. Gepaart mit französische aus dem Sud. Sie kommt oft vor in seinen Büchern. Ich glaube, nicht nur, weil er von Italien abstammt. Er beschreibt alles, was gut ist, weil es konzentriert ist auf das Essentiel. Auch den Wein. Die Menschen. Wie Du. Und er schreibt auch so. Das ist es, was ich gemeint habe vorhin damit, daß er geschrieben hat, was Du sagst. Gerade jetzt mit Deine Excursion zu Roth und Tucholsky. Denn es sind doch extrème Deine Gedanken, die Du ausgewählt hast bei ihnen. Non. Nicht bei Roth. Pardon. Du bist ja ein Sohn von Tucholsky. Doch Du schreibst nicht so.«
»Ich schreib doch auch keine Krimis. Ich schreibe überhaupt keine Romane oder ähnliches.«
»Vielleicht solltest Du es einmal tun. Doch ich meine die anderen Texte, die ich kenne, diese Essais. Nicht diese über Culture, über Politique culturelle, über l'art contemporain. Wenngleich es dort auch spürbar wird. Jedoch ich meine avant tout Deine, wie Du sie nennst, ›Freizeittexte‹ oder ›Texte zum Ablassen von Dampf‹.«
»Woher kennst Du denn ...«
»Didier! Wir waren, pardon, wir sind verheiratet. Wir haben zusammen gelebt. Ich habe alles gelesen, was Du geschrieben hast in diese kleine Magazine culturel, das Du hast herausgegeben, das Du hast gegründet. Mon Dieu! Ich habe dieses alles gelesen.«
»Entschuldige. Daran habe ich – aber ich hab doch kaum geschrieben darin.«
»Unsinn. Es ist viel. Einmal mehr, einmal weniger. Sehr viele kurze Texte. Einmal, was Du hast geschrieben über Ann Gaytan und über Léo Ferré. Es ist schön. Eine kleine Perle. Da war Dein intelectuelle Maniérisme verschwunden, den Du manchesmal pflegst. Nicht immer. Doch dieses war Herzblut. Man hat gespürt, wie Du Dich hast treiben lassen. Wie in Marseille. Und bald wieder in mir! Nirgendwo eine Fessel, höchstens Liens de l'amitié. Und es standen auch sehr umfangreiche Essais darinnen. Es waren oft Arbeiten, die Du geschrieben hast für den Radio, die Du dann umgearbeitet hast für Journals, für Bücher. Ich habe das gelesen! Und Du sprichst manchmal so, non, oft, wie Izzo. Didier! Er war einmal Rédacteur en chef von Deine geliebte La Marseillaise! Du hattest eine eigene Journal begründet, weil Du des Überdrusses voll warst, Überdruß wegen diese Art von Journalisme ...«
»Dessen ich dann auch überdrüssig wurde.«
»À d'autres! Ihr habt es beendet, weil es zuviel wurde. Doch es waren fünf Jahre! Énorme! Und Izzo hat die Journalisme beendet und begonnen, Tatsachen in Romane hineinzuschreiben, weil er des Streites der Linken überdrüssig war. Es gibt Gleichartiges. Doch in jedem Falle Du schreibst anders als Izzo. Hier ist ein Unterschied zwischen ihm und Dir. Es ist der Unterschied in der Éducation, den man spürt. Izzo sagt selbst, daß er sie nicht gehabt hat.«
»Dann hab ich eben Glück gehabt.«
»Das war eben gerade genau Izzo. Dafür ich liebe Dich. Und Izzo.«
»Dann kann ich ja von Glück sagen, daß er tot ist. Oder er kann von Glück sagen, daß er schon tot ist. Denn jetzt bin ich dran mit der Eifersucht.«
»Fou. Du weißt es, was es bedeutet, wenn man solches sagt – man liebt eine Auteur, eine Musicien. Nicht seinen Zahnarzt oder seine Avovcat. Das bedeutet Schwierigkeiten. Doch man liebt seine Schriftsteller oder seine Maler oder seine Chanteur. Oder wie Du Deine Zweitfrau, Deine Chanteuse Enzo Enzo. Du liebst sie, und ich muß mit ihr leben. Und schön ist sie auch noch. Ich muß es anerkennen. Also, ich liebe Izzo für sein Denken. Und nicht nur sein Denken ist schön. Er war auch ein schöner, ein sinnlicher Mann, wie seine ...«
»Aber jetzt!«
»Siehst Du. So ist es. Du hast Enzo Enzo, und ich habe ab sofort, mit diesem Gespräch nun, Jean-Claude Izzo. Doch ich bin im Nachteil. Enzo Enzo lebt, und Izzo ist tot. Eh bien alors, es sind avant tout seine Gedanken. Seine Sprache ist nicht so sehr diejenige, die ich genieße. Sie ist simple. Jedenfalls in diesen Polars. Vielleicht es ist Stilmittel. Doch das hat ihn sehr populaire gemacht. Es ist gut so. Ich wünsche es diesen Büchern, weil sie eine hoch zu wertende Philosophie tranportieren. Es ist anzunehmen, daß er deshalb auch Kriminalromane geschrieben hat. Sie waren Transport für seine Gedanken. Ich glaube immer mehr, daß seine Leichen nicht so sehr waren interessant für ihn. Ich muß eben daran denken, was Du einmal – Du hast es auch geschrieben ...«
»Was denn bitte?«
»Lasse mich doch bitte aussprechen. Puh! Ich erkenne meine Didier. Ich bin dabei, es Dir zu sagen.«
»Entschuldigung. Es ist eine alte Krankheit.«
»Ich kenne sie. Bon, allez! Wir waren einmal in einer Ausstellung mit Dessins par Cy Twombly. Es waren darin ein paar Deutsche, die darüber gesprochen haben. Dumm. Sehr dumm. Du hast Dich so sehr aufgeregt, Du wolltest mich wegziehen, hast zu mir gesagt – français, damit sie es nicht verstehen oder vielleicht doch, denn Du hast laut gerufen etwa – encore un de ceux il dit âneries! Après tout merde! So ungefähr.«
»Wie denn das, um Himmels willen.«
»Écoute, Didier! Es war sehr komisch. Sie haben es verstanden. Sie haben sich voll mit Entsetzen zu Dir herumgedreht. Wahrscheinlich haben Sie gedacht, daß sie niemand sie versteht, wenn sie solche Commentaires liefern ...«
»Ich meine, was habe ich denn da gemeckert? Ich verstehe offenbar meine eigenen Worte nicht. Mein Französisch war offensichtlich mal besser. Also irgendwie – schon wieder so einer, der so einen Scheiß erzählt. So in etwa?«
»Dein Français ist in Ordnung. Exact. So eine Quatsch, Dummheit er hätte gesprochen. Er hat nämlich gesagt, diese Kritzelei kann doch unsere Tochter auch. Es würde nichts dahinterstecken. Dieses hat Dich so sehr erregt. Dann hast Du ihm wütend und laut erzählt von Picasso, daß er einmal mit großer Ehrfurcht geäußert hat vor Kinderbildern, er habe dreißig Jahre dazu gebraucht, um so malen zu können. Und wer solches rede, der habe nichts verstanden, hast Du ihn und die anderen angefaucht wie ein Löwe. Doch das war es nicht einzig. Du hast ihm bedeutet, er möge doch einmal das einschalten, was er oben hat in seinem Kopf, das bei anderen Gehirn heiße. Er solle einmal versuchen, hinter diese Zeichnungen zu schauen, einmal das Bild anheben, jedoch sinnbildlich, also soviel Phantasie besitzen und eben nicht die Alarmanlage auslösen, also mit Esprit hinter das Bild schauen, wie eben das Kinder machten. Denn es würde tatsächlich etwas dahinterstecken. Viel mehr als in seine Kopf. Die Kinder würden nämlich darüber nachdenken, über das, was sie sehen. Kindliches Hinterfragen, quasi. Nicht diesen Begriff, den Erwachsene benutzen, ohne ihn zu verstehen. Denn Hinterfragen sei ein Wort aus die Philosophie, der Liebe zur Weisheit. Jedoch hier herrsche die Liebe zur Dummheit vor. Und richtig sei es, daß hinter jedem Bild, hinter jedem Zeichen eine Geschichte, die Geschichte verborgen sei. Man könne es auch Kunstgeschichte nennen, weil Kunst eine Geschichte habe. Nicht nur diese einer faktischen Vergangenheit. Auch eine Geschichte in dem Kopf von eine Individu. Und auf diese Zeichnungen, nicht einmal nur dahinter, hast Du ihm fast in sein Gesicht gespuckt, stecke eine énorme Kraft von einem großen ursprünglichen Geist. Und hinter diesen Bildern die Mythologie complet der Antike, der Geist der alten Griechen, der Gründer der Weisheit. Und von Marseille! Nur eben in eine andere Form, in eine andere – in eine Esprit d'un nouveau genre. Und dann hast Du sehr scharf in die Runde gesprochen – Du hoffest im Sinne von allen Kindern auf dieser Welt, daß sie – verehrte Anwesende! – nie welche haben werden. Es wäre nämlich ein Verbrechen an der Menschheit. Quasi primaire an der Kindheit und im Sinne des Wortes an der Genese der Menschheit, der Genesis. Sie sollten besser an die Strand gehen und sich von der Sonne ihr Resthirn wegbrennen lassen. Es wäre dann nicht mehr so gefährlich für andere Menschen. Präeuthanasie sei dieses. Dann habe ich Dich fort-, hinausgezogen. Und danach habe ich eine Lachanfall von eine Viertelstunde gehabt. Es war eine von die besten Vorträge, die ich gehört habe in meinem Leben. Es war phantastique.«
»Deshalb weiß ich immer noch nicht, wehalb Du das im Zusammenhang mit Deinem Liebhaber, diesem italienischen Kriminaler erzählst.«
»Ah! Didier! Meine Liebhaber. Das ist zuviel. Von nun an spreche ich bei Enzo Enzo nur noch von Deine Geliebte. Mon amour. Didier – ich meine dieses mit dem Schauen hinter ein Bild, hinter dem eine Geschichte steckt, hinter dem die ganze Geschichte verborgen ist. Vielleicht Schiller. Unser Schiller, der auf die Grenzen der Vernunft hat hingewiesen. Die Wahrheit ist nur mit List zu verbreiten. Das meine ich im Zusammenhang mit meinem Geliebten Jean-Claude Izzo. Ich glaube, daß er viel Tote hat produziert, auf daß viele Menschen seine Mitteilungen über die Menschen lesen. Unter jede Leiche hat er eine Botschaft versteckt. Non. Er hat nur eine Botschaft. Er hat sie in viele winzige Teile geformt, die Namen haben wie liberté, egalité, fraternité, vor allem jedoch Liebe-Liebe-Liebe in allen Variationen, aus alle Perspectives, wie Facettes von einem Diamant, in dem sich diese eine Farbe aufbricht zu vielen Farben und doch wieder im Geist zurückführen zu einem Centre, und unter jede Aktion hat er eine minimale Information gelegt, ein Puzzle also, das diese eine, gesamte Botschaft ergibt. Eine Kriminalauteur eben. Wer im Sinne von Izzo die Toten angehoben hat, um darunterzuschauen, der hat sie vernommen, diese Mitteilung. Und er hat dabei sehr schöne Passages darin, sehr poetique. Bilder von großem, doch eben einfachem Zauber. Wahrscheinlich deshalb. Es ist wie ein Bild manchmal, das von einem Kind gemalt ist. Vielleicht ich bin auch deshalb an diese Begebenheit erinnert worden. Denn es ist nicht naïf. Es ist durchkomponiert. Oui, vielleicht sogar wie Twombly. Mon Dieu! Wir haben einmal eine halbe Nacht darüber gesessen und über Kleist gesprochen, darüber, wie Du schreibst, Deine Technique, über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben, über das Prinzip. Damals ich war ich nicht Deiner Meinung, weil ich für mehr Systéme gesprochen habe. Nun muß ich Dir recht geben. Ich war vielleicht noch ein wenig zu sehr an die Université. Oder ich habe mich zurückgesehnt an sie. Denn es ist durchaus methodisch, so vorzugehen. Wie auch immer, vielleicht sind es diese schlichten, sehr einfache Linien von Twombly, mit denen Izzo gearbeitet hat. Also mit wenig Wörtern. Nein. Ich bin nicht mehr sicher. Die Linien, die Zeichen von Twombly haben mehr Difference. Oder? Was hat Roland Barthes geschrieben über Twombly – die Zeichen sind Brocken seiner – einer? – Trägheit, als ob vom Schreiben, diesem erotischen Akt, die verliebte Müdigkeit bliebe. Non. Izzo ist nicht Twombly. Erotik ist bei Izzo in der Botschaft der Liebe enthalten, in dieser, in der Liebe und Erotik ein Blut sind. Oh merde! Es ist schade, daß Du es nicht kennst. Gerne würde ich jetzt mit Dir darüber sprechen. Denn eben werde ich mir darüber im klaren, daß Izzo wahrscheinlich würde so sprechen wie diese Leute, die Du so beschimpft hast. Er hat in einem seiner Bücher einmal einen fast genauso dummen Satz über – den anderen Marseillais italién – César geschrieben. Vielleicht auch noch dümmer. Seine Compressions seien – genau ich weiß es nicht mehr, wie er es formuliert hat, jedoch irgendetwas von Dreck oder Frechheit oder ähnlich. Hier ist er eine typische Homme de gauche.«
»Ah ja. Das kenne ich. Bloß keine Phantasie oder Ironie an mich rankommen lassen. Wie im vergangenen Jahr die Filmkritik in Libération zu Amélie Poulain. Der meinte auch, hier würde ein Frankreich gezeigt, daß es nur im Kino gebe. Oder so ähnlich.«
»Oui. Mon Dieu! Ich habe es auch gelesen. Es war wirklich unter die Würde der Poésie. Er ist ein Idiot, der es geschrieben hat. Es ist typisch. Das Publikum hat jedoch wieder einmal eine andere Position vertreten.«
»Der Film war auch in Deutschland ein großer Erfolg. Ich war sehr verblüfft.«
»Weshalb sagst Du solches? Deine Wut ist Manie. Bei unsere Nachbaren ist das schöne Bild sehr beliebt! Obwohl sie sind alle Protestantes.«
»Ui! Das darfst Du aber zu keinem Bayern oder Kölner sagen. Na ja, der Kölner würde sich kringelig lachen. Der würde wahrscheinlich sagen: Komm her anne Theke, Mädchen, trinken wir noch einen. Und Dir dann was vom rheinischen Kapitalismus erzählen, der nach Jürgen Becker die kölnische Variante des Katholizismus ist ...«
»Was ist das? Mon Dieu!«
»Also, das würde jetzt eine neuerliche, sehr langwierige Exkursion werden. Denn die beginnt beim Heiligen Franziskus von Assisi. Italien! Jetzt nicht schon wieder so weit verreisen. Das ist ja endlos ...«
»Es ist wunderbar. Es ist wie früher. Viele Nächte lang! Immer unterwegs. In unserem Bett. Es macht mich glücklich.«
»Was? Im Bett? Oder verreisen?«
»Oui, Cheri. Im Bett auf Reisen gehen mit Dir.«
»Aha. Ja. Es ist schön. Aber ich bin doch eben schon wegen Deines Liebhabers in diesen erschröcklichen Katholizismus-Tümpel des Herrn Roth gefallen. Ich erzähl's Dir später mal.«
»Darum bitte ich sehr!«
»Versprochen. Und der andere Katholik, der Bayer würde Dich ausweisen. In ein anderes katholisches Land. Wo Du hergekommen bist, eben. Was soll's. Auch nicht mehr als anderswo. Es ist genauso eine Minderheit wie andernorts. Hier ist lediglich eine Art Marktzentrum. Die Bundesrepublik Deutschland als Jahrmarkt der Eitelkeiten. Die verstehen keinen Deut mehr als die anderen. Die tun nur so. Wenn man sie fragt, reden sie ebenso‘n Schwachsinn. Eigentlich ist es mir lieber, wenn jemand laut Scheiße ruft, aber wenigstens auseinandersetzungsbereit ist. Die Deutschen rufen laut, es sei großartig – und denken, so'n Scheiß. Und kaufen's dann. Weil's irgendwo in irgendeinem Käsefachblatt steht, daß das ein wichtiger Künstler sei. Hauptsache ist, es fragt sie keiner nach ihrer Meinung. Denn sie haben keine. Das trifft jedenfalls auf diejenigen zu, die ich aus dem Marktgeschehen, aus dem Handel mit zeitgenössischer Kunst kenne. Und nicht nur von da. Du hast doch gerade ein großartiges Beispiel abgeliefert mit den Deutschen, die ich offenbar angepfiffen habe. Daran hat sich kaum etwas geändert. Leider war ich mal wieder nicht dabei. In der Erinnerung jedenfalls. Aber ich habe eine großartige Chronistin meinerselbst. Also, zurück zum Film. Wahrscheinlich war Amélie in der BRD nur deshalb ein so großer Erfolg, weil die Deutschen immer nur diesen Ami-Dreck und den eigenen Mist zu sehen kriegen. Endlich durften sie mal sehen, wie schön Kino sein kann. Und die Linke – ach. Diese Linke ist nicht meine Linke.«
»Ich glaube, mehr noch die Linke von Frankreich.«
»Da wär' ich ebenfalls nicht so sicher.«
»Ich meine es doch, weil wir nur schwierig einen Zugang zur Fantaisie außerhalb des geschriebenen Wortes haben. So zur Beaux-arts, Art contemporain, Art plastique. Es war bei mir früher genauso. Vielleicht ich hätte früher genauso gesprochen wie Izzo. Doch ich habe durch Dich sehr viel kennengelernt im Zusammenhang mit der Art plastique, Art contemporaine. Ich habe sie früher nicht gekannt, unsere herrliche Verrückte: Arman, Raymond Hains, César, obgleich er Marsaillais ist. Es macht mich sehr zufrieden, daß wir sie haben dans France! Seitdem gehe ich auf eine andere Weise an diese Kunst, an diese Gedanken. Dadurch ich habe viel gelesen auch und bin mit anderen Augen dorthin gegangen. Ich habe sehr viel von unseren gemeinsamen Gedanken gefunden, die wir im Romanisme gebaut haben. Du hast mir diese formidable Essai gegeben von diesem Mann, der geschrieben hat darüber, daß es zwischen Artistes nie eine Frage nach Europe hat gegeben.«
»Sauerbier. Europa ach Euroma.«
»Oui! Er hat geschrieben, daß die Artistes nie Grenzen hatten, daß es bereits Europe gegeben hat dans les années cinquante. Liberté des arts. Jedoch es ist eine Freiheit, die wir nicht so gerne haben, wir Franzosen. Sie ist nicht wohlgeordnet. Schrift ist mehr systematique, hat mehr Methode.«
»Wobei gerade die Écriture automatique Ausbruch bedeutet. Das Innere bricht nach außen.«
»Dennoch es ist Schrift. Es kommt von dort. Das ist entscheidend. Kunst ist nicht genug Vernunft. Wir sind alle Bourgeois geworden. Vernunft der Nützlichkeit. Wir möchten haben alles erklärt. Malerei et cetera ist viel mehr Anarchie. Jedoch nicht politische Anarchie. Anarchie als ein Chaos. Freiheit von innen. Wie César. Peinture der dritten Dimension. Der sie hat auch außen gezeigt. Deshalb wohl hat Jean-Claude Izzo das nicht gemocht. Ich bin damit ein wenig durcheinandergeraten. Doch ich weiß, daß Du meine Orientation mit diesen Vergleichen verstehst. Er schreibt nie wie Du, auch nie, wie Du es nennst, zwischen den Zeilen. Es gibt keine Zwischentöne bei ihm, keine Nuances. Seine Phrases haben weniger Farben, vielleicht nur die reinen Farben. Dennoch kommen, wie ich es sagte, viele Worte, sehr lebhafte Bilder dabei hervor. Ich habe jedoch lieber mehr Farben, mehr Noten, mehr Töne, mehr Orchester, aus dem ich manchesmal dieses Instrument heraushöre, einmal ein anderes, oder eine Stimme. Ein wenig mehr Léo Ferré in der Sprache, mehr Modulation, mehr Spiel um nicht nur einen zentralen Punkt, mehr Prélude. Vielleicht mehr Préliminaires sexuelles? Puh! Ich mag mehr Register. Auch wenn es nur ein Klang ist, so muß er herumkreisen in mir, auf mir. Es fällt mir Bergson ein dabei: Wenn die Anmut die Kurven den gebrochenen Linien vorzieht, so kommt es, weil die gekrümmte Linie jeden Augenblick die Richtung ändern kann. Alles ist verbunden miteinander. Und ein Klang soll haben einen Nachhall. Wie guter Wein, der nach dem Öffnen immer wieder einen neuen Geschmack annimmt und ihn wechselt. Doch Izzo geht sehr direct voran. Mais – es ist eine andere Genre de littérature. Es ist mehr Rhythmus und weniger Harmonie. Es ist mehr auf den Punkt gesetzt. Dann kommt der nächste. Und so fort. Seine häufigen Beschreibungen von Musik zielen dorthin. Zumindest habe ich diesen Eindruck.«
»Wie meinst Du das? Welche Musik?«
»Es ist durchaus Vielfalt. Jedoch, ich weiß es nicht genau, wie ich es sagen soll. Ich kenne mich in dieser Musique nicht gut aus. Irgendwo habe ich diesen Begriff im Zusammenhang mit Jazz einmal gelesen, über das er viel schreibt – ehrlich, vielleicht auch aufrichtig sind solche Begriffe. Wie die Menschen, über die er schreibt. Es sind eher schlichte Menschen. Also alles – Chanson bei ihm weniger. Etwas Ferré, einmal, glaube ich, Aznavour. Mehr, ich sagte es, Jazz, meistens alte Kompositionen, von Miles Davis, John Coltrane, sogar Abdullah Ibrahim, ein Arabe, der Jazz ...«
»Nix Araber. Zu dem bin ich schon in die Konzerte gerannt, als er noch als Dollar Brand in kleinen Clubs auf dem Flügel zauberte. Er ist Südafrikaner.«
»Ouf. Ich wußte es nicht.«
»Macht ja nichts. Er ist, das glaube ich zumindest, einer von vielen Künstlern, viele Musiker, die schon vor dreißig Jahren zum Islam konvertierten. Muhhamed Ali hieß ja auch mal Cassius Clay. Wegen der friedlichen Botschaft.«
»Didier! Frieden? Er ist ein Boxeur! Wo ist Frieden?«
»Na ja. Du hast ja recht. Aber damals gab's eben die Bewegung der Black Muslims. Black Power. Da ging's allerdings tatsächlich um Kampf.«
»Es ist ein Kampf, den ich mehr respektiere als diese Prügel.«
»Ach ja. Aber bei den Künstlern war es – das glaube ich zumindest – anders. Obwohl – Südafrika. Zu der Zeit, als Dollar Brand zum Islam konvertierte, saß Nelson Mandela wegen der sogenannten Terroristenvereinigung ACE schon ewig im Knast. Später wurde sie Regierungspartei und ihr Führer Präsident der Republik Südafrika. Aber er hat eben keinen Buren ...«
»Buren. Was ist es?«
»Meine Güte. Du stellst Fragen. Ich weiß doch nicht, wie diese hochherrschaftlichen weißen Herrscher aus den Niederlanden über die Nigger auf französisch ...«
»Ah. Oui. Les Boers. Jedoch es waren auch Deutsche! Es waren nicht nur Néerlandais! Sie sind seit die Mitte des 17. Siècle dort. Und so wie Du es sagst, ich habe auch die Vermutung, daß unser Artiste français Daniel Buren von dort seinen Namen hat.«
»Verflucht. Was Du alles weißt. Alsdenn. Es ist ärgerlich, daß ich da nicht selber draufkomme. Die heißen, wenn ich nicht irre, original auch so. Es ist sogar ein Name: de Boer, der Bure. Wie auch immer. Ich weiß es also nicht genau. Nun: Solidarität? Aber vielleicht ja auch, weil der Islam mehr Mysterium bietet. Ich weiß es nicht. Ich habe mich da nicht weiter mit beschäftigt. Ich höre außerdem auch nur noch selten Jazz.«
»Du hast es auch zuhause nie gehört ...
»Das ist aber jetzt schön, wie Du es sagst. Ach, tut das gut.«
»Welches?«
»Zuhause.«
»Didier. Es ist unsere Zuhause! D'accord. Du hast fast nur unsere Chansons gehört. Manchesmal auch etwas Musique classique. Sehr viel Baroque! Opéra. Und Jazz? Puh. Es sind Namen, die ich in Erinnerung habe aus diesen Büchern von Izzo – und die auch hier bei Dir stehen. Es ist deshalb durchaus etwas seltsam, das hier zu sehen. Auch diese viele spanische Namen und ein paar italienische. Sogar Raï hast Du in Deinem Regal und Khaled oder Chaba Djenet. Sogar Massilia Sound System. Es ist verrückt. In diesem Moment fällt es mir ein. Zuvor es hat mich überhaupt nicht überrascht. Es war wie normal. Doch nun – woher hast Du es alles?«
»Na? Woher wohl. Meinst Du etwa von hier? Meinst Du, Chaba Djenet oder Massilia Sound System gibt's hier zu kaufen? Aus der Heimat eben. Aus der Rue du Capucins, dem arabischen Gewusel. Nee, warte mal. Chaba Djenet habe ich ich in einer völlig abgefuckten Bar im ersten Arrondissement gehört, Nähe Rue Colbert. Die Brasserie du Centre. Die Bedienung, eine sehr, sehr dicke blondierte Algerierin, hat meine glücklichen Augen gesehen, hat sich darüber gefreut und es lächelnd andauernd gespielt. Die Wirtin, eine ansehnlichere ebenfalls Algerierin, hat ständig mürrisch dreingeschaut, vermutlich meiner kuhäugigen Musikwünsche wegen. Oder weil ich erkennbar kein Algerier war. Trotzdem habe ich das Band am nächsten Tag gekauft und später noch eine CD. Und die Wahnsinnigen aus Marseille habe ich letztes Jahr aus Pérpignan rausgetragen. Ich habe das Plakat gesehen und bin sofort rein in den Laden, in Harmonia Mundi. Nein. Es stimmt nicht. Das Plakat hatte ich zuerst in Marseille gesehen. Aber gekauft hab ich die CD in Pérpignan. Dreimal. Zwei hab ich gleich verschickt. Um den Barbaren meine Liebe zu meiner Heimat zu verdeutlichen. Auch wenn es kaum zu verstehen ist in seiner Mischung aus Provençalisch und dem Dialekt der jungen Marseillais, der jungen Abgedrehten mit ihrem Verlan, diesen sprachlichen Verdrehungen.. Aber man spürt deren Hirnströme. Sie fließen in den eigenen Kopf.«
»Mon Dieu! Mais évident. Wie geht es anders. Dann bei Izzo sehr viel Hispanique, auch Musique von Gitanes. Mais oui, sein Held Fabio Montale, er liebt eine Zigeunerin sehr. Sie begleitet ihn – Jean-Claude Izzo? – durch seine Trilogie. Es ist Lole. Sie ist seine große Liebe. Sie verläßt ihn. Und er trauert immer um sie. Es ist überhaupt immer sehr traurig. Ich habe viel geweint. Erst nachdem Du gegangen warst, habe ich seine Bücher gelesen. Es geht mir wie Dir. Ich mag auch nicht so sehr Kriminalgeschichten. Doch dann hat Mirjam gesagt, daß ich ihn lesen soll. Deshalb. Weil ich immer an uns denken mußte. Sein Held Fabio Montale sucht immer. Er sucht seine Frau, die ihn verlassen hat. In jeder Frau sucht er sie. Es geht ihm wie mir. Non. Ich suche immer nur meine Mann. Doch ich habe ihn gefunden. Fabio Montale hat nur den Tod gefunden. Erst war er einen kleinen zuvor gestorben. Und dann den großen. Ich hatte un petit Mort. Er war so terrible, daß ich mir manchmal gewünscht habe, ihm nachzufolgen.«
»Wie? Du und er? Also ...«
»Oh! Didier. Non! Arrête! Ich glaube, es liegt hier ein Mißverständnis vor, ein Verwechselung. Diesen bin ich nicht gestorben mit Jean-Claude Izzo. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen. Wir sagen zwar kleine Tod zu diesem wunderschönen kleinen Tod, den Du nun meinst und den ich oft mit Dir haben möchte. Es ist jedoch auch ein kleiner Tod, von dem es heißt, daß nur Männer ihn sterben, weil etwas abreißt, weil etwas vergangen ist, während eine Frau nach diesem kleinen Tod des Mannes ein schwebendes Leben weiterführt, das gelöst ist von dem ihres Geliebten. Doch ich empfinde ihn manchesmal genauso, weil ich dann auch vergangen bin, etwas abgerissen ist, ich mich fühle, als ob ich gefallen bin in eine sehr tiefe dunkle Grube. Nicht immer, jedoch oft. Mit Dir. Doch dieses Abreißen eines Lebens ist ebenso bei eine Divorce, bei eine Trennung. Es ist identique! Die Psychologie hat un petit mort als Terminus technicus für eine Trennung, Scheidung. Und diesen meinte ich auch bei Izzo. Lole war sein langer kleiner Tod. Und dieser kleine Tod bei mir war es, der mich ebenso sehr geschmerzt hat, daß ich meinte, ihm folgen zu wollen. Mein Leben war wie zu Ende.«
»Dann gibt's ja eine Gemeinsamkeit. Sie beruhigt mich. Wenn sich das jetzt auch nicht so negativ meine, wie es klingen mag. Mir fehlen sozusagen die Worte. Ich meine nicht den großen Tod von Izzo. Der hat mich ja nicht gekriegt. Obwohl ich ihn ja durchaus auch gesucht habe. Wie dieser Herr Montale, ganz offensichtlich. Doch in erster Linie habe immer meine Frau gesucht.«
»Auch in andere Frauen?«
»Ach! Naziza. Abseits von der place de Lenche.«
»Vielleicht Du weichst nun aus. Wie Du herumgehst um die place de Lenche, anstatt direct hinzugehen? Vielleicht Du hast mich nicht sehen wollen.«
»Herrgott! Naziza. Ich suche doch nicht überall nach einer Frau, die aussieht wie das Bild in meinem Kopf, und gehe dann ausgerechnet nicht dorthin?!«
»Refoulement?«
»Refoulement? Was ist das?«
»Wenn Du etwas weg willst haben aus Deine Kopf ...«
»Ach ja. Verdrängen?«
»Oui.«
»Aber weshalb denn? Offensichtlich habe ich Dich doch gesucht! Ich wußte nur nicht, wen ich suche.«
»Ich weiß es nicht. Ich bin nicht ein Psychologue. Aber vielleicht ist das so? Ich meine auch nicht, böse etwas verdrängen. Du warst ja überhaupt in die falsche Direction gewiesen. – Aber sage Du: Hättest Du mich erkannt?«
»Ich glaube schon. Aber wahrscheinlich wäre ich sofort umgefallen. Der Schock.«
»Wegen diese böse Frau, vor der Du weggelaufen bist.«
»Ach. Jetzt wirst Du kokett. – Nein. Ich glaube tatsächlich, daß ich geschockt gewesen wäre. Aber was hättest Du gemacht?«
»Mon Dieu! Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich Dich geprügelt? Vielleicht wäre ich weggelaufen? Vielleicht wäre ich auch umgefallen? Très vraisemblable.«
»Hast Du Dir nie ausgemalt, was Du machen würdest – mit mir?«
»Mais oui! Mais bien sûr! Ich hätte Dich mit eine ganz alte arabische Poignard durchgestoßen, dann mit einem krummen Säbel arménien verhackt, durch eine Hachoir français gegeben und Dich in den Vieux Port geschmissen – und wäre dann ein Fisch geworden und hätte keine andere an die Miettes gelassen.«
»Das heißt, ich hätte mich sozusagen nicht mehr verkrümeln können.«
»Das ist gut. Parfaitement.«
»Und was machst Du jetzt mit den Krümeln? Denn etwas anderes bin ich nicht. Ich bin ein Wrack.«
»Clinique privée flottant Aubertin Al Arfaoui à Marseille, avec infirmière personell Naziza. Fontaine de jouvence – amour.«
»Und Du hast keine Angst mehr? Es könnte schwierig werden mit mir. Ich werde dauernd nach mir selbst suchen.«
»Wir werden nach Dir suchen. Wenn man zu zweit ist, ist es nicht so schwierig, jemanden zu finden. Jedoch wir müssen nicht nur Dich finden. Wir müssen auch das finden, was Du immer suchst.«
»Ich bin eben ein schwieriger Mensch.«
»Das weiß ich. Ich habe es immer gewußt. Von Beginn an. Und Du siehst, es hat mich nicht geschreckt. Es ist jedoch sicher so, daß wir einander nicht nahegekommen wären, wärest Du ein anderer Mensch gewesen. Wir hätten bereits nicht so intensif geschrieben. Du warst ein wenig précieux zu Beginn. Vielleicht sogar etwas viel. Du hattest viel manière intelectuel geboten. Jedoch sehr bald habe ich gespürt, daß Du Dich öffnest. Zunehmend ohne Zwang geriet es. Und ich glaube nicht an Coïncidence. Du solltest es wissen. Es ergab sich rapide eine Nähe. Es war eine Nähe, auf die ich gewartet habe. Dies ist mein Vorteil. Ich habe immer gewußt, auf was ich warte. Dies ist Dein Nachteil. Du hast immer gesucht und wußtest nicht, was Du suchst. Dann haben wir gemeinsam gedacht, Du hättest es gefunden. Es ist Dir offenbar wieder verloren gegangen. Nun muß ich wieder helfen. Möglicherweise habe auch ich Fehler gemacht. Und wer im Vorteil ist, der sollte helfen. Und ich glaube, stärker zu sein als Du.«
»Woher weißt Du das alles? Wir waren doch offensichtlich nicht lange zusammen – wie lang überhaupt?«
Nun schüttelt sie wieder ungläubig den Kopf. Sie faßt es nicht. Doch mir ist selber nicht wohl dabei. Es fehlt ein Stück aus meinem Leben. Irgendwo ist es verlorengegangen, und dieses seltsam schöne, scheinbar starke Wesen vor mir hat es möglicherweise oder kann mir zumindest sagen, wo es sich befindet. Das Bild von ihr verdichtet sich. An die Entstehungsphase beginne ich mich zu erinnern. Es ist vermutlich dieses herrliche Techtelmechtel per Email gewesen. Das war mir noch nie passiert – eine solche Korrespondenz mit der Person eines Fremdenverkehrsamtes. Na ja, allzu viel habe ich mit Touristenbüros ja auch nicht zu tun. Aber diese hatte schon so charmant und in ungewöhnlich gutem Deutsch auf meine Fragen nach dem Musik-Festival in Marseille geantwortet. Und diese Schlagfertigkeit. Es war eine Wonne. Es ging so weit, daß ich alle Stunde, ob im Büro oder zuhause, nachschaute, ob ein Email aus Marseille angekommen war. Ja, ich schickte dauernd welche hin, mit den abstrusesten Fragestellungen. Ob es die Möglichkeit gäbe, kulturell aktiv zu werden in Marseille. Und wenn ja, wo? Welches Schiff wann wohin führe? Informationen über l’Estaque hat sie mir seitenweise gefaxt. Welches Restaurant zu bevorzugen sei. Und ob ich dann auch mir ihr dorthin gehen könne? Längst hatte ich mir ein Bild von dieser Frau gemalt. Die mußte einfach wunderschön sein, das ginge gar nicht anders. Die Vorstellung, es könnte sich dabei um eine eher nicht so sehr meinem Schönheitsideal entsprechenden Frau handeln, ließ ich nicht zu. Dann ließ ich mich dazu hinreißen, ihr so etwas wie einen Heiratsantrag zu machen. Wie man so etwas eben macht, nein, wie ich so etwas leichtfertig praktiziere: gemeint als Flirt, Geplänkel, aber dabei das Pfauenrad über die kleine Welt hinaus drehend. Dann kam diese Antwort von der öffentlichen Person, sie sei als solche jederzeit zu besichtigen. Ein bißchen enttäuscht war ich schon. Phantast. Oder? Schließlich hat sie mich geheiratet. Nur ich muß bei unserer Hochzeit gefehlt haben. Nun muß ich sie dauernd fragen, wo ich war.
»Verzeih mir bitte, Naziza. Ich grabe in der Erinnerung. Du hattest mir erzählt, wir seien auf Hochzeitsreise gewesen. Haben wir die direkt danach angetreten?«
»Non. Es ging nicht. Ich mußte erst noch arbeiten, weil es war en pleine Saison. Wir haben unser Leben gehabt am Abend an die place de Lenche. Wie ich gesagt, erzählt habe. Es war sehr schön. Wir haben gesagt, daß wir später fahren.«
»Ich verstehe das nicht – mußte ich denn nicht arbeiten? Ich war 1998 ein vielbeschäftigter Mann!«
»Du hast gearbeitet. Immer viel – allons donc! Du hast immer am Morgen telephoniert und Courrier élétronique gesendet und ein paar Stunden an Texten gearbeitet. Du hast immer gelacht und hast gesagt: Siehst Du, es geht auch so. Du hast gesagt, es geht sehr gut. Daß Du, naturellement, nach Deutschland mußt, um zu erledigen dies und das, aber daß Du dann zurückkommst schnell. – Wir sind ein paar Wochen später gefahren zu unserer Reise.«
»À propos Reise.« Hier hatte ich das Bedürfnis, das Gespräch abzubrechen, zumindest zu unterbrechen. Mir war das nicht geheuer. Mir ging das auf einmal zu schnell. »Wir müssen besprechen, wie wir’s machen. Fahren wir morgen?«
»Mais oui!«
»Dann müssen wir auch einiges tun. Und ich brauche noch Café. Du auch.«
»Non. Aber ich brauche Wasser. An meinen Körper.«
»Du willst diesen wunderbaren Gestank, der nach Dir riecht, wegspülen?! Das lasse ich nicht zu.« Ich fasse sie fest an den Handgelenken.
»Cochon. Non. Cochonnée. – Ich will eine Douche. Du kannst Deiner Frau helfen, Deinen Dreck wegzuwaschen.«
»Du nennst meine Berührungen Dreck und willst sie abwaschen?«
»Non, ich will Dich an meiner Seite haben. Überall. Im Dreck und im Wegwerfen von Dreck. Und ich will, daß Du mich anfaßt. Es war immer schön, von Dir angefaßt zu werden. Deine Zärtlichkeit hat immer nicht nur meine Haut berührt. Auch mein Herz hat sie umgeben. Es will sie wieder haben. – Du kannst ja noch Café machen. Aber dann kommst Du – in Dreck wühlen.«
Mir war gar nicht wohl bei diesem Gedanken. Er zerreißt mich. Zum einen wünsche ich mir nichts anderes, als von den Gezeiten dieses Gefühlsozeans hin- und hergeworfen zu werden. Aber ich fürchte genauso, darin zu ertrinken. Seit damals, seit dem Umkehrschub, den mein Hirn beim Anflug auf die absolute Leere des Denkens, einer nicht mehr steigerbaren Nichtigkeit, freundlicherweise quasi schlagartig eingeleitet hatte, lebte ich in einer abgestorbenen Hülle. Wenn das nicht mal schön früher so war und ich es nur nicht richtig wahrgenommen hatte? In ihr tobte zwar pausenlos ein Orkan der Sehnsüchte. Doch er blies sofort alles weg, was sich selbst an vorsichtigen körperlichen Annäherungen ergab. Alles geriet zur reinen Innerlichkeit. Äußere Berührung war nicht mehr gestattet. Die Hinwendung ins Innen hatte sie mit ihrer enormen Kraft zunehmend abgebaut. Der Wunsch nach Berührung wich der Angst, sich verlieren zu können. War ich anfänglich noch ein temporärer Besucher des einen oder anderen fröhlichen Hauses, reduzierte sich das Verlangen in dem Maße, als ich endlich begreifen lernte, daß es sich dabei eben um nichts anderes handelte als um das professionelle Anfassen. Um nichts anderes handeln konnte. Doch eine Erinnerung hatte sich eine Weile gehalten, an eine junge Frau – an jene, die auf dem unordentlichen Lager geäußert hatte, diese Zärtlichkeit sei sie nicht gewohnt. Sie hatte es genossen, und der Kunde allemale. Doch wahrscheinlich war das im Gewerbe strikt untersagt und sie einfach noch zu unerfahren. Vermutlich wurde sie, wenn sie’s denn überhaupt berichtet hatte, von den Kolleginnen gerügt. Anzunehmen wäre auch, daß sie in den privaten Räumen auch gerade keinen Mann für die richtige Liebe zur Verfügung hatte. Aber es hatte sich eingegraben in mir. Das war so herrlich angstfreier Austausch von stofflichen und nichtstofflichen Entäußerungen. Ich hatte meine sanfteren Berührungen bekommen und konnte wieder gehen. Es gab keinerlei Verpflichtung, sich auch noch um das Innenleben dieser Person kümmern zu müssen. Es hätte allerdings auch kein Jota Energie zur Verfügung gestanden. Der eigene Mikrokosmos hielt den noch geringsten Teil des ohnehin schon reduzierten Gefühlshaushaltes als eiserne Reserve für die Abwehr der Angriffe von außen zurück. In der Ökologie der Gefühle war die Seelenkraft für das Wesentliche reserviert: für das Ich. Einmal wiederholte es sich. Nicht ganz. Denn diese nächste Dame war von einer immensen Geilheit. Doch die kulminierte eben nicht in einem quasi berührungsfreien Ineinanderfallen zweier primärer Geschlechtsorgane, sondern nahm auf dem Weg nach oben noch einiges mit vom Wissen um das Sekundäre am Körper. Die Prioritäten der in diesem – jedem – Fall Begünstigten wurden von ihr deutlich herausgearbeitet. Aber der eigentliche Leistungsempfänger erhielt dabei um einiges mehr als das schnelle Ende. Doch nach zwei, drei weiteren Versuchen, dieses Erlebnis mit der noch nicht ganz so entleerten Mär von der käuflichen Liebe wiederzufinden, hatte ich es aufgegeben. Es mußte sich um Ausnahmefälle gehandelt haben. Der köstliche kleine Tod, wie man ihn – unvergleichbar treffend – in Frankreich nennt, war ohne ein vorausgegangenes intensives Leben miteinander nicht zu sterben. Dieses aber erfordert Hingabe. Diese Kraft brachte ich nicht auf. Also lenkte ich den Energiestrom auf mich selbst. Die Gefahr, in sich umzukommen, war nicht so groß, als durch eine Liebe hingerichtet zu werden, die einem ein anderer Mensch oder die Banalität des Alltags entzogen. Eine nähere Untersuchung eventueller Übereinstimmungen auch körperlicher Art wurde strikt unterbunden. Sobald sich erste Anzeichen ergaben, wurde das sogenannte platonische Prinzip vorgeschoben oder die Verbindung unter-, nein, abgebrochen. Um des eigenen Seelenfriedens willen wurde ich auch körperlich zum Eremit. Aber das ist ja wohl auch der Sinn eines solchen Daseins. Andererseits taugt zu einer solchen Existenz nur der, der dafür geschaffen ist, der Frieden mit sich oder einer höheren geschlossen hat. Bei mir war es eine Tugend, die ich aus der Not der Einsamkeit umzuformulieren versuchte. Denn tief in mir drängte die Sehnsucht nach einem Ereignis, das in einem fernen Leben geschehen sein mußte, eine wüste Attacke nach der anderen. Schließlich stahl ich mir manchmal winzige Berührungen bei Anlässen, zu denen ich mich nicht dem Verdacht aussetzte, ein heimlicher Beischlafdieb zu sein. Aber es geschah ausnahmslos bei solchen höchst seltenen Wesen wie dem, das in diesem gleichermaßen gefahrvoll nahen wie endlos fernen Badezimmer wünschte, ausgerechnet von mir gereinigt zu werden. Von mir, dem der Angstdreck aus allen Poren lief, er könnte in einen Abgrund geraten, aus dem er sich vor einiger Zeit gerade mal eben noch hatte retten können. Es war die peinigende Furcht, es könnte eine Liebe heranwachsen, sie durch Zärtlichkeit noch befruchten, die irgendwann am Zenit angelangt sein würde. Und der Zenit ist der die Zeit tötende Übergang aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Die Zukunft wäre damit eliminiert. Und mit der getöteten Zukunft wäre auch die Hoffnung gestorben – die Hoffnung wenigstens auf das Standbild einer Episode. Ich als Bewahrer des Stillstands aber wollte diese gerade langsam wieder in Bewegung geratenen Bilder nicht. Der Film wühlte sich ohne Rücksicht auf meine Sehnsucht nach immerwährender Dunkelheit aus den Abgründen meines Gedächtnisses ins Licht des Projektors. Hauptdarstellerin war diese Frau, der ich – das Bild geriet ins Laufen – die Zukunft geraubt hatte, um mein Trugbild von Gegenwart zu konservieren. Mochte Pygmalion doch Aphrodite herbeipfeifen, um seine Statue zu beleben. Naziza hatte das völlig richtig erkannt – ich hatte Angst vor Aphrodite. Und wenn ich jetzt in dieses Badezimmer ging, das ohnehin immer auf Körpertemperatur gehalten war, würde Blut fließen. Aphrodite hatte wahrscheinlich ihr Operationsbesteck schon wieder vorbereitet. Mochte die sich überall einmischende Schaumgeborene doch anderen ihren Genitialienmeerschaum injizieren. Ich wollte mein reines, strahlendes, unbelebtes Elfenbein behalten, das mir Leben gab. Wie es war, in seiner göttlichen Konsistenz.
Ich sitze am Tisch wie der Rest eines zerrütteten Denkers. Die Tür des Badezimmers öffnet sich. Aus der Sicht des diffusen Sonntagswinterlichts im Flur leuchten die fünfmal sechzig Watt die Statue von hinten aus, als ob’s einer dieser schrecklichen Fünfziger-Jahre-Filme aus Hollywood wäre. Aber das ist nicht Doris Day oder Ava Gardner und sonst eine dieser Vorläuferinnen der Barbie-Puppen. Sie hat einen meiner Frottéebademäntel an, den sie fast einmal um sich herumwickeln könnte. Er hängt jedoch lose an ihr herab. Ich rieche Elfenbein. Aber der Geruch von Meeresschaum bildet eine Aura. Gäbe es nicht eine Vergangenheit zwischen dieser Skulptur und mir, sie begänne wohl in diesem Augenblick. Es ist bei weitem nicht nur der zum Duft mutierende Geruch, der mir den Atem nehmen will. Es ist die Zukunft, die mir die Luft abschnürt. Dieses Morgen, das mir mein Standbild verwackelt. Die Angst rüttelt in meinem Kopf. Doch das Leben ist bereits anwesend. Es ist in mich gefahren.
»Mon bien-aimé – Du hast keine Sehnsucht nach mir?«
»Sehr große, Naziza. Aber ich habe keine Kraft.«
»Du meinst – Du hast viel Angst? Das mußt Du nicht. Du weißt es.«
»Ich weiß vieles, doch ich handele nicht danach. Ich muß immerzu nachdenken. Nachdenken über das, was war – und was ist.«
»Und – was ist. Das ist entscheidend. Ist es übel? Mauvais jours pour nous?«
Ich schüttle den Kopf und stehe dabei auf und gehe auf sie zu. Es kostet mich eine ungeheure Überwindungskraft, aber ich werde angetrieben – in einem anderen Zustand würde ich es Vernunft nennen. Es ist so etwas wie Einsicht in das, was sich immer mehr zeigt, daß ich nur damit eine Möglichkeit habe, zu existieren. Es ist die zunehmend klarer werdende Sicht darauf, daß ich es zulassen muß. Bilder verändern sich alleine durch die Tatsache, daß man die Perspektive verändert. Ich muß wenigstens den Standort wechseln. Das bin ich anderen schuldig. Allen voran wohl dieser Frau. Ich kann nicht wieder weglaufen, indem ich auf meinem Standpunkt beharre. Also bewege ich mich auf sie zu. Sie steht absolut still, doch ich spüre, wie sie bebt. Stumm ruft sie mir Mut zu. Ich stehe vor ihr. Ein weiterer Schritt ist mir nicht möglich. Sie legt sanft beide Arme um meinen Hals und zieht mich ins Badezimmer.
»Es ist kalt.«
Sie löst sich von mir und setzt sich auf den Rand der Badewanne.
»Es ist schön warm hier. Komm, setze Dich zu mir.«
Ich folge ihrer Bitte. Mein Oberkörper nimmt die Form eines überlasteten Fragezeichens an. Sie zieht mich ein wenig in ihre Richtung und küßt mich unendlich zärtlich auf beide Augenlider. Sie nimmt behutsam die unter ihnen hervorquellenden Tränen auf.
»Wir werden morgen nach Hause fahren, Cheri. Es ist mir schon gut, wenn Du nahe bei mir bist. Ich habe so viel Zeit gewartet. Nun wird mich nichts mehr drängen. Es ist gut, daß wir gemeinsam sind. Wir werden auch wieder ineinanderfinden. Und wenn es wird dauern, es ist nicht schlimm. Jedoch ich freue mich sehr darauf. Doch ich sehe, daß Du bist sehr müde. Du mußt noch etwas schlafen. Komm, schlafe an mir.«
Ohne Sträuben lasse ich mich an der Hand nehmen und zum Bett führen. Ich lege mich völlig entkräftet hin. Ich lasse mich ausziehen. Ich lasse es zu. Ich bin verwundert, daß es sich in mir löst. Ich bin dankbar. Es beunruhigt mich nicht, nackt zu sein. Meine Angst hat sich von der Angst vertreiben lassen, vertrieben zu werden. Beruhigt erkenne ich, daß Pygmalions Statue ein völlig anderes Aussehen hat. Ich muß mich also nicht mit Aphrodite streiten. Das ist nicht ihr Revier. Dieses Elfenbein hier ist aus Nordafrika. Und es ist durchblutet. Doch es fühlt sich an wie Sand aus der kleinen Calanque der Île Ratonneau, diesem türkis bis weiß schwimmenden Ausguck, der den Blick zum Meer freispiegelt. Der Sandstaub löst sich auf in eine leicht bewegte Brise, sobald er meine Haut berührt. Der Shirocco muß bis hierher gelangt sein. Unterwegs hat er sich auf Atemtemperatur abgekühlt. Es ist wohl, weil er seinen Schleier abgelegt hat. Überall auf meinem Körper breitet der sich aus, er schwebt auf mich und füllt alles in mir aus, sich immer wieder einen Hauch bewegend, aber ohne Rhythmus, alles ist fließende Harmonie. Er hat sich mit einem ruhigen, seltsam lauen Sommerwind vereinigt.
Direkt neben mir sitzt Charles Baudelaire und flüstert mir sonor ins Ohr:
»La très-chére était nune, et, connaissant mon cœur,
Elle n’avait gardé que ses bijoux sonores,
Dont le riche attirail lai donnait l’air vainqueur
Qu’ont dans leurs jours heureux les esclaves des Mores.«
Ich sage dem Dichter, ich genösse es. Aber mein Französisch sei so schlecht. Er lächelt, wartet ein wenig, bis die Brise über mich hinweggesäuselt ist, und spricht mit warmem Akzent:
»Die Liebste war nackt, und da sie mein Herz kannte,
hatte sie nur ihr klingendes Geschmeide anbehalten,
dessen reicher Zierrat ihr jene Siegesmiene gab,
wie sie an frohen Tagen die Sklavinnen der Mauren schmückt.«
»Oh! Monsieur Baudelaire – Sie haben meiner Maurin ein Gedicht auf den Leib geschrieben. Ich danke Ihnen.«
»Halten Sie in sich! Monsieur«, raunt er mir zu. »Sie hat noch Strophen auf dem Leib.«
»Et son bras et sa jambe, et sa cuisse et ses reins
Polis comme de l’huile, onduleux comme un cygne,
Passaient devant mes yeux clairvoyants et sereins;
Et son ventre et ses seins, ces grappes de ma vigne ...«
»Ach, Herr Baudelaire. Es ist wunderschön. Es ist Musik. Aber Sie wissen doch – mein Französisch.«
»Attention, Monsieur Didier. Écouter attentivement! Je te donne ...«
Ach. Du meine Güte. Ich höre meinen Gott des Liedes auf mich zukommen. Baudelaire hat an Léo Ferré übergeben. Er singt, ja, er singt in seinem köstlichen Deutsch, das fast schon wieder französisch klingt, für mich – Baudelaire:
»Ihr Arm, ihr Bein, ihr Schenkel, ihre Lenden,
blank wie Öl und wellenhaft sich biegend wie ein Schwan,
deutlich zogen sie vor meinem ruhigoffnen Blick vorüber;
ihr Bauch und ihre Brüste, diese Trauben meines Weinbergs,
Wie 1976 im Théâtre du Chêne Noir zur Coriolan-Ouverture folgt dem Schmettern des Donnerdeutschen durch das fast verdoppelte Orchestre symphonique d'Avignon der multiple Ferrésche Liebesklang. Wie eben in diesem je te donne säuselt es, doch es ist die Kraft eines Apollinaire mit seinem Chanson du Mal-Aimé. Non! Faites excuse, Monsieur Baudelaire! Es sind ja Sie, der sirrt! Sie haben sich nur seine Stimme ausgeliehen.
S’avançaient, plus câlins que les Anges du mal,
Pour treubler le repos où mon âme était mise,
Et paur la déranger du rocher de cristal
Où, calme et solitaire, elle s’était assise.
Schoben, schmeichelhafter als des Bösen Engel,
sich näher, um meine Seele aufzuscheuchen aus ihrer Ruhe
und sie herabzulocken von dem kristallnen Felsen,
den sie in ungestörter Einsamkeit zu ihrem Sitz erkoren.
– Et la lampe s’étant résignée à mourir,
Comme le yoyer seul illuminait la chambre,
Chaque fois qi’il poussait un flamboyant soupir
Il inondait de sang cette peau couleur d’ambre!
– Und als die Lampe dann verlöschend hinstarb,
erhellte der Kamin allein noch das Gemach;
so oft er auflodernd einen Seufzer schickte,
überschwemmte er diese Ambrahaut mit Blut.«
Des Weinbergs Lüftchen rauscht in meinem Ohr. Ich erwache. Erwache ich? An meinem Hals liegt der Maurin Bernsteinmund. Er murmelt in ihn hinein.
»Maintenant – Du bist rein. Absolu. Ich habe allen Schmerz aus Dir gesaugt.«
Ich fühle mich tatsächlich sehr erfrischt. Naziza hatte recht. Mir hatte Schlaf gefehlt. Es war zuviel des einen und zuwenig des anderen. Aber ich wage kaum einen Blick auf die Uhr. Ich befürchte, es könnte schon wieder Zeit von der Zeit weggenommen worden sein. Und ich könnte diesen warmen, weichen Mund in meiner Halsbeuge vertreiben. Also schließe ich zunächst einmal wieder die Augen. Wer mit einem 2 CV fährt, der hetzt nicht.
»Wann fahren wir, Naziza?«
»Wohin fahren wir?« grummelt es in mich hinein. Ich genieße die leichten Vibrationen, die ihre Töne an meiner Haut hervorrufen.
»Nach Hause, mitten hinein in den Mund der Rhône.«
»Meine Mund ist Dein Zuhause. Dort mündest Du.«
»Naziza. Die Welt ruft.«
Sie scheint langsam zu sich zu kommen.
»Qui est là?« Sie lacht und setzt sich auf mich. »Ich bin da. Wir werden bald fahren müssen. Es ist spät. Es ist am Abend.«
Das will mich hochreißen, da ich terminlich grundsätzlich wohlsortiert bin und Rennerei nicht ausstehen kann. Doch ich liege sozusagen gefestigt im Bett. Ich versuche, mich zu befreien. Es gelingt nicht. Wahrscheinlich will ich es auch gar nicht. Ich spiele Argwohn.
»Du willst nicht?«
»Hat das nicht ein deutscher Dichter gesagt – überall wo Geliebte sind, ist Heimat.«
»Es ist, zunächst einmal, ein Ausspruch der Goten. Als sie vor den Hunnen flüchteten und in Richtung des eigentlich feindlichen, aber an Kriegern armen und deshalb relativ offenen römischen Reichs zogen, meinten sie: Überall, wo es uns gut geht, ist Heimat. Sie dachten dabei wohl vermutlich weniger an ihr Seelenheil. Wirtschaftsflüchtlinge – nennt man das heutzutage wohl. Und der deutsche Dichter – ich glaube, bin jedoch nicht sicher –, es war Ringelnatz, der es variiert und geschrieben hat, daß überall dort, wo Freunde sind, auch Heimat sei. Tucholsky war, wie immer knapper: Freundschaft, das ist wie Heimat. Nicht überall, wo man einen Geliebten hat, Madame. Obwohl – Tucholsky hat ja auch gemeint: Liebe ist, wenn sie dir die Krümel aus dem Bett macht.«
»Doch mein Geliebter ist überall dort, wo ich bin. Also bin ich immer in der Heimat. Ich werde es besorgen in Zukunft.«
»Du willst Deinem Geliebten die Krümel aus dem Bett machen? Also liebe ich ab sofort Krümel auch im Bett. Aber wer ist Dein Geliebter?«
Ich bekomme wieder eine von diesen wonnevollen Ohrfeigen. Und nun gelingt es mir auch, auf die Uhr zu schauen. Es ist tatsächlich Abend. Es ist acht Uhr. Ich habe seit Mittag geschlafen. Traumlos. Traumlos? In meinem Kopf herrscht eine ungewohnte Klarheit. Mir ist wie déja-vu. Aber – ist es eine Sinnestäuschung? Mir scheint es eher eine wohlbekannte Erinnerung. Die letzten Stunden sind nicht neu. Das kenne ich. Oder doch déja-vu?
»Bon. Naziza. Dann muß ich aufstehen und ein paar Mails versenden. Und die Zeitung abbestellen. Und Isaac müssen wir anrufen. Hoffentlich ist sie zuhause. Willst Du sie anrufen?«
»Pourquoi? Mais, pourquoi pas? Ich kann es tun. Es ist vielleicht besser, wenn ich es tue. Aber Du wirst es auch tun müssen. Nein?«
»Doch. Ich muß es tun. Aber ich muß auch duschen.«
»Du mußt nicht duschen. Du bist rein. Ich habe es Dir gesagt. Oder willst Du mich weghaben?«
»Du hast recht. Ich stinke ja nicht, ich rieche.«
»Es ist correct. Du bist mein Parfum. Und es ist eine Mélange exceptionell. Mit mir.«
»Allez! Geben Sie mich frei, Madame la coquette.«
»C’est inexcusable, Monsieur! Man schimpft nicht seine Frau so. Monstre.«
Es gelingt mir, mich unter diesen Tausenden und Abertausenden von Gramm herauszuwinden. Es steht noch Café in der Kanne. Er schmeckt schrecklich. Ich mache Espresso. Ich mache zwei. Wenn sie ihn nicht will, ich werde ihn schon trinken. Ich höre, daß sie telephoniert. Sie spricht französisch. Mit wem spricht sie? Ruft sie in Marseille an, daß sie mich dort gleich verhaften können? Ich denke wirr. Ich habe nichts verbrochen. Wegen böswilligen Verlassens wird man auch in Frankreich nicht verhaftet. Höchstens geschieden. Aber das ist ja offenbar nicht geschehen. Oder aber, meine Frau hat mich verhaftet. Es ist ja möglich, daß sie ihre Eltern anruft. Warum nicht? Sie hat etwas mitzuteilen. Ich habe keine Eltern, denen ich mitteilen könnte, meine mir entschwundene Ehefrau sei mir soeben zugeflogen. Oder ich hätte sie eingefangen. Oder sie mich verhaftet. Ich höre, wie sie Isabellas Namen spricht. Klar. Isaac spricht französisch wie deutsch. Isaac spricht aber nur mit Franzosen französisch. Vielleicht mal mit einem welschen Schweizer. Das ist aber auch das höchste der Gefühle. Wenn er ein blitzsauberer Berner ist, dann Berndytsch. Aber Französisch den Franzosen. Und Italienisch den Italienern. Weshalb sie das so konsequent durchführt, ist mir nie klargeworden. Aber ich habe sie auch nie danach gefragt. Ich glaube, sie macht das, um nicht als eingebildet zu gelten. Wenn sie sich diese Zurückhaltung doch auch in anderen Bereichen auferlegen würde! Dann müßte ich sie, so ich anwesend bin, nicht immerfort mahnen, doch nicht so aufs Blech zu hauen. Es ist manchmal zum Auswachsen, wie sie sich aufführt. Nur wenn sie französisch oder italienisch spricht, tut sie das wie selbstverständlich. Ich vermute, daß es daher kommt, daß man Franzosen und Italienern nicht so ohne weiteres imponieren kann. Doch sie lebt schon zu lange hier. Sie hat alle schlechten Angewohnheiten der Menschen in diesem Land angenommen. Was sie wohl zu meiner französischen Staatsbürgerschaft sagen wird? Meine Güte – wie selbstverständlich gehe ich davon aus, dem Glauben zu schenken! Aber weshalb sollte Naziza mir das ohne Grund erzählen?
»Cheri!« ruft es aus dem großen Zimmer. Von dort, wo eine Nacht lang eine Schlacht tobte.
»Ich eile, meine Führerin. Wie Du befiehlst.«
Ich kombiniere seltsame Wörter in diesem Zusammenhang. Und ich mache platte Witze. Dies muß ein gutes Zeichen sein. Denn intelligente Witze macht man nur anderen Menschen gegenüber, wenn man ihnen imponieren möchte. Eher schlichte Witze macht man nur vor sich selbst oder vor denen, denen man nicht oder nicht mehr den Hahn geben muß. Es ist, als ob der Hahn der Henne sicher sei. Aubertin – Du beginnst gutgläubig zu werden!
»Voici! Madame.« Sie hält mir den Hörer hin. »Voilà! C’est Isabelle.«
Mir ist nicht ganz wohl. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Und ich habe ein schlechtes Gewissen. Das wiederum ist kein gutes Zeichen. Ist es das?
»Pronto.«
»Du bist mit einer Französin verheiratet, nicht mit einer Italienerin. Ich dachte, Du lernst jetzt erst mal besser Französisch. Oder?«
»Blöde Kuh. Mich in den schlimmsten Schlamassel aller Zeiten hineinreiten, dem sozusagen Tor und Tür zu öffnen und mich dann dumm anreden.«
»Ich vermute mal eher, daß Du diesen Schlamassel angerührt hast.«
»Ich weiß es nicht. Weißt Du mehr als ich? Ich habe nur entfernte Erinnerungen. Sie kommen sehr dünnflüssig bei mir an. Eher in Form irgendwelcher gasförmigen, schemenhaften Bildern. Irgendwie ist das alles schrecklich. Aber es ist auch schön. Ich bin jetzt mal Optimist. Und Du sagst mir, was da dran ist.«
Naziza steht scheinbar unbeteiligt dabei und schaut hinunter zur Straßenkreuzung. Wie vergangene Nacht. Ich sollte mir das vergegenwärtigen. Es dürfte unserem – neu? – gewonnenen Verhältnis kaum zuträglich sein, Zweifel so deutlich auszusprechen. Isaac wird für unser beider Art, ansonsten miteinander umzugehen, sehr ruhig, angespannt bedächtig.
»Dietrich. Oder soll ich Didier sagen?«
Sie wartet meinen Protest erst gar nicht ab.
»Nein. Der Didier gehört Deiner schönen Frau. Paß auf – ich bin sicher, daß das alles stimmt. Sonst hätte ich da nicht mitgemacht. Was Naziza da erzählt hat, in Paris und dann hier, ist so plausibel. Und es paßt zu Dir. Zu Deinem ganzen Verhalten. Das bist alles Du. Du bist so. Ich kenne keinen anderen, der so ist. Außerdem hast Du nach Deinem Krankenhausaufenthalt oft so'n diffuses Zeugs erzählt, in dem immer wieder Marseille und eine ganz bestimmte Frau vorkamen. Marseille klar. In die Stadt hast Du Dich heillos vergafft. Aber immer wieder diese Frau! Dann hast Du ab und zu Sachen losgelassen, von denen ich mich gefragt habe: Woher hat der das bloß? Der hat doch sonst nicht so'ne Phantasie. Aber ich hab dem keine weitere Bedeutung beigemessen. Du spinnst eben öfters mal. Bis Anne mich aus Marseille angerufen und mir erzählt hat, wen sie da im Hotel kennengelernt hat. Und die neben ihr sitzt. Und was die für 'ne Wahnsinnsstory abgelassen hat.«
»Zum Beispiel?« röhre ich mehr als ungehalten in den Telephonhörer hinein. »Willst Du mich verarschen?!«
»Hör zu! Wer will hier wen verarschen, das müßte ich erstmal fragen. Aber laß – kannst Du Dich nicht erinnern, daß Du oft von einer traumhaften Hochzeit erzählt hast. In Marseille?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Das hast Du aber immer wieder getan. Du hast es auch in Paris getan, oben im Butte-aux-Cailles, in einer Kneipe. Anne hat mir erzählt, daß Du so langsam nerven würdest damit. Sogar Julia hast Du vollgelabert damit. Und der erzählst Du sonst so’n Scheiß nicht. Die hast Du ja heiliggesprochen ...«
»Erzähl doch nich' so'n Scheiß! Und woher willst Du wissen, wem ich was erzähle!?«
»Laß. Auf jeden Fall hast Du’s getan. Und es stimmt, in kleinen Abweichungen, mit dem überein, was Naziza uns erzählt hat. Und wir haben nicht nur einmal nachgefragt. Und Du hast es – das ist ja das Irrsinnige daran! – jedesmal so erzählt, als ob’s Deine eigene Hochzeit gewesen wäre. Ich hab wirklich ein paarmal gedacht, Du bist durchgeknallt.«
Ich will aufbegehren, wie das ihr gegenüber grundsätzlicher Natur ist. Ein letztes Wort durfte sie nicht haben. Doch sie ist eindeutig in der besseren Position.
»Jetzt hör mir – verdammt nochmal! – zu. Ich hab mit Helmensberger gesprochen. Er mag zwar ein Arschloch sein, das Dich nicht richtig behandelt hat. Aber er ist theoretisch vermutlich ein guter Arzt. Ich habe ihn gefragt, ob Du durch diesen Vorfall ein Loch in den Kopf gekriegt haben könntest. Erst hat er blöd geguckt – ja, ich war bei ihm und hab ihm Deinen Fall geschildert. Nein, ich hab erst einen andern vorgeschoben, von wegen Freund und so, dem man helfen muß. Später hab ich dann die Wahrheit rausgerückt. Dann nämlich, als er gesagt hat, daß bei Dir eindeutig ein Fall von Amnesie vorliegt, die behandelt gehört. Die Anzeichen von Aphasie seien ja glücklicherweise rasch wieder verschwunden.«
»Wie bitte?!«
»Ja. Wir haben's alle gemerkt. Du hast schon Probleme gehabt mit dem Sprechen. Manchmal war's ja ganz angenehm, wegen Dei‘m Lästermaul. Quatsch. Es war genau so schlimm wie mit Deiner Zitterhand, die beim Cafétrinken immer Hilfe gebraucht hat von der andern.«
»Die dieser Trottel falsch diagnostiziert und medikamentiert hat!«
»Ja. ich hab's ihm auch deutlich gesagt. Also. Zurück – zusätzlich zum Ausfall des Gehirns hätte es einen zusätzlichen seelischen Schock gegeben, der das bewirkt hat. Oder umgekehrt. So genau weiß ich's nicht mehr. Ich hätte ihn beinahe erwürgt. Ich habe ihn gefragt, warum er mit Dir nicht darüber gesprochen hätte. Und da meint der, tja, schlimm, aber er hätt’s nicht tun können, weil Du einfach nicht mehr in die Behandlung gekommen wärst. Tja.«
»Dieses Arschloch!« jault es cholerisch aus mir heraus. Ich setze mich auf den stabilen Stuhl. Ich bin geschockt. »Und ihr habt Naziza das erzählt?«
»Jetzt sei einmal so gut und halte ausnahmsweise mal die Klappe. Klar? Ich hab ihr davon erzählt. Sonst weiß das ja ohnehin keiner. Ich habe ihr gesagt, daß Du zwar ein alter Sack bist, aber Du vermutlich einmal in Deinem Leben nicht ganz so schlimm warst. Was aber nichts an der Tatsache ändert, daß Du der Frau vor Deinem Um-Fall abgehauen bist. Oder warst Du da auch schon umnachtet? Als Du sie geheiratet hast? Du hast so’n labilen Romantik-Scheiß ja immer schon ganz gern fabriziert. Und mit dem Heiraten hast Du’s ja immer irgendwie gehabt.«
»Ich höre wohl nicht recht«, gebe ich zurück. Doch ich tue es eher kleinlaut, da ich mit Heiratsanträgen nicht eben kleinlich war – obwohl ich nach außen hin doch immer strikt Gegenposition bezogen hatte und dies auch jedem sagte, der’s nicht hören wollte. Isabella wußte das, da ich ihr gegenüber immer wieder mal etwas Episodenhaftes zum Besten gegeben hatte. Zum Beispiel den Fall, der mir Prügel eingebracht hatte. Aber ich hatte auch sehr viel früher, allerdings nach meiner einzig wahren, also gesetzlichen Ehelichung schon einmal Hochzeit gefeiert. Doch das war eine eher postpennälerhafte, ins späte Studentische auslaufende Veranstaltung. Und die Frau, die ich seinerzeit geehelicht hatte, fand das Spielchen selber lustig. Wahrscheinlich hatten wir alle uns insgeheim danach gesehnt, wir, denen solche Anwandlungen aus einem leicht mißverstanden Anarchie-Verständnis und dessen dogmatischem Anhängsel aus ideologischen Gründen ebenso untersagt waren wie dieser romantizistische Quatsch Liebe an sich. Rund hundertfünfzig Menschen hatten damals, Anfang der siebziger Jahre, jedenfalls mit leuchtenden Augen an den Hochzeitfeierlichkeiten teilgenommen, die zwei Tage andauerten. Wenn ich heutzutage, dreißig Jahre später, dann und wann in die mittlere Universitätsstadt komme, in der ich zwei Jahre verbracht hatte, geschieht es, daß ich nach dem Befinden meiner Frau gefragt werde. Dabei wußte ich schon vor ewigen Zeiten nicht mehr, wie sie aussieht. Und schließlich waren es auch Isaac und ich, die Mitte der achtziger Jahre mit kontrolliert verwirrender Einladungs-formulierung gut hundert Menschen zu einer Feierlichkeit gebeten hatten, aus der heute noch immer wieder mal die Frage hervorgeht, wie es denn meiner Frau respektive ihrem Mann gehe. Und von den Geschenken aus aller Welt, versehen mit verständlicherweise ebenso möglichst ungenauen Grußadressen, existiert das eine oder andere bis heute. Die Geldgeschenke allerdings nicht mehr.
»So. Und jetzt erzähl ich Dir noch was. Ich kenne – und ich weiß es auch erst seit kurzem –, ich kenne mindestens drei Leute, die bei Deiner Hochzeit mitgesoffen haben. Drei Tage lang.«
»Ich verstehe nicht ...«
»Es sind Leute vom Théâtre Criée in Marseille, dem Nationaltheater ...«
»Es ist mir bekannt, daß Marseille über ein Nationaltheater verfügt, das Théâtre Criée heißt. Es ist sehr wunderschön und steht direkt am Alten Hafen, Rive Neuve ...«
»Oh Mann! Du Klugscheißer! Okay – sie sind aus Paris. Klar. Weißt Du ja, daß ich da ‘n paar kenne.«
»Die kleine Gemeinde der Mafiosos de Théâtre de Paris ...«
»Herrgott! – Ich habe denen ein Photo von Dir durchgemailt. Und alle haben gesagt – klar, das ist der glückliche Bräutigam gewesen. Der hat immer nur rumgesessen und nix kapiert. Das kannst nur Du gewesen sein. Es muß eine Wahnsinnsfête gewesen sein. Und ich war nicht dabei ...«
»Wir wollen’s wiederholen ...«
»Da bin ich aber dabei – das sag ich Dir!!! Da kann ich endlich die Scheißstadt mal kennenlernen, von der Du immer rumjammerst.«
»Du hast Dich selber eingeladen. – Aber vielleicht hast Du’s ja verdient. Geht auf meine Kosten.«
Es überkommt mich ein Glücksgefühl. Ich lächele zu Naziza hin. Sie erwidert das Lächeln, wenn auch sichtlich irritiert von diesem lautstarken Telephonat. »Invitée au mariage«, raune ich ihr zu, auf den Telephonhörer deutend. Ihr armenisch-arabischer Mund wird noch sinnlicher, die Augen bekommen rhônischen Schimmer. Mein Gott, Aubertin. Was hast du denn für blumige Formeln im Kopf?
»Und jetzt noch was, Du Heiratsbetrüger. Mir hat das alles keine Ruhe gelassen. Da hab ich in Marseille angerufen. Jawoll. In der Mairie. Es war gar nicht so leicht. Jeden Mist erzählen dir die Scheißfranzosen. Von wegen Datenschutz! Nur bei sowas, da machen sie die Grenzen dicht. Aber Du weißt ja, daß ich ganz gut lügen kann. Logisch hab ich’s rausgekriegt. Du, Dietrich Aubertin, hast am 16. August 1998 in Marseille tatsächlich Naziza Al Arfaoui geheiratet. Du Scheiß-Franzos’ Du. Franzosenpack.«
»Wie? Was? Das weißt Du auch?«
»Ich weiß gar nix. Aber es wird schon stimmen. Die Frau hat bis jetzt nur die Wahrheit gesagt. Und sonst nix. Weshalb sollte ausgerechnet das nicht stimmen. Sei doch froh. Du wolltest doch immer so ein Scheiß-Franzos’ sein. – Oder soll ich?«
»Nichts sollst Du. Du hast ja selbst gesagt, daß Naziza ...« Ich erinnere mich gerade noch rechtzeitig, daß sie neben mir steht und jede noch kaum wahrnehmbare Feinheit registriert. »Ich erfahre alles noch früh genug. Wir fahren morgen früh los.«
»Deine Frau hat was erzählt. Du haust also tatsächlich ab. Du erfüllst Dir Deinen Traum. Hätt’sde früher haben können, Du Depp.«
»Ich wollte Dich deshalb bitten, hier nach dem Rechten zu sehen. Die Zeitung bestelle ich gleich ab. Es kann aber sein, daß sie trotzdem noch ein paar Tage kommt. Sei bitte so gut und schau nach. Und überhaupt – mal nach dem Fax sehen und nach dem Anrufbeantworter. Es kommt zwar selten was, aber es könnte ja sein. Geht ja alles per Email. Vor allem die Post! Die Rechnungen. Scheiß-Finanzamt und so.«
»Wie wär’s, Du machst es so, wie Du mir immer empfiehlst, wenn ich mal drei Tage weg bin – Nachsendeantrag. Oder gedenken Monsieur sich das Hintertürchen offenzuhalten?!«
»Ich kann doch jetzt nicht Hals über Kopf ...«
»Warum denn nicht?! Du bist doch sowieso grad dabei, abzuhauen. Warum machst Du nicht Tabula rasa? Was hindert Dich. Deine Angst? Du alter Hosenscheißer. Muß man Dich eigentlich zu Deinem Glück tragen?! Immer jammerst Du: Marseille-Marseille. Die ganze Wohnung ist voll mit Marseille-Marseille. Wenn man bei Dir reinkommt, was hört man? Marseille-Marseille. In allen Kitsch-Variationen ...«
»Himmel, Arsch!«
»Ja, is' ja gut. Stimmt aber auch. Und dann hast Du auch noch Deine alabasterhäutige Traum-Nord-Negerin. Versteh ich ja gut. Ich sollte lesbisch werden. Oder nach Casablanca fahren. Ihr Männer habt’s ja sowieso immer besser als wir. Man sieht’s ja grad wieder an Dir. Und außerdem ist doch jetzt mit Europa und so alles kein Problem mehr. Ach, und wenn Du sowieso ...«
»Du meinst ...«
»Ja. Ich mein. Räum hier zusammen. Ich helf Dir schon. Die Wohnung ist schnell weg in dieser Stadt. Und das Geld wirst Du wohl brauchen können. Im von Gott persönlich kreierten Land wächst die Kohle nicht auf den Bäumen.«
»Und was mach ich, wenn ich nach München muß?!«
»Mein Gott! Es gibt Hotels.«
»Eben hast Du noch gesagt, daß ich das Geld brauche.«
»Auch Himmel, Arsch und Zwirn. Für zweitausend Mark kannst Du lang im Hotel wohnen. Und außerdem gibt’s bei mir ‘ne Abstellkammer oder ‘ne Badewanne. Wenn ich dafür in euerm Schloß wohnen darf.«
»Wie bitte?!«
»Naziza hat mir erzählt, daß ihr euch längst in l’Estaque – von dem Du ja auch immer und immer rumfaselst – was ausgeguckt habt.«
»Wenn dem so sein sollte, gnädige Dame, dann war das ganz offensichtlich 1998, als wir ein frisch verheiratetes Liebespaar waren.«
»Mir hat sie erzählt, daß sie immer noch dran ist und mit dem Haus- oder Wohnungsbesitzer ‘ne feste Vereinbarung, so ‘ne Art Vertrag, für den sie jeden Monat – oh Scheiße, jetzt hab ich mich ...«
Nun bin ich doch einigermaßen verblüfft, um nicht zu sagen wütend. »Naziza!« kommt es drohend aus mir heraus. »Ist es richtig, daß Du in l’Estaque eine Wohnung – hast?! Von der ich vielleicht nichts weiß, weil Du es mir nicht erzählt hast?« Ich halte die Sprechmuschel zu, doch Isaac muß alles verstanden haben. Ich höre sie aus dem Telephon brüllen.
»Hör zu, Du Idiot. Du gottverdammter. Gib Sie mir! Sofort.«
Ich reiche der leicht rötlich angelaufenen und sichtlich konsternierten Naziza den Hörer mit ausgestrecktem Arm. Ich gehe in die Küche. Ich kippe mir Wein in das von gestern herumstehende Glas. Ich stelle fest, daß ich wieder vergessen habe, mein Medikament einzunehmen. Soll ich es wieder weglassen? Soll ich mich besaufen und ein Ende herbeiführen? Da habe ich endlich Zutrauen gewonnen – und werde doch wieder überrollt. Es wäre wohl das Beste. Wer weiß, was noch alles kommt. Da säuselt sie immer von Gemeinsamkeit. Und nun das. Sie erzählt anderen von Wesentlichkeiten, die mich betreffen. Ich werde erst gar nicht gefragt. Was soll das für eine Ausgangsbasis sein? Wie soll das gutgehen?
Sie kommt in die Küche und erfaßt die Situation sofort. Sie greift in das Schälchen mit den Medikamenten, nimmt eine Tablette aus der Verpackung, hält sie mir hin, geht gleichzeitig an den Wasserhahn und füllt ein Glas. Sie hat zwar Tränen in den Augen, aber dennoch einen klaren, festen Blick.
»Nimm es. Didier. Bitte. Ich werde es erklären. Sofort. Mais – sprich bitte noch einmal mit Isabelle. Sie wartet an dem Téléphone. Bitte!«
Ich zögere kurz, nehme dann die Tablette und spüle sie hinunter. Ich gehe ins Zimmer zum Telephon.
»Scheiß-Weiber. Verreckte.«
»Es tut mir leid. Ich ärger mich tot, daß ich mich verquatscht hab. Doch ich find das unglaublich, was die Frau alles tut. Mir sollte sowas mal passieren.«
Ich höre, wie sie zu weinen beginnt. Und das wiederum ist mir nicht recht. Ich bin mir mit einem Mal im klaren darüber, daß dies alles nicht gegen mich gerichtet ist. Es hat ja wohl eher den Anschein des Nestbaus mit umgekehrten Bedingungen. Das Männchen darf sich reinlegen. Verflucht. Ich glaube, ich bin mal wieder im Unrecht. Ich ziehe den Hörer wieder näher an den Kopf.
»Ja. Wahrscheinlich hast Du recht. Aber ich muß das alles verdauen. Es ist zuviel ...«
»Laß. Paß auf. Sie wird Dir das alles genauer erzählen. Ich weiß ja auch nur einen Teil. Aber es ist wohl Tatsache, daß die Wohnung an der place de Lenche, Ihre Wohnung – meinetwegen Eure Wohnung, da besteht sie drauf – verkauft werden soll. Ich hab mir überlegt, ob ich ...«
»Was willst denn Du in Marseille mit einer Wohnung?! Als ich Dich mal gefragt hab, ob Du nicht mit mir – da hast Du mir ‘nen Vogel gezeigt und gefragt: Was soll ich denn in Marseille?! Und – Du hast mir gerade erzählt, das man für sowas lang im Hotel wohnen kann. Was glaubst Du wohl, weshalb ich vor Jahren schon beschlossen hab, mir eben deshalb nix zu kaufen?!«
»Erstens scheint die Wohnung sehr günstig zu sein. Sie ist ja offensichtlich auch nicht groß. Und man sollte die Wohnung kaufen, bevor die Pariser im TGV einschweben und die Preise verdoppeln. Unsere Freundin in Marseille hat mir das erzählt ...«
»Ich hab Dir das erzählt.«
»Ja. Ist ja gut. Aber die auch. Und zweitens werde auch ich alt. Und ich will weder hier noch in Bern aufm Friedhof überm Zaun hängen. Und außerdem würde ich in Marseille ja wohl kaum auffallen. Oder?«
Sie spielte nicht ganz zu Unrecht darauf an, daß sie aufgrund ihres Äußeren lange an die ihr erzählte Geschichte geglaubt hatte, eine Urgroßmutter käme aus Marokko. Daß diese marokkanische Urgroßmutter eine Ashkenazi aus der hintersten Ecke Polens war, sollte sie erst im zarten Alter von siebenundzwanzig Jahren erfahren. Auch, daß ihre Eltern zuhause brave Synagogengänger waren und die Mutter seit Jahr und Tag im Vorstand der jüdischen Gemeinde saß. Man hatte es der Tochter verschwiegen, um sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen. So gebiert der Nazi-Terror auch noch Jahrzehnte danach Prophylaxe.
»Du meinst also allen Ernstes ...«
»Ja. Ich meine allen Ernstes. Ich könnte die Wohnung kaufen, bis Euer l’Estaque frei wird und Ihr dahin ...«
»Was Du alles weißt!«
»Sie wird Dir das schon alles erzählen. Laß! Und es gibt genügend Leute, die auch mal ans Meer wollen. Ich mein, genügend Pariser.«
»Aha. Nachtigall, ick hör dir ...«
»Ja, die Autobahn nach Rouen ist immer so voll. Außerdem schimpfen sie zwar immer auf die Scheiß-Südfranzosen, fahren aber trotzdem gerne hin. Ans Meer. Das gehört ja bekanntlich allen Franzosen. Also breiten sie sich aus und verdrängen ein bißchen. Die andern.«
»Die Seuche rückt an. Die andere. Jaja. Auf der Strecke Paris-Marseille ist der TGV ja wirklich meistens ausgebucht. Am Wochenende und, logisch, in den Ferien. Und zwar in allen Klassen. Kein Wunder bei dem Preis! Rund vierhundertdreißig Francs oder hundertdreißig Mark für eine Strecke, die München-Hamburg entspricht. Was ist das in Euro? Fünfundsechzig? So ungefähr. Das entspricht in etwa der Autobahngebühr. Und auch noch in der Hälfte der Fahrzeit. Drei Stunden. Damit kommt man von München aus mit dem Intercity gerade mal nach Frankfurt. Mit dem sogenannten Sprinter morgen um halb sieben. Aber der TGV – stündlich! Von Marseille aus, von diesem entzückenden, fast kleinstädtisch wirkenden Gare Saint-Charles aus um 7 Uhr 31 stündlich und direkt: Ankunft Paris-Gare du Lyon 10 Uhr 31. Jede Stunde. Die Einwohner von Rouen werden aufatmen. Der Fremdenverkehr wohl kaum. Der wird jammern. Aber Marseille ächzt ja jetzt schon unter den Preissteigerungen. Und wie. Die Mieten nehmen langsam Münchner oder Hamburger Formen an. Oder eben Pariser. Überhaupt – wie hat Éric Orsenna geschrieben? ›Paris hatte den Engländer vom Spitzenplatz ihrer Aversionen verdrängt. Und sie fanden in ihrem Innersten brachliegende alte Aggressionen.‹ Er hat das zwar in Verbindung mit der Bretagne gemeint. Aber es hat wohl überall Gültigkeit. Und das, obwohl es früher doch immerhin hieß: ›Ich bin fest überzeugt: ein fluchender Franzose ist ein angenehmeres Schauspiel für die Gottheit als ein betender Engländer.‹ Wahrscheinlich aber variieren die Pariser das heute: Der in der Hölle fluchende Pariser ist angenehmer als der himmlische Marseillais. Die können sie nämlich doppelt nicht ausstehen, die Pariser. Aber hinfahren. Und’s kaputtkaufen. Wie Croix-Rousse in Lyon. Das nur nebenbei. Also – fünfzig bis sechzig Quadratmeter mit Tageslicht für drei- bis viertausend Francs. Mit Hafen- oder Meerblick oder Sonnenlicht nochmal siebenhundert bis tausend Francs. Je nach Feinheitsgrad des Arrondissements. Oder vorhandenem Fahrstuhl. Die werden nach und nach eingebaut. Wenn Platz ist. Schmeißen wir eben einen Araber raus. Durch die Rue Thubaneau im Ersten, im Quartier Belsunce, habe ich schon die Ferraris durchrollen sehen, während sich nebenan in der Rue Récolettes noch der Müll der Araber stapelt und sie zwischendrin für die Alimentation sorgen. Zum Kotzen.«
»Du hätt'st Fremdenführer wer'n sollen, Anti-Fremdenführer, Du Laberfritze ...«
»Didier!« Naziza schaltet sich erregt ein. »Diese Ferrari und noch BMW oder Mercedes – diese sind auch von Arabes! Es sind die Commerçants en gros, die jedoch dort nicht leben! Diese armen Menschen, die dort leben, für viel Geld in diesen schlimmen Hôtels am Cours Belsunce, haben nicht einmal Wasser in ihren Zimmern! Sie müssen sich eine Flasche kaufen in diese kleine Magasins. Das nicht teuer ist, weil die Arabes es verkaufen.«
»Das ist ja die Sauerei. Aber was soll's. Dann ist ja wenigstens Platz in Paris.«
»Ach, Du ewiger Miesmacher. Und Klugscheißer. Und Vortragsredner und Alleswisser. Und Du überhaupt nicht Rassist ...«
»Ach, leck mich doch. Du weißt doch genau, wie ich das meine. Hier haben sich die Großkotzens breit- und die Araber plattgemacht. Vermutlich haben sie – ach was, ich weiß es genau, schließlich hab ich's eine Weile verfolgt. Drei Jahre bestimmt. Und dann hat's mir ein Einheimischer bestätigt. Die Häuser wurden fürn Appel und 'n Ei angeboten. Beziehungsweise sie wurden mit viel Geld gefördert. Dann wurden die Häuser saniert. Gerade so, daß sie die Mietgarantien über zehn Jahre halten. Aber dennoch entsprechend hoch. Das konnten die Araber natürlich nicht bezahlen, diese Gagen, für die jetzt diese Ateliers Guillot oder Galerie Mourlot und ihre Anhänger des neuen Lebens in Marseille zahlen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß ein einen Verein gibt, der über solche Machen-schaften aufklären will.«
»Früher haben die Franzosen solche Viertel einfach abgerissen. Anscheinend haben sie von den Deutschen gelernt. Is' ja erstaunlich genug, daß die von anderen mal was abgucken. Aber die Geldhaie war'n ja schon immer 'ne Großfamilie. Du weißt's doch.«
»Ja. Genau. Jetzt lassen sie ein bißchen Fassade stehen und entkernen. Wie bei der neuen Bibliotheque Municipale à Vocation Régionale am Cours Belsunce. Vorne zwanzig Meter Altgemäuer und hinten raus zweihundert Meter Stahlbeton. Dafür haben sie – geübt darin sind sie ja – ein ganzes Caré eingeebnet. Mit dem Eingraben nach unten war'n sie vorsichtig. Wahrscheinlich haben sie's nächtens bewerkstelligt. Nicht daß – pour l'amour du ciel! – wieder irgend so'n antikes Griechenklo zum Vorschein kommt und sie gleich wieder 'n neues Musum einrichten müssen wie drüben am Centre Bourse. Zugehängt war die Baustelle ja ohnehin. Vorsichtshalber wohl. Null Einblick. Und diese dämlichen Araber haben's ihnen bei ihrer neuen Taktik auch noch leicht gemacht mit ihrem unsäglichen Dreck und tonnenweisen Müll. Ernsthaft – ich habe gesehen, daß sie frisches Fleisch oder Fisch oder sonstwas verkauft haben und zehn Zentimeter nebenan einer in den Hauseingang gepinkelt hat. Ohne Kommentar.«
»Das würde mich zwar auch ein bissi vom Einkaufen abhalten. Aber Du bist und bleibst ein Rassist. Zumindest bist ein bißchen nicht ganz so politisch korrekt. Die sind eben nicht so pinkelig wie unsereins. Und wahrscheinlich warst Du der einzige, der's gesehn hat. Sonst hätten sie dem Kerl schon was abgeschnitten. Mittendrin. Die sind doch nicht doof. – Hör zu. Ach was. Laß es Dir von Deiner Zauberfrau erzählen. Ich glaub, ich würd’s gern machen, die Wohnung und so. Außerdem glaub ich, daß sie ab und zu Hilfe braucht im Kampf gegen Dich. Und mit dem Flieger eil’ ich in Minuten ...«
»Ihr habt euch gegen mich verschworen. Ich sehe mich einer mariannischen Übermacht gegenüber. Du und halb Paris im Kampf gegen mich. Und vielleicht auch noch meine Göttergattin.«
»Die Göttin ist sie. Du nix Gott. – So sind wir eben. Weiber. Sagst Du doch immer.«
»Ich dachte immer, der ärgste Feind der Frau sei die Frau?!«
»Nur in Konkurrenzsituationen. Wenn’s ums Helfen geht, sind wir euch eindeutig überlegen. Ohne uns könntet ihr ja sowieso kein Revier verteidigen.«
»Wie das?«
»Weil ihr erstmal gesäugt und gewickelt werden müßt.«
»Ach ja. Du alte Mutter. Ist ja gut. – Also, wie soll’s weitergehen?«
»Haut ihr ab. Ich kümmere mich um alles. Und sieh zu, daß Du Dich wiederfindest. Und wo Du mich findest, weiß Du ja. Reicht Deine Kohle?«
»Wie? Wofür?«
»Ob Du genug Geld hast für die nächste Zeit?«
»Wo denkst Du hin? Ich muß arbeiten.«
»Jetzt mußt Du Dich erstmal um Deine Frau und Dich kümmern.«
»Die muß auch arbeiten.«
»Ist ja gut. Ich meine nur, Ihr solltet Euch Zeit nehmen für euch. Ich glaub, das braucht’s. Wie Helmensberger mir gesagt hat, wär’s das Beste, Du würdest am besten vorsichtig wieder überall dorthin gehen, wo’s war. So wär’s am ehesten wieder zurückzuholen ins Gedächtnis. Also brauchst Du Zeit. Sie kennt’s ja alles.«
»Aber ...«
»Jetzt sei doch mal ausnahmsweise nicht so bockig wie gewohnt. Mach doch einfach. Hör doch mal auf zu grübeln! Tun! Es kann doch nur besser werden. Oder nicht?«
»Ja ja. Ich werd’s so machen, wie Naziza mir erzählt hat, daß ich’s gemacht hätte – ich werde meinen Computer mitnehmen, klar, und tun, was ich tun kann, also morgens ein bißchen arbeiten und nachmittags im Café sitzen. Meine Gattin hat mich ja heute schon zum Araber ausgerufen ...«
»Wie?« Sie lacht lauthals. »Was? Dich?!«
»Ja, hier bei den Nachbarn. Sie hat da Milch geschnorrt.«
»Und Du hast Dich dabei in die Hosen gemacht. Nicht?«
»Richtig erkannt. Also – und am Abend werde ich mit meiner Frau am Hungertuch nagen.«
»Paß auf! Also, wenn Du wirklich was brauchst, dann melde Dich. Es ist wichtiger, daß Du, daß Ihr klarkommt. Also, haut ab. Fahrt schön. Du willst ja gemütlich, wie Naziza erzählt hat. Also Tschauou.«
Sie hat aufgelegt. Ich bin sehr nachdenklich. Ich kann mich nicht erinnern, wann Isabella je so behutsam mit mir gesprochen hätte. Wahrscheinlich habe ich auch das vergessen. Ich hatte schließlich einen Gedächtnisverlust. Aber wo ist mir mein Gedächtnis verlorengegangen? Wer hat es mir genommen? Und alle wissen es. Nur ich nicht. Ich bin drei Jahre ohne Hirn, ohne Gedächtnis durch die Welt getapert. Was hab ich sonst noch alles fabriziert, von dem ich nichts weiß. Soll ich diesen Arzt umbringen? Konnte er mich nicht anrufen? Er hatte alle meine Telephonnummern, auch die geheimsten. Nein, ich werde ihn nicht umbringen. Er ist ein Wicht, der Angst hat um seine sündhaft teure Praxis im Edelzentrum der Stadt, an die Milan Kundera gedacht haben muß, als er den Kitsch als Verneinung der Scheiße definierte. Praxis inmitten der Edelscheiße mit Bildern an den hohen und weiten abgetönt-weißen Wänden und Plastiken auf den Gängen von Künstlern, die wirtschaftlich wohl abgefederter sind als er. Ihm geht’s doch gar nicht um das Wohl seiner Patienten. Außerdem – was kann er schon tun, was kann er ändern? Wieder die falschen Pillen attestieren, wie zu Beginn, die mich beinahe umgebracht hätten, weil er die begleitende Literatur nicht studiert hatte – Pillen gegen ein nachwirkendes parkinsonsches Flattern der rechten Hand, die meine Depressionsseele um ein Haar aus dem fünften Stockwerk gekippt hätten. Isaac war es, die vermutend diagnostiziert hatte, und mein guter alter Hausapotheker hat über die möglichen Nebenwirkungen dieses Uraltmedikamentes nachgelesen: In Verbindung mit ganz bestimmten anderen Präparaten sollte dieses nicht verabreicht werden. Isaac hatte mehr drauf als dieser Mediziner mit seinen vier Studiengängen – vor allem Gespür. Ich danke Dir, Isaac. Aber im Augenblick hilft es mir auch nicht weiter. Denn mir fehlt ein Stück von mir. Ich glotze hinunter auf die Straße, wie gestern abend, als ob’s dort läge.
»Du bist böse, Didier? Es war dumm von Isabelle – nein. Ich hätte es sollen sagen. Es war auch – ich habe den Fehler begangen. Es war sehr dumm von mir. Es war gegenwärtig, Du würdest darauf kommen. Mon Dieu! Je suis complètement idiot.«
»Du entzückender kleiner Vollidiot« – meine Stimmung ist vergleichsweise ausgesprochen gut – »jetzt erzähle mir wenigstens im Nachhinein, was da los ist. Mit mir kann man es ja machen. Du weißt doch, daß ich nichts, aber auch nichts weiß. Das mag ja manchmal recht vorteilhaft sein, wenn man hirnlos durch die Gegend rennt. Aber in diesem Fall habe ich ja wohl ein bißchen was zerdeppert.«
»Ich bin diese Depp ...«
»Non-non, Mademoiselle, pardon, Madame Aubertin. Hier meint das jetzt – zerschlagen, kaputthauen. Du hast ja nichts kaputtgehauen. Oder? Vielleicht mich?«
»Ich habe Dich zerschlagen?!«
»Ach was, Naziza. Ich mache dumme Witze. Pardon. Komm, erzähl mir was. Was ist mit l’Estaque. Es hört sich ja nicht schlecht an, was Isaac da angedeutet hat. Also, was ist los in l’Estaque?«
»Ich habe damals – Du erinnerst nicht?«
»Nein, Naziza! Nein und nochmals nein. Würde ich sonst fragen?« Sie beginnt den ungehaltenen Aubertin persönlich kennenzulernen. Aber vielleicht kennt sie ihn ja bereits? Ich fahre den Regler wieder runter. »Ich sage nochmals – ich weiß nichts. Sobald ich mich an etwas erinnere, werde ich es Dir sagen.«
»Du hast doch davon selbst gesprochen – von diese Wohnung in l’Estaque.«
»Ich soll von einer Wohnung in l’Estaque gesprochen haben. Bist Du denn – ach ja, warte mal. Ja, richtig. Da war was.«
»Du hast erzählt, daß es einmal eine war. Du erinnerst nur nicht – wir haben gemeinsam diese Wohnung gesehen. Wir waren zusammen dort. Cheri. Du und ich. Du weißt es nur nicht. Es ist diese Wohnung mit Blick zum Meer.«
»Ach!? Meerblick? Café de retraite? Circa siebzig, achtzig Quadratmeter?«
»Oui. Aber sie hat Kinder bekommen.«
»Wer? Die Vermieterin?«
»Non. Le appartement en copropriété.«
»Wie bitte? Ich verstehe nur Bahnhof. Eine Wohnung, die Kinder kriegt. Warum nicht. Wer kriegt heutzutage nichts alles Kinder. Sogar männliche Schwule. Nein, ich bleibe bei homosexuell. Jeder Spießer sagt heutzutage schwul und hält sich deshalb für nichtspießig. Was soll’s. Aber – Moment mal. Du sprichst auf einmal so schlecht deutsch.« Ich sehe, wie sie leicht zusammenzuckt. »Appartement en coproriété. Eine kinderkriegende Eigentumswohnung?!«
»Oui. Sie hat zwei formidable Zimmer bekommen. Et une terrasse. Bon alors – drei Kinder.«
»Das ist ja wunderschön für die Wohnung, von mir aus für den Besitzer. Wahrscheinlich Marius et Jeannette persönlich ...«
»Oui, Cheri.«
Sie kiekst und kichert in sich hinein wie ein kleines Mädchen. Oder wie eine Frau, die drei süße kleine Zimmer gekriegt hat. Ach – ich bin wirr.
»Oui. Wie Marius et Jeannette. Wie Didier et Naziza.«
Sie setzt eine Zäsur. Und die schneidet durch mein Hirn wie ein Messer, das zuvor an einem heißen Herzen geglüht wurde.
»Willst Du damit sagen ...«
»Oui. Ich will sagen ...«
»Die Filmwohnung von Marius et Jeannette?«
»Non, Didier. Diese ist nur ein wenig – es ist etwas hinzugekommen, vers nord. Doch diese, von der ich spreche, ist wie im Film. Non. Es ist nicht richtig, was ich sage. Es gibt nicht so viele dieser Häuser. Jedoch, sie ist sehr schön.«
»Na gut. Schön für die Wohnung. Und was habe ich – was haben wir damit zu tun?« Irgendwas ist hier faul. Aber Moment mal – Isaac hat doch was erzählt. »Naziza, Du armenische Berberfürstentochter. Willst Du damit sagen daß Du ...«
»Oui. Ich will damit sagen ...«
»Was?«
»Oui. Es ist unsere Wohnung. Es nicht die Wohnung von Marius et Jeannette. Es ist – le appartement en copropriété de Didier et Naziza.«
»Bist Du des Wahnsinns?! Du hast Deinem Vater das Zelt unter dem Arsch weg verkauft, Du Wüstenfüchsin?«
»Oui. Naturellement. Non ...«
»Du erzählst mir, Du würdest so wenig verdienen. Du erzählst mir, wir bräuchten Geld. Du ...«
»Oui. Didier. Wir brauchen Geld. Sie ist noch nicht bezahlt. Noch – n’est pas près de finir.«
Sie geht in Deckung. Sie scheint mich doch zu kennen. Ich schnaufe wie ein Stier in der Camarque, der gleich auf Touristen losgeht. Doch Touristen sind eher langweilig. Ich schnaufe weniger und wende mich wieder den saftigen Gedanken zu, die vor mir herumflattern.
»Du lockst mich nach Marseille – mit Schulden.«
»Non. Didier, ich locke Dich nicht. Es ist unsere Paradis. Wir gehen in unsere Paradis. Es ist jemand, der uns dieses wieder geöffnet hat. Es ist eine wunderbare Mensch. Er macht mit die Mieter von jetzt immer nur ein Jahr Contrat de location. Seit 1999. Daß wir beide einziehen können. Und er hat diese beide Zimmer und die Terrasse dazugekauft. Hinzugebaut. Für uns.«
»Aber der Mensch kennt mich doch gar nicht.«
»Non-non-non. Cheri, er kennt Dich gut!«
»Wie bitte? Er kennt mich? Ich kenne doch kaum jemanden in Marseille, geschweige denn in l’Estaque.«
»Er weiß, welche Filme Du liebst und welche Frau. Es ist ihm genug.«
Mir fällt die Kinnlade herunter. Naziza steht kichernd neben mir. Die Freude ist offensichtlich. Ihr schwant, der Coup könnte gelungen sein. Sie könnte recht haben.
»Mais – er hat Dich aber auch ein paarmal gesehen ...«
»Mich? Gesehen? Wo.«
»In Deine geliebte Café de retraite. Er liebt es auch. Er ist oft dort. Doch er ist nicht Rentner. Er mag wie Du gemischte Menschen. Diese Durcheinander ...«
»Und ich kenne ihn auch?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Du solltest es jedoch wissen. Aber ich glaube, Du weißt es nicht. Nicht mehr. Mais – c’est pareil. Wir haben uns wieder getroffen. Als ich war in eine traurige Spaziergang dort, auf meine rechereche du temps perdu. Ich habe ihm von Dir erzählt. Ich habe ihm unsere Histoire erzählt. Dann hat er gesagt – Madame, je veux bien seconder. Er hat gesagt, daß er wird mir diese Wohnung verkaufen. Mit alle Zimmer und Terrasse. Und er hat mir gesagt, daß ich in kleine Teilen bezahlen kann und wann ich kann.«
»Ich bin sprachlos. Solche Menschen gibt es? Ich fasse es nicht. Ich brauche einen Schluck Wein.«
»Non. Didier. Non!«
»Hör auf damit. Laß das besser sein. Ich trinke jeden Abend ein bis zwei Gläser. Seit Jahren. Es tut mir gut. Also trinke ich jetzt auch ein Glas.«
»Ich habe Angst, Didier.«
»Du hast mir vorhin ja die Tablette hineingenudelt. Also kann nichts passieren. Und zur Beruhigung brauche ich jetzt einen Schluck Nîmes. Wenn du nichts alles weggesoffen hast. Zur Not nehme ich auch Chabert de Barbera.«
»Fou!«
»Keine Angst. Ich saufe Deinem Vater den Wein schon nicht – ach, Mensch, das Fax nach Maury muß ich noch wegschicken. Und Zeitung abbestellen.«
»Es läuft nicht weg.«
»Wer? Die Zeitung?«
»Mon Dieu! Fou. Vachement drôle. Le vin! Papa. Du wirst ihn sehen. Wir können fahren hin.«
»Wohin? Zu Deinem Vater. Der schlägt mich tot.«
»Oh! là là! Peur? Papa schlägt niemanden. Papa wird Dich in die Arme nehmen. Gros nigaud.«
Ich habe mir Wein geholt. Meiner Weingöttin stelle ich ebenfalls ein gefülltes Glas hin. Ich schaue ihr in die Augen. Ihre Wärme geht hindernisfrei direkt in mein Herz. Ich erhebe das Glas. Sie gleicht die Bewegung an.
»À votre santé – auf l’Estaque. Auf Monsieur – wie heißt er? Und was macht der eigentlich? Ich meine beruflich?«
»Barthes. Paul Barthes.«
»Wie bitte? Warum nicht gleich Roland?«
»Oh, Didier. Immer nur Dichter in Deinem Kopf. Aber das ist schön. Paul Barthes kennt auch Roland Barthes. Aber Paul Barthes ist keine Écrivain. Er ist Händler von Fisch ...«
»Wie bitte? Was? Ich krieg mich nicht mehr ein.«
»Was ist so verrückt? Ist es schlimm, Fische zu verkaufen?«
»Nein, Naziza. Überhaupt nicht. Es ist – es ist einfach nur komisch, das Ganze.«
»Aber er verkauft auch Film.«
»Nun bin ich am Ende. Fischfilme, oder wie? Fisch und Film. Aber warum nicht? Mein Klischeehirn kriegt das nur nicht auf die Reihe. Warum, verdammt nochmal, nicht Fisch und Film. Fängt beides mit F an.«
»Non. Das ist falsch.«
»Was ist falsch?«
»Fisch beginnt mit P und Film mit F. In Deine Sprache.«
Es dauert eine Weile, bis das bei mir angekommen ist.
»Also muß ich jetzt auch mon Dieu! sagen. Es wird mir so leichtfallen wie merde. Französische Scheiße ist, ich sagte es bereits, weicher.«
»Jetzt wirst Du vulgaire.«
»Du hast recht. Sag, was für Filme verkauft er?«
»Nicht richtig verkaufen. Er gibt Geld für Produktion.«
»Ein ungewöhnlicher Mensch. Er angelt tote Fische und gibt sie weiter an bedürftige Künstler. Enorm. Ich bin Mitbürger eines kultivierten Volkes.«
»Du machst Dich lustig. Das ist nicht gerecht.«
»Nein, Naziza. Ich mache lediglich dumme Witzchen. Eigentlich will ich das gar nicht. Aber ich bin völlig durcheinander. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Das ich so etwas erleben soll. Ich persönlich. Ich kann’s nicht fassen. Ich glaub’s einfach nicht.«
»Du sollst es. Wir gehen zu Paul. Direkt. Er wird große Freude haben.«
»Und wie soll das weitergehen, Naziza? Ich habe es immer gescheut, mir Eigentum zu kaufen, weil man so gebunden ist damit.«
»Mais – maintenent Du bist gebunden.«
»Stimmt. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich bin gefesselt – an einen Sack voll Schulden.«
»Du bist gar nichts gefesselt. Ich habe diese Contrat. Du mußt nichts ...«
»Und Du glaubst, ich ließe das zu?«
»Es ist schön, wie Du das sagst.«
»Aber jetzt mal der Reihe nach, meine Entzückende – was kostet die Wohnung beziehungsweise wieviel Schulden sind drauf? Ich nehme an, fast der komplette Kaufpreis. Denn Du dürftest kaum allzu viel haben bezahlen können.«
»Bien. Le appartement coûter six cents mille Francs moins, inclus impôt et notaire. D’un prix modéré! Es ist bezahlt eine Drittel. Der Monat kostet soviel wie mein Miete für die appartement an die place de Lenche.«
»Bitte nochmal. Ich verstehe nicht ...«
»Oh! Didier. Es ist nicht ...«
»Nein. Nicht doch. Ich schimpfe ja gar nicht. Ich habe Probleme mit den französischen Zahlen.«
»Pardon. Es sind sechshundert ...«
»Nein. Bitte nochmal französisch. Ich muß das ja mal lernen.«
»Six cents mille francs moins, inclus impôt et notaire.«
»Sechshunderttausend Francs. Richtig?«
»Oui. Inclus impôt et notaire.«
»Rund hundertachtzigtausend Mark minus zehn Prozent inclusive allem, Steuer, sogar Notar. Das will was heißen, in einem Land, in dem die Notare noch vor Monsieur le Président rangieren. Na ja. Das geht. Quatsch. Das scheint mir ja mehr als preiswert. Für Meeresblick, Terrasse und direktem Anschluß an die Nachbarschaft. – Aber Moment mal. Willst Du damit sagen, daß Du ein Drittel bezahlt hast, und das, obwohl Du jeden Monat noch einmal soviel hinlegst wie Deine Miete? Wie soll das gehen?«
»Ich hab ein klein Gain à la loterie – non, Maman et Papa haben es gehabt. Sie haben mir das gegeben. Und Paul kann ich geben, wie ich es habe. Es ist nicht von Eile, hat er gesagt.«
»Deine Eltern, die selbst mehr als reduziert leben, haben Dir ihren Lotteriegewinn gegeben für eine Wohnung, von der niemand weiß, wer je darin wird leben?«
»Wir haben immer gewußt, wer wird darin wohnen – Didier et Naziza. Ich habe es gewußt. Maman et Papa. Aaron et Mirjam. Die haben auch ein wenig geholfen. Wir haben es immer gewußt.«
»Ich glaub, ich bin im falschen Film. In einem Fischfilm. Das gibt es doch alles nicht. Wie ist so etwas bloß möglich?«
»Du siehst, es ist möglich. Ich habe immer geglaubt. Man muß es. Nicht an irgendetwas. Nicht an Allah, Buddha, Jahwe-Adonai, Zeus, an der Christen Gott. Wer an diese glauben will, sucht eine Chimäre irgendwo in eine Raum, den Menschen geschaffen haben, um andere in engen Grenzen zu halten. Sondern an eines ist zu glauben, aber nicht an ein diffusion von ceinture de sécurité in ein galaxie. Nenne man es – an den Gott der Liebe, der überall in uns allen ist. Du kennst es. Èric Rohmer hat es gezeigt. Wir haben es gesehen zusammen.«
Ich erinnere mich zwar nicht an den gemeinsamen Kinobesuch, aber – sehr gerne – an dieses im besten Wortsinn traumhafte Wintermärchen, in dem die junge Frau immer sicherer wird, eines Tages dem Mann wiederzubegegnen, von dem sie mit zunehmender Zeit mehr überzeugt ist, ihn nach wie vor zu lieben und er auch sie liebt. Mit dem sie ein Kind hat. Es entstand, wie in jedem x-beliebigen Softeisfilmchen am sommerlichen Strand. Doch bereits der Verzicht auf das exakte Procedere verweist auf den Blick hinter das Bild. Rohmer weiß ja, daß wir wissen, wie so etwas funktioniert. Er hängt die Wirklichkeit nicht mit fahlen Weichzeichnern zu. Nach diesem knappen Sommerlüftchen ist Winter. Ekelhafter Pariser Winter. In diesem flattert eine alleinstehende junge Frau mit einem etwa vierjährigen Küken von kahlem Ast zu saftlosem Zweig. Hier der bodenständige, eher vierschrötige, aber dennoch differenziert liebevolle Besitzer eines Friseurgeschäftes, Sinnbild der materiellen Sicherheit. Dort der gutaussehende, stille, belesene, allerdings tief im Katholizismus verwurzelte Bibliothekar, dessen Katechismusdenken ihm nur Denkschemata liefert, keine intellektuellen Argumente. Wie hat Arthur Rimbaud geschrieben? – »Es ist falsch zu sagen: ich denke. Es müßte heißen: man denkt mich.« Die junge Frau denkt – mit ihrem unverbildeten, also natürlichen, eben (noch?) nicht kanalisierten Satz. Ein Satz nur, ein holpriger zwar, aber eben ein selbstgedachter, bringt das Angelernte ins Wanken. Vom Übernatürlichen im Christentum sprechen die Freunde des in seinen Büchern Verlorenen, von der Transzendenz und Wiedergeburt außerhalb einer Religionslehre. Der Vielleser zitiert verzückt die malerischen, sinnbildhaften, die Statik ins Wanken bringenden Ausuferungen des Poeten, um ihm dann doch wieder den Lieben Gott ins Gedicht zu nageln. Sie hingegen meint schlicht, es müsse möglichst vieles von vielen Menschen und zu allen Zeiten in einem enthalten sein. Das sei erstrebenswert. Und der Friseur spricht von seinem neuen Laden in der Provinz und daß man Kundinnen nicht warten lassen könne, auch wenn das kleine Mädchen nunmal das Bedürfnis habe, eine Kathedrale von innen zu sehen. Beide lieben die junge Frau. Sie liebt auch die beiden Männer. Aber sie macht den beiden auch klar, daß jeder von ihnen sie niemals so lieben könnten, wie sie ihren Charles liebt. Sie liebt Charles, von dem sie nicht einmal den Nachnamen weiß. Irgendwas Niederländisches. Es kann auch was Dänisches gewesen sein. Was spielt das schon für eine Rolle?
Wer diesen hinter den Bildern tobenden Existenzkampf nicht sieht, sondern nur eine bewegt abphotographierte Restauration eines alten Hutes, für den mag das gelten, meinetwegen: Kitsch. Aber Rohmer verweist auf diese, ja – gottverdammte! – Scheiße zwischen den Zeilen. Er läßt sie überall hervorquellen. Houellebecq heißt Jacques Prévért ein Arschloch, weil er die Wirklichkeit verkläre. Was für eine Wirklichkeit? Die des Michel Houellebecq? Die des Arschloches Michel Houellebecq? Was ist es denn, wenn Prévért schreibt, er habe Vögel gekauft für die Geliebte? – Und Blumen. Und Ketten. Schwere Ketten. »Und dann war ich auf dem Sklavenmarkt/Und hab dich gesucht/Aber ich habe dich nicht gefunden/Geliebte.« Solches wird von Menschen genossen, die täglich acht Stunden an Fabrikbändern oder Versicherungs- oder Verlagscomputern malochen. Sie lesen es – unwissend? – quasi als Umhüllung der Scheiße. Doch die Vermutung liegt nahe, daß aus der Hülle etwas hervorquellen und sich verbreiten könnte, das sich als Natur erweist. Und ist das ein weniger anspruchsvolles Etui als die alljährliche Flucht des wehenden Schals ins Walle-Gewalle auf dem Grünen Hügel, ins Nietzschesche »Gequake von Bayreuth«, oder in die Loge irgendeiner Nationaloper? Ich kann es ja auch so machen, mon cher Houellebecq – ich zitiere, unter Verzicht auf den Rest Ihrer dreihundertsiebenundfünzig (deutschen) Seiten, den Schluß Ihrer Elementarteilchen: »Wir glauben heute, daß Michel Djerzinski in Irland gestorben ist, eben dort, wo er beschlossen hatte, seine letzten Lebensjahre zu verbringen. Wir glauben weiterhin, daß er, nachdem seine Arbeiten beendet waren, beschlossen hat, zu sterben, da ihn keinerlei menschliche Bande mehr zurückhielten. Zahlreiche Zeugnisse bestätigen seine Faszination für diesen äußersten Zipfel der westlichen Welt, der ständig in wechselhaftes, sanftes Licht getaucht ist, einen Ort, an dem er so gern Spaziergänge unternahm und an dem, wie er in einer seiner letzten Aufzeichnungen schrieb, ›Himmel, Licht und Wasser verschmelzen‹. Wir glauben heute, daß Michel Djerzinski ins Meer gegangen ist.« Und nun? Das ist das Ende. Und was ist vor dem Ende? Ihr Sendungsbewußtsein? Ihre Aussage? Ist das Klitterung? Ja, es steht noch mehr drinnen in Ihrem durchaus lesenswerten Buch. Aber Prévért oder Rohmer beginnen mit dem Ende. Von hier aus träumt der Kulturwissenschaftler ebenso weiter wie die ständig zitierte Fabrikarbeiterin, die die Wäscherin abgelöst hat und die gerade von derjenigen abgelöst wird, die den ganzen Tag Zahlen und Fakten in den Automaten hackt. Und manchmal platzt der Traum im Hirnkino, und man ist hellwach, man schüttelt sich – und sitzt mittendrin im Anfang.
Wir müssen einfach nur lesen – wie die Blinden, die am Ende des Films sitzenbleiben, um nicht von den Analphabeten niedergetrampelt zu werden, die ihr Studium an der Elite-Universität im immer vorwärts gerichteten Schnellgang absolviert haben. Und vielleicht sollte man dabei auch die Rudergänger der Revolte nicht vergessen, die auf dem Weg in die Steuerzentralen der Konzernschlachtschiffe den ganzen Denkmüll von einer besseren Gesellschaft ins Meer der Ideale gekippt haben.
Die beiden in Rohmers Wintermärchen haben sich nur deshalb verloren, weil sie ihm in ihrer häufig vorkommenden Unkonzentriertheit eine falsche Stadt, es mag auch eine falsche Straße gewesen sein, aufgeschrieben hatte. Die Häuser in der einen wie in der anderen Stadt oder Straße waren abgerissen worden. Einfach so. Ein lapidarer Satz aus der jungen Frau an den kopfschüttelnden Friseur. Ohne ökologische Hintergrundsdebatte. Sowas kommt eben vor in einer solchen Scheiß-Gesellschaft. Alleine deshalb konnte er sie also nicht finden. Das ist nicht viel, aber eine Menge. Und es nährte ihren Glauben.
Nach vielen Jahren sitzen sie sich im Autobus gegenüber. Sie und ihr Seefahrer. Kurz nach dem Beginn der Geschichte bricht Rohmer ab. Alles steht auf, während der Abspann noch läuft. Man muß unbedingt einen trinken gehen. Dabei hat die Historie doch gerade ihren Anfang genommen. Für sie bedürfte es der Fortsetzung in einem weiteren Film, um die Mitteilung zu verstehen. Aber Rohmer schart ein paar andere schöne, weil interessante Gesichter um sich und läßt sie sachte ein anderes Chanson trällern. Gehet hin in Frieden.
Seefahrer? Ach? Seefahrer Odysseus. Bin ich doch im Film? Im sozusagen richtigen? Oder habe ich zu viele Rohmer-Filme gesehen?
»Du hast recht, meine Schöne. Wo Du recht hast, hast Du recht. Ich bin beeindruckt. Aber ich dachte immer, solches gibt es nur im Kino. Und richtig, ich war gerade wieder im Kino. Du hattest mich hingeschickt, zu Rohmer. Merci. Es war schön.«
»Du warst ohne mich. Ich mag es nicht, wenn Du alleine gehst. Du weißt, daß mir dieser Film gemeinsam mit Dir noch besser gefällt. Uns besser gefällt.«
»Ich muß manchmal alleine sein! Naziza. – Und jetzt. Zurück. Was müssen wir monatlich bezahlen? Ob ich das schaffe?!«
»Ich habe es gekonnt. Weshalb sollen wir es nicht gemeinsam schaffen, Cheri? Ich gebe, wenn l’Estaque frei wird, die Wohnung an die place de Lenche auf. Isabelle hat gesagt, sie will sie kaufen. Wir haben also keine Druck – pas de pression, in Deiner neuen Sprache.«
»Ja, fürwahr, das hat sie gesagt.«
»Und Paul wird diesen Vertrag beenden. Er weiß es. Es ist nicht schlimm. Es ist ein Homme de film. Er ist nicht oft darin. Er wird gerne gehen. Ich kenne ihn.«
»Wen Du nicht alles kennst. Es wird doch nicht Monsieur Rohmer persönlich sein? Sein Geist schwebt durch unsrer Hirne Heil’ge Hallen.«
»Ah! Sarcasme. Du wärest besser Cynique. In alter Schule – nicht prahlen mit trivial Intellectualisme. Mir mußt Du nicht Deine Spreizfeder zeigen. Ich liebe Dich nackt. Wie Du bist. – Mais. Du kennst auch viele. Du wirst erstaunt sein. Und viele kennen Dich. Du wirst erstaunt sein. Mit Freude.«
»Und ich stehe wieder herum wie nicht abgeholt. Ich werde kein Wort verstehen. Die mit ihrem Dialekt, den nicht einmal Franzosen verstehen. Wie im Lozère, wenn sie ihren Patois murmeln, sobald ein Fremder die Tür reinkommt. Ich kapiere ja so schon kaum ein Wort.«
»Oh! Mein Poule mouillée. Du hast ganz gut gesprochen. Wenn Du wieder zuhause bist, Du wirst es sehen, geht es wieder schnell. Und Du weißt, wie wir Franzosen sind – c’est le principal zu sprechen französisch. Wie – c’est pareil. Du weißt es, ich bin nie mitgegangen mit Dir zum Einkaufen ...«
»Ich weiß was?«
»Oh!. Pardon. Merde! ...«
»Ist ja schon gut. Aber Du hast recht. Es war tatsächlich immer so – kaum hatte ich die Grenze überfahren, legte etwas in meinem Kopf einen Schalter um. Als ob ich wahrhaftig französisch denken könnte. Na ja. Vielleicht nicht ganz so. Dazu fehlt dann doch einiges. Aber ich las brav alles. Ich ging ins Magasin, in den Tabac, ich kaufte Zeitung – ich radebrechte drauflos. Du hast recht. Sie sind immer freundlich. Überall. Fast. Manchmal eben auch nicht. Dann sind sie ganz schön gelangweilt vom stotternden Boche. Aber in Pérpignan habe ich sogar mit einem Brocanteur verhandelt. Er hat mich mit der alten Wasserkaraffe für den Pastis dann zwar trotzdem übers Ohr gehauen – na, nicht ganz –, aber ich hatte ein Erfolgserlebnis mehr. Oder der Mann, der in Gruissan ...«
»Wo es Dich überall herumtreibt!«
»Cherie. Das liegt zwischen Narbonne und Pérpignan. Es liegt also quasi auf dem Weg.«
Sie lacht. »Ich weiß, Ulysse ist manchmal an Land gegangen.«
»Also, der kam kerzengerade auf mich zu. Ich fürchtete mich, obwohl er lächelte. Ich wußte genau, was der wollte – mit mir französisch sprechen. Tapfer blieb ich stehen. Er wollte über den 2 CV sprechen. Er hat es mit Begeisterung getan – wegen des Automobils, nicht wegen meines Französischs. Aber ich habe mitgehalten. Ich konnte ihm erklären, wie alt die Karre ist und wie schön – und daß es in Deutschland mehr davon gibt als hier. Er bestätigte mir das ganz traurig. Fast hätte er geweint. Aber er war ja auch schon über fünfundvierzig. Die Jungen lachen ja nur – und fahren Ford Fiesta. Es stimmt. Es ging. Und er war sehr freundlich. Wahrscheinlich hat er mich sogar verstanden. Denn ich spreche das bißchen, das ich kann, sehr deutlich. Wie ein Amerikaner oder ein Schwede. Merde. Quelle merde!«
»Son français est grandiose, Monsieur.«
»Nicht nur beim Fabrizieren, sondern auch beim Scheiße-Sprechen war ich schon immer hervorragend.«
Ich erhalte als Belohnung für meinen Willen zur Einsicht eine Weinherzkirsche vom Bernsteinmund und eine unter die Haut gehende Parzelle dieser Wange, der man Unrecht täte, sie schnöde als samten zu bezeichnen.
»Mon amour – es ist spät. Und wir haben viel Zeit zu sprechen auf der Reise.«
»Ich werde zur Ordnung gerufen. Ich habe eine französische alabasterhäutige Traum-Nord-Negerin geheiratet, um ...«
»Comment?! Was hast Du da gesagt?!«
»Es stammt nicht von mir. Aber es ist nicht nur zutreffend, sondern auch zauberhaft schön. Isaac hat Dich vorhin am Telephon so bezeichnet.«
»Oh! là là. Encore. Ala ...«
»Laß mich mal versuchen, ob ich’s in Französisch hinkriege. Also – Alabaster. Ala ...«
»Albâtre.«
»Gut. Albâtre négresse de rêve. Oder en songe?«
»Rêve. Mais, pareil. Es ist schön.«
»Allez, meine negertraumalbastrige Ordnungsruferin. Was müssen wir tun, um morgen streßfrei auf unseren Entenflug gehen zu können? Ich muß endlich die Zeitung abbestellen.«
Ich gehe hinüber in das kleine Zimmer. Ich schalte den Computer ein. Sie folgt mir.
»Cheri. Wir müssen morgen mein Tasche holen.«
»In welchem Hotel?«
»Non. Keine Hôtel.« Sie druckst herum. »Bei ...«
»Ah. Alles klar. Bei Isaac.« Sie nickt leicht betreten. »Laß gut sein. Ich hätte es mir ja denken können, daß die Dich nicht im Hotel ablegt. Aber ich habe keine Lust, wieder durch die Stadt zu rattern. Das kostet viel Zeit ...«
»Aber ich brauche meine Bagages! Ich fahre nicht ohne das.«
»Ja. Ist ja gut. Hast Du Dich Deiner Vermieterin angepaßt und alles über die Wohnung verteilt ...« – es hat einen eher unfreundlichen Rempler zur Folge – »... oder ist das rasch einzupacken?«
»Es geht rapide. Ich muß morgen nur kurz hinauf ...«
»Nix. Naziza, ich habe Dir gesagt, daß es mich zuviel Zeit kostet. Es dauert sechs bis sieben Stunden nach Besançon! Wir müssen los. Und früh.«
»Aber wie ...«
»Ich rufe Isaac an. Nein. Du rufst sie an und fragst, ob sie Deine Sachen – hoffentlich ist sie noch zuhause! – einpacken und mit einem Kurier – merde, es ist Sonntag – oder mit einem Taxi hierherschicken kann.«
»Mais – es ist nicht weit. Es wird doch gehen ...«
»Herzgütige, herzallerliebste Uraltgattin meiner ...«
»Ich bin zu alt?« grinst sie mich kokett an.
»Nein. Ich bestätige hiermit, daß Du für einen etwas in die Tage Gekommenen wie mich ein Junghäschen bist. Was sind schon fünfzehn, sechzehn Jahre. Ich habe Schlimmeres erlebt ...«
»Ah, Du meinst Dein früheres Leben?« knurrt sie.
»Ja, zum Beispiel« Sie weiß tatsächlich alles. »Aber ich will das jetzt nicht vertiefen. Wir können ja später darüber sprechen, wenn Du unbedingt möchtest ...«
»Oui. Peut-être que oui. Vielleicht.«
»Gut, aber später. Jetzt müssen wir erstmal klar Schiff machen, auf daß wir auslaufen können. Ausfliegen, mit der Ente. Also – ich rufe jetzt an und frage, ob sie Deine Tasche rüberschickt. Und dann erledige ich die anderen Sachen. Meine Güte, es ist schon zehn Uhr. Hoffentlich ist die nicht unterwegs. Es wäre ein Wunder, wenn nicht.«
Ich eile zum Telephon. Naziza eilt hinter mir her, will protestieren. Ich aber will nicht diskutieren. Beim Machen ist Demokratie immer hinderlich. Und ich mache. So bin ich einigermaßen über die Runden gekommen. Sonst stünde ich immer noch vor dem Beginn aller möglichen Anfänge. Man hat mir das oft übel genommen, und es hat mir Bezeichnungen wie Despot eingetragen. Aber am Ende sind sie dann doch alle angekommen und haben mir recht gegeben. Wenn ich noch wollte, habe ich mich auf Friedensabkommen eingelassen. Aber oft wollte ich nicht mehr. Despoten sind einsame Menschen.
Ich wähle Isaacs Nummer. Selbstverständlich springt der Anrufbeantworter an. Es war nicht anders zu erwarten. Die hält’s doch nicht länger als zwei Stunden zuhause aus. Es sei denn, sie muß arbeiten, schreiben. Denken tut sie unterwegs. Dann läßt sich das wohl nicht vermeiden. Ich ringe mich dazu durch, ihre Mobilnummer zu wählen.
Ich erwische sie in einer erträglich lauten Lokalität. Selbstverständlich kommt sie vor dem frühen Morgen nicht nach Hause. Aber sie bringt die Tasche am Morgen selbst vorbei. Es klingt wie eine Drohung. Denn das bedeutet auf jeden Fall verspätete Abfahrt. Isaac ist, auch wenn ich sie mittlerweile wenigstens mir gegenüber dazu einigermaßen anhalten konnte, noch nie pünktlich gewesen. Die Pariser Jahre haben hier Spurrillen eingefahren wie der politisch verordnete deutsch-französische Freundschaftsverkehr. Oder hatte sie doch eine marokkanische Urgroßmutter? Sie will sich noch verabschieden. Das bedeutet also nochmal mindestens eine Stunde. Vielleicht wäre es doch günstiger, die Tasche dort abzuholen. Nun gut. Ich muß mir für die Zukunft vermutlich ohnehin eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit Raum und Zeit anerziehen. Ich möchte ja so gerne ein Südfranzose sein. Vielleicht gelingt es mir ja trotz meiner deutschen Untugenden aus dem Elsaß.
Ich packe ein paar Unterhosen und Socken und drei Jeans ein. Ich benötige nicht viel. Und meine närrische Francophilie steigert das französische Bruttosozialprodukt ohnehin seit einem guten Jahrzehnt, da ich schon auf die Bezeichnung ›Fabrique en France‹ achte – das widerlich globalisierende ›Made in France‹ übersehe ich geflissentlich. Im Lebensmittelbereich leuchtet das ja auch ein. Da gibt es allenfalls beachtenswerte Konkurrenz aus Italien. Ein französisches Fahrzeug befördert mich ebenfalls, wenn dieses Gefährt auch allenfalls die Augen der im Alter fortgeschrittenen Herren oder des internationalen Frankreich-Tourismus – hierbei habe ich mehrfach, vor allem photographierenden Belgiern oder Niederländern, bereits als Modell-Franzose gedient – und weniger die der Jugend oder der Neuwagenverkäufer erfreut. Mit der Musik ist es anders gar nicht machbar, wenn man so hoffnungslos verliebt ist in alle diese Demoiselles d’Avignon, auch wenn sie teuer sind, die Damen, so man sie in ihrer Heimat zum Sange bittet. Madame ou Monsieur Ministre des Finances kassieren eine erheblich höhere Mehrwertsteuer als das deutsche Ministerium der Finanzen. Deshalb muß ich ja jedes Jahr an den Cours Jean Jaurès unter die Platanen zum Bücher- und Plattenmarkt. Vielleicht auch, um dort die sympathischen jungen Menschen am Stand zu besuchen und mir wieder eine Wagenladung dieser kleinen roten Feuerzeuge mit dem Aufdruck l‘Humanité zu kaufen. Aber auch die anderen Händler unterschiedlichster Produkte lasse ich nicht verkommen. Außerdem empfände ich es doch als eingestanden widersinnig, in Frankreich hergestellte Waschbecken, Toilettenschüsseln und Fließen in einem nordrhein-westfälischen Superbaumarkt zu kaufen und diese eintausend und mehr Kilometer in die Nähe des Produktionsortes im Languedoc-Roussillon zu karren, wo die Romanik-Ruine steht, die der kunstsinnige Unternehmer erstanden hat und für hanebüchene Summen eindeutscht. Er wundert sich ein wenig über die Unzuverlässigkeit der ortsansässigen Handwerker. Dauernd lägen sie im hochsommerlichen Mittag unter den Bäumen im Schatten, hat er mir erzählt. Dauernd müsse er nach Frankreich fahren und hinter oder neben ihnen stehen. Nun – so kommt er häufiger zu seinem Haus in den Hérault und in den lauschigen Schatten der Obstbäume.
Ich für meinen Teil werde also jetzt als richtiger Franzose ein noch besserer und bleibe gleich dort, wo ich die zusätzlich benötigten Dessous einkaufe, die mich in Zukunft bekleiden. Wer mich adelt, soll geadelt werden. Wenn ich es auch noch immer nicht glauben kann, was da geschieht. Es wird sich weisen. Dem Zeitungsvertrieb teile ich mit, daß ich urplötzlich verreisen muß. Das dürfte nicht weiter problematisch sein, denn sie sind Sofortabreisen von mir gewöhnt. Neu dürfte für sie sein, daß ich nicht genau weiß, wie lange meine Abwesenheit andauern wird. Aber es geht mir schließlich genauso. Und nach siebenundzwanzig Jahren Abonnentendasein wird das ja wohl mal gestattet sein. Ich kann mir das Blatt ja irgendwann auch nachsenden lassen. Obwohl – Zeitung im Laden kaufen, das ist schöner, vor allem im Süden. Denn die abonnierte kommt ohnehin erst mit der Post. Also kann ich sie auch jeden Tag beim Händler abholen und dann ins Rentnercafé gehen. Alle anderen Abwesenheitserklärungen unterlasse ich. Lügen kann ich auch von unterwegs aus. Das Beste ist wohl ohnehin, ich sende wegen des in dringenden Familien-angelegenheiten nicht lieferbaren Interviews mit dem Ästhetikkulturbeamten ein Telefax aus Frankreich. Da sehen sie an der Absenderzeile zumindestens den partiellen Wahrheitsgehalt meiner Absage. Doch was denke ich da?! Ich lüge ja gar nicht. Was ist der Versuch der Selbstfindung, verbunden mit der Familienzusammenführung und der Begut-achtung eines neuen Nestes denn anderes als eine dringende Angelegenheit? Aber dies als Begründung anzuführen, hätte zweifelsohne zur Folge, mich als jemanden zu bezeichnen, der auch schon plausiblere Versäumniserklärungen zuwegegebracht hätte. Vermutlich ließe eine schwere Erkrankung, telephonisch vorgetragen von meiner Ehefrau, die Hintertür wenigstens einen Spalt offen. Doch dann kippte ich sie noch mehr in Verwirrung über den miserablen Schwindler Aubertin, der doch nun wahrhaftig noch nie von einer Ehefrau, geschweige denn einer französischen erzählt hat. Vielleicht sollte ich mich mit meiner Gattin darüber beraten. Vielleicht sollte ich es aber auch schlicht sein lassen. Weiß man’s? So ganz ohne Sicherheitsgurt bin ich noch nie in die Zukunft gereist.
Aber ich bin guter Dinge. Denn vermutlich kann die Insel, auf die ich jetzt zufahre, selbst an den stillsten Tagen auch nicht nur annähernd so einsam sein, wie es das Festland ist, das ich jetzt verlasse. Ich schwimme in Richtung eines immer ersehnten Utopia, das sich als fester Ort erweisen könnte. Und mir ist eine Rettungsschwimmerin an die Seite geschwommen, die allein mit ihrer Schönheit einen beinahe Ertrinkenden aus dem Wasser hebt. Zumindest einer wie ich, der nie daran gezweifelt hat, daß Schönheit nicht aus Adams Rippe, sondern auch aus Würde und Intelligenz geformt wird.
Wie zum Beweis meiner undeutlichen Gedanken hat mir die Schönheit ganz vorsichtig beide Hände auf die Schultern gelegt. Allein das belegt, wie gut sie sich in meinem inneren Gewoge auskennen muß. Denn ich bin die letzten Jahre mehr als schreckhaft geworden. Doch selbst wenn es lediglich das Gespür für den anderen Menschen ist, salbt es mich.
»Verabschiedest Du Dich, cheri? Erzählst Du der Welt ein paar Histoires, die man Dir nie glauben wird? Tu as tout à fait raison. Erzähle die Wahrheit. Sie klingt den meisten Menschen wie Wirklichkeit et – ou? – vice versa. Sie können nicht unterscheiden. Deshalb lügt sie immer. Réalité ou vérité – ne joue aucun rôle. C'est pareil. Es interessiert nicht. Wir haben die Wahrheit in der Wirklichkeit gefunden. Und wir werden wieder neu finden. Es scheint Dir gut dabei zu gehen – Du hast ein Lächeln.«
»Ja. Ich lächle, weil ich mich über Deine Worte freue. Und ich lächle, weil ich weiß, daß ich jetzt gleich neben einem Traum einschlafen werde, ihn dann weiterträume und anschließend neben ihm aufwache, ihn dann einpacke und mitnehme. Oder er mich. Aber das ist mir egal. Hauptsache, daß. – Ich mache das Ding gleich aus. Dann habe ich die Vergangenheit hinter mir und es kann weitergehen mit der Zukunft. Zur Absicherung und zur Verbindung in die Welt nehme ich das iBook mit.«
»Du wirkst auf mich wie ein Vogel. Aber vergiß nicht, ohne mich zu fliegen! Le Grand Sud est ma patrie encore. Nôtre.« Zur Bekräftigung legt sie ihre Arme eng um mich und bindet mich ein.
»Solange du mich nicht in einen Le-Grand-Sud-Käfig sperrst, werde ich, wie weiland Arthur Rimbaud, zwar nicht so gut singen wie er, aber immerhin in Marseille sterben.«
»Weil – weiland?«
»Es ist ein altes deutsches Wort für vormals oder – früher. Ancien ...«
»Ah. Oui. Anciennement.«
»Ja. Wohl. Ich mag es. Ich benutze es gerne. Nicht im alltäglichen Sprachgebrauch. Aber wenn mir die Seele in die Sehnsucht flattert, dann ja. Und sie flattert heftig.«
»Deine Seele ist die Flügel vers patrie?«
»Mir ist seltsam zumute. Nicht negativ. Ich fühle mich gut. Aber ich bin unglaublich – aufgeräumt unaufgeräumt ...«
»Comment?«
»Siehst Du. Es geht schon los – Du verstehst mich nicht. ...«
»Oh! Non.« Sie lacht herzhaft. Es scheint ihr ein bißchen peinlich. Doch sie merkt rasch, daß ich wieder meine eher einfachen Witzchen mache.
»Gut. Du hast mich ertappt. Aber mal ernsthaft – das ist es, wovor ich, zumindest ein bißchen, Angst habe. Im Deutschen kann ich mit Sprache einigermaßen spielen, auch Bilder herstellen. Manchmal verdiene ich damit eben mein Geld. Aber wie soll das im Grand Sud werden? Da kann ich mit ein bißchen Glück und gutem Willen gerade mal dem Marchand de journaux erklären, daß ich die Frankfurter Allgemeine und nicht die Frankfurter Rundschau haben möchte.«
»Es wird nicht notwendig sein, weil er nicht kennt die Frankfurter Rundschau. D’ailleurs – es wird nicht notwendig sein, weil Du nicht nur La Marseillaise, sondern bald l’Humanité hebdo und Le Monde lesen wirst.«
»Ach. Und übermorgen für Charlie hebdo und Le Canard enchaîné schreiben werde? Dein Mutmachen ist berauschend ...«
»Du wirst es schneller lernen, als der TGV von Lyon nach Marseille fliegt! Ich weiß es. Du mußt nur Dein Herz hineingeben. Und Du mußt loslassen.«
»Wovon? Vom Deutschen? Dem einzigen, das ich einigermaßen kann? Womit ich ein bißchen Geld verdienen kann, um unseren Philemon-und-Baucis-Tempel in Neu-Griechenland zu bezahlen. Ich werde wohl eher in meine alten Zeitungstexte eingepackte Filmfische bei Roland Barthes verkaufen und abends meine Tempelschönheit anstinken ...«
»Écoute – nicht Du mußt bezahlen das. Wir werden es bezahlen. En mettant les choses au pire – werde ich es bezahlen. Es ist auch gegangen zuvor. Ich möchte, daß es Dir gutgeht. Es wird gehen. Tu peux me croire! – Und das mit Paul – Paul! Cheri, pas Roland ...«
»Ich werde vermutlich immer Roland zu ihm sagen.«
»Er wird es komisch empfinden. Er wird lachen. Écoute – es ist kein schlechte Idée. Wir werden vielleicht ein bißchen lernen gemeinsam ...«
»Ich habe ausgelernt – fin. Es geht nichts mehr rein in diesen alten Kopf. Außerdem braucht er Platz fürs Verlorengegangene.«
»Ah! Non! – Und vielleicht kannst Du bei Paul arbeiten? Ich glaube es.«
»Ihr kauft doch von einem Boche nicht einmal einen toten Fisch.«
Sie kringelt sich leicht. Die Lachfältchen – welch ein widerwärtiges, häßliches deutsches Wort für solche Verschönerungslinien: Krähenfüße – ja, verschönern – die Schönheit. »Avant tout – Du bist keine Boche. Und wir leben nicht in die Normandie bei den Barbares ...«
»Aber dort hat mir ein alter Mann, vermutlich Verdun-Veteran, zugewunken – aber vielleicht war’s eher der dicke, fette Mercedes, den er mochte.«
»Wir sind tous les étranger! Wir werden erst leben an die place de Lenche und oft hinfahren nach l’Estaque, zu Paul, in Deinem geliebten Café de retraite. Zu allen. Bis wir wechseln für immer. Wir werden viel sprechen. Es gibt kein Xénophobe dort!«
»Bist Du da so sicher? Es kam mir zwar immer so vor, wie Du's schilderst. Aber nach allem, was ich gehört und gelesen habe, kommen mir dann doch Zweifel an solchen, nenn' ich's jetzt mal ein bißchen beschönigend so, kleinen Beschönigungen.«
»Ah! Vielleicht Du hast ein wenig recht, und ich träume ein wenig. Es ist jedoch eine Tatsache, daß es ist ein Villages de grand métropole. Immer haben viele Künstler dort gelebt. Immer. Und nicht nur berühmte. Du sagst selbst, es ist ein Dorf für Modéle de communiste. Man läßt Xénophobe nicht nach l’Estaque. Ich habe sie dort nicht gesehen. Vielleicht sie halten sich verborgen, sie verbergen ihre Meinung. Jedoch ich vermute, es gibt nicht viele. Und von außen sie gehen auch nicht hin. Le Pen regiert seine Leute in Marseille, in die Quartiers du nord, wo die Beurs und ihre Eltern leben ...«
»Was ist das, Beurs?«
»Ich bin eine Beur.«
»So? Würdest Du mir bitte freundlicherweise dann etwas näher erläutern, was Du bist!«
»Ich bin jedoch nicht eine richtige Beur, nicht reine Rasse, wie Du es wahrscheinlich würdest nennen. Denn ich bin auch Arménien. Die Beurs sind Kinder von denen, die aus Afrique du nord gekommen sind. Wie mein Papa. Doch dort sie sind sehr arm. Wir sind lediglich arm. Nein, wir sind nicht arm. Wir haben nur etwas weniger. Doch es geht uns gut. Wir haben Bildung. Wir können unterscheiden. Diese dort haben nichts. Sie haben keine Zukunft. Es sind diejenigen, vor denen diese Menschen Angst haben, die früher einmal die Parti communiste oder vielleicht Socialistes gewählt haben. Seit es keine Arbeit mehr gibt, geben sie den Immigrées die Schuld daran und nicht denen, die diese Fabriken geschlossen haben. Deshalb sie wählen Le Pen. Dort er ist sehr stark. Und in Vitrolles oder in Marignane. Sehr in Toulon! Und in Dein Heimat, Alsace. Pardon. Deine ehemalige. Du weißt es – sogar die Arabes pur mag man dort – wenn sie gute Menschen sind. Wer nicht gut ist, den mag man nicht. C’est pareil, wer da ist. Und bei Paul – ich meine vielleicht für ihn – Correspondences? Téléphoner au Allemagne. L’Angleterre?«
»Man wird noch auf meiner Beerdigung hören, daß ich ein Boche bin.«
»In sechzig Jahre? Non. – Man wird sehr alt in die Sud!«
»Solange willst Du mich gefangenhalten?«
»Ah! Merde. Was redest Du, mon amour?! Es ist kein Käfig. Es ist unsere Paradis. Wir sind freie Vögel. Wir gehen morgen in die Luft. Wir fliegen – frei.«
»Ja. Naziza – Entenflug. Wir müssen schlafen. Sonst packe ich das nicht. Laß uns schlafen gehen.«
Ich reiße mich los. Ich weiß, daß es immer so weitergehen könnte. Das ist zwar schön, aber ich bin mittlerweile sicher, daß ich es an einem anderen Ort erleben möchte. Und so, wie es in die Zukunft hineinlugt, gibt es mir ein Zeichen, hier jetzt abzubrechen und abzufliegen. Dorthin, wo sie zu liegen scheint. Sie, von der ich nie und nimmer geglaubt hätte, daß es sie gäbe.
Ich tue etwas, von dem ich gar nicht weiß, daß ich es kann – ich schmeiße meine Klamotten in die nächstbeste Ecke. Jahrzehntelang bin ich, zumindest in diesem Punkt, den Anweisungen meiner Erzieherin gefolgt und habe alles am zugewiesenen Platz abgelegt. Was sagt der Amateurpsychologe dazu? Werfe ich etwas weg? Werfe ich etwas ab? Ich denke nicht weiter darüber nach. Ich gehe einfach ins Bett, lege mich auf den Rücken und schaue an die Decke. Vermutlich lächle ich. Ich weiß es nicht. Aber ich werde die Spiegelung meines Gesichts sicherlich gleich in einem friedlichen Antlitz erkennen. Ich bin guter Hoffnung. Ich bin im ersten Tag schwanger. Es kann gar nicht anders sein, als daß ich lächle.
Dieses andere Gesicht tut es. So werde ich das nie hinkriegen. Aber ich bin ja auch nicht einem Lügenbuch entsprungen – wenn das zu diesem Gesicht gehörende Sprechorgan das auch behauptet. Richtig ist wohl, daß ich angespült worden bin. Wo, das weiß ich noch nicht. Aber ich weiß ganz sicher, daß ich jetzt dorthin will. Sofort.
Doch es kommt zu mir. Ach was – es schwebt, völlig laut- und berührungslos, unter die Decke. Das ist kein Lebewesen. Ich bleibe ganz still liegen. Ich will den schönen Traum nicht verwackeln. Ich spüre, wie sich etwas Feinfingriges unter meine Haut schiebt und nach meinem Herzen greift, es sanft umfaßt und ganz behutsam zwanzig Jahre alten, nahezu entlüfteten Champagner daraufträufelt. Ich erschaure unter dieser Wärme. Das ist wohl Ambrosia, mit der mein wunder Herzmund gespeist wird. Ich habe davon gehört. Werde ich jetzt unsterblich? Wenn das Unsterblichkeit ist, dann soll es so sein.
»Wir werden kleine, wunderbare süße Trauben bekommen, mon amour.«
Was ist das? Bin ich doch tot und befinde mich bereits im Jenseits? Ich versuche es mit einer Gegenfrage. Vielleicht wird sie ja beantwortet. »Wer befruchtet hier was? Oder wie soll ich das verstehen?«
»Wir haben eine kleine Hang.«
»Hang? Ich habe einen Hang zum Unglauben. Und der wird tatsächlich dauernd befruchtet.«
»Von mir?«
»Nein. Ich bin Selbstbestäuber.« Ich bekomme dafür ein in die Halsbeuge gehauchtes Lächeln.
»Papa hat vor lange Zeit eine kleine Weinhang gekauft. Ich pflege ihn. Es ist nicht viel. Auch nicht viel Arbeit. Es macht Freude.«
»Das auch noch. Ich kann es nicht fassen. Und wo bauen wir Weizen und Kartoffeln an. Dans la cour, la terrasse?«
Das einst gehauchte Lächeln wird zum festeren Biß. »Du hast hier auf Deine terrasse auch viele Pflanzen. Ich habe es gesehen.«
»Du meinst mein im Winterschlaf befindliches Gestrüpp. Ja. Selbstverständlich kommt das meiste aus Frankreich. Von überall habe ich es mit genommen. Wo auch immer ich etwas an Samenpaketen aus dem Boden gerupft bekam. Natürlich nur unterhalb von Lyon. Du mußt wissen – es ist im Sommer hier wie im Süden. Von früh an leuchtet mir Italien, und ab vierzehn, fünfzehn Uhr kommen die Sonnenstrahlen des Glücks aus Marseille. Sogar ein abendliches Stück La Rochelle bekomme ich noch mit, weil sie so hoch steht. Aber ich habe auch viel selbst gezogen. Es gelingt mir immer. Noch jede Pflanze hat mir Keimlinge geschenkt. Tomaten ohne Ende.«
»Wir haben keine Kinder, aber wir ziehen Tomaten groß.«
»Ach, Naziza.« Vorsichtig nehme ich ihre Hand aus meinem Herz und umfasse mit der meinen das ihre. »Wenn Du so weitermachst, dann machen wir noch eines.«
»Non, cheri. Ich habe es gesagt. Ich bin zu alt. Auch wenn ich weinen muß.«
Ich bin kurz davor, das für sie zu übernehmen. Denn meine Seele führt extremes Hochwasser. Doch es bleibt bei Schluckbeschwerden – sie hat das Weinen selbst übernommen. Ich halte sie fest, auf daß es nicht ausufert. Doch dann ist es das Sandmännchen, das einen Riesenkübel über mich schüttet. Oder ist es etwas anderes. Egal. Schön ist es.
Hell ist es noch nicht. Aber ich sehe durch den Spalt, den ich unvorsichtigerweise gelassen habe zwischen dem dunklen Vorhang und dem Fenster, daß der Tag drauf und dran ist, mich zur Bewegung aufzufordern. Zumindest mich. Das Schlummerbündel auf meiner Seite wage ich nicht zu bewegen. Doch wie komme ich darunter hervor? Es hat mich völlig in Beschlag genommen. Wie hat sie das bloß hingekriegt, ohne daß ich in Platznöte geraten bin? Es geschieht Sonderbares in letzter Zeit. Doch nun muß ich da raus. Auch wenn es noch so verlockend ist, Teil dieses Edelschlummerpäckchens zu bleiben. Und ob das immerfort so bleiben wird? Ob ich diese Behutsamkeit aufbringe? Ich versuche es. Es mißlingt. Sofort packt die Sanftmut unbarmherzig zu und legt auf ihren guten Zentner tausend Tonnen drauf, mit denen sie mir meine Flucht in den Tag beschwert.
»Ein Mann gehört zu seine Frau und nicht in einen kalten Tag der Unfreude. Du hast mich einmal verlassen. Nun lasse ich das nicht wieder zu.«
»Gut. Dann bleiben wir aneinander kleben, während ich zur Toilette gehe, während ich Café mache, während ich unter die Dusche gehe, während ...«
»Victoire. Aber nur ein bißchen für Dich. Denn wir gehen gemeinsam unter die douche, und ich werde noch ein bißchen weiterschlafen an Dir und in dem warmen Wasser. D’accord?«
»Gut. Aber dann mußt Du mich jetzt – wenigstens vorübergehend ! – aus Deinen Klauen lassen, Du Monstertochter Morpheus’.«
»Es ist noch nicht lange, als Du mich bezeichnet hast als das liebliche Kind von Hypnos ...«
»Das wird wohl auch eher richtig sein. Des Vaters Tochter. Demnach bist die Schwester eines Monsters. Beide laßt ihr mich nicht in Frieden! Ich muß jetzt mal ein bißchen leben.«
»Ich meine – Traum. Du hast gesagt, ich bin Dein Traum. Und das willst Du lieber? Du willst lieber leben als einen Traum?!«
»Nein. Ich will den Traum leben. Ich will Dich leben ...«
»Das ist Raison universelle. Und damit hast Du es bewiesen, hast Du es selbst gesagt – raison est feminin. Und da Du ein Mensch bist aus – aus Vernunft, folgst Du diese Argument und bleibst bei die Personnification.«
»Dann bleiben wir also hier und fahren nicht in die Heimat.«
Mit einem heftigen Satz ist sie hoch. Ich erschrecke mich fürchterlich. Mein Puls jagt augenblicklich in ungewohnte Höhen. Ich werde wirklich alt. Nun muß ich liegenbleiben.
»Du willst lieber hierbleiben?«
»Moment, Naziza. Du hast mir einen Schrecken eingejagt. Ich muß mich erst wieder beruhigen.«
»Oh! Pardon. Ich habe vergessen.«
Es geht wieder. Das Herz scheint ohnehin in Ordnung, die mechanische Pumpe arbeitet bald wieder rhythmischer. Ich stehe vorsichtig auf. »Vielleicht wird mir ein anderes Leben an diesem anderen Ort – der Heimat – auch einen etwas gesünderen Körper geben.«
»Du stehst zu früh auf. Hast Du gesehen die Uhrzeit?! Es ist six heure et quart. Du bist verrückt. Wir gehen nicht zur Arbeit!«
»Cherie. Normalerweise stehe ich zwischen halb fünf und fünf auf. Und nicht erst um viertel nach sechs. Ich mache das seit langem so. Es ist unglaublich schön. Und ich freue mich auf Marseille – auf l’Estaque, auf das Meer, auf die Sonne. Ich war in Marseille oft mit einer der ersten Gäste im Café am Port – unter denen, die so früh arbeiten mußten. Ich habe die Stadt erwachen sehen.«
»Aber nicht früher. Früher mußte ich immer mich von Dir schleichen, wenn ich an die Arbeit gegangen bin. Und wenn Du wach geworden bist, war es nicht schwer, Dich wieder in den Schlaf zu murmeln.«
Sie schaufelt Stück für Stück Zweifel aus mir heraus und Beweismaterial in mich hinein. Wer von denen, die sie kennt, soll meine Schlafgewohnheiten früherer Zeiten kennen? Isaac? Wir sind seit weit über zehn Jahren auseinander. Also niemand. Ich werde bald keine Gegenargumente mehr haben. Wenn diese Frau mich nicht kennt – wer dann? Mein faire la grasse matinée ist legendär. Am liebsten bis in den Mittag hinein. Heute unvorstellbar.
»Nach dem Krankenhausaufenthalt, in der Phase der Rekonvaleszenz hatte es sich so ergeben. Dann habe ich es fortgesetzt – zunächst im Sommer. Dann wollte ich es auch im Winter ausprobieren. Oft bin ich sogar im Winter um halb vier hoch. Es ist erfrischend. Häufig habe ich bis mittags so viel geschaffen wie sonst oft nicht bis Mitternacht. Es macht mir nichts aus, schon um halb sechs am Computer zu sitzen und zu schreiben. Es geht viel besser als am Abend. Der Kopf ist viel freier, die Konzentration um einiges höher. Das läßt die Arbeit in der Regel fließen. Danach ein Nickerchen und anschließend noch ein bißchen weitermachen. Der Tag ist unendlich lang. Oder sich hinsetzen und lesen. Um fünf oder sechs einen Pastis. Ich freue mich wirklich auf – ja, ich freue mich jetzt riesig und kann es gar nicht mehr abwarten, früh morgens aufs Meer zu schauen.«
»Und mich alleine liegen lassen. Das kannst du nicht tun!«
»Ich werde wieder zu Dir zurückkehren. Das ist auch schön. Und ich werde Café gemacht haben und die Zeitung geholt haben und Croissants. Für Dich. Für mich pain au chocolat. Und ich werde arbeiten können und trotzdem vielmehr Zeit haben für Dich. Ich freue mich sehr. Aber jetzt – allez. Isaac hat versprochen, um acht Uhr hierzusein. Wenn’s auch wohl später werden wird ...«
»Sie steht auch so sehr früh auf?«
»Nein. Das glaube ich nicht. Aber ich habe ihr gesagt, daß wir fahren müssen. Also. Du ins Bad und ich an die Maschine.«
»Du willst an die Computer?! Du bist folle ...«
»An die Cafémaschine! Aber an den Computer muß ich auch. Schnell. Noch einmal Emails abfragen.«
»Laß es sein! Bitte. Sonst steht etwas darinnen ...«
»Was sollte darin sein, daß mich davon abhalten könnte, auf der Ente und mit Dir ins Paradies zu fliegen? Aber wahrscheinlich hast Du recht. Doch eines muß ich tun – ich muß diesen Auftrag absagen. Wenn ich ihn nicht absage, bin ich diesen Auftraggeber für alle Zeiten los. Ich hab die schon zweimal sitzenlassen, weil ich besseres zu tun hatte. Wer weiß, wann ich die nochmal brauche? Wer weiß, was ist, wenn ich in Marseille sitze? – Naziza, mir ist gestern abend eingefallen, daß Du für mich anrufen könntest. Wenn wir die Grenze überschritten haben. Vielleicht ein bißchen weiter im Süden. Sonst nehmen die an, ich fahre nur mal eben über die Grenze, um ihnen irgendwas aufzutischen. Sie sehen die Nummer ja auf dem Display. Als meine Frau. Das glauben die zwar ohnehin nicht. Aber wer weiß. Machst Du das? Du kannst ja was von Krankheit erzählen. Von einer Ehefrau wissen sie nix. Aber von einer Krankheit. Und für die Zukunft wäre das vielleicht gar nicht so schlecht, wenn sie jetzt was von der Existenz einer Ehefrau erführen.«
»Cela m’est un honneur de – Du glaubst nicht, daß man es glaubt? Ich – Deine Frau. Mais – es ist égal. Aber ich kann auch meine portable nehmen. Es hat ein französische Nummer! Man sieht zwar nicht Marseille, aber France.«
»Das ist ein gute Idee. Das können wir machen. Aber erst nach der Grenze. Da wird es nicht so teuer.«
»Oh! Mon propriétaire d’une maison ist bedacht! Merde alors!«
»Nein. Das ist der schiere Geiz. Ich hasse es, für Telephon Geld auszugeben. Weshalb das ausgerechnet hierbei so ist, davon habe ich keinen Schimmer. Ich denke auch nicht darüber nach. Es ist so. Vermutlich deshalb, weil ich nicht gerne telephoniere. Ansonsten sitzt mir das Geld eher locker. Zu locker.«
»Das ist – fin.«
»Ich weiß, wir müssen sparen. Wer eine Villa am Meer hat, kann nicht mehr mit der France Télécom telephonieren, die das Telephon reparieren soll, weil die Dame des Hauses soviel telephoniert hat, daß die Drähte verglüht sind.«
Sie rauscht beleidigt ab. Doch ich kriege aus der halbgeöffneten Badezimmertür etwas hingeworfen.
»Ich muß viel téléphonieren. Ich habe eine Familie. Ich muß viel erzählen von einem geizige Mann. Und von eine Scheidung. Weil er mir schneidet das Téléphone ab. Und damit meine Contact zu Maman et Papa und Mirjam und Aaron, zu frère et sœur. Daß ich eine Barbare habe als Mann.«
Ich rolle wie eine Fähre ohne Stabilisatoren aus den fünfziger Jahren bei Windstärke zehn auf sie zu. Sie spielt die völlig Verängstigte. Ich muß mich vorsehen und Distanz halten. So gut kenne ich sie mittlerweile, daß ich weiß, sie führt vermutlich wieder was im Schilde. Vielleicht will sie mich in ihrer Liebe ersäufen – unter der Dusche.
»Weißt Du eigentlich, daß wir Barbaren die Kultur zu euch nach Afrika gebracht haben?!«
Sie zieht mich ins Bad.
»Es ist kalt.«
Widerstrebend folge ich. Das hatten wir doch schon. »Non. Naziza.«
»Aber gleich! – Was willst Du sagen? Barbare! Ihr habt Civilisation? Zu uns gebracht? Du machst wieder schlechte Witze.«
»Du magst eine gebildete Frau sein. Doch du scheinst nicht zu wissen, daß man überall in Tunesien stolz ist auf die Kultur der gotischen Barbaren, die dort angesiedelt waren.«
»Oh! Merde. Das ist ein paar Monate zurück. Und außerdem habt ihr das gelernt dort und brav befolgt, was man gesagt hat zu euch. Ihr waret asimilée. Weil ihr geflüchtet seid, voll mit Furcht in eure nicht vorhandene Hose unter eure dreckige Capes. Das ist alles. Ihr habt nichts hingetragen. Nur ein paar Gene durftet ihr dortlassen, bis ihr nach hundert Jahre von die Landkarte verschwunden seid. Das macht heute so viele Frauen Problème, weil sie aussehen wollen wie ein paar andere, die zu frühere Zeiten etwas helle Haut und Haare von euch empfangen haben, weil sie euch hineingelassen haben in ihre fruchtbare Schoß. Ihr seid Landstreicher. Und heute tut ihr, als ob wir welche wären. – Fin. Allez. Café. Douche. Frau waschen. Und ein paar Gene geben. Vorher, nachher. – Allez. Et retour. Monsieur Barbare. Mon cher.«
Ich schiebe ab. Was ich ihr unterschlagen wollte, hat sie mir mal eben aufgewärmt. Ich sollte mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen. Sonst falle ich noch tiefer in ihr Wissen. Meine Güte – dabei bin ich selber halber Hunne, na, vielleicht ein Zehntel. Oder ein Hundertstel. Es kann auch sein ein Tausendstel. Oder aber auch überhaupt nicht. Ich weiß es nicht. Mir hat ja nie jemand was erzählt. Mühsam mußte ich das bißchen, das ich weiß, selbst herausfinden. Aber das sage ich jetzt lieber nicht. Sonst klärt sie mich noch darüber auf, daß die Völkerwanderung zur Hälfte auch mich eigentlich aus Skandinavien an die Grenze zwischen Europa und Asien getrieben hat.
Sie reißt die Tür auf und – hat das letzte Wort. »Und Du bist ja auch noch ein wenig der schlimmste Barbare! Kommt Deine Vater nicht beinahe aus Asien?!«
Ich habe es geahnt. Sie weiß aber auch wirklich sehr viel. Nicht nur historisches Wissen hat sie. Sie hat auch Macht über mich. Sie weiß sehr, sehr viel. Unheimlich viel. »Ach, Naziza. Mein Dadde kommt aus einem Schtetl bei Swerdlowsk ...«
»Es heißt Jekaterinburg! Es hieß so, als Deine Vater geboren wurde, und es heißt heute wieder so. Seit Deutschland wieder Deutschland sein darf. Dieses dumme Dogmatique, dieses merde Idéologique, das Ändern von alte Namen, die gewachsen sind über Jahrhunderte. Was hat er gemacht, dieses Söhnlein Stalin, der jünger ist als Deine Vater, was haben sie gewonnen, les Soviets? Jetzt sind sie Dreck. Kaputt. Sie haben nichts zu essen. Alles ist zerstört. Und Jekaterinburg heißt trotzdem wieder Jekaterinburg. Wie damals, als die Assisin kamen und die Zaren gemordet haben. Kinder! Erschossen. Mit Maschinengewehr. Mir ist übel. Wir haben auch solche Idiotes à Marseille, die noch immer sagen, es war richtig. Sie sitzen mit ihre dicke Hintern im warmen Kissen und sagen, es ist richtig, Kinder zu ermorden. – Adieu. Je aller dans l’eau. Mein Donneur de gènes liebt mich nicht.«
In intellektuellen Kreisen eher niederen Standes pflege ich solche Anlässe zu kommentieren mit: Ich sage nichts mehr ohne meinen Rechtsanwalt. Das unterlasse ich jetzt tunlichst. Die Blamage ist bereits jetzt ausreichend. Meine Güte! Wie wird das weitergehen. Aber – ist es eine Niederlage? Ich fühle mich heiter dabei. Es wurde aber auch offenbar wieder mal Zeit. Sonst hören die meisten immer nur andächtig zu, wenn ich mit apodiktischem Tonfall vortrage. Möglichst so, daß erst gar kein Widerwort aufkommt. Und jetzt – es macht richtig Freude, abgebürstet zu werden. Denn es ist keine Häme dabei. Guter Dinge komme ich meinen Hausmannspflichten nach und stelle die geschnorrte Nachbarsmilch für meine berufstätige Gattin bereit.
À propos Nachbarn. Seit ewigen Zeiten liegt das kleine Stofftierchen bereit. Ich sollte endlich tun, was ich schon lange tun wollte, mich aber nie getraut habe, um mich nicht dem Verdacht zu unterziehen, es könnte sich dabei um eine ungebührliche Annäherung handeln. Da bricht die mütterliche starke Erziehungshand trotz aller Widerstände und Aufräumarbeiten immer wieder durch: Keine nachbarschaftlichen Beziehungen! Sie führen zu nichts. So hat sie mir meine Kindheit zerstört. Und ich Trottel habe es offenbar nicht abgelegt. Da muß so eine asiatisch-afrikanische Combattante für die Menschlichkeit kommen und mir zeigen, was das für mißgeburtliche Gedanken sind. Ich werde also nachher hinüberschleichen und das süße kleine Püppchen, das eines meiner nicht minder süßen Enkelchen mal bei Opa gelassen hat, in den Kinderwagen legen. Aber darf man so etwas überhaupt?! Fallen einem da nicht sofort die Hände ab? Ach was. Das ist so lange her. Die Kleinen wissen das gar nicht mehr. Mein schlechtes Gewissen kann ja aus Frankreich Ersatz schicken. Vielleicht festigt sich ja die Beziehung zu den Eltern der knuddeligen Schönheiten wieder etwas. Geographische Distanz soll ja die psychische ausgleichen. Ich werde es tun. Hoffentlich steht der Kinderwagen vor der Tür. Wohin sollte ich sonst mein kleines Abschiedspräsent legen?
Aber vorher muß ich wohl noch einen sehr feuchten Gang gehen. Ich stecke vorsichtig meinen Kopf in das russisch-türkische Dampfbad und flöte etwas von fertigem Café.
»Ich ignoriere solche fadenscheinigen Entschuldigungen. Ein Mann kann seine Frau Liebe auch anders beweisen als mit Aufforderung zu triviale Genuß.«
Nun muß ich doch sehr erheblich lachen. »Naziza! Wir haben etwas vor – uns. Ungefähr sechshundert Kilometer. Mit einem 2 CV!«
Ich erhalte als Antwort eine sehr warme Dusche, die sich allerdings auf dem Weg zu mir bereits erheblich abgekühlt hat. Da füge ich mich schließlich ergeben meinem Schicksal. Und wieder bin ich es, der abgeseift wird. Gründlich. Sehr gründlich. Doch es gibt wahrhaftig unangenehmere Vorkommnisse im Leben.
Im Trockenen verfugt sich der Tag. Meinen ersten Café hatte ich bereits. Ich nehme mir weiteren mit an den iMac, als mir einfällt, daß mir die kluge Gattin ja davon abgeraten hat, in die Weltnachrichten zu schauen, die an mich gesandt wurden. Dafür packe ich das kleine Reise-Büro ein und überprüfe, ob ich auch wirklich nichts vergessen habe. Denn auch Computerzubehör ist in Frankreich um einiges teurer als hier. Und für Macintosh allemale. Ich weiß das genau, da es mir immer wieder gelingt, das eine oder andere zu vergessen. So bin ich zu einer ansehnlichen Zubehörsammlung gekommen.
Überhaupt hat dieser Tage Isaac in ihrem außergewöhnlichen Talent der weltumspannenden Nachrichten-verbreitung dafür gesorgt, daß man meine Wohnung mittlerweile für eine Computerzentrale hält – und mich für den Experten schlechthin. Das ist zwar ärgerlich, weil es niemanden etwas angeht, wie’s bei mir da drinnen aussieht. Aber es ist auch – bedingt – richtig, da ich selbst manchmal fassungslos vor diesen ganzen, über hundert Quadratmeter verteilten Elektronikgerätschaften stehe – etwa zehn Jahre ist es her, daß ich sehr, sehr laut verkündet hatte, ein Computer käme mir nie ins Haus. Dann rang ich mich doch dazu durch, mir einen apple classic zuzulegen. Er war damals preislich günstiger als die Satzkosten für eine Ausgabe der winzigen feuilletonistischen Zeitschrift, die wir zu produzieren begonnen hatten. Auch fiel mir die Entscheidung – vom Finanziellen mal abgesehen – nicht ganz so schwer, da die schlichte Eleganz dieses kleinen Zauberkästchens aus dem Hause Frog-Design, das seine Wurzeln in der zu Recht gerühmten Ulmer Schule für Gestaltung hat, meine elementare und eben bisweilen auch etwas kostenintensive Liebe zur Formschönheit befeuerte. Hinzu kam die für einen eingeschworenen Computerfeind wie mich, dessen Haß sich wohl in erster Linie aus der Angst nährte, die Technik nicht zu begreifen, eine nahezu unglaubliche Bedienerfreundlichkeit. Später sollte man sie bei anderen Herstellern immerfort kopieren, was sich dann auch in immer weiter nach unten rutschenden Bilanzen der Erfinder ausdrücken sollte. Aber Genialität hat den Kopf immer irgendwie ein bißchen über dem Wasser. Deshalb wohl fiel den feinsinnigen apple-Konstrukteuren alle Jahre wieder Neues ein. Auch haben die Marktstrategen sich mittlerweile ein wenig vom doch sehr weit oben angesiedelten Eliten-Thron herabbegeben und ihrer Hart- auch ein bißchen Weichware beigegeben, so daß man, anders als früher, tatsächlich mit der Arbeit beginnen kann, ohne zuvor noch einmal einige tausend Mark für alle möglichen Programme ausgeben zu müssen. Wenn also der Begriff der grenzenlosen, also sich dem Schwachsinn annähernden Liebe eine Berechtigung hat, dann hier. Denn es ergab sich später häufig, daß, wenn dieser weitaus sympathischere der beiden US-Amerikaner aus der Garage seine Mitarbeiter dazu beflügelt hatte, wieder einen neuen dieser Minderheiten-Schönheiten zu entwickeln und auf den Markt zu befördern, sich bereits eines dieser Exemplare in meinem Elektroniklager befand, bevor sich meine überaus hilfsbereiten und allzeit bereiten Apple-Pfadfinder, bei denen ich schon aus Sympathie alles bestellte, damit vertraut machen konnten. Daß ich die gesamten Möglichkeiten nicht nutzen kann, die diese Gerätschaften bieten, weil ich sie weiterhin benutze wie eine erweiterte Schreibmaschine, also etwa ein Prozent des Leistungsvermögens, das steht auf einem anderen Bildschirm. Wie auch immer, das alles hat nun den Vorteil, in meiner neuen, teuren Heimat vorerst nichts mehr erstehen zu müssen an Produkten des Landes, dem wegen seines Kulturverständnis’ beziehungsweise der Sheriffmentalität, die solches gebiert, meine tiefe Abneigung gehört. Nur eben den Apple, den laß ich nicht verkommen.
Aber auch an Doppelsteckern und ähnlichem Kleinelektromaterial mangelt es nicht. Alte Hotels mögen zwar ganz schön sein – aber ausreichend ausgestattet sind sie nicht. Als sie erbaut und eingerichtet wurden, dachte man noch nicht daran, daß es einmal Reisende geben würde, die Elektrogroßhandlungen mit sich führen müssen, um im Alltag zu bestehen. Und man denkt auch weiterhin nicht an solche Banalitäten wie eine zweite Steckdose. Doch vermutlich benötigt der Normalgast eines solchen Hauses so etwas nicht. Er wird auch nicht stundenlang nach einem Anschluß für Email oder Internet suchen, der in der Regel irgendwo hinterm Bett versteckt ist. Er hat sicherlich eine Assistentin für Botengänge zur Rezeption dabei. Vermutlich wärmt sie ihm auch das Bett vor. Oder nach. Aber einer wie ich zahlt nicht nur für das Bett die nicht ganz unbeträchtlichen Mietsummen. Er nutzt es auch als Arbeitsraum. Andererseits erhält man in Frankreich Hotelzimmer der gehobenen Klasse zu einem Preis, den man in der Bundesrepublik Deutschland bereits für sehr viel bescheidenere Unterkünfte zu entrichten hat. Und so nutze ich meine durchaus annehmbaren Spesenbewilligungen aus, in guten Hotels zu nächtigen, für die ich in der Heimat fast das Doppelte bezahlen müßte.
Es klingelt. Wer mag das sein? Um die Uhrzeit? Die Post kommt erst gegen halb zehn. Ich schaue auf die Uhr. Vielleicht ist es ja doch die Post und wir haben uns völlig verbummelt. Doch es ist ein paar Minuten über die Acht hinaus. Es wird doch nicht etwa? Sie ist es. Ich bin wie vom Donner gerührt. Sie steht mit Nazizas schlicht-eleganter Stoffreisetasche in der Hand vor der Tür.
»Was ist – um des Himmels Willen – in Dich gefahren?! Hast Du die Nacht durchgemacht und bist deshalb pünktlich? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Aber nach alledem muß ich ja auch nichts mehr verstehen.«
»Ich bin nicht Deinetwegen da. Darf ich wenigstens rein?«
Ich gebe den Weg frei.
»Café?«
»Gerne.«
Die beiden begrüßen sich herzlich, und ich mache dem Besuch, der nicht meinetwegen gekommen und wohl deshalb pünktlich ist, einen Espresso und einem zweiten gleich mit für mich. Sofort befinde ich mich wieder im Ausland. Ich hoffe, Naziza behält recht, und ich lerne es rasch. Doch trotz meiner langen Erfahrung mit der Blockade gegenüber der schönsten aller Weltsprachen bin ich auch hierbei guter Dinge. Überhaupt scheine ich nur noch aus Optimismus zu bestehen.
Ich rufe ins große Zimmer hinein, es stünde ein Espresso auf dem Tisch. »Naziza – hast Du noch Café?«
»Oui. Merci.«
Ich setze mich an den runden Tisch im Flur, der die letzten Stunden soviel erlebt hat wie schon seit Jahren nicht mehr. Ich drehe mich herum. Es könnte eine Szene aus einem Film von Jacques Tati sein, die ich zu sehen bekomme – zwei Frauen, langsam in Richtung Haus watschelnd. Umschnitt – zwei Gänse aus dem Périgord begeben sich unaufhörlich schnatternd in Richtung Flur. Ich lächle still in mich hinein. Doch offenbar nicht zurückhaltend genug.
»Was is’n schon wieder los? Geht’s Dir zu gut?! Oder warum grinst Du so blöd. Gib’s zu – Du kannst Frauen nicht ausstehen.«
Naziza schaut etwas verdattert. Sie kann sich, wie alle anderen vor ihr, an unser Spezifikum des Informationsaustausches nicht gewöhnen.
»Neinnein. Bewahre. Ich mußte gerade an Scheibenwischer denken.«
Nazizas Gesicht nimmt sehr fragende Züge an.
»Bahnhof. Sehen wir aus wie zwei Scheibenwischer? Du Scheibenwischer.« Sie macht eine entsprechende Bewegung vor ihrem Gesicht.
»Also bitte! Wir könnte ich darauf kommen? Ihr beiden Scheibenwischer? Wie wäre dabei ein Zusammenhang herzustellen?«
»Jetzt sag schon, Du Blödmann.«
»Ich habe an Jacques Tati gedacht.«
Isaac schnattert etwas unglaublich schnelles Französisches zu Naziza hin. Deren Mundwinkel wandern leicht nach außen, rechts und links ihrer Augen werden diese entzückenden Füße einer Krähe sichtbar. Alleine dafür bekäme sie von mir den Titel einer Naturschönheitskönigin von l’Estaque und dem Rest der Welt.
»Also, Du hundsgemeiner Widerling. Du hast doch schon wieder irgendeine Fiesheit ausgebrütet. Raus mit der Sprache. Was haben wir beide mit den Scheibenwischern von Jaqcues Tati zu tun?«
»Nun, mir ist eingefallen, daß er zu den Scheibenwischern und Nasenbohrern und was er sonst noch alles in den Vergleich gezogen hat in Trafic gut und gern zwei Enten hätte mit heranziehen können. Es hätte die Szene sicherlich vervollkommnet ...«
Naziza lacht schallend. Isaac gibt mir mit beiden Händen einen wüsten Rempler.
»Es ist mir bis heute ein Rätsel, warum ich Dich aus Deiner geistigen Umnachtung geholt habe. Ich hätte Dich in der Kölner Klapsmühle lassen sollen, wo Du auch hingehörst. Doppelt beknackt. Du und Köln.«
Nazizas Lachen zieht sich schlagartig zurück. Sie macht Rempler und Beleidigung auf der Stelle wett.
»Muß Liebe schön sein – immer die andern.«
Sie setzen sich beide mit an den Tisch.
»Darf ich zu bedenken geben, daß wir etwa eintausendzweihundert Kilometer vor uns haben. Isaac. Wir müssen los.«
»Jaja. Is’ ja gut. – Also – muß ich noch irgendwas erledigen?«
»Im Augenblick – nicht daß ich wüßte. Die laufenden Zahlungen werden abgebucht. Und wenn etwas Unvorhergesehenes kommen sollte, machst Du mir eben einen Funk.«
»Ich hab beschlossen, bei nächster Gelegenheit runterzufahren und mir die Wohnung anzuschauen.«
Naziza springt auf und rennt an ihre Tasche.
»Was ist jetzt los?« frage ich an Isaac hin. Sie zuckt mit den Schultern. Dann sehe ich, daß Naziza ihr Portable am Ohr hat und sehr bei freudig erregtem Gesicht mit der linken Hand gestikuliert, wie ein junges Mädchen auf- und abhüpft und dabei immerfort Oui-Oui ruft. Ich verstehe gerade noch ihr abschließendes Téléphoner. Téléphoner! Sie hüpft zu uns zurück an den Tisch.
»Paul. Paul Barthes.«
»Ah. Der Fischfilmer.«
»Fou!« geht es an meine Adresse. »Er hat gesagt, daß die Wohnung – die Mieter, diese Homme de film, gefragt hat, ob er früher den Contrat abgeben kann, weil er für lange nach Südamerika geht – ich habe Paul erzählt, daß ich fahre zu Dir ...«
»Du mußt Deiner Sache aber sehr sicher gewesen sein.« Vorsichtshalber gebe ich eine besänftigende Handreichung nach.
»Cheri. Ich habe Paul gesagt, daß wir kommen. Was sagst Du?«
Isaac ergreift das an mich gerichtete Wort. »Das heißt für mich – am besten, ich fahre gleich mit.«
»Nein« entgegne ich einigermaßen entsetzt, »ich will mit Naziza alleine ...«
»Ja. Ist ja gut. Ich könnte auch nicht sofort. Ich mein ja nur – bald. Ich will nicht, daß mir die Wohnung durch die Lappen geht.«
»Isabelle. Non. Es wird vielleicht nicht so schnell gehen. Und wir haben einen Contrat. Wir werden ihn halten. Wir werden diese Wohnung halten. Bis Du vielleicht die Wohnung haben möchtest. Vielleicht gefällt sie Dir nicht? Sie ist schön. Aber das Haus nicht. Es ist triste, grau. Die Klingel – alles ist herausgerissen. Unten ist ein Epiciers arabe ...«
»Das ist doch genau das Richtige für Dich. Wie damals in Paris. Du liebst das doch. Und du kannst auch morgens um drei noch einkaufen. Seife, Gurken, alles, was ein Gesicht so braucht, das mal wieder um die Häuser gezogen ist. Und in Marseille sind die Nächte lau und lang.«
»Depp. Damischer.«
»Naziza hat gesagt, wir sind alle Araber.«
Naziza spricht schmunzelnd, aber nicht weniger euphorisiert weiter.
»Wir können warten. Wir werden warten. Wenn Du diese Wohnung nicht haben willst, werden wir warten müssen. Aber wir können nach l’Estaque. Das ist eine fast zu vollkommene Glück.«
»Siehst Du. Nicht nur ich bin vollkommen, sondern auch das Glück.«
Für dieses einigermaßen platte Witzchen erhalte ich eine ganze Traube höchst saftiger Weinherzkirschen.
»Muß Liebe ...«
Ich löse mich aus der Traube – »schön sein, ich weiß. – Nun gut. Du fährst also auch bald vers sud. Warum nicht. Wenn es wohl auch hart werden wird für mich mit zwei Aufpasserinnen ...«
Nun kommt der Rempler von Naziza.
»Siehste. Hab ich’s nicht gesagt. – Aber das macht Ihr beiden besser miteinander aus. Ich kenne mich da ja nicht aus. Ihr kuckt nach der Wohnung, und ich nach meiner Vergangenheit.« Ich bin ein wenig verärgert über solche Profanitäten wie eventuelles Wohnungseigentum. Der anderen. Ich habe ja offenbar ein eigenes dickes Paket zu schultern.
»Ist ja gut. Ich kann Dir ja was mitbringen.«
»Was denn? Schoki. Da gibt’s jetzt bessere. Aus Deiner Heimat. Die kriegt man nämlich in France. Im Gegensatz zu diesem unkultivierten Land hier.«
»Depp. Ich mein, wenn Du was brauchst von hier. Bücher oder so. Du gehst doch ohne Deine düngenden Dichter sonst ein wie eine Priemel!«
»Du hast mich also bereits ausgesiedelt ...«
»Du hirnverbrannter Idiot! Sei doch froh. Seit ewigen Zeiten jammerst Du rum mit Deinem Marseille. Und jetzt isses soweit – ach, hab mich doch.«
»Das ist doch eine gut Idée, cheri! Und wir werden bald den Platz haben für alle Bücher.«
»Ich wollte eigentlich erstmal aussortieren. Ich will doch diesen ganzen Kunstschrott nicht mitnehmen.«
»Brauchst Du ja auch nicht. Den übernehm ich. Herzlich gern.«
»Schon wieder ein Müllproblem gelöst. Gerne. Kannst alles haben.«
»Didier – ist es nicht sehr ungerecht, was Du sagst? In jedem dieser Bücher und Catalogue ist passion. Bon, vielleicht nicht in jedem. Aber in den meisten. Viele Tage, Nächte, Monate und Jahre Arbeit. Das solltest Du doch wissen. Du hast auch viele Bücher selbst gemacht! Ist das auch Schrott? Und Du kannst nicht diese Partie von Deine Vergangenheit wegwerfen, um Dich zu finden. Diese Bücher sind ein sehr große Teil von Deinem Leben!«
»Ja, ich glaube, ich muß mich ein bißchen korrigieren. Meine Despektierlichkeit ist vielleicht doch ein bißchen überzogen. Aber so manches ist dabei, das überflüssig ist, weil jeder meint, unbedingt einen Katalog in die Welt setzen zu müssen. Als ob’s der Unsterblichkeit diene. Oder manch ein Museumsdirektor, der sich daraus einen Ruhm und Ehre demonstrierenden Thron baut. Aber wahrscheinlich bin ich da auch schon wieder ungerecht. Es gibt wahrlich manchen Katalog, der nicht nur demonstriert, daß Arbeitseifer vorliegt, sondern auch einige, die schlicht genial sind. Aber vieles hat bereits zu rosten begonnen, bevor es erdacht wurde. Wie in der Kunst halt. – Aber, Naziza, Du hast sicherlich recht mit Deiner Ermahnung. Ich habe schon sehr viel da rausgeholt. Und manche sind auch wirklich herausragend. Ich bitte um Genehmigung für hundert Rosenkränze. Außerdem habe ich je gesagt, daß ich einiges behalten möchte.«
»Aha. Jetzt wird wieder aufgewertet. Willst sie mir jetzt wohl verkaufen? Brauchst Geld für Eure Villa?«
»Ach was. Ich hab nur gemerkt, daß ich es bin, der Schrott redet. Nein, ich hab’s zu recht von meiner Entzückenden hingerieben bekommen. Nur, weil ich Überdruß habe, darf ich nicht so reden. Ich hab’s ja lange genug genossen und hab auch wahrlich davon profitiert. Nur – meine Literaten, die geb ich wahrlich nicht her. Und so’n paar kluge Leute aus der Kunst eben. Aber die ganzen Kataloge. Meine Güte. Was ich alles gesammelt hab in meiner Raffgier. Die steckt mir wohl im Blut.
»Das kann man wohl sagen, Dietrich Aubertin.«
»Jetzt werden Sie aber ungerecht, Frau von Wyler. Du weißt genau, daß ich alles andere als ein Geizkragen bin.«
»Depp. Ich meine doch Deinen Bücherwahn. Neulich hat mir der Herr Galerist, der Dir Deinen Romantikkitsch an die Wand genagelt hat, gesagt, beim Aubertin sieht’s aus wie in einer Altpapiervorsortieranstalt. Na ja, ein bissi Bewunderung war schon auch dabei. Aber das ist schon irre, was hier so alles an Wahn vor sich hinstaubt.«
»Ja, den hab ich ausnahmsweise wohl von beiden Eltern. Und immer wieder mal eine Bibliothek auflösen, das kommt wohl von meinem Dadde. Aber im Unterschied zu dem mußte ich das nie. Vielleicht habe ich gedacht, man könnte so Ballast, Geschichte abwerfen. Zweimal hab ich das ganze Zeugs nach und nach wieder neu gekauft. Weil’s mir die geistigen Düngemittel, wie Du die Dichter nennst, dann doch arg gefehlt haben. Nicht alles, aber doch viel. Meine ganzen Philosophen zum Beispiel, die ich meiner persönlichen Vergangenheit anheim gegeben hatte. Die mußten alle wieder neu antreten. Und noch ein paar andere dazu.«
»Cheri – habe ich das richtig verstanden: Du hast zweimale alle Deine Bücher weggegeben? Warum das?«
»Na ja – einmal zum Ende des Studiums hin. Aber es war ja auch die Auflösung der ehelichen Wohnung gekommen. Ich kriegte sie ja gar nicht alle unter in meiner kleinen Bude in der Wielandstraße. Meine Frau, meine damalige Ehefrau – excusé, Madame – hatte ja ohnehin kein Interesse an diesem ganzen Kopfgesteuertenkram. Sie wollte nur Wäsche und so‘n Zeugs. Ihre! Aussteuer. Das Haptische war bei ihr irgendwie anders gelagert gewesen. Sie war von ihren Eltern aber auch auf die rauhe Wirklichkeit des Lebens programmiert worden, in dem kein Platz war für solche Phantastereien. Da hab ich einen großen Teil der Bücher bei Bekannten – damals nannte ich sie wohl Freunde – untergestellt. Und was heißt untergestellt – sie kamen in deren frisch erstandenes, riesiges eheliches Wohnzimmeregal, das sich bis auf ein paar schlichte Romane durch gähnende Leere ausgewiesen hatte. Sie waren richtig glücklich. Sie haben dann auch sofort ‘ne Party gegeben, mit der sie ihre Belesenheit unter Beweis stellen konnten. Und als ich Berlin verlassen hab, sind die Büchers bei ihren Pflegeeltern geblieben. Es ist mir aber auch nicht schwergefallen. Denn es war, als ob ich die Schule abgeschlossen hätte und meinte, nun würde ich wohl nie wieder lernen. Wirklich ein unsäglich dämliches, pennälerhaftes Verhalten. – Man ist schon sehr merkwürdig manchmal. Das verhält sich vermutlich genauso wie das Schleifen von Denkmalen. Wie die Stalinisten die Kirchen zerstört und die Städte umbenannt – Naziza, ich erinnere reumütig an meines Vaters Stadt, Deine Worte! –, die Nazi die Synagogen abgebrannt, die Sozialdemokraten gewachsene Städte friedlich zusammengelegt haben, um so die Geschichte neu zu schreiben, neue Ordnungen zu schaffen. Oder wie dieser hirnamputierte Oberkoranschüler Mullah Omar, der die Beseitigung aller unislamischen religiösen Statuen in Afghanistan angeordnet hat. Da ist mir dieser Japaner noch lieber, der seinen van Gogh im dunklen Keller versteckt.«
»Und das zweite Mal, Didier? Was war damit?«
»Ach, das waren ja dann nicht mehr so viele. Der Neuerwerb beziehungsweise Neuaufbau des Geistes hatte ja bereits kurz nach der Verschrottung wieder eingesetzt. Und somit war wieder einiges zusammengekommen. Aber als ich dann in Murnau zur Untermiete wohnte – ich hatte zwar eine ganze Wohnung für mich alleine, doch die war voll möbliert –, wanderten so einige Kartons in den elterlichen Keller eines Freundes. Die sind dann ebenfalls im Haus geblieben. Ich hatte in München ja dann wieder keinen Platz in den zwanzig Quadratmetern. Erst später ging’s dann wieder los. Als ich wenigstens fünfzig Meter im Quadrat mein eigen nannte. Als wir hierherzogen – Isabella wird’s wohl noch in Erinnerung haben ...«
»Ich lach mich heut noch schlapp.«
»... sagten die Möbelpacker, na, das bißchen haben wir gleich. Dann haben sie acht Stunden gebraucht. Sie hatten nicht gesehen, daß die Bücher zweireihig hintereinander in den Regalen standen. Es waren, wenn ich mich richtig erinnere, fünfundsiebzig Kartons. Kommt doch hin – Isaac?«
»Ja, so ungefähr. Mein Gott, haben die geflucht. Ihr ganzer Zeitplan war zerstört. Und die Kalkulation auch.«
»Ja, richtig. Der Möbelherr, der in der alten Wohnung die Kalkulationsvorbesichtigung gemacht hatte, hat, wie alle anderen Wirklichkeitsfanatiker eben auch, nicht hinter den im Vordergrund liegenden Weg der Weisheit geguckt. Dort hätte sogar Geld liegen können. Denn aus vier wurden acht Stunden Bücherpacken und -transport. Aber der Preis war ja vertraglich festgelegt. Doch es war ja auch so teuer genug. Zweitausend Mark für drei oder vier Kilometer. Nun – so hat die Weisheit die Wirklichkeit besiegt. Sogar monetär.«
»Das ist sehr komisch. Sehr schön komisch. Mais, Cheri – ich möchte schon gerne ein paar Bücher haben. Du weißt es – sie folgen in meiner Liebe Maman, Papa, Aaron, Mirjam et toi tout suite.«
»In dieser Reihenfolge?«
»Oh! Malédiction. Pinailleur!«
»Ihr könnt Euch wahrlich zusammentun, Isaac. Du nennst mich doch auch bevorzugt Kleinigkeitskrämer. Nein, Du würdest Dich weitaus gebildeter ausdrücken und mich Korinthenkacker titulieren.«
»Jawoll, Du Tatillon! Bis’de doch auch! Und sowas, Naziza, will Südfranzose sein! Na ja – werden.«
»Aber was soll’s, Naziza. Das heißt, Roland Barthes muß noch ein paar Wände einreißen oder uns noch ein paar Häuser dazukaufen. Oder wir müssen uns zu den Nachbarn hin ausdehnen.«
Sie lacht wieder herzlich, fast ein bißchen ziegenartig, als sie Isaacs irritiertes Gesicht sieht. Ich entnehme dieser wunderschönen Sprache bruchstückhaft, daß sie ihr zu erläutern scheint, daß es sich bei Roland Barthes um unseren fischenden Filmer gleichen Namens handelt, nur daß dieser hier mit Vornamen Paul heißt und Naziza die Wohnung verkauft hat.
»Es wird gut gehen mit diese Bücher. Es ist schön. Ich freue mich darauf. Es ist eine gut ambiance. Immer wollte ich soviel Platz haben dafür. Und jetzt wird es ihn geben. Und ich danke Dir bereits jetzt dafür, Isabelle! So kommt ein bißchen schon zu uns.«
»Ich kann ja, Herr Aubertin« – Isaac spricht meinen Namen betont deutsch aus – »auch schon mal zwei, drei Kartons mit der Spedition runterschicken. Und das ander' Geraffel nach und nach.«
»Sag mal – was ist los? Willst Du mich hier rauskippen. Willst Du wieder einziehen?«
»Wäre keine schlechte Idee. Ich werd ja auch älter. Aber, warte mal – mir kommt da grad so ‘ne Idee. Was hält’s Du davon, wenn wir die Wohnung zeitweise untervermieten. Ihr könnt das Geld ja gebrauchen. Immerhin zwei Mille im Monat.«
»Jemanden, der die Bücher abstaubt? Ist ja gut und schön. Aber wer will denn in solch eine Hütte rein ohne Kamin und irgendeinen Sessel, auf dem er sich langmachen kann?«
»Meine Güte – so’n Ding wird man ja wohl noch reinstellen können. Paß auf – Du kennst doch meinen heißen Draht zu den Freunden der italienischen Oper ...«
»Es gibt in München auch Mafia?«
»Ja, Liebes. Ganz München ist eine einzige Mafia-Mishpoche. Hier ist alles miteinander verbandelt, wenn’s nur der Oberflächenpolitur der Kultur dient. Isaac wirft mir immer vor, ich drückte mich kryptisch aus. Dabei ist sie die Kellermeisterin. Es gelingt ihr hier allerdings, die Kryptik mit den Mitteln der Klarheit herzustellen. Sie meint tatsächlich die Freunde der Oper und nicht – obwohl, das ist ja auch sowas wie Mafia.«
»Blödmann. Laß. Ich hab Dir doch von der – ach, ist ja wurscht. Du kannst Dir sowieso nix merken. Die brauchen in der Oper für ihre Mitarbeiter immer wieder Wohnungen. Nicht für die Stars, die wohnen in den großen Hotels. Die kommen ja auch immer nur für zwei, drei Tage. Die anderen, die Regisseure und so weiter, die sind ja immer länger hier, so vier, fünf, sechs Wochen, manchmal sogar noch länger, vielleicht sogar für ne ganze Spielzeit. Und die meisten gehen nicht so gern so lange Zeit ins Hotel. Das wär doch was? Oder nicht? Ich kann das ja übernehmen.«
»Fürwahr, keine schlechte Idee. Du meinst, das funktioniert? Aber wer zahlt denn das.«
»Mein Gott – das Hotel kostet, selbst für längere Zeit, immer noch ‘nen Hunderter pro Nacht. Und Auslauf haben sie dort keinen. Außerdem habe ich davon gehört, daß es Menschen gibt, die sich in einer solchen Papierumgebung mit fünf Fernsehern und Video und Dvd und drei Stereroanlagen und dreiundzwanzig kleineren Beschallungsgeräten wohler fühlen als in einem zwanzig Quadratmeter kleinen Hotelzimmer. Wenn’s Deine Miete einbringt und noch die Putze, dann wär’s das doch. Oder etwa nicht?!«
In Nazizas Gesicht hat Begeisterung Einzug gehalten.
»Mon Dieu! Didier – c’est parfait! Wenn es geht, man sollte es tun!«
»Ja, aber was ist, wenn hier nach und nach ausgeräumt wird?«
»Dann füllen wir eben die entstanden Regallücken mit den Büchern aus Deinem Lagerzimmer auf. Da liegt ja wahrhaftig noch genug rum. Deine komplette Theaterliteratur hast Du dahinverbannt. Und die ganzen Stapel auf dem Fußboden könnten auch mal dorthin, wo sie eigentlich hingehören. Liegt ja genug rum hier. Es wird lang genug dauern, bis sich das lichtet. Obwohl – irgendwann wirst Du bestimmt nochmal herkommen müssen, allein um Dein ganzes Küchen- und Elektrogerätemuseum auszusortieren. Das billige Geschirr wirst Du ja wohl kaum bis kurz vor Afrika karren wollen.«
»Ich habe zwar nichts zu sagen. Es gebührt sich nicht. Mais, Didier. Glaubst du nicht, daß wir etwas gebrauchen können en l’Estaque? Ich habe nicht so viel! Du sagst selbst, es ist alles sehr teuer in France.«
»Naziza – das hier sind rund hundert Quadratmeter. Wir ziehen in hundertzehn Quadratmeter. Du hast fünfzig. Wo soll das alles hin? Roland Barthes muß ganz l’Estaque für uns zusammenkaufen.«
»Oh! Cheri. Lieber ich werfe etwas weg. Du hast so viele sehr, sehr schöne Sachen. Ich tausche gerne alle diese Maschine von Braun et cetera gegen meine Camelote français.«
»Das nenne ich wahre Heimatliebe. So mußte Moulinex, muß Frankreich ja pleite gehen. Aber von mir aus. Vielleicht kommt das inbrünstig erstandene Gerät ja wieder zu Ehren.«
»Wir werden es benutzen können! Wir werden kochen und Freunde einladen.«
»Ihr habt’s gut. Ich will auch dahin.«
»Isabelle – Du wirst es ja tun. Du kaufst diese Wohnung, und dann wirst Du dort sein!«
»Ich meine am Meer!«
»Herzgütige. Die Wohnung am place de Lenche liegt zwei Minuten vom Alten Hafen entfernt. Wenn Du zur Treppe gehst und ein paar Schritte weiter und rechtsrum kuckst, liegt Dir das Meer zu Augen.«
»Aber ihr badet eure Stinkefüße schon morgens im Meer.«
»C’est du flan! La maison ist nicht direkt an die Meer. Wir können es nur sehen.«
»Quatsch hin, Quatsch her. Es wird eng. Wir müssen los. Aber soviel noch – es klingt nicht schlecht. Wir können ja nach und nach ein bißchen einpacken.«
»Ich laß einfach einen Kleinspediteur mit so ‘nem Rennlaster kommen, wenn ihr in der Wohnung in l’Estaque seid. Der soll alles einpacken und runterfahren. Das kostet nicht die Welt. Eine Monatsmiete vielleicht. Dann könnt ihr Euch in aller Ruhe ausbreiten. Ein bißchen was bleibt ja hier immer noch übrig bei dem ganzen Geraffel, das Du gehortet hast. Ich weiß ja, was Dir heilig ist. Bei mir kommen Deine Reliquien schon nicht um.«
»Gut-gut. Warum nicht. Sag, Naziza, was glaubst Du denn, wann wir in l’Estaque reinkönnen?«
»Paul sagt, le cinéaste fliegt bald zur Vorbereitung von Dreharbeiten nach La Paz. Er wird sein Ameublement in ein Lager tun. Aber wir werden wohl ein Rénovation machen müssen! Wir werden es rapide tun.«
»Hoffentlich bei mir auch. – Geht das wirklich auf einmal so rasch? Ich bin schon sehr verwirrt. Das kommt mir alles vor wie eine Inszenierung.«
»Oh, Didier! Es war inattendu – sehr überraschend. Paul hat mir gesagt, die Mieter hat gestern abend angerufen und hat gefragt, ob er hinaus kann aus die Wohnung. Und Paul wußte von meine Reise zu Dir. Deshalb hat er mich sogleich angerufen. So ist es – und nicht anders. Pas de manœuvre. Tu ne vas pas me croire. Es macht mich traurig, wenn Du solches sagst. Ich habe keinen Grund, Dir ein Spiel zu spielen. Ich bin nur sehr glücklich, wenn es so kommt.«
»Laß gut sein, Naziza. Ich bin nur verwirrt. Das mußt Du doch verstehen. Das sind schon seltsame Zufälle, das alles.«
»Hör mal zu, Du Obermißtrauischer! Du Kotzbrocken! Was glaubst Du eigentlich?! Diese Frau sucht Dich drei Jahre in der ganzen Welt. Ist völlig fix und alle und aufgelöst. Durch Zufall, ja Zufall – wir könnten’s ja auch Schicksal nennen – lernt sie in dem Kasten, in dem Du immer absteigst, Anne kennen. Die beiden sind sich sympathisch, und es stellt sich heraus, daß die den seiner Frau davongerannten Mann kennt. Und zwar ein bißchen ziemlich gut sogar. Und diese Frau fährt durch halb Europa hinter ihrem Mann her, weil sie wissen will, warum er abgehauen ist. Und vielleicht auch ein bißchen, weil sie ihn ein bissi lieb hat – was mir sowieso ein Rätsel ist – und ihn gerne wiederhätte. Dann schlägt sie mit diesem Ekel eine Nacht lang eine Schlacht, gegen die Verdun wahrscheinlich ein Sandkastengerangel war. Dann merkt dieser Mann, daß was dran ist an dieser Geschichte, weil er nämlich zwar insgesamt nix, aber dann doch wieder genau weiß, daß ihm was fehlt in seinem Kopf. Und nun ergibt es sich, daß – Zufall oder nicht oder Schicksal oder wer weiß, was sonst noch – auf einmal überraschend die – auch noch gemeinsam ausgesuchte! – Wohnung frei wird, für die die Frau ihre paar Pfennige, die sie gerade eben noch so übrig hat, radikal gegeben hat, für sich und ihren Mann, an den sie immer geglaubt hat, aber der selbst ein Ungläubiger ist. Und Du Depp sprichst von Inszenierung! Ich find Dich widerlich.«
Nun weint sie. Und Naziza hat ebenfalls feuchte Augen, mit denen sie mich fragend anschaut. – In was bin ich hier geraten? Bin ich wirklich so ein unangenehmer Mensch? Versteht denn keiner, daß mir das alles sonderbar erscheinen muß?!
»Sag, warum bürstest Du mich so ab? Und überhaupt – warum machst Du das alles? Sonst läßt Du doch keine gutes Haar an mir – na ja ...«
»Sagen wir mal so – wenn ich Dich schon nicht gekriegt habe, sollst Du wenigstens kriegen, was Du verdient hast – ja, Du Depp, Du hirnloser« – nun lacht sie – »Du hast’s verdient. Du hast genug Scheiße gehabt die letzten Jahre. Ich hab’s Dich vielleicht nie spüren lassen, hab nie was gesagt, war auch unfähig dazu. Aber ich hab’s immer gemerkt, wie Du ziemlich verzweifelt durch die Gegend geschlappt bist, Dich immer mehr in Deine Höhle zurückgezogen hast. Daß Du ein völlig anderer Mensch geworden bist als der in der Zeit davor. Ich war so manches Mal erstaunt, welche Güte und Milde und Toleranz Du auf einmal an den Tag gelegt hast und daß das nicht allein eine Alterserscheinung sein kann. Oft hab ich gedacht, Donnerwetter, was so eine Hirnamputation alles bewirken kann – ein Mensch. Du hast mich gedauert. Oft haben wir nicht mehr gewußt, was wir machen sollen. Ja, wir. Anne und ich und noch ein paar andere. Wir haben gemerkt, daß das Loch immer enger wird und bald kein Reinkommen mehr ist, um Dich rauszuziehen. Hast Du eigentlich nicht gemerkt, daß alle anderen sich immer mehr von Dir zurückgezogen haben, weil der Aubertin spinnt?«
»Ich könnte das durchaus so sehen.«
»Ach, hör doch auf, hier den Coolen zu markieren. Ab und zu hast Du was rausgelassen. Und dann ruft mich Anne aus Marseille an. Und was die mir erzählt, deckt sich genau mit dem, was von Dir manchmal kam. Ich hab gedacht, ich spinn. Dann haben wir Weiber eben dem Schicksal ein bißchen aufgeholfen, diese Altersschwäche in den Sattel gehievt. Haben Dir die alte Vettel Schicksal vor die Nase gesetzt, daß Du sie auch ja siehst. Und jetzt isses soweit, und Du kannst wieder leben. Weshalb soll ich Dich da nicht in den Arsch treten? Daß Du endlich abfliegst in Dein südfranzösisches Arkadien. Wo Du immer hinwillst. Mensch, Dietrich Aubertin. Da brauchst Du keine Dichter mehr. Das ist Deine letzte Chance! Und was für eine. Und das weißt Du ganz genau. Warum wohl hast Du vor ein paar Jahren mit dem allerletzten Aufbäumen Deines Resthirns, bevor’s Dir weggeflogen ist, ausgerechnet dort Deine Zauberfrau geheiratet? Sozusagen als letzte Eingebung von oben, von Herrn Jahwe-Adonai, von mir aus auch von Allah oder sonstwem, die Dir eine letzte Chance geben wollten! Dann hat’s Peng gemacht. Dann war alles weg. Und jetzt kriegst Du’s zurück. Nach und nach. Du wirst wieder Mensch. Also hör auf, den Macker zu geben. Der Du sowieso nie warst. Oder glaubst Du, ich würd’ Dich sonst noch kennen? – Also packt zusammen und haut ab. Wir telephoniern.«
Sie umarmt Naziza – und auch mich. Sie verläßt laut- und grußlos die Wohnung. Es herrscht betretenes Schweigen. Zumindest bei mir. Sie schaut mich mit ihren tiefschwarzen Boule, die von der austretenden Gefühlstemperatur eine leichte Braunfärbung bekommen haben, tröstend an. Sie streicht mir sanft über Gesicht und Haar. Sie sagt nichts. Aber ihr Blick erzählt mir ein Märchen von der Zukunft. Ich stehe auf und deute lediglich mit dem Kopf zur Tür hin. Augenblicklich haben wir unsere bereitstehenden Taschen und Koffer aufgenommen.
Als der Lachsturm sich wieder verzogen hat, kommt, das ist meistens so, eine extreme Stille auf. Naziza sieht ein bißchen traurig aus. Wie ich aussehe, wage ich gar nicht zu überprüfen. Ich habe keine Zeit, im Spiegel mein gleichermaßen von Euphorie und schmerzhaften Denkfurchen zerrüttetes Gesicht anzuschauen. Ich muß auf die Straße achten, die uns empfindsam genau in westlicher Richtung südlich an Karlsruhe vorbeiführt. Es wird nicht mehr lange dauern. Es sind nur noch die, sich allerdings dröge dahinziehenden, vierspurigen Landstraßen bis nach Wörth. Da hier ständig sehr genaue Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt werden, gilt Konzentration. Denn auch eine Ente fährt schneller, wenn sie die Heimaterde riecht. Na ja, die Grenze zum Land. Die Erde ist noch weit. Auch die Ente hat noch nicht begriffen, daß ich neuerdings aus dem Elsaß stammen soll und nicht aus Lothringen. Ich glaube, sie nimmt mir das übel. Ihr war es auch immer lieber, wenn wir westlich der Vogesen in südlicher Richtung fuhren. Vielleicht sollten wir das auch dieses Mal so machen. Allerdings ist es ein unnötiger Umweg. Obwohl – so schlimm ist es auch wieder nicht. Es muß ja nicht die Strecke nach St. Dié sein, über die Steigungen und durch den Tunnel.
»Naziza – was hältst Du davon, wenn wir nicht vers Strasbourg, sondern westlich der Vosges nach Süden fahren?«
»Nicht nach Besançon? Du wolltest mir Deine Dame aus l'Algérie vorstellen.«
»Oh! Sowas merkst Du Dir.«
»Ich merke mir alles. Alles Schlimme. Doch ich möchte sie auch nicht wirklich kennenlernen.«
»Könntest Du Dir vorstellen, daß dies ein Scherz gewesen sein könnte?«
»Ich könnte.«
Ich erhalte eine zärtliche Bestätigung.
»Wir könnten über Saverne fahren. Von dort stamme ich her, wie ich seit kurzem weiß. Ich persönlich war noch nie dort. Und die letzte Aufzeichnung, die der Forscher gefunden hat, stammt aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Es bestünde also keine Gefahr, daß ich sofort verhaftet würde wegen böswilligen Verlassens – der Heimat.«
»Bouffon de Alsace.«
»Doch der elsässische Clown weißt darauf hin, daß es doch länger dauern könnte als über Strasbourg, Colmar, Belfort. Die Straßen sind dort nicht so kerzengerade gen Süden ausgerichtet und recht schmal. Ich glaube, es ist keine so gute Idee.«
»Dann sollten wir es auch nicht tun. Ich möchte nicht hier oben herumfahren. Es ist nicht mein Land.«
»Meines ist es auch nicht. Wenn Du das damit sagen willst. Ich kann nichts dafür.«
»Ah! Didier. Ich meine das nicht. Es gefällt mir nicht in diese Gegend. Du hast ganz recht, wenn Du sagst, es ist deutsch.«
»Ich meine den Elsaß. Wir aber würden durch la Lorraine fahren. Es gäbe auch die Möglichkeit, in westlicher Richtung bis Nancy zu fahren und dann südlich vers Bourgogne, vers Dijon. Ich muß nicht nach Besançon. Ich war oft genug da. So interessant ist es auch wieder nicht. Und es liegt so weit östlich, fast in der Schweiz. Da fahren die schweizerischen Pfeffersäcke immer hin, fressen – alleine! – für tausend Francs und lassen keinen Krümel Trinkgeld liegen. Und die Nähe zur Schweiz drückt sich auch in der geleckten Stadt aus. Die stauben sogar die Wege im Park ab.«
»Comment?!«
»Ernsthaft. Na ja, nicht abstauben. Mit Gebläsen entfernen sie – im Hochsommer, wohlgemerkt, obwohl noch sattes Grün im immergrünen Besançon auf den Bäumen hängt – die zwei runtergefallenen Blätter, denen es oben zu heiß geworden war. Höchst unangenehm. Oder auch lächerlich. Wie die Glascontainer, die sie unter die Erde versenkt haben. Und selbstverständlich nicht im Zentrum. Man muß für die Ordnung schon einiges an Weg in Kauf nehmen. Das schaut zwar nett aus, aber eben auch sehr säuberlich. Irgendwie ist das nicht mein Frankreich. Andererseits ist es eine sehr sympathische Stadt. Die Menschen! Sie sind erstaunlich aufgeschlossen. Und schöne Menschen gibt es dort. Einige Algerier ...«
»Vermutlich Du meinst Algerierinnen. Ich glaube, in Deinem früheren Leben Du warst aus Afrique du Nord.«
»Ja, vielleicht. Ich weiß selbst nicht, woher meine Liebe zu Euch kommt.«
»Was machst Du mit meine andere Hälfte? Ah! Oui! Es ist Dein Blut aus dem Osten. Hier sind wir aus einem Korb. Ein wenig verschoben von Nord nach Sud. Doch es ist augenfällig, wie sehr Du die Nähe zu l'Algérie suchst! Auch in Besançon. Ich wußte nicht, daß es dort viele gibt.«
»Besagte Fadila, für die ich Dich zunächst gehalten hatte ...«
»Didier! Ich bitte Dich! Es macht mich eifersüchtig. – Sie muß eine interessante Frau sein. Pardon. Vielleicht sie ist es.«
»Ich gehe davon aus. Ich glaube nicht, daß sie das verloren hat im Lauf der Jahre.«
»Wie lange liegt es zurück?«
»Zwölf Jahre. In etwa.«
»Und Du hattest keinen Contact? So, wie Du sprichst von ihr, kann ich es nicht glauben. Es ist, als ob es kürzer ist, das letzte Mal, daß Du sie gesehen hast.«
»Nein. Tatsächlich. Keinen Kontakt. Zwölf Jahre. Oder elf. So genau weiß ich es nicht mehr. Ich war damals zufällig in eine Kneipe geraten, weil ich abends vom Hotel aus noch einen Spaziergang gemacht und von weitem Jan Garbarek gehört hatte und meinem Gehör gefolgt war. Aus der einen Nacht, die ich in Besançon bleiben wollte, wurden fast zwei Wochen. Aber es lag nicht alleine an Fadila, sondern eben auch an diesem Kreis um sie herum – Menschen aus allen möglichen Ländern –, die mich in herzlicher Weise aufgenommen hatten. Das wirkt nach. Und deshalb fahre ich wohl auch immer wieder mal hin. Nein, das stimmt so auch nicht. Es ist wirklich eine lebenswerte, vielleicht auch liebenswerte kleine – na ja, etwa hundertzwanzigtausend Einwohner hat sie auch – alte Stadt. Und das, obwohl meine dicksten Lieben von damals offenbar alle die Flucht ergriffen haben. Aber wohl kaum meinetwegen. Denn ich war ja ewig nicht dort.«
»Wann das letzte Mal?«
»1998.«
»Didier!«
»Ja. Es ist vermutlich so, daß ich auf der Rückfahrt dort war. Manou habe ich getroffen. Er war der Besitzer der kleinen Bar, wo ich all die Leute getroffen habe. Danach hatte er eine sehr große übernommen, direkt neben La Madeleine. Kurz, nachdem ich ihn dort gesehen und gesprochen hatte, hat er aufgegeben. Es war zu groß, vermutlich zuviel Arbeit. Da dürfte er sich überhoben haben. Er hat auch besser in seinen kleinen Laden mit dem bezeichnenden Namen Le Diga-Diga-Doo gepaßt.«
»Le ...? Comment, s'il vous plaît, Monsieur?«
»Le Diga-Diga-Doo. Irgendwas aus dem Jazz, ich glaube eine Sentenz – wenn man das so nennen kann. Also eher ein gesprochener Rhythmus aus dem Jazz der fünfziger, sechziger Jahre, dem Be-Bop. Das war – unter anderem, unter vielen – seine Musik. Jazz überhaupt. Ihm ist ja auch damals mein Gehör nachgegangen. Und in dieser kleinen Bar am Quai Vauban stand er lieber nichtstuend rum und hat beobachtet. Zum Beispiel damals mich, der ich wie gebannt auf die Sammlung an Platten und Kassetten und, damals schon, CDs gestarrt hatte, und hinter seinem Standorttischchen hervorkam. So kamen wir ins Gespräch. Über die Musik. Ein Band hat er mir damals geschenkt. Fürs Auto. Ich hab's mir dann später auch als CD gekauft. I took up the runes von Jan Garbarek. Es war die Musik, der ich damals gefolgt bin. Auch heute noch höre ich sie ungeheuer gern. Oft, wenn ich durch France kurve. Na ja, im Döschwoh hört man das nicht so richtig. Der Mercedes war eben ein Konzertsaal, und die Ente macht eher originären Krach. Nun, daß er das Jazz, den großen Laden, wieder aufgegeben hat, hat mir ein Bekannter mitgeteilt, der in der Nähe lebt. Manou ist offenbar zurück in den Senegal.«
»Sénégal?!«
»Ja. Ist das so erstaunlich? Du klingst jedenfalls danach.«
»Nein. Es ist nur, weil wir in unsere Familie – ah, später. Es ist zuviel auf einmal. Jedoch, wer ist dieser Mann?«
»Wer? Manou? Der Kneipier?«
»Oui.«
»Viel weiß ich auch nicht über ihn. Emmanuel Biabe, ein zauberhafter, ungemein charmanter Kerl. Das wußten allerdings auch die Frauen von Besançon. Sie lagen ihm zu Füßen. Genauer: Sie saßen jeden Abend Schlange und warteten darauf, daß er Feierabend, seine Kneipe dicht machte. Auch Fadila. Das war ja meine Crux. Und die seiner Frau. Eine wunderschöne, zudem höchst sympathische – Algerierin, was sonst?! Mit zwei süßen, sehr gemischten, also mittel- und nordafrikanischen Nachkommen.«
»Es ist verrückt mit diesen Verbindungen, die sich hier ergeben.«
»Ja. Ich glaube allerdings auch, daß ich damals infiziert wurde. Ach was, ich bin sogar sicher, daß dem so ist. Und eben fällt mir ein, daß ich nicht 1998 das letzte Mal dort war. Sonst wüßte ich ja gar nicht, daß Manou und Fadila weggezogen sind. Erst letztes Jahr war ich dort. Ich hatte einen Künstler in der Nähe von Beaune besucht und habe dort auf der Rückreise einen Halt gemacht. Es wurden wieder ein paar Tage. Eine Eingebung hatte mich Manou und Fadila suchen lassen.«
»Es ist offensichtlich, daß Du eine Beziehung zu – sage ich es einmal so – zu dieser Stadt hast.«
»Vermutlich. Doch es sind nicht alleine nostalgische Gründe. Gut, es geht schon tief. In jeder Hinsicht. Aber es ist auch eine schöne alte Stadt. Sehr viele Häuser aus dem fünfzehnten und sechzehnten bis ins achtzehnte Jahrhundert, vermutlich teilweise sehr viel früher. Manchmal habe ich in Baugruben reingeschaut. Es ist typisch: immer noch ein Loch darunter. Es war die Hauptstadt der gallischen Sequaner! Die Kelten zwischen Saône und Jura. Da hieß es Vesontio. Die Römer waren natürlich auch da. Wo waren die nicht?! Und nachdem es als Bisanz auch mal deutsche Reichsstadt war, ich glaube, Anfang des elften Jahrhunderts, hat Frankreich es mit der Freigrafschaft Burgund 1678 zurückgekriegt.«
»Woher weißt Du das alles?!«
»Ach, Naziza – ich interessiere mich eben für die Städte, in denen ich mich gerne aufhalte. Nun denn. Eine Universität gibt's auch, eine kleine, vor allem aber eine Musikhochschule. Und, beinahe hätt' ich's vergessen, eine Kunsthochschule. Und das berühmte Dolmetscher-Institut von Besançon. Aber vermutlich gehört das zur Universität. Das bringt viele Menschen dorthin. Junge eben, und manche bleiben hängen. Das ist ja sehr oft so in diesen gemütlichen Städten, die letztendlich einen dörflichen Charakter haben. Jeder kennt jeden, zumindest in den künstlerisch angehauchten Kreisen. Da gibt es eben keine Unterschiede, und schon gar keine der Nationalitäten, geschweige denn Hautfarben. Ja, und die Musikfestspiele haben einen sehr guten, internationalen Ruf. Viel los ist ansonsten nicht. Na gut, das Museum der schönen Künste und Victor Hugo, der ständig hochgehaltene Sohn der Stadt. Und dann der Tourismus, der zur von Vauban geplanten – aber wo im Land hat der nicht seine Bastionen hingestellt? – Citadelle aus dem 17. Jahrundert hinaufdrängt und überhaupt die Stadt und deren Kasse äußerst belebt. Der übliche französische Einkaufsrummel eben, gepaart mit zielenden Einkäufern wie mir. Aber das auf der anderen Seite des Doubs gelegene Quartier Battand um die Kirche La Madeleine herum, das alte Besançon wohl, ist schon sehr heimelig. Vor allem in eine Kneipe, pardon, Bar heißt es ja im Land, zieht es mich immer wieder: Le Comptoir. Da sitzt das wirklich angenehme Besançon drinnen. Theater, Musik et cetera. Alle Altersgruppen. Wobei das natürlich überall so ist, wo kulturell interessierte Menschen zusammenkommen. Und doch habe ich eben in Besançon das als besonders angenehm empfunden. Als ich letztes Jahr dort saß, im Le Comptoir, und nach einer bestimmten Musik fragte – diese zwei köstlich durchgeknallten Frauen aus Montpellier. Mir ist eben entfallen, wie ...«
»Femmouzes T. Rita Macedo et Françoise Chapuis?«
»Was Du alles weißt! Richtig. Hatten wir doch schon. Also, als ich danach fragte und wo ich die kaufen könne, hat mir der immer freundliche Besitzer was über die beiden erzählt und mir aufgeschrieben, wo ich sie herkriege, die Damen. Ich kaufe ja ständig Frauen ...«
»Mich nicht! Ich bin nicht ...«
»Du kannst ja auch nicht singen – Deine Worte! Und wenn Du auch das noch könntest, wär’s nicht mehr auszuhalten. Es wäre erschreckend.«
»So! Alors, Du hast wieder einmal Dich herausgefunden? Doch Du hast es gut gemacht. Ich bin geschlagen.«
»Erstens meinst Du vermutlich eher: herausgewunden. Aber herausfinden aus einer Situation ist auch in Ordnung. Und dann: Ich schlage nicht, und schon gar nicht meine Frau. Auch wenn sie nicht singen kann.«
»Maintenent – es ist gut.«
»Nun denn – und außerdem saß im Comptoir noch ein freundlicher – die anderen saßen alle draußen auf dem schönen ruhigen Platz –, es entspann sich ein kurzes Gespräch, aus dem sich ergab, das er mich mittendrin mit einem Willkommen begrüßte, als ich ihm brav geantwortet hatte, ich sei ein Allemand. Und es war keiner aus Algerien. Vermutlich. Denn den Pieds-noirs sieht man das ja oft nicht an. Es gibt ja genügend Hellblonde mit blauen Augen, wahrscheinlich Abkömmlinge aus dem Elsaß, die Arabisch sprechen. Wie auch immer – das kommt nicht allzu häufig vor. In diesem ansonsten doch sehr reservierten, manchmal arg muffeligen France.«
»Oh!«
»Doch. Es ist so. Vor allem, wenn sie merken, daß du die Sprache nicht richtig draufhast, wird's bisweilen schlimm mit der Abwehrhaltung. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Ganz arg ist es – was mir passiert ist –, wenn du dich bemühst, französisch zu sprechen, es nicht richtig klappt, du dann notgedrungen ins Englische fällst – und dein Gegenüber sich verarscht fühlt, weil er merkt, daß du viel Französisch verstehst. Zwei-, dreimal war das so. Leider. Entgegen früherer Erfahrungen. Einmal mit eisigem Schweigen. Dann hältst du automatisch dein französisches Versuchsmaul und gibst wieder den kompletten Ausländer. Es fördert nicht gerade die Sprechlust. Ich war ziemlich stinkig danach.«
»Wer auch immer es war. Er war nicht klug.«
»Er war ein Arsch, un cul, un trou du cul. Der Kontakt, der sich so nett angelassen hatte, war schlagartig abgebrochen. Er hatte nämlich gesehen, daß ich eine französische Zeitung dabeihatte. Damit war für ihn klar, daß ich irgendwas Unbilliges mit ihm vorhatte. Dämlich. Aber wahr. Richtig runtergezogen hatte mich das. Die französische Abwehrhaltung ist Legende. Allzu viele kommen darauf zu sprechen. Es ist schon mehr als was dran. Was Gutes hat dieses, haben diese Erlebnisse letztendlich dann doch. Nach dieser giftigen Reaktion dieses Typs habe ich mir für alle Zeiten vorgenommen, Fremden gegenüber nie so zu reagieren. Egal wo und wem gegenüber. Als Sprachloser bist du schon übel dran. Man ist behindert. Wie auch immer: Das war in Le Comptoir eben nicht so. Wie früher schon in der Bar von Manou. Es muß irgendwie an der Stadt liegen, an der, vermutlich studentisch bedingten, Heterogenität. Also, genau meine Vorstellung von der richtigen Mischung. Aber vielleicht war's auch einfach nur Glück, wie's das andere Mal Pech war. Mensch ...«
»Was ist ...?«
»Eben fällt mir was ein – In dieser expressis verbis als Zone Fumeur ausgewiesenen Bar hängt, unter einer unendlichlichen Ansammlung von Fische-Darstellungen und menschlichen Konterfeis, darunter mehrere von Che Guevara, ein gerahmter Zeitungsartikel aus Libération über Jean-Claude Izzo ...«
»Non!«
»Doch. Jetzt erinnere ich mich genau. Und zwar aus dem Grund, weil er eine Widmung an den Besitzer Jean-Guy enthält, und zwar aus dem Jahr 1998, in dem ich dort war.«
»Schon wieder 1998. Ich werde verrückt.«
»Es tut mir leid. Aber es ist so. Letztes Jahr ist es mir aufgefallen. Und ich weiß noch, daß mich die Jahreszahl irgendwie irritiert hatte. Denn ich wußte sehr wohl, daß die schöne Zeit mit Fadila und Manou und den anderen viel länger zurücklag. Aber ach, was soll’s, Naziza – die sind ja alle nicht mehr da. Ich kann Dir Fadila also gar nicht vorstellen. Wieder mal geflunkert. Sie ist irgendwie verschwunden. Vielleicht hat sie ja tatsächlich den Namen gewechselt, ihren Mädchennamen wieder angenommen oder wieder geheiratet. Also – perdu ...«
»Nicht verloren. Oublier – vergessen! Vorbei. Ich bin bei Dir. Ich bin Deine femme d'algerienne. Madame Aubertin bin ich!«
»Ach ja. Und es ist schön so. Also – über Strasbourg kommen wir eben auch am schnellsten voran. Wir können die Autoroute nehmen. Es geht wesentlich rascher. Auch mit dem 2 CV. Und dann fahren wir am Doubs entlang. Es ist eine sehr, sehr schöne Strecke. Aber vielleicht sollten wir vorsichtshalber in Besançon im Hotel anrufen. Es gibt zwar zwei Mercure. Aber das letzte Mal war alles dicht. In Besançon ist dauernd irgendeine Veranstaltung. Die nahe Schweiz und der Kursaal – so heißt dieser Veanstaltungort tatsächlich! – machen sich bemerkbar. Vielleicht auch, daß es genau an der Süd-Route liegt. Wir verbringen eine Nacht dort, und am Abend zuvor schau'n wir kurz in den netten Laden rein. Es gibt auch ein paar außerordentliche Restaurants in der Stadt. Und sollte dort nichts frei sein, können wir auch nach Choisey bei Dole weiter. Dort gibt es ein zwar nicht eben sonderlich attraktives Ibis, weil direkt an der Straße gelegen. Aber das Haus ist hübsch und die Zimmer auch. Es wäre ja nur für eine Nacht. Wollen wir’s so machen?«
»Hast Du jetzt wieder alle strategie exercé? Alle Für und Wider geordnet in dem Sandkasten von Deinem Kopf? Monsieur Leutnante? Du bist sehr komisch manchmal. – Moment! Halte! Pas se vexer! Ich habe auch ein Recht, Witze zu machen.
»Nicht mal ordentlich beleidigt darf ich sein. Die Natur ist ungerecht. Sie setzt mir einfach so einen zauberhaften Luftgeist neben mich und paralysiert alles.«
»Fühlst Du so?«
»Ach was. Jetzt bist Du beleidigt. – Nun mal ernsthaft, Naziza. Ich bin so. Und ich nehme nicht an, daß sich das ändern wird. Und vor allem nehme ich nicht an, daß ich möchte, daß sich das ändert. Mein ständiges Abwägen hat mir häufig Pein und auch ein bißchen Wahnsinn gebracht. Aber ich möchte es auch nicht mehr missen. Es ist eine Langsamkeit, die mich letzten Endes vorangebracht hat – während ich permanent beobachte, wie andere an ihrer Schnelligkeit der Entschlüsse jämmerlich zugrunde gehen. Diese Schnellentscheider gehen mir sogar ziemlich auf den Senkel. Du wirst also damit leben müssen – oder nicht.«
»Oh – mon amour. Es ist mir bekannt. Es hat mir nichts ausgemacht, wie Du manchmal dastehst wie eine grübelnde Ikone der Weisheit, die abwägen muß, ob sie sich zu ihrem Glück zwingen soll oder nicht. Es ist mir aber auch bekannt, daß Du spontan sein kannst wie eine kleine Junge. Ich liebe sie beide. Den Alten in Dir und den Jungen. Du bist beides. Du weißt es nur nicht, daß ich es weiß. Und Du weißt leider auch nicht mehr, daß wir oft haben darüber gescherzt – und wir beide Spaß hatten dabei. Das ist sehr schade. Aber es wird wieder so werden. Wir müssen von vorne beginnen. C'est comme ça. Mais – vielleicht ist gerade das sehr schön. Ich glaube sogar, daß es schön ist, neu zu beginnen. Non. Es ist schön.«
»Was meinst Du mit grübelnde Ikone der Weisheit? Ist es so schlimm mit mir?«
»Non. Doch sehr komisch manchmal. Ich werde nie vergessen – als ich Dich habe gefragt, ob Dein Heiratsantrag Gültigkeit hat. Du standest da wie eine eindundertfünfzigjährige Tilleul – was ist eine Tilleul?«
»Tilleul? Eine Linde? Kann es sein?«
»Oh! Oui. Wie so eine uralte Linde, die man hat gefragt, ob er seine Urkunde zum Sterben unterzeichnen möchte. Ich habe dann gesagt, es seien Deine Worte, Deine Antrag gewesen. Und daß ich es nur wissen wollte, denn ich würde ihn sehr gerne annehmen, diese Antrag. Und dann habe ich Dich gefragt, ob Du Dich vielleicht noch einmal in Dich zurückziehen möchtest zur Beratung mit Dir. Und Du hast dagestanden und hast vor lauter Nachdenken überhaupt nicht verstanden, was gesagt wurde. Dann habe ich gesagt – Monsieur, Sie sind meine große Liebe, und ich möchte, daß Sie mein Ehemann werden. Ich stelle hiermit diese Antrag. Du hast Dich am Kopf gekratzt wie diese süße kleine Junge. Dann hast Du gesagt – ich werde das nie vergessen, selbst wenn wir schon hundert Jahre unter unsere Tempel liegen: Wenn ich mir das so recht überlege, muß ich eigentlich nicht darüber nachdenken, daß es dazu noch etwas zu überlegen gibt. Du hast in Deine bereits fest gefaßte Entschluß noch einmal geprüft die Limite de charge. Dann habe ich unglaublich lachen müssen.«
»War ich auch bei der Hochzeit so schrecklich dämlich? Ich meine beim Ja-Sagen.«
»Da warst Du wieder die Personnification eines einmal gefaßten Beschlusses. Wie ein Mann hast Du gerufen – Oui! Und Du hast dabei ein fröhliches Gesicht gemacht. Es war sehr lustig.«
»Es scheint eine fröhliche Hochzeit gewesen zu sein.«
»Das kann man wirklich sagen. Es war eine Traumhochzeit. Viel schöner als diese dumme deutsche Série en télévision. Non – das ist Traumschiff. Pareil – assoment. Wir haben geheiratet wie in eine von diese Filme, wie Du sie liebst – Mariage au village. Nur in einer großen Stadt.«
»Und ich war nicht dabei. Merde.«
»Dann machen wir es eben so, wie wir gesagt haben – wir feiern sie noch einmal. Mir gefällt dieser Gedanke nicht nur. Ich bin entschlossen. Du nicht?«
»Doch. Ja. Gerne. Ich feiere ja sehr gerne solche Feste. Und vielleicht ist es noch schöner, wenn ich dabei bin – bei meinem eigenen Fest. Aber meinst Du mit Mairie und so?«
»Ouf ! Aber das weiß ich nicht, ob es geht. Vielleicht sprechen wir mit die Service de la mairie? Wir erzählen die Geschichte?«
»Ach. Ich weiß nicht, ob das sinnvoll ist.«
»Schon wieder Poule mouilée?«
»Ja. Ich mache so etwas nicht gerne. Es ist mir unangenehm.«
»Wozu hast Du eine Ehefrau? Zu etwas muß sie gut sein. Außerdem habe ich keine Lust, mich scheiden zu lassen, um Dich noch einmal heiraten zu können. Serieux – ich werde fragen. Ich glaube nämlich, daß es wichtig sein könnte für den Prozeß. Und die Fête, die machen wir sowieso. Und wir sollten sie auch wieder an der place de Lenche machen. Auch dann, wenn wir schon nach l’Estaque umgezogen sind.«
»Aber dann können wir nicht, wie Du mir erzählt hast, zwischendrin für Deinen Papa üben.«
Die Meldung aus Stuttgart und Karlsruhe war auch nach Wörth weitergeleitet worden. Wörth war gewarnt und öffnete wohl deshalb freundlich seine Tore. Und die Sonne gerierte sich bereits französisch – und lächelte verschämt noch knapp mitten auf dem Rhein. Aber nach dem letzten deutschen Benzin für unsere calèche des mariés würde sie eine reine, feine französische Soleil sein. Ich lächelte zurück und bedankte mich. Wie immer kurvte ich in die Esso-Tankstelle. Sie liegt ganz hinten am Ortsausgang. Im Nu ist man draußen auf der Brücke, dann links über die Dörfer. Man kann auch die Rennstrecke oder gar die Autobahn nehmen. Aber ich nähere mich lieber über die langgezogene Gerade, über die Dörfer des kleinen Grenzverkehrs. Interessanterweise sind es mehr als zwei Drittel französische Autokennzeichen. Ob die Deutschen aus der Südpfalz nahezu alle bereits emigriert sind?
»Soll ich nur wenig tanken und dann sofort wieder in France?«
»Oh. Fou! Dort tanken wir dann Benzin, das von einer dieser vielen deutschen Raffineries hier kommt. Du bist wirklich – savoureux. Aber meinetwegen. Du kennst Dich aus. Gehen wir einen Café nehmen dort?«
»Es gibt einen Intermarché. Dort könnten wir tanken. Aber sie haben kein Café. Ach was. Du hast recht. Ich bin ein Trottel. Ich tanke hier voll, und en centre de Village, in Lauterbourg trinken wir Café. Und essen? Das dürfte dort nicht so günstig sein. Es gibt nur quiche aus der Dose. Oder auch nicht. Jedenfalls schmeckt sie so. Für den deutschen Geschmack. Denn in Lauterbourg gibt es mehr Deutsche als Franzosen. Dementsprechend sind auch die Preise. Nur einen café. Und dann weiter. Wir essen weiter drinnen im Land.«
»Das machen wir, mon Époux, mon Cupidon.«
»Ich dachte immer, dieser griechisch-römische Teufel, dieser sich ständig auf der Jagd nach unschuldigen kleinen Menschen befindliche Kriegergottessohn habe mich angeschossen – und nun soll ich auf einmal er persönlich sein! Und überhaupt – weshalb ist das eigentlich ein Mann?! Sowas Kriegerisches wie Du ist ihm doch sehr viel ähnlicher.«
»Zuvor ist er ein Knabe. Bon. Mais secondaire nenne ich Dich mon Cupido – mein Begehren. Ich bin eine alte Römerin ...«
»Weder noch!«
»Comment?«
»Du bist weder Römerin noch alt.«
»Und Du eine Banause. Ein alter, nicht belehrbar noch hinzu.«
»Das ist mir hinlänglich bekannt. Beides. Ich werde ja immer wieder darauf hingewiesen – von einer armenischen Jungaraberin.«
»Ich bin jedoch in einer griechisch-römischen Civilisation erwachsen! Ich bin nicht afrikanisch verstümmelt. Nicht im Körper und nicht in der Seele. Ich bin eine Frau, die ist in der Civilisation des Eros – grecque – Marseille – l’amour. In der Civilisation romain des Cupidon – Désir. Eros – Amour, pas de erotique de télévision à quatre heures du matin pour lubricité. Niemals ist es das, als was es verkauft wird – nur Körper. Für geile ...«
»Es ist Lust, ja Geilheit. Es gibt, glaube ich, viele Menschen, die nur so – oder das? – fühlen können. Aber Geilheit, reine Lust – kennst Du das nicht?!«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Doch. Non. Oui ...«
»Es ist schon fast grotesk – wir sitzen in einem lärmenden, quietschenden Gefährt auf einer schnurgeraden, überaus langweiligen deutschen Kleinlandstraße und sprechen über Lust und Liebe – und Geilheit.«
»Jedoch es schaukelt sanft, und wir fahren bald in das Land unserer Liebe. – Ich möchte schon antworten. Ich geziere mich nicht. Ich muß jedoch darüber nachdenken, wie es ist mit der geilen Lust.«
»Ich will Dich da nicht bedrängen. Es war ja nichts anderes als eine Randbemerkung von mir.«
»Warum nicht? Du mußt Dich nicht beengen. Es ist ein wichtige Frage. Sie ist gestellt. Warum sollen wir nicht darüber sprechen? Und es ist interessant, was Du gefragt hast.«
»Die Frage nach der reinen Lust, dem nur körperlichen Begehren – ach was, der Geilheit.«
»Oui. Ich kenne es sehr wohl. Aber ich fühle mich dabei wie eine Pflanze, die – warum lachst Du jetzt? Du bist dumm!«
»Erzählst Du mir jetzt die Geschichte von den Bienlein, die die Pflanze bestäuben?«
»Jetzt bist Du klug – und doch nicht freiwillig. Es ist ein gutes Beispiel. Denn ich bin eine Blüte ...«
»Das bist Du, fürwahr.«
»Ist es Dir nicht angenehm, wenn ich so spreche? Macht es Dir Problèmes? Ist das nicht männlich, so darüber zu sprechen? Ich fühle das anders. Avant toute chose – mit einem Bild – wir mögen beide Bilder! – will ich Dir erklären meine Gefühle von Geilheit. Geilheit ist eben eine Begriff aus der Biologie. Er beschreibt genau das, was mit mir ist dabei. Ich bin eine – menschliche – Pflanze. Mir steht mein Saft plus souvant hoch bis über das Herz und im Kopf, als eine kleine Blume, die nur einmal im Jahr darf. Ich will oft. Mais – Attention Monsieur! – ich will immer meine Biene. Sie soll immer zu mir kommen. Sie soll zärtlich ihre Flügel und ihre Körper an meinen streichen, non, streicheln. Sie soll dann, später, mit ihre ganze Körper in meine Vulva gleiten. Denn ich bin dann nur Vulva. Und dann Vagin. Aber ich kann es nicht haben, wenn so eine eklige dicker Brummer kommt und direkt einfliegen will in mich. Dann mache ich alles zu. Ich will das nicht. Dann warte ich. Oder ich hole mir ein schöne Fantaisie in meine Kopf und masturbiere. Es ist nicht so schön wie mit meiner Biene. Aber es geht, so là là. Ich habe das immer so gemacht. Und bis Du angeflogen kamst, hatte ich lange alles abgeschlossen. Und wie Du kamst, habe ich mich geöffnet wie eine ganzes Blütenfeld. Deshalb mein Cupidon – mein Begehren. Compris?«
»Und Du hattest niemals Lust zu – ja, jetzt ist es wohl der treffende Begriff – zu bumsen? Nur zu bumsen.«
»Ich habe es zu Dir gesagt. Ich mag es nicht. Non, es interessiert mich nicht. Meine Körper ist eine Einheit mit meiner Seele. Und die will das nicht. Donc – dann hat der Körper Verbot. Manchmal platze ich fast. Wie bei Dir. Als wir auf die Treppe standen. Dann will ich. Dann könnte ich schreien – ja, es ist dann Geilheit. Aber es gibt nur diese Geilheit. Dann will ich Dich in mir haben. Erst an mir. Und dann in mir. Dann will ich, daß Du mich aufbläst – mit allem, was Du hast. Vielleicht ist das Wort sogar im richtigen Bild hierbei. Und man weiß es nur nicht, wie man nicht weiß, das Erotique von Liebe kommt. Du bläst mich dann auf. Vielleicht ist das die Lust der Frau – aufgeblasen zu werden von dem Mann, diesem Cupidon, den sie liebt. Non. Nicht aufgeblasen. Es ist ja nicht Luft. Aufgefüllt. Aufgefüllt mit allem, was in ihm ist. Myriades von ihm. Von seinem Körper gewordene Liebe. Es ist, glaube ich, nicht nur die Sehnsucht, in den Fruchtstand zu kommen. Die höher entwickelte Pflanze Frau will von ihre ganz persönliche Biene aufgefüllt werden und zeigt ihm immer mit leuchtenden Augen ihren dicken Bauch. Deshalb verstehe ich auch nicht, wie eine Frau nur ein Kind haben will und keine Mann dazu. Es ist mir nicht zu erklären.«
»Es ist offenbar das Verlangen der Pflanze nach der Vermehrung.«
»Doch die niedrig entwickelte Pflanze zieht nicht kleine Pflänzchen groß. Sie zeugt sie – und gibt sie weg. Wir sind höher entwickelte Planzen! Schon Tiere bleiben bei der Mutter. Nicht lange. Doch Frauen müssen ein Leben lang für ihre Kinder sein.«
»Das tun sie ja auch. Jedenfalls in den mir bekannten Fällen. Ich sag mal – meistens.«
»Bon. Ich meine, es ist ein Rückschritt in der Entwicklung der Menschheit, wenn Frauen sagen, sie brauchen keine Mann für die Kinder. Es ist überhaupt abzusehen von der Tatsache, daß es für Kinder schrecklich ist, keine Vater zu haben. Wenn Frauen sagen, sie wollen keine Mann, dann gehen sie auf die Stufe von Tieren. Dabei verschwindet der Mann auch. Bald. Oder – rapide comme l’éclair. Er bleibt nur, bis er dreimal rein und raus ...«
»Geliebte – ich muß Dich unterbrechen in Deinem flammenden Plädoyer für die Liebe und ihren Erhalt für die Menschheit. Wir sind in Lauterbourg an der Grenze. Und unsere lieben Franzosen haben mal wieder zuviel Personal. Sie kontrollieren. Oft kommt es nicht vor hier. Hast Du Deinen Paß? – Ach Scheiße, meiner liegt in der Tasche im Kofferraum. Na ja, warten wir mal ab.«
Ich biege links ein. Verblüfft bin ich schon.
Das letzte Mal hat man mich hier – anderswo, etwa an der spanischen Grenze, kommt es des öfteren vor, wohl, weil das bedrohliche Afrika näher liegt – vor etwa zehn, elf Jahren angehalten. Das war allerdings noch mit der höheren Klasse der Automobilisierung, als meine Voiture wegen der extrem hohen französischen Luxussteuer noch etwa eine gute Millionen Francs kostete. Ein Bekannter hatte mir das später mal vorgerechnet, weil ich doch sehr erstaunt war darüber, ständig angehalten und kontrolliert zu werden. Er meinte, solche Autos würden eben außerhalb von Paris nur von Waffenschiebern oder Drogendealern chauffiert. Man konnte damals noch durch das kleine stadttorähnliche Haus in den Ort hineinfahren. Oder kam zwangsläufig durch, wie man eben irgendwo herauskommt auf der immerwährenden Suche nach Pfaden abseits des Breitgetretenen. Heute ist es abgeschirmt. Seit wann, weiß ich nicht. Ich bin dann immer über den regulären Übergang gefahren, neben dem das Zollhäuschen stand, in dem sich heute ein Blumenladen befindet. Blumiges Schengen-Europa. Ich erinnere mich gut daran – der ältere Uniformierte machte damals diese lässige, sehr knapp gehaltene typische Handbewegung französischer Zöllner oder auch Polizisten, die in der Regel einen sofortigen Halt zur Folge hat. Wenn man Franzose ist. Deutsche mögen so etwas überhaupt nicht. Sie müssen immer ganz locker zeigen, wie wenig Obrigkeit ihnen bedeutet. Alain Finkielkraut meinte, die Deutschen seien höchst problematisch, nicht weil sie Auschwitz verdrängten, sondern weil so permanent daran dächten. Er zitiert Hannah Arendt, die gesagt hat: Auschwitz sei nicht der Gipfel, sondern die Zerstörung der deutschen Tradition. Wegen dieses in jüngster Historie wurzelnden Selbstwertgefühls achten west- oder mittlerweile ja auch gesamtdeutsche Regierungen peinlichst genau darauf, daß bundesrepublikanische Uniformträger aussehen wie billig gekleidete Nachwächter. Doch die zivil gekleidete Bevölkerung führt sich meistens so auf, als ob sie die Schnauze eines Kriegsfeldwebels auf Heimaturlaub aus Polen hätte. Wie meinte Tucholsky wie immer treffsicher: »Der französische Soldat ist ein verkleideter Zivilist, der deutsche Zivilist eine verkleideter Soldat.« Zu Zeiten des real existierenden Sozialismus hat das viele Westdeutsche viel Zeit gekostet. Manchmal auch viel Geld. Strafzeiten und -gebühren für zu weit aufgerissene Klappen in der DDR. Die Berliner kannten das. Deshalb hielten sie sich an die Zeichensprache der Grenzer. Wie der Franzose. Der hält an, wird – in der Regel – freundlich begutachtet. Mit einem kurzen Blick ins Gesicht und in den Fond wird festgestellt, daß es sich um keinen Wirtschaftsimmigranten oder Fluchthelfer handelt. Und dann macht diese Hand die nicht minder typische leichte Vorwärtsbewegung. Und man reist unbehelligt mit sanfter Anfahrt ein. Der zivile Feldwebel wartet eben noch ein Weilchen. Es kommt die knappe Handbewegung. Man hält an. Mein Anhalter wendet sich ab. Der Kollege auf der anderen Seite übernimmt. Aha. Es sitzt eine für das deutsche Kennzeichen doch wohl etwas zu fremdartig aussehende Person auf der Beifahrerseite. Diese Person klappt mit einem freundlichen, aber deutlichen Attention-Pardon das Entenfenster nach oben. Sie wird um die Pässe gebeten. Sie zeigt den ihren. Der Douanier blättert in ihm herum. Er schaut die Ausweisinhaberin an, spricht sie an, dabei auf mich deutend.
»Monsieur Aubertin?«
Meine Dolmetscherin nickt und antwortet höflich auf die Frage, ob ich auch Franzose sei und wo sich mein Paß befände, ohne unangenehme Verzögerung mit »non, allmand« und mit etwas mir nicht verständlichem, das Kofferraum heißen könnte, und ob man ...
»Non. Merci Madame. Bon route.«
Ich fahre französisch zartfühlend an und beschwere mich auf der Stelle.
»Madame, Sie haben mich verleugnet.«
Madame lacht verschmitzt und entgegnet:
»Hätte ich ihm erzählen sollen, daß mein Mann vermutlich sehr wohl Franzose ist, aber seine Passport vielleicht leider in der Trésor von le Office de l’Immigration liegt und er deshalb solange seine Frau mit eine deutsche Numéro d’immatriculation herumfahren muß?«
»Aber sicher doch. Du hättest ihm unsere Geschichte erzählen müssen. Dann säßen wir bis morgen früh in der Gendarmerie von Lauterbourg. Ich habe schon eine sehr kluge Frau. – Aber laß mal. Naziza. Es ist doch wieder typisch. Nur weil jemand nach Frankreich einreisen will, der nicht aussieht wie aus Gallia Lugdunensis oder meinetwegen wie die von Obelix angebetete blauäugige Blondheit. Mich alleine hätten die nicht angehalten.«
»Du glaubst das?«
»Erfahrung. Ich mache diese Beobachtung oft. Egal, an welcher Grenze.
»Aber ich sehe doch wirklich nicht aus wie ...«
»Die sehen zunächst einmal, daß Du anders aussiehst. Die haben zwar den geschulten Blick, aber wahrscheinlich hat er Dir die Marseillaise nicht angesehen, weil er aus dem Elsaß abstammt. Folglich ist das für ihn wahrhaftig nicht sein Land, sondern Afrika.«
»Dieu merci!«
Ich halte zweihundert Meter nach dem Grenzübertritt an. Direkt an der ersten Rechtsbiegung liegt links eine kleine Bäckerei mit Café. Dort nehme ich immer meinen ersten französischen. Er schmeckt zwar nicht wie solcher, sondern eher wie das leicht verlängerte Konzentrat deutscher Kaufhausmusik. Man hat sich angepaßt. Und ich mich auch. Denn ich – oui, cher Léo Ferré, es muß sein! – fühle mich verpflichtet, als ersten Schritt in dieses Land den der Konsumation zu beschreiten. In der anderen Richtung fahre ich in der Regel, soweit die Liter reichen. Aber ich bin der größte Patriot, den dieses Land jemals hatte. Vermutlich will man mir deshalb die dreifarbige Rosette so schnell verpassen. Wenn’s denn überhaupt stimmt. Oder, denk ich – in Blickrichtung meiner bezaubernden Gattin – mal so: Wenn sie mir die Einbürgerung mittlerweile nicht bereits wieder entzogen haben wegen Mißachtung der staats-bürgerlichen Pflicht der Paßabholung. Es ist ja wohl auch noch nicht geklärt. Weiß man’s? Hütern öffentlicher Aufgaben ist solches grundsätzlich zuzutrauen. In jedem Land. Wir finden sofort einen Parkplatz. Eine halbe Stunde früher hätte es ungünstiger ausgesehen. Denn da wuselt in Frankreich nunmal alles herum, um das Baguette zum Mittagessen zu kaufen. Und auch, wenn nur ein paar Meter rückwärts im pfälzischen Wirtshaus die Leute vor ihren putzeimergroßen Biergläsern sitzen – hier ißt man bereits das wunderbare Stangenweißbrot. Es geht mir wie immer – ich atme durch. Was eine solche politische Grenze dann letztlich doch an physischer Befreiung zu verursachen vermag. Ich lehne meinen glücklichen Kopf an die zarte Schulter neben mir. Sie kommt mir augenblicklich entgegen und erweitert sich zu einer sanften Halsbeuge.
»Naziza. Que c’est beau! Chez-nous.«
»Oh! Jemand hat ein Schalter in Deinem Kopf umgelegt – français, tout de suite. – Absolutement! Immer wenn ich zuhause ankomme, muß ich schnell zur Toilette.«
»Wir gehen in das Café dort drüben. Es ist meine premier relais de poste en France. Und wenn Du gepinkelt hast, müssen wir als erstes telephonieren. Du mußt mich kranktelephonieren.«
Sie hüpft lachend aus der Ente, die jetzt wieder Döschwoh heißen darf. Sie springt hinüber ins Café. Ich schließe ab. Aus Gewohnheit. Auch wenn es an diesem Fahrzeug eigentlich nichts abzuschließen gibt. Jarnack, Josef, öffnet es mit dem Fingernagel. Zweihundert Meter weiter nach hinten wird man dennoch bestraft, wenn man nicht abschließt. Noch ein paar Stunden, und ich werde es mir ebenso wieder abgewöhnt haben wie die andauernde Blinkerei beim Spurwechsel. Obwohl sich auch hierbei bereits der preußische Einfluß in Europa bemerkbar macht. Wie beim TÜV. Auch wenn er hier nicht ›Technischer Überwachungs Verein‹ heißt, sondern weitaus eleganter Contrôle technique, so ist es doch dieselbe Tortur für Fahrzeug wie Besitzer. Auf diese Weise hat Frankreich etwa seit 1995 in erheblichem Maße den Verkauf von Neuwagen vorangetrieben. Die offizielle Begründung war die Herstellung der Sicherheit im Straßenverkehr. Jeder konnte seine verrottete Fahrlaube in der Tasche zum Händler tragen und hat, je nach Qualität der den Rost zusammenhaltenden Schrauben, einige hundert bis zu einigen tausend Francs dafür bekommen. Mit dem allerdings unerfreulichen Ergebnis, daß sehr viele Franzosen auf Golf und Mercedes umgestiegen sind. Auf der Îl de Ré habe ich den ersten Mercedes 500 mit Dieselmotor gesehen. Hier wird, wenn es irgend geht, Gazole gefahren. Es ist immer noch weitaus günstiger. Wie lange noch? Und seit Jahren beginnt auch dieser Begriff sich auf die Preistafeln der Tankstellen zurückzuziehen. Auf den Plätzen der Gebrauchtwagenhändler steht alles voll mit den Schildern auf den Autos – Diesel. Was soll’s. Der 2 CV aus Michelsburg und bald aus Marseille fährt ohnehin Super. Sans plomp. Das hat schon so manchen Zeitgenossen in den Unglauben gestoßen. Und keiner dieser vom Glauben Abfallenden denkt daran, daß Aral in den sechziger Jahren mit der Bezeichnung ›Bleifrei‹ geworben hat. Auch nicht die Älteren. Sie lassen sich gerne den aber auch wirklich allerältesten Hut als neueste Kreation verkaufen und tragen ihn wie ein Hagestolz. Ich trotte in Richtung meiner jetzt wohl entleerten Geliebten, die sich vermutlich bereits wieder aufzufüllen begonnen hatte. Vorsichtshalber nahm ich das feine Lederstück mit. Es könnte ja einer vorbeikommen, der wußte, daß man in Frankreich für einen 2 CV nicht einmal eine Nagelfeile benötigte. Außerdem war das portable darin. Und das brauchte sie jetzt. Unbedingt.
»Bonjour«, grüßte ich landsmännisch klar.
»Bonjour Monsieur« lautet freundlich die Entgegnung. Und aus der linken Ecke am Fenster des kleinen Bäckerei-Cafés kam es:
»Tu en a mis du temps! Viens ici! Le café – froid.«
Ich fühle mich sehr geschmeichelt, in meiner Sprache angesprochen zu werden. Also unterlasse ich es tunlichst, irgendetwas zu antworten. Ich will mich nicht sofort als Boche zu erkennen geben. Doch auf Dauer würde es sich wohl nicht vermeiden lassen.
»Ich habe mich mit einer meiner Lieblingsbeschäftigungen beschäftigt. Ich habe ...«
»Gegrübelt.«
»Wie kommst Du denn darauf? Ich habe sinniert.«
»Oh! Mon songeur. – Darüber ist Dein Café kalt geworden.«
»Es ist egal.« Ich senke die Lautstärke noch mehr. »Er schmeckt sowieso nicht. Ich gehe hier ja nur aus ehernen Prinzipien rein.«
»Es ist gut. Ich möchte auch bald weiterfahren. Wie ich gesagt habe – es ist nicht mein Land. Es ist sehr deutsch. Ici surtout.«
Auch Naziza ist zum Flüstern übergegangen.
»Ja, Liebes. Ich möchte auch. Aber vorher mußt Du unbedingt anrufen. Ich habe Schiß, daß ich mir diesen Ast völlig absäge, wenn ich mich nicht bald melde. In diesem Fall – wenn Du Dich nicht bald meldest. Es könnte ja sein, daß ich die nochmal brauche – wenn wir ein paar Francs brauchen. Und das wird wohl bald so sein.«
»Oui. Was soll ich sagen? Wer ist das überhaupt?«
»Wer ist wer?«
»Wo ich anrufen soll.«
»Ach so. Ja. Es ist eine Rundfunkredaktion. Bayerischer Rundfunk. Kultur. Ich habe ein Interview gemacht. An den Südwestrundfunk – zu meinen guten und schönen Zeiten schlicht Südwestfunk, man hat fusioniert, um ein paar Menschen arbeitslos machen zu können – habe ich es gleich mitverkauft. Die teilen sich auch die Spesen – mit der Zeitungsredaktion, der ich es ebenso vertickt – äh, verkauft habe.«
»Ich habe das verstanden – vertickt. Wenn ich mit Dir spreche, kommt vieles wieder zurück. – Cheri. Das ist eine Menge. Soll ich da überall anrufen? Kannst Du es nicht doch machen? Wieviel Geld ist es? Wo ist das Interview?«
»Meine Güte. Ich bin nicht mit einer armenisch-arabischen Zauberprinzessin aus Marseille verheiratet, sondern mit einer mitteleuropäischen Pragmatikerin. Du könntest ebenso gut Pariserin sein. Das ist ja der reinste Horror. Ich will mit Dir in die Liebe fahren! Wann soll ich das denn machen – und wo?«
»Kann ich Dir nicht helfen? Sag. Wieviel ist es?«
»Ungefähr anderthalb Stunden, die auf zwanzig Minuten zusammengedrückt werden müssen. Ja ja, ich hab’s dabei, das Band.«
»Ich meine das Geld. Lohnt es sich?«
»Ach so, das Honorar. Alles zusammen rund dreitausend Mark.«
»Mon Dieu! Das ist viel. Wir können eine gute Monat gut davon leben, Didier. Sehr, sehr gut! Meinst Du nicht, daß es geht?«
»Wo denn?«
»Dann ist es vielleicht gut, wir gehen bald in eine Hôtel mit eine etwas größere Zimmer – weil Du das brauchst. Ich weiß es. Es ist kein Unterschied. Und Du könntest es machen. Was mußt Du machen? Kann ich helfen?«
»Das Problem ist, daß ich es schneiden muß – découper, Montage«
»Oui. Es ist klar. Ich habe es verstanden.«
»Und wo soll ich das machen? Soll ich denen sagen – ich muß es in Frankreich über den Programmaustausch machen, weil ich eigentlich neben meiner Frau im Bett liegen muß?«
»Es geht?«
»Was? Neben meiner Frau liegen. Offenbar nicht. Denn die schmeißt mich gerade raus aus dem Bett – weg von ihrem schönen, warmen, weichen Leib. Ich leide.«
»Oh! Mon Pauvre. Du bekommst dann deux fois plus Naziza. – Serieux. Ist es zu machen? Dreitausend Mark. Mehr als neuntausend, fast zehntausend Francs. Jésus Marie! Ich hab ein Vorschlag.«
»Der wäre? Du Scheusal. Ich will zu Dir und nicht an die Arbeit. Es ist überdies so ein Langweilerkram. Ein Funktionär. Nein. Ich tue ihm Unrecht. Er ist kein Langweiler. Aber es langweilt mich trotzdem. Also was? – Vorschlag.«
»Erst einmal – wo kannst Du es machen?«
»In einem Rundfunkstudio. Ich weiß nicht – Radio France. Irgendwo. Von hier aus wäre das nächste wohl Strasbourg. Ich fahre nicht mehr zurück nach Deutschland. Das sage ich Dir gleich. Ich bin froh, abgeholt zu werden, heim ins Reich gebracht zu werden. Und jetzt werde ich verstoßen. Das ist ja die Hölle mit Dir. Vorher lasse ich mich scheiden.«
Es ist töricht gewesen von mir, das zu sagen. Und so heftig. Ich schaue in ein trauriges Gesicht. Sie hat es ernstgenommen. Ich sollte besser ein bißchen das Wasser halten. Ich sollte auch nicht im Spaß mit dem jonglieren, das gerade erst wieder gerademal einigermaßen glücklich auf dem Boden gelandet ist. Ich bin ein Trottel. Anstatt diesen meinen vierblättrigen Glücksklee behutsam zu gießen. Zumal sie im Grunde ja recht hat. Was macht schon ein Tag aus?! Nur wo? Und wie?
»Liebes. Ich hab das nicht so gemeint. Und ich glaube, Du weißt es.«
Sie weiß es nicht. Sie weint. Mir ist hundeelend. Idiot! Nun sieh zu, wie Du das wieder glattgebügelt kriegst! Wie das Pflänzchen wieder hochkommt.
»Naziza. Ich schwöre hoch und heilig, daß ich nur dummes Zeug geredet habe. Ich käme nicht auf die Idee, so etwas ernsthaft zu denken. Ich will ja selber ...«
»Du willst was?« schnieft es mir entgegen.
»Ich will Dich. Und ich weiß, daß ich so nicht mit Dir umgehen darf. Ich bin dumm. Ich mache alles kaputt. Vor allem hast Du ja, verdammt nochmal, recht, auch wenn ich es nicht wahrhaben will in meiner Realitätsferne. Bitte sei mir wieder gut. Bitte. Ma chère! Ma vie.«
Es scheint etwas geholfen zu haben. Die Tränen befeuchten meinen Hals. Den Rest nehme ich mit meinen Lippen auf. Sie schaut mich erwartungs- und durchaus auch ein bißchen liebevoll an. Aber sie weint mich auch weich. Merde. Ich raffe mich zusammen.
»Also. Dein Vorschlag ist nicht schlecht. Aber man müßte trotzdem sofort anrufen. Denn auch so wäre ich über die Zeit. Ich hätte heute liefern sollen. Ich weiß ja nicht, wann die senden wollen. Wenn’s für heute geplant ist, dann ist es zu spät. Das schaffe ich nicht mehr. Wenn’s aber für morgen oder gar übermorgen sein soll, dann könnte ich morgen liefern. Aber von wo aus? Das müßte auch geklärt werden. Und wenn ich da anrufe ...«
»Mais. Ich kann es tun!«
»Aber was nutzt das? Willst Du sagen, mein Mann liegt im Bett, aber ich als armenische Araberin mache, logisch, die Arbeit für ihn, den Faulsack?«
»Das wäre doch eine gute Möglichkeit der Lüge? Oder nicht?«
»Wie? Ich verstehe nicht.«
»Ich sage, ich mache das. Ich sage ihnen, ich bin auch Journaliste à la radio. Und ich sage, Du bist krank, aber ich mache die Arbeit für Dich. Ich sage, Du hast es fertiggeschrieben. Aber ich muß es noch découper, monter. Aber ich muß es machen hier en France.«
»Meine Güte, bist Du gut. Das hieße ja, die Gefahr wäre nicht so groß , daß die sagen, dann fahr rüber ins Studio nach Offenburg und mach’s da. Wir könnten nach Colmar fahren. Radio France hat da sicher ein Studio. Obwohl. Nee. In dieses schreckliche Kaff will ich nicht. Dann lieber ins europäische Strasbourg.«
»Cheri – wir haben kein Zeit zum Ausgehen. Es gibt ein Sandwich – fin. Es ist complètement pareil, wo wir sind. Es muß ein ordentlich große Zimmer sein. Ich kenne Dich. Man muß sich bewegen können. Es muß ein Schreibtisch vorhanden sein.«
»Deine Überzeugungskraft ist widerlich ...«
Ich bin schon wieder dabei, auf mein Kleeblatt zu latschen. Das heißt, ich bin bereits wieder draufgetreten. Nein. Doch nicht
»Wenn Deine Arbeitskraft ist so énorme wie die Energie des Schimpfens, wirst Du es so schnell fertig haben, daß uns noch Zeit bleibt für mehr als ein Sandwich und Dein doppelt Portion Naziza.«
»Also, écoute, Du doppelte halbe Portion – es gibt in Colmar tatsächlich ein sehr schönes Hotel mit großen Zimmern, das Champ-de-Mars. Dort wäre vermutlich eher was frei als im Unterlinden, das vom Tourismus extrem frequentiert ist. Obwohl – wir haben Mai und nicht Juni oder Juli. Egal. Aber das Champ-de-Mars ist schöner, auch schöner gelegen. Am Platz des Kriegs, na, des Kriegsgottes eben. Da paßt Du gut hin. Weg von dieser Puppenstuben-Altstadt. Fürchterlich. Wie blankgeputzte Lebkuchenhäuser sehen diese Dinger aus. Gesetzt den Fall, Radio France hat dort ein Studio ...«
»Das glaube ich doch sehr wohl.«
»Ich auch. Ist ja ein Touristenzentrum. Und im Hotel hätten sie was frei, dann könnten wir in zwei Stunden dort sein. Und ich könnte das Ding heute abend zusammengeschraubt kriegen. Immer vorausgesetzt, es ist noch nicht zu spät, und Radio France hätte zu gegebener Zeit einen Schneideraum frei.«
»Wie lange wirst Du benötigen, das zu schneiden?«
»Oh, das geht schnell. Der lügt wie gedruckt.«
»Er ist doch nicht Politiker?«
»Nein. Aber sowas ähnliches. Professor. Professor für Ästhetik. Und mit gedruckt meine ich hier – er spricht so, daß man es fast schnittfrei senden kann. Ich muß es eben nur zusammenkürzen. Aber alles abgeschrieben kriege ich das nicht. Obwohl – es wäre vielleicht doch besser, weil es unterm Strich Arbeit einspart und sie erleichtert. Vor allem beim Schneiden. Bin ich froh, daß ich mein fahrbares Büro dabei habe.«
»Didier – Du verdienst gerade unsere erste zehntausend Francs für uns. Weißt Du das? Weißt Du, daß es viel mehr ist als meine Salaire? Und von diese bezahle ich Miete und an Paul. Ich bin sehr froh. Und un peu – wie heißt es? Stolz? Zu Dir.«
»Ach ja. Wunnebar – jetzt hör auf. Allez, Madame. Möchtest Du noch einen Café? Wir müssen einen Schlachtplan entwerfen. Hast Du keinen Hunger, um Himmels willen. Ein Französin, die kein Mittagessen kriegt!«
»Es ist nicht schlimm. Aber eine Café – oui.«
Ich ordere Wasser und Café. Französisch. Es funktioniert. Wie immer. Obwohl man hier wahrlich gut Deutsch versteht und spricht.
»Also. Du rufst in München in der Redaktion an. Ich habe die Nummer hier in meinem Portable. Du kannst das nehmen.«
»Es ist Unsinn. Mit meine ist es viel günstiger. Für Dich ist das ein Ausland! Mais oui!«
»Nun gut. Du rufst in München an und dann in Stuttgart. Was erzählst Du denen?«
»Ich könnte sagen – wie gesagt. Du bist krank, hast es aber vorbereitet, und ich muß es nur – schneiden. Und senden.«
Unsere Getränke sind bereits da.
»Senden mußt Du garnix. Das machen die. Die müssen nur den Programmaustausch vorbereiten. Die Leitung. Die muß bestellt werden. Es muß überspielt werden. Und den Schneideraum. In dem müssen wir’s vorher schneiden.«
»Ich darf mit dorthin?«
»Warum denn nicht? Du bist meine Chefin. – Nein. Quatsch. Du mußt ja sogar. Denn der Schneideraum wird ja für Dich bestellt. Ich darf nebenhertrotteln. Offiziell halt.«
»Oh! Ich freue mich sehr. Ich war noch nie in eine Rundfunk.«
»Dafür mußt Du mich aber mal mitnehmen hinter den Tresen im Office de Tourisme . Ich war da auch noch nie.«
»Ballot! Idiot! «
»Ach, Liebes. Man sieht nichts von den Ätherwellen in die weite Welt. Es ist nur Technik. Sonst nichts.«
»Für Dich vielleicht. Du kennst es.«
»Was sagst Du, was ich habe? Ich liege wohl besser im Krankenhaus. Nicht, daß die mit mir quatschen wollen. Und Du rufst zuerst in München an. Die sind immer am aktualitätsgeilsten. Siehste – schon wieder geil.«
»Ich möchte nicht den Teufel in Versuchung führen.«
»Mit Deiner Geilheit – die zu mir gehört?«
»Oh! Merde. Das kommt später. Ich habe Angst, etwas zu sagen, daß geschehen könnte.«
»Jetzt wirst Du abergläubisch. – Auf geht’s, was sagen wir. Was sagst Du?«
»Du hast ein Bein gebrochen.«
»Das geht nicht. Dann wollen die mich anrufen.«
»In ein Hôpital darf man nicht téléphoner avec Portable.«
»Trotzdem. Das ist mir zu unsicher. Nein. Krankenhaus ist nicht gut. Die sind imstande und rufen dort an. – Ich liege irgendwo im Koma.«
»Ich will das nicht! Ich habe Angst!«
»Und jetzt?«
»Du liegst zuhause in Marseille.«
»Oh weh! Da hören die aber die Nachtigall trapsen.«
»Was meint das?«
»Oh je. Jetzt hast Du mich – etwa: Die hören alle Glocken läuten.«
»Ah! Je sais – Je te vois venir avec tes gros sabots. Bei uns kommt eine große Holzschuh geflogen.«
»Interessant. Bei uns gibt’s sowas Schönes nicht. Ich meine fliegende Holzschuhe.«
»Und bei uns kein Rossignol, die tapst.«
»Merde. Wir brauchen Stunden allein für die Strategie. Das könnte von mir sein.«
»Didier! Du bist vor Tagen zu Deine Frau geflogen und wolltest heute zurück sein, um das zu senden. Aber Du bist krank geworden. Aber Du hast die Arbeit vorbereitet. Und ich bin en route, kann aber erst morgen das machen für Dich. Ist das nicht vielleicht einfach? Und ich muß Dich nicht in ein Hôpital geben. Évident?«
»Sonnenklar. Meine Güte, habe ich so eine kluge Frau überhaupt verdient?«
Ich erhalte einen deutlichen Schubs. »Du sollst Dich nicht lustig machen über Deine Frau!«
»Ich gelobe Besserung. Aber, falls Du das noch nicht gemerkt haben solltest – ich meine das ernst. Du gehst kerzengerade auf das Problem zu. Ich umkurve es.«
»So muß es sein mit Mann und Frau – se compléter.«
»Also, Liebes. Du gehst am besten raus – wie ist das Wetter.«
»Es geht. Es ist nicht kalt.«
»Hier, schreib Dir die Nummer ab. Wenn es mit München klar ist, sprechen wir weiter.«
Die junge, sympathische Bedienung tritt an den Tisch und spricht mich an. Deutsch.
»Pardon, Monsieur. Bitte verzeihen Sie. Ich habe eben unfreiwillig zugehört. Madame muß nicht rausgehen. Sie kann ins Hinterzimmer und dort in Ruhe sprechen.«
Naziza und ich bedanken uns überschwenglich. Das ist enorm. Meine Landsleute sind also auch freundliche Menschen. Wie Franzosen. Naziza schreitet direkt zur Tat. Sie hat mir wirklich gefehlt. Gefehlt? Doch tatsächlich fühle ich mich, als ob ich das alles schon mal gehabt hätte. Nach ein paar Minuten sehe ich sie bereits zurückkomnen. Länger als drei kann’s nicht gedauert haben, vielleicht fünf. Wahrscheinlich ist’s nichts geworden. Oder die sind beim Mittagessen. Sie wird niemanden erreicht haben. Dumm. Jetzt hat Naziza mich heiß gemacht. Es stimmt ja auch – drei Mille ist ein Haufen Geld. Mark. Nicht Francs. Also, mehr als drei Mieten in Marseille. Ach was – fast vier. Na ja. Es könnte ja mit Stuttgart noch klappen. Und mit der Zeitung. Doch das ist mehr Arbeit. Es muß geschrieben werden. Sie steht bei der Bedienung. Wahrscheinlich bedankt sie sich für die Hilfe.
»Paré pour le combat.«
»Wie bitte? Was? Ich glaub’s nicht.«
»Man war sehr freundlich und – ich glaube – auch froh. Man hat bereits gewartet. Man will morgen abend senden. Sie bestellen die Studio. Es gibt eines von Radio France in Colmar. Ein kleines. Sie wissen es. Man hat schön öfter zusammengearbeitet. Und es wäre dort sicher nicht so schlimme Betrieb, sagt er. Es würde sicher gehen. Ich habe ihm meine Nummer gegeben. Sie organisieren es alles und rufen mich an. Und noch etwas – sie erledigen auch Stuttgart.«
»Ach du Scheiße. Du hast das gesagt. Das war nicht gut. Jetzt wickeln die das über den Programmaustausch ab, und ich kriege nur die Hälfte Geld, nur das Sendehonorar.«
»Non, Didier. Ich habe es vorsichtig gemacht. Ich habe – wie sagt man? – vorgefühlt. Er war très, très aimable ...«
»Mit wem hast du gesprochen?«
»Mit eine Mann. Germering.«
»Ah ja. Alles klar. Es war auch seine Nummer. Aber weiter.«
»Er hat sogleich gespürt, was ist. Er hast gesagt, ich solle Dich sehr herzlich grüßen, und es möge Dir bald besser gehen – mon pauvre grand malade –, und er würde das regulieren. Du bekommest selbstverständlich beide Honorar voll. Er hat mit große Achtung von Dir gesprochen.«
»Ach ja. Schön. Wir kennen uns schon ewig. Er hat auch manchmal für mich gearbeitet. Als ich noch ein ordentlich bezahlter, festangestellter Anschaffer war.«
»Es war die Zeit früher? Als Du Éditeur, Rédacteur en Chef warst? Wie ich Dich kenne?«
»Oui, Madame. – Und nun?«
»Ich gehe gleich, das Hôtel téléphoner. Es macht mir Freude. Es ist etwas ganz anderes als dumme Touristes dumm und freundlich anzulächeln.«
»Oh je. So schlimm?«
»Oui.«
»Dann müssen wir das ändern. – Ich gehe eben ans Auto und hole den Hotelführer.«
Ich werde es selber machen. Ich will Naziza nicht als Sekretärin mißbrauchen. Wir können vielleicht andere Arbeiten gemeinsam machen. Nicht solchen Kleinkram. In der von mit bevorzugten Hotelkette spricht man Englisch. Selbst in der kleinsten Hütte. Seit fünfzehn Jahren steige ich bei denen ab. Vor allem in Frankreich. Ich habe mein Kärtchen. Das lege ich auf den Tresen – und schon bin ich drinnen. Keinerlei lästige Formalitäten. Ich hasse das Ausfüllen von irgendwelchen Formularen. Man steckt im Computer, der einen im Nu wieder ausspuckt. Der Datenschutz wird in Frankreich ohnehin etwas lockerer gehandhabt. Es hat also auch Vorteile. Monsieur – your room number is. Das war’s. Bezahlt wird auch mit Kärtchen. Es spielt doch keine Rolle, wer mit einem reich wird. Außerdem gibt es noch ein paar zusätzliche Privilegien. Sie halten einem immer ein Zimmer frei, und wenn sie keines haben, besorgen sie einem ein gleichwertiges in einem anderen Haus. Zum identischen Preis. Und Rabatt gibt’s auch. Wer so viel unterwegs ist wie ich, für den lohnt sich der jährliche Einsatz von knapp dreihundert Mark sogar. – Sie haben ein Zimmer frei. Auch lediglich für eine Nacht erzeugt nie Stirnrunzeln. Und in diesen Häusern wird man nie gefragt, ob man ein Einzel- oder Doppelzimmer wünscht. Sie haben nur Zimmer für Liebende. Oder für Totschlag. Das Bett ist immer breit. Aber es gibt nur eine Decke. Allenfalls, daß man gefragt wird, ob man alleine oder zu mehreren reist. Wegen der Handtücher für die vielen Kinder. Ich freue mich. Es ist ein schönes Hotel. Nicht von außen. Aber innen. Die meisten Mercure in Frankreich stehen neben der Kathedrale und haben eine Tiefgarage. Ein paar neuerer Bauart gibt es, wie das Champ-de-Mars. Doch da schau ich einfach nicht hin. Die Zimmer sind fast immer großzügig bemessen und schlicht-elegant gestaltet. Die Augen werden nicht überanstrengt vom vielen Wegkucken. Ich kehre zu meiner schönen Pragmatikerin zurück.
»Ebenso – paré pour le combat.«
»Pardon? Du hast es gemacht? Français?«
»Du fühlst Dich wohl übergangen? Nein. Die sprechen alle Englisch. Es ist alles klar. Das Zimmer ist reserviert. Bis morgen früh. So ist das, wenn man ordentlich reist.«
»Mais – wir müssen fahren!«
»Ja ja, ich weiß. Also zahlen wir und knattern los. In zwei Stunden sind wir dort. Wenn uns der Feierabendverkehr in Strasbourg nicht aufhält. Da geht es immer ziemlich zu. Sogar auf der Autoroute. Es könnte gehen. Es ist ja erst drei.«
»L’addition, s’il vous plaît!«
Sie kommt sofort. Wir bezahlen. Ach, du mein schöner Franc. Man hat dich abgeschafft. Wohin wird das alles noch führen? Werden wir jetzt alle Deutsch-Europäer? Hinter der systematischen Scham der Deutschen, meinte Finkielkraut, verbirgt sich ein neuer Imperialismus und eine neue Arroganz, weil die Deutschen von den anderen Europäern erwarten, sich so zu verhalten wie sie selbst. Der Verfassungspatriotismus wird zur Exportstrategie. Und ich meine: Am liebsten hätten sie europaweit die Deutsch-Mark eingeführt – den Franzosen ihr Rohmilchkäse und uns die Europa-Mark. Jetzt ist sie ein bißchen schlabbrig geworden, die harte Mark. Ich werde darauf un petit Rouge nehmen. Wir gehen.
»Weißt Du, meine Entzückende, der Vorteil dieser mir aufgenötigten Arbeit ist – wir fahren rasch konzentriert durch den Elsaß mit wenigstens einem etwas südlicheren Ziel. Von Colmar aus sind es noch etwa siebzig Kilometer – und wir sind im Franche-Comté. Richtig in Frankreich. Raus aus dem Elsaß.«
»Sag bitte jetzt Alsace. Versuche jetzt ein wenig Français. Du bist zuhause.«
»Also gut, dann sind wir rapide durch meine Heimat, die so gut zu mir paßt. – Aber das Hotel ist wirklich angenehm. Es sind wenig dieser Albanerkofferträger-Touristen dort, mehr Geschäftsleute wohl.«
»Die letzteren magst auch nicht. Aber was ist Alba-n-er? Albanais?«
»Oui. Oh je. Jetzt krieg ich wieder Haue. Früher sagten wir Türkenkoffer dazu. Nach 1990/95 kam die Albaner-Welle. Alle möglichen Leute, vor allem die Gastronomie, beschäftigten illegal die billigen Arbeitskräfte aus Albanien. Und die waren die neuen Kunden von Aldi. Aber man sagt es allgemein zu Plastikkoffer – zu sac en plastic.
»Warum sagst Du so etwas?!«
»Die Frage ist berechtigt. Aber da habe ich mich wohl an die Kreise angepaßt, die ich eher nicht so mag, zu denen ich jedoch gehöre – sarkastisches Journalistenpack. Aber auch der andere Pöbel nennt sie so.«
»Mon Dieu! Weißt Du noch – als Du vor ein paar hundert Jahre noch als Barbare oder Juif durch die Lande gefahren bist, auf der Suche nach einem Platz für Deine Kopf und Deine Kinder? Ich empfinde das als widerlich.«
»Ja. Wasch mir nur den Kopf. Du hast recht.«
»Dann sage es auch nicht! Ich will das nicht. Nicht, wenn ich dabei bin. Und auch nicht, wenn ich nicht dabei bin. Mit eine solche Mann bin ich nicht verheiratet. Vorhin hast Du Dir noch aufgeregt über die Douanier. Es gilt nicht nur für Deine Frau. Impoli!«
Oh je. Und wie recht sie hat. Ich hätte mit folgenden Pässen an den Asyl-Grenzen abgewiesen werden: sowjetisch, heute also russisch, finnisch, südafrikanisch, bolivianisch. Dort überall sind meine Eltern herumgekurvt. Dort überall hätte ich zur Welt gekommen sein können. Aber da mein Vater die Fesseln der Ehe abgelehnt hat, bin ich aus dem Leib meiner Mutter heraus direkt Deutscher geworden. 1870/71 mußte die französische Rheinarmee bei Metz, dem gallisch-römischen Mediomatricum, kapitulieren. Bis 1918 war es deutsch. Und dann wieder ab 1940. Das deutsche Reich hatte das durch die Annektion von Elsaß-Lothringen beschlossen. Meine Mutter war Deutsche geworden. Zwangsdeutsche. Das hat sie ihnen ein Leben lang nicht verziehen. Wohl deshalb handelte sie später nach der Prämisse des Bayern Herbert Achternbusch: Dieses Land hat mich kaputtgemacht. Jetzt bleibe ich solange hier, bis man es ihm ansieht. Meine ganz persönliche Deutschen-Hasserin hat’s ihnen gezeigt. Nach den langen Jahren im Ausland hat sie sich gerächt und in diesem Land gelebt. Weshalb sie sich allerdings nach der Rückgabe von Lothringen und Elsaß Frankreich 1944/45 nicht schnurstracks wieder französisch gemeldet hatte, sollte mir auf ewig verborgen bleiben. Sie liebte das Rätselhafte. Vor allem ihrem Sohn gegenüber. Kinder müssen ja schließlich nicht alles wissen. Auch, wenn sie schon ein bißchen älter sind. Und hätte sie mit dem Auswurf meiner wenigstens noch ein bißchen gewartet und wäre ins Nachbarland ungezogen, bevor sie sich an meines Vaters Wanderleben beteiligt hat! Am 2. Januar 1946 wurde das Saarland wieder der Grande Nation zugeschlagen. Dann müßte jetzt nicht zur Préfecture in Marseille.
Nun gut. Wir sitzen wieder in unserer Hochzeitskutsche. Noch muß die Calèche des mariés ja deutschnumeriert dahinquietschen – wir werden das rasch ändern. Und fahren gen Süden. Aber erstmal an die Arbeit. Merde. Ich soll ja französisch denken, hat mir meine Gattin befohlen. Wir fahren durch dieses herausgeputzte Kaff kurz hinter der Grenze. Dennoch sieht man überall, daß wir uns in Frankreich befinden. Nicht nur an der Tricolore, die links über dem Eingang der Gendarmerie weht. Ein paar Meter weiter wird es überdeutlich. Nirgendwo sehen Tankstellen vor Supermärkten so trostlos aus wie – überall – in Frankreich. Reine Funktionalität. Doch das Benzin ist dadurch auch nicht billiger. Alleine an diesen schmuddeligen Essence- und Gazolelieferanten erkennt man das Land der Supermärkte sofort. Frankreich war es, das in den fünfziger Jahren den Supermarkt aus den USA importiert und die kleinen Läden in den Städten kaputtgemacht hat. Auch Frankreich hatte seinen Marshall-Plan. Etwa achtzig Prozent der hier geparkten Autos haben deutsche Kennzeichen. Dementsprechend sind auch die Preise in diesem Intermarché. Man fährt ein paar Kilometer, und die bessere Wildpastete in der Dose kostet bereits vierzehn statt zwanzig Francs – im Intermarché. Ich kaufe auf dem Weg ins deutsche Reich hier nur auf den letzten Drücker ein. Wenn ich unterwegs mal wieder vergessen habe, daß auch die Angestellten französischer Supermärkte zum Mittagessen gehen, und gegen fünfzehn Uhr meine letzte französische Station Lauterbourg anfahre, auf daß mir im Land von Dr. Oetker und Hengstenberg Moutarde et Mayonnaise nicht ausgehe. Ein paar Meter weiter kurven wir nach rechts. Dann fahren wir direkt auf das nächste Hinweisschild zu, zum Rond-point. Mittlerweile sieht man diese Kreisverkehrsinseln ja auch überall in deutschen Gefilden. Ein Straßenbauingenieur im äußersten Nordwesten der Bretagne, im Département Finistère hatte sie 1982 erfunden. In Quimper hatte er gleich fünfunddreißig Kreuzungen zum fließen gebracht. Daraufhin hat Paris befohlen, ganz Frankreich rund zu machen. Mittlerweile ist man wohl auch bundesrepublikanisch auf diese Lösung gekommen, wie praktisch es ist, noch einmal herumkurven zu können, wenn man sich verfahren hat. Oder drinnenzubleiben, weil der Unerfahrene nicht mehr herauskommt, weil er sich nach innen hat drängen lassen, etwa am abendlichen Arc de Triomphe oder an der place d'Italie zu den heures d'affluence. Und bald wird wohl auch die deutsche Polizei begriffen haben, daß dies der ideale Knotenpunkt für Verkehrskontrollen ist. Ich fürchte nur, daß die deutschen Hüter der Ordnung trotzdem wieder Straßensperren errichten werden und nicht mit einem solchen kleinen blauen Kastenwagen auskommen, wie die Gendarmerie ihn benutzt.
»Madame – wir sind am Wendekreis des Lebens angekommen. Nehmen wir gleich die Autoroute, um schneller vers sud zu gelangen?«
»Oh! Mon Chauffeur ist wieder zu sich gekommen. Warst Du schon wieder auf Gedankenreise? Ich wollte Dich nicht wecken. – Oui. Autoroute. Weg hier. Auf die Autoroute sieht man nicht so schlimm dieses Caractéristique de Alsace.«
»Du bist ja schlimmer als ich. – Gut. Ab durch die Mitte. Wenn wir, die RN 68, die Route Nationale fahren ...«
»Meinst Du, einer Französin erklären zu müssen, was RN bedeutet?«
»Ach, Scheiße, pardon, Merde, ja. Also, wir müssen wir durch jedes Kaff. Außerdem ist die Autoroute bis hinter Strasbourg kostenlos. Was mir aber auch wurscht wäre.«
»Du hast gut sprechen. Du verdienst ja heute noch zehntausend Francs.«
Kaum sind wir auf der Strecke, tauchen diese Schilder schon wieder auf: Allemagne. Rhin. Und so weiter. Ich will hier endlich weg. Bei Rhin fällt mir dieser Franzose ein, der so Kluges geschrieben hat ...
»Naziza.«
»Oui.«
Du bist doch die Gebildete von uns beiden ...«
»Du redest dumm.«
»Ich bin dumm, und Du weißt vieles. Zum Beispiel, wer Monsieur Desbarolles war.«
»Non. Es sagt mir nichts. Du willst mich auf die Probe stellen. Wer soll es sein? Wer ist es?«
»Irgendein Schriftsteller. Ich habe ein Buch von ihm mal irgendwo aus einem Antiquariat gezogen. Ich weiß nicht mehr wo. Es kann sein – ach, ist ja egal. Das Buch hat den Titel Le caractére allemand. Deshalb habe ich es gekauft.«
»Das ist logique. Du mußt ja wissen, wer Du bist – oh pardon, wer Du warst.«
»Ich komme deshalb darauf, weil er sich köstlich über den Rhein geäußert hat. Passagen davon habe ich übersetzt. Ein äußerst langwieriges Geschäft. Ich versuche mal, es einigermaßen zusammenzukriegen. Er hat geschrieben, die Ufer des Rheins seien ohne jeden Zweifel schön. Aber ohne die romanischen, gotischen oder mittelalterlichen Städte fehlte ihnen eben etwas. Die Ufer der Loire und der Seine trügen ihre Fluten auf majestätische und authentische Weise zum Meer, während ihr sich Rivale dort wirr im Sand verirrt oder verliert, wo er nützlich und seine Schiffe zur Mündung tragen könnte. Darin sei er ein treues Emblem des deutschen Volkes – das seine Stimme erhebt und donnert und sich majestätisch gibt, aber am Ende seiner langen Sätze und Perioden nie zu einem konkreten Gedanken kommt. Ist das nicht herrlich?!«
»Deine langen Sätze?«
»Jetzt bin ich beleidigt. Aber wie! Da mache ich mir die Mühe, gebe mir alle Mühe – und dann das.«
»Oh! Grand Dieu! Was habe ich getan?! Ist es so schlimm? Non, Cheri. Du weißt, daß ich das so nicht gemeint habe. Und diese Sätze waren auch nicht – so – schlimm.«
»Es ist nicht zu fassen. Anstatt daß diese Frau sich bei mir entschuldigt für ihre Ungeheuerlichkeiten, ihre Respektlosigkeiten, legt sie noch einen nach.«
»Respect? Muß ich Respect haben? – Oui. Ich habe Respect. C’est énorme. Du hast es übersetzt. Auch – es ist tatsächlich schön. Gibt es noch mehr als das von – wie heißt er?«
»Desbarolles. Den Vornamen kenne ich nicht. Er ist abgekürzt. Ad.«
»Présumé Adolphe.«
„Ja, es ist wohl so. Vermutlich Adolphe Desbarolles. Irgendein Reiseschriftsteller. Ich habe, wie gesagt, nur einen Teil übersetzt.«
»Aus welche Zeit ist es?«
»So Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Er hat zur Entstehung der langen Sätze und Perioden noch ein schöne Begründung geliefert.«
»Welche ist es?«
»Die im Land, also Deutschland, von der Elite entwickelte Dichtung unterläge weder der Lieblichkeit des Klimas, der Schönheit der Horizonte oder dem Schauspiel des Meeres. Es sei der häufige Regen, die Härte des Winters, der Nebel, die zur Unschärfe des Denkens führe. Vielleicht noch die nervöse Hitze des Ofens, die Tabakschwaden in den Gasthöfen oder die Wirkung des Bieres. Wenn er Recht hat, dann hat er recht.«
»Er war, glaube ich, ein sehr guter Observateur des deutschen Himmels. Wo ist das Buch?«
»Na, wo wird es sein? Noch in keiner Bücherkiste.«
»Es würde mich sehr interessieren.«
»Ich werde daran denken. Es liegt in meiner Franzosenabteilung. Und die ist groß. Wir dürfen’s es eben nicht vergessen. – Vor allem aber meine ich, daß es keine leichtfertige Meinung ist. Lassen wir mal den Rhein beiseite. Es ist natürlich alles eine Frage der Perspektive. Diejenigen, die ihren Rhein lieben, werden ihm natürlich widersprechen. Ich aber bin auf seiner Seite. Eben auf dieser Seite des Rheins. So etwas schönes wie die Loire oder die Seine gibt es in Deutschland nicht – aus meiner Perspektive eben. Wie diese Flüsse – noch weit vor der Passage, von der Desbarolles schreibt – heiter dahinschaukeln, die sanften, leichten Ufer – meine Güte, das kann nicht einmal ein Kernkraftwerk zerstören. Das mag jetzt arg beschönigend sein. Aber ich empfinde das so. Und die von ihm beschriebenen Mündungen von Loire und Seine. Sie sind von einer solch unglaublichen Schönheit – da kann der Rhein nun wirklich nicht mithalten.
»Ich weiß es nicht. Ich kenne beides nicht. Auch nicht le Rhin.«
»Wir fahren hin. Nicht zum Rhein. Du mußt es gesehen haben. Es ist wirklich zu schön. Mir geht da wirklich das Herz auf. Ob hinter Nantes die Loire oder die Seine bei Honfleur oder Le Havre – es ist ein Traum. Ein bißchen voll ist's manchmal. Von Parisern. Aber es ist – fast! – so schön wie zuhause. Der Atlantik ist wunderschön. Wir machen das, Naziza.«
»Es wäre wunderbar. Oh! Mit dir dorthin fahren. Alles mit die 2 CV?«
»Klar. Womit denn sonst? Ich fahre mit nichts anderem mehr ans Meer. Nach La Rochelle zu Francopholie müssen wir auch damit.«
»Fou.«
»Richtig. Narretei. So weit so gut. Ich Narr eben. Ich möchte nochmal zu Desbarolles. Was er schreibt über den Einfluß des Klimas auf die Literatur. Das ist schon bemerkenswert. Das ist mir schon sehr oft zu Gedanken gekommen. Noch bevor ich ihn gelesen hatte. Na ja, anderen natürlich auch. Es gibt ja keinen Neuschnee, wie Tucholsky uns gelehrt hat. Es ist alles schon einmal dagewesen, alles schon einmal gedacht worden.«
»Und wo ist dieses Buch?«
»Jedenfalls nicht in der Franzosenabteilung. Aber nicht weit weg. Er hat ja sehr viel über France geschrieben. Ich habe das Gesamtwerk. Meine Güte – wir werden gleich einen Camion bestellen können. Aber wir werden wohl erstmal schauen, wie sich das anläßt mit l’Estaque.«
»Oh – merde. Ich habe Paul vergessen. Ich muß ihn sofort anrufen. Ich habe es ihm versprochen. Aber es geht. Es ist noch nicht zu spät.«
»Was ist so wichtig, an das ich Dich unfreiwillig erinnert habe?«
»Du bist genial, Didier. Das nenne ich Intiution. Ich habe ihm versprochen, zu sagen genau, wann wir kommen. Überhaupt, ob es alles klappt. Er will es wissen.«
»Na gut. Dann ruf ihn an. – Mir fällt gerade ein – ich sehe da dieses wacklige Alcatel. Ich habe noch ein Nokia und ein Ericson. Willst Du eines haben?«
»Was machst Du mit soviel von diese Téléphones? Wozu ist das gut? Kaufst Du immer neueste?«
»So wird es wohl sein. Konsumrausch. Frustrationsausgleich.«
»Du bist terrible. Aber wenn es schon da ist – ich nehme es gerne. Dieses hier ist wirklich billiger Dreck. Man hat auch keine gute Empfang und Sendung. – Bien. Ich rufe ihn an.«
Sie spricht mit ihm. Soweit ich es verstehe, kündigt sie unser baldiges Kommen an. Wann – das kann ich diesem zwar wunderschön klingenden, aber sich einen ohnehin Unterbelichteten wie mich auf Distanz haltenden Patois nicht entnehmen. Ob ich das überhaupt je verstehen werde?! Ich werde immerfort meine Frau als Dolmetscherin dabei haben müssen.
»Bon. Ich habe ihm gesagt – irgendwann innerhalb der nächste drei Tage. Wir können directement hinein. Heute am Nachmittag werden sie das Ameublement abholen. Oh! Es ist herrlich. Ich freue mich. Und was großartig ist – Paul gibt morgen die Peintre hinein.«
»Wie bitte – die Maler? Donnerwetter. Der ist aber von der schnellen Truppe.«
»Er hat gesagt, er will es uns schön machen. Eine schöne Empfang. Ist er nicht wunderbar? Er schenkt es uns zu unsere Jour du mariage.«
Meine Rührung wird schrill unterbrochen. Mein Telephon klingelt. Es ist Isaac. Sie erzählt mir, ein Bekannter führe nach Marseille. Es ist Pépin. Unser Modellfranzose aus dem Dauphiné. Aber seit Jahren in deutschen Landen. Eine Film- und Musikproduktion am Meer, in Marseille. Wo sonst? Sie hat ihn gefragt, ob er einen oder zwei Kartons mitnehmen würde für uns. Selbstverständlich würde er das tun. Er freue sich, mich zu sehen.
»Halt!« – stoppe ich ihren Redefluß. »Du kannst ihm gleich den Laster vollkippen. Wir können direkt in die Wohnung. Wann fährt Pépin?«
»Am Freitag.«
»Das ist ja irgendwie nicht auszuhalten mit diesen Zufällen. Höchst seltsam.«
»Schicksal, mein Guter. Wir haben‘s ja nun wirklich bewiesen gekriegt.«
»Ach. Unsinn. – Also, wir fahren jetzt nach Colmar. Naziza hat mich überredet, noch ein bißchen hart zu arbeiten ...«
»Was? Zu arbeiten? Sie hat Dich zur Arbeit angehalten? Die Frau ist vielleicht gut. Alle Achtung!«
»Ach – Du blöde Kuh. Als ob mir Arbeit je was ausgemacht hätte.«
»Na ja.«
»Es ist nicht zu fassen. Also – ich mache das Interview fertig ...«
»Mit unserm ästhetikwürdentragenden Oberpastor«
»Oui. Madame. Morgen wird in Colmar bei Radio France geschnitten. Naziza macht das. Ich liege halbtot in Marseille im Bett.«
»Ich lach mich kringelig.«
»Ich mich auch. Und die sich neben mir biegende Naziza offenbar auch. Aber ich muß arbeiten, ich arme Sau. Also gut. Morgen früh – oder Mittag – ich weiß noch nicht, wann, wird geschnitten. Germering kümmert sich um alles und ruft meine Vertreterin an.«
»Ach, ist der süß!«
»Ja, er hat sich offensichtlich wirklich gut verhalten Naziza gegenüber. Ich rechne es ihm hoch an. Und wir haben drei Mieten im Kasten.«
»Das kann nur Deine Frau gewesen sein. Du kommst auf sowas nicht!«
»Völlig richtig erkannt. Ich brauch ja immer ‘n Kindermädchen oder‘n Antreiber. Du weißt es ja so gut. Daß Du es bist, der man immer in den Hintern oder auf die Füße treten muß, das vergißt Du geflissentlich. Also, nochmal – ich mach das heute abend im Hotel fertig. Morgen wird‘s geschnitten. Dann saußen wir weiter. Aber nicht durch. Das ist mir zu weit.«
»Cheri – peut-être?«
»Was vielleicht?«
»Vielleicht ja doch«, kommt es aus dem Ohrhörer. Isaac hat über das an meinem Kinn hängende Mikrophon mitgehört. »Jetzt habt ihr ja wirklich was zu tun.«
»Ich will nicht wie ein Verrückter durch die Gegend reiten. Mensch, das ist ‘ne Ente und kein Daimler! Aber das soll nicht Deine Sorge sein. Wir klären das schon ab. Aber am Freitag sind wir auf jeden Fall unten. Laß Dir mal die Nummer von Naziza geben.«
»Die hab ich.«
»Gut. Es kann sein, daß ich mich vorsichtshalber ausklinke aus dem Telephonverkehr. Ich mach das Interview noch. Und dann will ich mich um mein junges Glück kümmern. Kaum biste verheiratet, geht die Hektik los. Das ist ja widerwärtig. Also – wir werden sehen. Willst Du mit Naziza sprechen? Trotzdem vielen Dank für alles. Das will ich nicht vergessen haben.«
Ich löse den Hörer aus meinem Ohr und reiche ihn Naziza. Es ist zwar kein Patois de Marseille. Aber ich verstehe bei dieser Geschwindigkeit des Redens kaum etwas. Ich ergebe mich meinem Schicksal. Doch das Gespräch ist schnell beendet.
»Serieux – Cheri. Ich habe eine große Lust, etwas zu tun.«
»Mit Dir immer.«
»Ah – mon Vache folle. Es ist ein wenig mehr profane. Aber es gehört zu dem, was wir tun möchten. Es ist quasi eine Vorstufe zu unsere Lust. Ein préliminaire matériel.«
»Jetzt bin ich aber sehr gespannt. Spürst Du, wie mein Körper sich strafft.«
»Aber jetzt bekomme ich gleich ein wenig Ärger. Ich – Zerstörerin von Deine Lust.« Sie schaut mich schon sehr schräg von der Seite an. »Ich will Dein Geld, das Du mußt verdienen, ausgeben. Zu einem Teil. Deshalb möchte ich schnell zurück. Bekomme ich jetzt Prügel?«
»Einigermaßen verblüfft bin ich schon. Dem kann ich nicht entweichen. Und wofür willst Du mein Kärrnergeld rausschmeißen?«
»Dafür, daß Du gut neben Deine Domestique d’amour liegen kannst. Auch darunter. Oder darauf.«
»Ich höre wohl nicht recht? Oder besser – ich verstehe Bahnhof.«
»Ich möchte ein Bett kaufen. Es ist das wichtigste für unser Leben. Meines an die Lenche ist nicht gut. Kaputt und alt.«
Jetzt kriege ich mich nicht mehr ein. Es dauert lange, bis ich wieder einigermaßen in der Lage bin, den extrem windempfindlichen 2 CV geradeaus zu halten. Nur, daß der Sturm dieses Mal von innen kommt. Es ist mein Lachorkan. Ich wußte nicht, daß ich so laut lachen kann. Aber vielleicht habe ich das ja lediglich vergessen.
»Ein Bett. Ich faß es nicht. Doch es ist ein Grund. Fürwahr. Meine Güte – diese Pragmatikerin! An wen bin ich da geraten?«
»Ich denke an unser Wohl der Körper und der Seelen.«
Sie grinst wieder wie ein junges Mädchen. Sie ist offenbar erleichtert über meine Reaktion. Ist aber auch ein starkes Stück, einfach als erstes mein Geld auszugeben. Aber sie hat, mal wieder, recht. Wenn das Bett nichts taugt, muß ein anständiges her. Ich habe ausreichend unter meiner langanhaltenden poststudentischen Matratzenschlaferei gelitten. Bis ich begriffen habe, woran mein permanentes Unausgeruhtsein lag. Ein bißchen bin ich allerdings auch von anderen befeuert worden, es endlich zu tun – mir ein gutes Bett zu kaufen.
»Meinetwegen. Du Pragmatikerin. Es ist im Grunde genommen richtig so ...«
»Mon amour – es ist das Wichtigste. Und ich möchte, daß es als erstes in dem Apartement steht. Als allererstes. Vor Büchern. Deshalb möchte ich nach Hause. Mit Dir eine Bett kaufen. C’est bien?«
»Ja. Es ist gut. Aber müssen wir deshalb durchbrettern – sozusagen durchbettern? Einmal möchte ich schon noch auf einem anderen Brett übernachten. Ich wollte mit Dir über Lyon und dann an der Rhône entlangfahren. Es ist verdammt weit von Colmar bis nach Marseille!«
»Wir können abwechseln.«
»Das ist nicht so sehr das Problem. Es ist auch als Beifahrer anstrengend.«
»Bitte – Cheri.«
»Also gut. Heute abend erstmal die Arbeit. Dann morgen die Arbeit – weshalb ruft der eigentlich nicht an? Nicht, daß irgendwas nicht klappt, und ich habe die Arbeit umsonst gemacht.«
»Er ruft bestimmt an. Ich habe ein gutes Gefühl.«
»Bon, Naziza. Aber erst die Arbeit. Morgen sehen wir weiter. Es wird schwer für mich. Denn ich bin nicht der Frischeste heute abend. Das bin ich schon jetzt nicht mehr. Ich bin es auch nicht mehr gewohnt, am Abend zu arbeiten. Da ist mein Hirn meistens leer.«
»Es wird gehen. Ich helfe Dir.«
»Wie willst Du mir denn dabei helfen?«
»Kann ich nicht schreiben?«
»Das bringt überhaupt nichts. Es hält eher auf. Es wäre auch ziemlich mühsam für Dich. Er spricht zwar gut, aber er verschleift die Sprache auch oft sehr. Ich muß das schon selber machen. Vielleicht mache ich ein Nickerchen vorher.«
»Dann singe ich Dir ein Wiegenlied.«
»Womit?«
»Mit dem Mund.«
»Du sagst doch immer, Du kannst nicht singen.«
»Ich habe meine Art, mit dem Mund zu singen. Und an diesem Mund ist ein ganze Resonancekörper.«
»Du bist lieb. Meine Elfe.«
»Wenn ich Dich besinge, bin ich keine Elfe. Dann bin ich Wirklichkeit. Und auch keine Elfe. Eher eine Nymphe. Ich bin zwar Germanistin, aber keine Figur der Germanen.«
»Stimmt ja. Du bist Calypso.«
»Du sollst nicht von Carambolages träumen sondern von mir! Chant! Troubadour! Auch wenn ich keine Locken wie von Laura Dir hinunterwerfen kann von die Balustrade.«
»Du bist trotzdem meine Laura.«
»Auch wenn ich nicht blond bin?!«
»Laura ist ein Synonym. Auch wenn unser großer Dichter damals tatsächlich ein Blondfräulein besungen hat. Oder ein goldgelocktes Fräulein mit Alabasterhaut, aber dunklen Augen.«
»Blonde. Es ist correct:
ma poi ch'Amor di me vi fece accorta,
fuor i biondi capelli allor velati ...«
»Das geht zu weit. Nun auch noch italienisch! Wahrscheinlich noch Ur-Italienisch. Oder Renaissance-Italienisch. Als ob das Französische nicht schon Last genug wäre!«
»... Doch als Euch Amor mich gewahren machte
verschleiert wurden da die blonden Ranken ...«
»So kommen wir Dir ja kaum näher. Nun denn. Es ist ja bis heute nicht geklärt, ob sie wirklich gelebt hat. Wurscht. Die geträumte Wirklichkeit ist ja viel schöner, zum Beispiel an der Stelle, wo er sie la fera bella nennt, schönes, wildes Tier. Wie Du eben ...«
»Canzon, tu non m'acqueti, anzi m'infiammi ...«
»Verflucht!«
»Du kühlst mich nicht, Canzone, du entflammst mich.«
»Uff! Fürwahr. Donnerwetter. Was Du alles weißt. Doch lenk' mich nicht dauernd ab mit Deinen Verführungs-versen.«
»Talor m'assale in mezzo a'tristi pianti
un dubbio: Come posson queste membra
da la spirito lor viver lontante?
Ma rispondemie Amor: Non ti rimembra
che questo è privilegio degli amanti,
sciolti da tutte qualitati humane?«
»Merde! Ich kann das doch ...«
»In diesem Fall es muß heißen: merda – allora:
Zuweilen stürmt im Weinen den Betrübten
ein Zweifel: wie denn können diese Glieder
so weit von ihrem Geist geschieden leben?
Entsinnst du dich, tönt Amors Stimme wider
daß dies das Privilieg ist der Verliebten,
die sich menschlicher Eigenschaft entheben.‹
Vergiß nicht, daß es nicht nur Verse der Liebe sind! Es ist nicht weniger ein Document de l'époque! Viele schlechte Interprètes oder Épigones haben aus Petrarca einen reinen Trobadour gemacht. Er war es nicht. Nicht nur Sentiment! Er war auch ein Historien. Écoute:
Die Frauen weinend; und das Volk ohn Waffen,
von zarter Jugend bis zu müden Alten
– hier ist es Hannibal –
– selbst Hannibal entschlüge sich des Spottes ...
Schenkst du nur einen Blick dem Hause Gottes,
das heute gänzlich brennt, dann wird dir Kunde:
damit der Wunsch gesunde,
genügt es, Funken nur des Brandes, der tobte,
zu löschen, was man noch im Himmel lobte.«
»Ja. Ich weiß es ja. Merde! Von mir aus auch merda ...«
»Und mit dem dritten trinket Sud von Kräutern,
abführend Herzens- und Gedankenschwere:
am Anfang bitter, aber süß des weitern.«
»Jetzt reicht's!
»Möchtest Du nicht es auch italienisch ...«
»Verdammt! Ich will jetzt ...«...«
»Du Cyrano de Bergerac. E io da parte mia: Voi ch'ascoltate in rime sparse il suono ...«
»Also bitte. Sehr darf ich bitten! Jetzt will ich's aber wenigstens noch auf Deutsch.«
»Die in verstreuten Reimen ihr das Beben ...«
»Donnerwetter. Dagegen ist Cyrano wahrlich 'n Schmachtfetzen. Ich glaub, ich wechsle das Fach. Also – jetzt zu einer rothaarigen Italienerin, und aus ist's mit der Literaturgeschichte. Der ausländischen. Ich sollte mal in einem Museum eine seinerzeit mir persönlich nicht bekannte Autorin treffen, eine Italienerin eben. Wie wir uns erkennen sollten? Ohne die berühmt-dämliche Rose im Knopfloch. Es war zwar ein blind date, aber ohne Liebe.«
»Ich will das hoffen!«
»Es ging um schnöde Arbeit. Also lauteten einhellig unsere Fragen – wie erkennen? Als wir bei ihrem Äußeren angelangt waren, sagte sie, ich solle einfach an Venetien denken. An Tizian. Aber ich kann doch nicht an Kunst denken, wenn ich bei Frauen bin. Und wenn ich an Italien denke, fällt mir nichts anderes ein als – dunkle Haare. Ich denke bei Italien eben nicht an blond! Gefärbt. Laura eben. Meine Laura ist eben schwarzhaarig. Es sei denn, Rai Uno drängt sich dazwischen. Dann drängen sich dunkle Strähnen zwischen die Einfärbung. Aber diese Autorin, eine junge habilitierte Kulturwissenschaftlerin, das war mir klar, war eher nicht vom Typ Rai Uno. Also mußte sie schwarzhaarig sein. Klar. Und dann steht eine relativ große Frau vor mir und spricht mich freundlich lächelnd, charmant und gewandt an. Sie hat flammend rotes Haar. Eine sehr andere Art von Laura.«
»Ich habe jedoch schwarze Haare, Monsieur! Und man sagt, ich sei unter den Oliven ...««
»Gut, meine Laura.«
»Ich heiße nicht Laura. Mein Name ist ...«
»Naziza. Siehst Du – so kratzbürstig und widerborstig würde diese feine petrarcasche Laura sich sicherlich niemals verhalten. Hier werden Gene zu Hyänen.«
»Eben hast Du mich noch Deine Gazelle genannt. Und nun bin ich ein Hyène.«
»Du bist eine, wie der Bayer sagt, Zuwiderwurz‘n.«
»So etwas Komisches bin ich? Und es ist hübscher als Hyène.«
»Wenn Du wüßtest, was das genau ist, würdest Du zum reißenden Monster. Zum Beispiel ein von Jahrzehnten einer schrecklichen Ehe in den Geifer getriebene Frau kann eine Zuwiderwurz‘n sein.«
»Ich bin in eine Ehefrau hineingetrieben. Oui. Mais – in Geifer? Es ist – Écumer de rage?«
»Das ist es wohl. Geifer – nicht der Schaum des Meeres, meine Schaumgeborene, sondern Schaum vorm Maul.«
»Das soll ich sein?«
»Nein. Bist Du eben nicht. Du bist meine Laur ...«
Nun hilft ein gewaltiger Rempler meinem Erinnerungsvermögen auf. Der Rempler und das Erinnerungsvermögen werden sofort wieder getilgt – mit einem Hauch auf die Wange. Er wird direkt in die Ganglien geschossen. Er löst schlagartig einen heftiges Frühlingsgetöse aus. Er ist vermutlich das, was richtigerweise als Erotik zu bezeichnen wäre. Es ist das hingehauchte Bild einer winzigen Passage in diesem Wellental an Chiffon, mit der Vorstellung, eintauchen zu dürfen. Es ist wahrscheinlich das Hirnkino von – unbescheiden, wie ich nunmal bin, aber ich bin ja schließlich von anderen so tituliert worden, nenne ich mich also eben mal so – Odysseus – und seiner Calypso:
»... Sonne versank und Dämmerung nahte.
Nunmehr erhoben sie sich in ihrer geräumigen Grotte;
Pflegten dann freudig vereint im Winkel gemeinsam der Liebe.«
»Mon Dieu! Didier!«
»So ähnlich drückte sich meine Mutter auch aus angesichts meiner. Als es ihr, als ich ihr kam. Es war allerdings nicht in Calypsos Grotte.«
»Complét cinglé. Ich meine Homer.«
»Der war ja sowas ähnliches. Wie ich. Na ja. – Der großartige Lügenbold Homer braucht eben nur einen Hauch, den er seiner – meiner! – Calypso zwischen die Lippen legt, und die ihn mir – ach.« Ich nehme in Empfang. Ich zerre mich vom Schwelgesattel runter. »Eben hast Du gerade nachhaltig bewiesen, was ich mit Schönheit meine, mit Deiner Schönheit.«
»Womit?«
»Mit diesem herrlichen, weichen, warmen Lüftchen, das tief aus Dir kam. Vermutlich aus Deiner zarten Seele.«
»Es gehört zu mir. Non. Zu Dir. Es gehört Dir. Es ist meine Liebe.«
»Es ist nicht alleine die Liebe ...«
»Du zweifelst an meine Liebe?!«
»Oh nein. Naziza. Du willst nicht, daß ich Dir das erkläre.«
»Du hast recht. Ich bin dumm. Bon alors! Ich höre Dir zu.«
»Du bist es. Allein Du. Es ist Dein Inneres, was aus diesem von Genen geformten Gesicht, den ganzen Körper in das umwandelt, das von Dir vorhanden ist. Dein Denken, Dein Bemühen um Toleranz, Dein Bemühen um Menschlichkeit, Deine Zartheit, Deine Zärtlichkeit – so, wie ich Dich einschätze, was ich bislang an Möglichkeiten dazu hatte ...«
»Was heißt das? Bisher an Möglichkeiten? Was soll es bedeuten? Du kennst mich seit juillet 1998!«
»Das halte ich nun doch für leicht übertrieben, meine Liebe. Und das hatten wir doch gerade.«
»Oui. Pardon.«
»Gesetzt den Fall, mein Kopf gibt mir einen Teil meiner Erinnerung zurück – und es hat ja den Anschein –, dann ließe sich aber immer noch nicht behaupten, ich kenne Dich seit drei oder vier Jahren. Ein paar Jahre war der Seefahrer doch offenbar unterwegs. Sein Schiff mag er ja Calypso genannt haben. Aber die zum Namen gehörende Dame war ja wohl eher nicht dabei. Findest Du nicht, daß Du da ein wenig übertreibst?«
»Je vous prie de m’excuser, Monsieur. Sie haben ein wenig recht. Malheureusement.«
»Angenommen. Also, all das Genannte hat Dich schön gemacht. Auch Dein eigenes, über lange Zeit herangewachsenes, herangereiftes Ästhetikempfinden hat diese Schönheit geschaffen. Wie ich Dir schonmal sagte – die Bewegungen Deines Körpers sind deshalb für mich ein lustvoller Anblick – und ich meine damit jetzt eben nicht allein die Lust der körperlichen Begierde –, weil sie der Harmonie entsprechen, die in Dir ist und sich eben draußen zeigt. Dein Gesicht erzählt, ohne daß Du ein Wort sagst. Das meine ich mit Schönheit.«
»Also könnte ich auch häßlich sein – und wäre schön.«
»Puh. Jetzt treibst Du mich in die Enge. Meinen Worten nach schon. Da taucht wieder das Problem des Unterschieds zwischen Theorie und Praxis auf. Grundsätzlich ist es richtig. Ich stelle immer wieder fest, daß ich eine Frau als weitaus schöner – oder würde man jetzt sagen: hübscher? egal – empfinde als eine andere, obwohl letztere mehr dem allgemeinen Schönheitsideal entspricht. Aber sie bewegt sich wie eine – nein, ich wollte den Kühen ja nicht unrecht tun. Unsere erste ist schlicht, ja, das trifft es am ehesten – anmutiger in ihrer Schlichtheit. Sie ist echt. Solches prägt auch Geschmack. Möglicherweise ist er ihr ja immanent?! Diese Frau benötigt in der Regel auch keine Anleitungen für Einkäufe von, ja, was? – Kleidung.«
»Ouf! Ist das nicht ein wenig übertrieben, was Du sagst?«
»Es entspricht meinen Beobachtungen und Erkenntnissen. – Mir fällt ein Beispiel ein. Es könnte eine Marotte sein. Aber dann pflege ich sie gerne, weil sie mich selten in die Irre geführt hat. Es ist einfach schön, meistens recht zu haben. Vor allem, wenn's nach selbsterkannten Richtlinien geht. Irgendwann habe ich festgestellt – Du kennst ja die oft gestellte Frage an Männer: Wohin geht Ihr Blick zuerst? Ich habe festgestellt, daß mein zweiter Blick auf die Füße, genauer, auf die Schuhe geht.«
»Comment? Comment cela?«
»Ja. Ich achte darauf, welche Art von Schuhen eine Frau trägt. Wenn sie von schlichter Eleganz sind, kann ich mit fast hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, daß mir sozusagen auch der Rest gefällt. Ich stelle mich jetzt, unverschämt, wie ich bin, in eine Reihe mit Ortega y Gasset. Er hat im Zusammenhang mit der Liebe geschrieben: Man sollte das Sprichwort dahin variieren: Sage mir, was du beachtest, und ich will dir sagen, wer du bist ...«
»Mon Dieu! Liebe und Schuhe. Das ist sehr heftig.«
»Von mir aus. Sie sind mein Blickfang. Und damit ist der Zusammenhang ohne jeden Riß hergestellt. Er bezieht das auf die Kunst wie auf ›sexuelle Gegenstände‹. Und es ist mittlerweile fast ein Automatismus geworden. Erster Blick Gesicht, zweiter Blick nach unten. Ganz runter. Auf den Boden. Auf den oder die Sockel einer mehr oder minder schönen Realität. Dorthin, wo Schönheit oder Nicht-Schönheit quasi fußt. Und ich habe mich dabei selten geirrt. Was den Geschmack betrifft. Und das wäre ja immer schon ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch. Na ja, ich will's nicht vergessen. Es gibt schon auch den antrainierten Massengeschmack der Besserverdienenden. In die diversen kulturellen Frontgeschehen mit ihren Aussichtstürmen schickt mich der Beruf ja des öfteren. Und dort sieht man dann die Unsicherheit sofort, weil es wieder irgendeine Applikation an der Trägerin gibt. Darin seid ihr Französinnen überhaupt Weltmeisterinnen! Da sitzt diese wahrhaftig aparte, ungemein charmante Politologin Anne Muxel – die im übrigen gut zu Mitterands Équipe der schönen und klugen Frauen gepaßt hätte. Ein Jammer. Sie war noch zu jung. Und Chirac hat einfach nicht den guten Geschmack seines Vorgängers. Also, Anne Muxel, deren reizvollem Gesicht man ihre Klugheit und die Klarheit – nicht nur! – ihrer politischen Analyse ansieht – und was trägt sie? Irgendwelche völlig ungereimten, aber auch als postornametale Prosa nicht eben schlüssigen Stickereien auf dem an sich einfachen Kleid, auf der Kostümjacke. Einmal zumindest. Mich hat's ja sowas von gerissen. Es wallten schlimmste Befürchtungen in mir auf, daß sie das nächste Mal von Monsieur Dior persönlich eingekleidet daherkommt, in Bleu oder Rouge und mit Goldknöpfchen. Wie Madame von der Restaurant-Réception. Das hat sie dann doch glücklicherweise unterlassen. Sie wußte wohl, daß da einer vor der Glotze sitzt und auf sie als die naturschöne Anne Muxel und nicht als Pariser Applikations-Schaufensterpuppe wartet. Wie auch immer – es fehlte nur, daß sie sich noch irgendwo einen scheinbar exotischen Schmetterling auf den sicherlich entzückenden Popo hat tätowieren lassen. Na ja, den sehe ich ja nicht. Wie ihre Schuhe. Vielleicht wäre ich da enttäuscht. Ich meine, wegen der Schuhe. Am Ende würden die mir einen Hinweis auf einen chinesisch stilisierten Miniaturdrachen auf ihrem rechten Schulterblatt geben. Oder ich würde mich nicht weiter wundern über die niedlichen kleinen Verzierungen am Jackenärmel. Auf jeden Fall sehr französisch! Ich kenne das von französischen Damen der Gesellschaft. Oder solchen, die's gerne wären. Ob in Pau, Nantes, Lyon oder in München oder Hamburg. Besonders in Marseille!«
»Hier magst Du ausnahmsweise einmal recht haben.«
»Jawoll! Hier'n Bömmelchen, da ein Litzchen, dort ein Goldknöpfchen. Also – Mode nennt man das, glaube ich. Die Verkleidung nichteigener Gedanken zum Thema. Oder überhaupt keiner Gedanken. Es wäre kein Einzelfall. Die Gebildete hat zwar die höhere Mathematik der Grazie durch Schlichtheit – auswendig – gelernt, kehrt aber in der Praxis zum kleinen Einmaleins zurück, weil sie die Wurzel nicht ziehen kann, die aus der Tiefe kommt. Sie ist sich ihrer Sache nicht ganz sicher, weshalb sie ein Stückchen irgendeines sinnentleerten Ornaments an sich drankleben muß, um das sogenannte Schöne noch zu verschönern, quasi es zu unterstreichen. Und das geht in die Hose – von mir aus in den Rock. Wie anders dagegen – ich winde mich bei dem Gedanken, den Stab über meine geliebten Französinnen brechen zu müssen ...«
»Auch über mich?«
»Auf Dich Sonderfall komme ich gleich noch!«
»Que Dieu me vienne en aide! Der neue obere Ästhetik-Richter Didier Aubertin kommt mit seine flammende Urteil über mich und mein Grande France.«
»Jawoll. Der greift noch einmal auf, was der jüngere Meisterdenker Glucksmann in seiner Cartesianischen Revolution wohl auch ein bißchen – ein bißchen, wohlgemerkt! – ironisch meinte, aber so schreckliche Gültigkeit und Richtigkeit hat ...«
»Nun muß ich Dich doch einmal fragen nach diese Aussage von Glucksmann. Ich habe das Buch zwar gelesen. Jedoch es liegt sehr lange zurück. Ich weiß es nicht mehr genau. Deine kaputte Kopf weiß zwar nichts mehr davon, daß er seine Frau hat geheiratet. Doch ich habe die Vermutung, daß er dieses noch in sich trägt. Ist es so?«
»Sicher doch. Von meiner Hochzeit weiß ich ja nicht, ob sie lustig war. Aber das ist viel zu amüsant, als daß ich es nicht mehr wissen könnte. Ich zitiere es ja auch dauernd. So oft es nur geht. Es geht mir jedesmal runter wie jungfräuliches italienisches Olivenöl. Auch wenn er es vor fünfzehn Jahren geschrieben hat, so hat es doch eine elementare Gültigkeit. Nur zu gerne haue ich Euch das um die französischen Ohren ...«
»Deine Ohren sind auch französisch. Maintenent!«
»Noch habe ich den Paß nicht.«
»Deine Ohren sind aus einer französische Mutter gekrochen und haben als erstes Wort ein Mon Dieu! gehört. An einem Tag des Herrn! Das habe ich gehört! Du hast es einmal zu mir gesagt! Vor bald vier Jahren. Es war eine Art Entrée in mich. Français en dehors, français entre. Au beau millieu. Toute français.«
»Au weh. Du willst mich offenbar mit meiner Vergangenheit in die Gegenwart prügeln.«
»Ah! Ich prügele nicht. Ich liebe. Dich. Allez les bleus! Et que ça saute! Les paroles!«
»Ach, gerne. Die Deutschen kriegen da auch ihr Fett weg. Hier ist es dann gutes Olivenöl aus Frankreich. In seinen dicken Gedanken über die ›Herkunft Frankreichs aus dem Geist der Philosophie‹ steht geschrieben, daß Frankreich Italien in seiner ›Langzeitidentität‹ die Suche nach dem Schönen überläßt. Er fragt, ob die Italiener heute – ich meine, mehr denn je! – vor allem vor der Häßlichkeit Angst hätten. Und der deutschen Kultur – ach, ist das schön! – überläßt Frankreich die Sorge um das Gute, den Wunsch, gut zu sein, das engelgleiche Dasein eines Gretchens, das so lebt, als gebe es das Böse nicht und doch außer Fassung gerät, wenn es ihm doch begegnet ...«
»Dieses ist wohl mehr auf France zutreffend – au temps de.«
»Na ja. Du wirst Dich gleich wundern, wie aktuell der von Dir beschimpfte Glucksmann ist. So Du mich den gesamten Komplex nennen läßt.«
»Ich bitte darum! Auch wenn ich werde verhüllen müssen mein Haupt.«
»Also weiter. Dagegen ziehen in Frankreich, meint Glucksmann, auf lange Zeit das Schöne und das Gute die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich. Das Häßliche und das Böse wird nicht verbannt und macht weiter kein Aufsehen. Aber die Dümmlichkeit, die mir ein anderer nachsagt, die ich mir selber attestiere, wird zur Kapitalsünde und zum schlimmsten Schimpfwort. Seit es um den gesunden Verstand geht, habe ich keine Möglichkeit mehr, mich auf irgendeine Wahrheit zu berufen. Mit gemischten Gefühlen kann man zugeben, man sei nicht gut, und sich damit abfinden, daß man häßlich ist. Aber kann man sich als dumm akzeptieren? Das ist im normalen Leben wenig wahrscheinlich. Das Prahlen damit, daß man nicht dumm ist, setzt einen aber, heimtückisch genug, der höchsten Form von Dummheit aus, deren Geheimnis, vor Moliére, bereits Montaigne, boshaft genug, gelüftet hat: ›Die Franzosen schienen Affen zu sein, die rückwärts von Ast zu Ast auf einen Baum hinaufklettern und oben angekommen den Hintern zeigen.‹ – Läßt hier das schön dumme schöne Italien nicht herrlich grüßen?! Und nicht nur der schöne Berlusconi mit seinen Fernsehspielchen. Die er mittlerweile auch gerade bei Rai Uno übernimmt.«
»Ouf! Es ist hart. Jedoch – was bist Du für ein Franzose?! Du hast zwar die Tricolore an Deinem Fenster wehen, zeigst sie diesen Italien dort unten in diesem Restaurant sehr deutlich. Du läßt den Deutschen die Marseillaise in die Ohren brüllen. Du mußt es etwas anders sehen – Italiener und Deutsche mögen es sehr gerne, wenn Musik gespielt wird. Doch Franzosen haben nichts dagegen. Wenn Du wütend bist, kannst Du nicht Franzose sein.«
»Das sind meine etwas bescheideneren Spielchen. Nun gut, eben doch ein grober Klotz. Doch ich lasse immerhin einen Franzosen, ach was, mehrere Franzosen mit der Tricolore winken. Vor allem diejenigen, die aufgewacht sind und die Le Pen fröhlich feixend die Marseillaise in die Ohren gegrölt haben. Motto: Hör zu, Le Pen, das ist auch unsere Hymne. Das ist unser Frankreich! Wir sind damals wie heute pfeifend und trommelnd gen Paris gezogen. Jeanne d'Arc gehört auch uns! Wie die Équipe tricolore, die nur in ihrer außerordentlich bunthäutigen Vielfarbigkeit Footballeuropa- und Weltmeister werden konnte. Du klitternder Volksverhetzer, dessen jämmerliches Selbstwertgefühl es schamhaft- und schamlos zugleich verschweigt, daß es dorther kommt, wo Dein Haß geboren ist, du Ausgeburt des Schlechten, eines jammerläppischen Pied-noir! Ich bin also für ein gutes und kluges, aber eben auch schönes Frankreich. Und schönes, Madame! Nicht nur im Fußballspiel. Nur diese Nationalität möchte ich haben. Und über die gute verfüge ich ja bereits.«
»Und das Schöne ist Dir immanent?«
»Ich sage doch: das Gute, das Wahre und das Schöne. Aber auch das zeitgenössisch Schöne. Nicht nur das zurückliegender Epochen. Das ist meine französische Trinität.«
»Und wie ist es mit dem Télévision in diese Trinité française? Mit dieser von Dir so oft zitierten Ästhetik? Monsieur le membre honorable de la association internationale des critique d'art et ses phénomenes secondaires?«
»Also, wenn Du meinst. Zunächst nochmal zurück zu meinen kleinen Italienern. Selbst in den von mir genannten unsäglich dämlichen Fernsehspielchen von Rai Uno sind die Hupfdolen noch elegant einchiffoniert. Denn sie als Italienerinnen sind ja, wie wir mittlerweile wissen, für die Ästhetik zuständig. Wenn man hier auch eher sagen muß, für die Estitica, wie in Italien die Fußnägel- und sonstige Körperpflege heißt. Als ob sie den Winckelmannschen Antiken-Idealismus verinnerlicht hätten, das apollinische Prinzip: auf die Form, aufs Äußere kommt's an. Was drinnen ist, spielt keine Rolle. Daß Nietzsche et ses amis daraufgekommen sind, daß es hinter dem Kopf, von mir aus auch im Körper von Herrn Apoll auch noch 'ne Tiefe geben könnte, sie sogar gibt, verunsichert nur. Es ist wie bei den Münchner Schwulen, die sonntags nachmittags zu Café und Kuchen immer in die Glyptothek gehen, um sich verzückt ihrer Ebenbilder zu vergewissern. Leere aller Länder vereinigt euch. Leere – mit zwei e, von nichts kommt nichts. Also, Italien apollinisch, Rai uno. Es ist zwar extrem wenig Tuch, das sie tragen, aber die Kostümbildner lassen Stoffe und Farben für sich wirken. Ich sehe da ebensowenig Verzierung wie in den Kleidern, Röcken oder Hosen, etwa wie bei den Ansagerinnen, auch oder gerade, wie ich ja gesagt habe, bei den Moderatorinnen der Nachrichtensendungen. Die Blusen des männerschmückenden Beiwerks sind zwar manchmal derart aufgeschlitzt, daß man meinen könnte, die Kunst habe auch hierbei der Mode die Vorlage geliefert, Lucio Fontana persönlich habe der Dame die Bluse aufgeschnitten: oben und unten geschlossen, doch exakt in der Mitte, am silikonen Ansatz befindet sich das Zentrum, eine geradezu vaginale Form. Aber die Schnitte und Stoffe sind von ausgeprägter Zurückhaltung. Na ja, nicht unbedingt immer, aber im wesentlichen schon. Sie sind wie die – eben – schmucklosen Fassungen edler Steine. Die Fassung muß nicht auch noch verziert sein. Der Brillant verliert dadurch. Und das Ganze schlägt sich, wenn auch in sehr bescheidenen Maßen, insgesamt auf die breitere Masse des Publikums nieder. Es orientiert sich eben an den Äußerlichkeiten ihrer Vorbilder. Schaue ich aber ins französische Fernsehen, überkommt mich das große Heulen. Angefangen bei unserem geliebten Bruder-und-Schwestern-Sender arte. Zum Beispiel Annette Gerlach, die sich so gerne möndan gibt und mit ihrer Kokettierei oft fast pubertär laut ist. Obwohl sie diese Gespreiztheit vermutlich überhaupt nicht nötig hätte. Vermutlich! In den Informationssendungen halte ich's gerade noch aus, weil sie sich darin ein wenig zurücknimmt, in die Sachlichkeit zwingt. Was man dann allerdings auch deutlich sieht an ihrem zur Souveränität grimassierten Gesicht. Selbst dabei fühle ich mich häufig als Zuschauer vor einer Provinzbühne. Wie ‘ne Rampensau führt sie sich allerdings auf, wenn sie Veranstaltungen moderiert. Vor allem beim Anflöten von Musiksendungen pfeift sie in ihrem exhibitionistischen Gehabe bisweilen unerträglich falsch. Sie verfehlt dabei schlicht den natürlichen Ton, drückt die erotische Stimme unfreiwillig in den Satirekeller. Bisweilen werde ich das Gefühl nicht los, daß an Annette Gerlach der Schönheitschirurg bereits im Mutterleib aktiv war. Da macht sie sogar meine immer wieder mal durchbrechende, fast ungläubig staunende Ehrfurcht vor ihrer Polyglotterie zunichte. Sie bringt's dann fertig, daß sich alle schlechten Assoziationen in mir versammeln, und sie löst beispielsweise in mir das Bild von Mademoiselle Parvenue auf der Münchner Maximilianstraße oder dem Hamburger Jungfernstieg aus oder in dem Teil des ersten Arrondissements, wo die Edelläden gestapelt sind, wo Madame aus Vallon des Auffes oder Malmousque, also vom unteren Meeresanrainerteil der Corniche Président John Kennedy ...«
»Monsieur! Ich kenne meine Heimatstadt. Du mußt mir nicht erklären, wo das Geld wohnt in Marseille. Und deshalb weiß ich auch, daß die Rue Férréol nicht so sehr ist eine bessere Straße wie vielleicht die Rue du Président Edouard Hérriot in Lyon, wo es sehr viel von diesem Luxus gibt. Alors. Diese Städte sind nicht zu vergleichen. In Marseille kostet ein Pastis nie sehr viel mehr als eine Café. In Lyon es kostet den Preis für zwei Café. Égal. Es gibt ein Marseille ein paar von diese Boutiques der bekannten Namen, à cause de moi. Mehr es ist nicht.«
»Ja. Hast ja recht. Entschuldigung. Also, wo auch immer diese ganzen schrecklichen Weiber beim Shopping das preis- und firmenschildverzierte Handtäschchen ihres tussihaften Geschmacks schwingen, anstatt einzukaufen. Wenn Sie's nicht sowieso in Nizza tut oder in Cannes. Oder, pardon, wie konnte ich, selbstverständlich in Paris.«
»Du kommst sehr weit von Deinem Weg ab mit Deiner Critique an dieser Femme exalté, vielleicht affecté, die ich in diese Dimension jedoch nicht teile. Und Du gehst so weit, daß Du nicht einmal davor zurückschreckst, Deine Heimat zu diffamieren.«
»Meine Heimat klebt an der Fußsohle von Joseph Roth, und die latscht nicht gelangweilt durch die Boutiquen der Rue Saint Ferréol. Zwar war meine Mutter so mitteleuropäisch alert, blond und blauäugig wie Annette Gerlach. Na ja, die vielleicht mischäugig, da kriegt sie ‘nen halben Ton oder Punkt zurück. Ich weiß es ja nicht genau. Denn ich hatte ja noch keine Gelegenheit, ihr en direct in die Augen zu schauen. Wahrscheinlich ist sie auch im richtigen Leben so schrecklich sympathisch. Schrecklich eben. Aufgedreht sympathisch. Artifiziell. Doch wie's da drinnen aussieht, wer weiß es. Wie auch immer. Meine Heimat ist das eben nicht! Meine Mutter nicht und eben damit auch nicht dieses geistige Quartier des zeitgenössisch gedrechselten Wurmfortsatzes von Chanel Nummer fünf. Meine Heimat sitzt neben mir – und auch mit ihrem entzückenden Hintern schonmal auf dem Boden. Auch wenn er dabei dreckig wird.«
»Didier. Deine Hommage an die Rückseite von Deine Heimat ist angenehm für ihre Trägerin. Es wäre dennoch angenehm, fändest Du den Weg wieder zurück zu Deine hintersinnige Critique de télévision – à cause de moi des personnages.«
»Du meinst hinternsinnig?«
»Didier! Es ist mir deutlich, daß es Dir lieber gewesen wäre, ich hätte zu Deinem Spaß wieder einen solchen Fehler gemacht. Doch ich habe darauf geachtet, es correct deutsch auszusprechen!«
»Ach ja. Schade. So bringst Du mich um das Vergnügen des kleines Mannes. Also gut, zurück zum Personal von Arte. Diese feine, die zarte Französin – schade, deren Name fällt mir jetzt nicht ein. Ich weiß jetzt auch gar nicht mal, ob sie Französin ist. Doch, ich glaube schon. Sie hat wohl einen französischen Namen. Egal. Die an sich charmante Andrea Fies, die sich dann alles verscherzt mit ihrer ständigen Grinserei, schrecklich, selbst bei der Ankündigung eines Gemetzels in Afghanistan – allerdings hat man es ihr wohl jetzt ein bißchen abgewöhnt. Oder sie sich selber! Vielleicht hat ja die Tatsache hat dazu beigetragen, daß sie als Korrespondentin raus mußte aus dem Kindergarten, in dem die Tante wohl immer zu ihr sagte: Lächeln, mein Kleines! Unsere Zuschauer möchten Dein Lächeln sehen. Ich komme mir dabei vor, als ginge ich zum Einkaufen in einen Wall-Mart. Oder hinge in der Telekom-Leerleitung der neudeutschen US-amerikanischen Freundlichkeit. Mein Name ist Arte Fies. Was kann ich für Sie tun? Widerwärtig, diese Umweltverschmutzung durch miserabel gespielte Scheinfreundlichkeit.«
»Nun holst sehr weit aus – hier mit einer Keule. Homme préhistorique!«
»Wenn ich schon dabei bin, erledige ich das gleich mit. Und soweit zurück, bis in die Steinzeit, gehe ich damit wahrlich nicht. Es ist schließlich ebenso Bestandteil der Ästhetik. Es ist doch genau unser Thema! Hier der Unterschied zwischen der Romantik und dem Romantizismus – der uns als Romantik vermittelt wird. Meistens aus Unkenntnis. Diese Bekanntschaftsanzeigen-Romantik. Die roten Rosen beim Dinner at candle light mit dem Dreihundertmarks-Bordeaux aus dem untrinkbaren ersten Reifejahr auf dem zentralheizungserwärmten Kamin. Obwohl die Romantik sich im Morast des Lebens suhlt und viel lieber einen schlichteren Madiran oder Bandol säuft, der die Zimmertemperatur dieser Zeit hat. Weiter mit Nathalie Georges, die ungemein sympathische, vermutlich klügste und humorvollste und am wenigsten affektierte und für mich deshalb – obwohl ihre eher bäuerliche Statur eher konträr zu meinem Schönheitsempfinden steht – attraktivste der Nachrichtenredakteurinnen. Man könnte meinen, die könnte Ziegen oder Stiere melken – der dabei ein glückliches Gesicht macht ...«
»Didier! Dein Humeur nimmt die Form von eine Groupe des habitués an ...«
»Ihr offenes, absolut stadttheaterfreies Gesicht ist eine Lust, da hüpft mein Herz. Es schaltet manchmal sogar den Empfangston in meinem Hirn ab.«
»Es ist richtig. Es geschieht oft, daß Du nicht zuhörst. Jedoch Didier – es gibt auch Männer dort!««
»Darüber schweige ich mich lieber aus. Dafür seid ihr Mädels zuständig.«
»Zuvor hast Du Dich auch über die Männer bei Rai Uno geäußert! Und dies affirmatif! Nun will ich Deine Wut auch hier ausgebreitet wissen.«
»Oh weh. Nun denn. Dieser permanent wie ein dummer Schuljunge feixende Deutsche. Doch ich weiß jetzt nicht, wie er heißt.«
»Du meinst sicher Jürgen Biehle.«
»Ja, das ist er wohl. Es ist zum Heulen. Zum laut Aufheulen! Er ist unerträglich! Weshalb grinst der andauernd?! Die frühere Andrea Fies hoch zehn! Was ist das? Unsicherheit? Dummheit? Unser Franzose mit dem slawischen Namen, Vladimir, wenn ich mich recht erinnere, vorne slawisch, hinten französisch – siehst Du, ich kann mir nicht mal die Namen merken, die von Männern eben ...«
»Da ich für die Männer bin – unsere Français Vladimir ist auch hinten slawisch. Er heißt Vladimir Vasak.«
»Gut. Ja. Dafür spricht er erstaunlich gut Französisch ...«
»Grand Idiot!«
»Ja. Er ist gut. Sehr gut. Er gefällt mir. Er hat einen sachlich kühlen Charme. Er lächelt dann, wenn's auch was zu lächeln gibt. Seinen Augen sieht man an, daß er Witz und Humor unterscheiden kann. Sein kommentierendes Lächeln findet ausnahmslos zu den richtigen Passagen statt. Angenehm. Aber zurück, hier geht's eben jetzt um Euch Damen. Oder solche, die es werden möchten. Oder sein möchten. Genauer – um die französische Körperumhüllung des Weiblichen. Es ist unsäglich, was die bei Arte manchmal an Kleidung tragen. Nicht immer. Manchmal eben. Es ist teilweise zum Fürchten. Ich bin mir ja im klaren darüber, daß die ihre Kostüme kaum aus dem eigenen Schrank mitbringen dürfen – aber doch wohl ein entsprechendes Mitspracherecht verfügen. Zu Andrea Fies fällt mir gar nichts ein. Wahrscheinlich, weil sie so selten zu sehen ist. Oder weil sie angenehm unauffällig gekleidet ist. Aber von den häufig im Bild Sitzenden ist es interessanterweise Nathalie Georges, die über ein gewisses Gespür für sich als Edelstein zu verfügen scheint. Denn ihre Fassung ist – von Ausrutschern abgesehen, in denen sie dann aussieht wie ein Pfälzer Preßsack – wie heißt das eigentlich französisch?
»Puh! Es ist régional unterschiedlich. Allgemein verstanden wird wohl Fromage de tête.«
»Also, in dem sie aussieht wie das, was unser Altkanzler seinem französischen Freund, dem Bürgerkönig Mitterand gerne ins Händchen drückte, wenn sich seine Hand mal nicht gerade darin befand. Preßsack oder Preßkopf oder meinetwegen Bauernwurst provençale.
»Ich muß Dir recht geben. Ich habe es ebenfalls gesehen. Wir sagen – être ficelé comme un saucisson. Doch nicht immer!«
»Hab ich doch auch nicht gesagt – immer. Aber manchmal sieht sie eben in etwa aus – wie eine schwäbische oder auch provencalische Bettwurst.«
»Mon Dieu! Doch es ist wohl so.«
»Ich finde das insofern als besonders bedauerlich, als dieser Sender ja sozusagen wahrhaftig agiert – mit seiner sowohl thematischen als auch formalen Tiefengründelei. Reflexive Ästethetik ist doch eigentlich das Thema des Senders. Doch ich werde das Gefühl nicht los, daß dies mit der verzweifelten Suche nach dem Zuschauer den Bach runtergeht. Oder ab – in die Breite. In die Masse, in der die Differenzierung sich dann verliert. Das fing an mit der Modifikation der Programmzeitschrift. Man hat ihr ebenfalls ein allgemein verständlicheres Kleid verpaßt. Mir stellt's die Zehennägel auf. Ich mag's gar nicht mehr anschauen, diesen Focus von Hör Zu ...
»Es ist dieses ganz alte Programme de radio et télévision? Ich meine, es noch aus Berlin zu kennen.«
»Richtig. Vom Axel-Springer-Verlag. Und der rührt ja, wenn ich richtig informiert bin, mittlerweile auch in diesem Topf mit. Doch ich rede Unsinn. Es dürfte wohl kaum damit begonnen haben. Das Ende dürfte seinen Anfang mit dem neuen Präsidenten genommen haben. Mit Herrn Jobst Plog. Der würde aus Arte jetzt am liebsten so eine Art Westdeutscher Rundfunk für etwas Gebildetere machen. Nein, besser, Klassik-Radio mit Bildern. La Musica. Also – für Faltenröcke tragende, sich ständig über die Reeperbahn rettende oder über die Elbe ins Musical schwimmende ehemalige Töchter. Oder Dauer-Töchter. Nicht immer, aber immer öfter. Annette Gerlach in wallendem Gewand vor dem privat finanzierten Konzerthaus in Baden-Baden. Oder auf der Pizza von Florenz oder Venedig ...«
»Mein Gefühl von Sprache sagt mir, daß Du vielleicht Piazza meinen könntest?«
»Nein! Pizza! Mit all dem, was so ein Bildungstourismusbelag zu bieten hat. Pizza wie Pizza. Pizza wie PISA. Also Nivellierung nach unten. Allerdings nicht im Sinne von Globalisierung, sondern vereinheitlichender Europäisierung. Was aufs gleiche hinausläuft. Schließlich sind wir ein europäischer Sender. Feinschmeckerkost aus der Brüsseler Wurstfabrik. Sprachliche Angleichung. Rechtschreibreform fürs Fernsehen. Ein Prophylacticum gegen zuviel Minderheit. Wie mit der Kultur im allgemeinen. Da gibt's für Nischen ja auch kein Geld mehr. Keine Subventionen mehr für Minderheiten. Die schaffen wir überhaupt ab. Die Minderheiten auch gleich mit. Immer mehr Seifenopern. Doku-soap nennt sich das jetzt. Fünf Tage lang Kamera-Begleitung für so ein unsägliches Dummerchen, das unbedingt französische Schönheitskönigin werden möchte. Und die senden das auch. Kritische Anmerkungen bleiben im Giftschrank. Schließlich könne der aufgeklärte Zuschauer sich selbst ein Bild machen. Ich höre es schon. Die Ironie erschöpft sich im Zeigen eines Pickelchens oder in der Leere ihrer Augen oder im Senden des Tons, in dem diese Nachwuchstussi sich ständig vergreift. Es paßt zum Programm. Das, was das Vorabendprogramm in den Öffentlich-Rechtlichen ist. Lindenstraße im Mariental für Kulturhintergrundinteressierte. Glücklicherweise steht in meinem Untergrund ein Videorecorder. Sonst könnte ich das wirklich Interessante nicht sehen. Weil es, wie bei den anderen auch, nach Mitternacht ausgestrahlt wird von dieser deutsch-französischen Kultursendanstalt. Die Minderheit muß ja nicht früh aufstehen. Oder der Genius schläft tagsüber und ist folglich am Vorabendabendprogramm ohnehin nicht interessiert. Und, ach, französische Filme gibt's mittlerweile mehr bei 3sat! Und TV 5 kriege ich ja leider nicht. – Na gut, ab morgen und für immer und alle Zeiten. Und Marius et Jeannette habe ich von nun an selber jeden Tag en direct. – Finanzierungszwänge, nehme ich an. Machen wir eben einen Privatsender daraus. Oder so ähnlich. Es ist zum Kotzen. Und Monsieur Saint-Paul! Unser aller Rédacteur en Chef, führt sich auf wie ein Lehrer aus der Dorfschule der fünfziger Jahre. Sagt der doch tatsächlich zu diesem, zugegebenermaßen arg geschwätzigen oder auch penetranten Europa-Abgeordneten der Front National, er müsse ihm die Ohren langziehen, wenn er sich weiterhin so äußere. Nicht am Stammtisch. Sondern in einer Live-Sendung des deutsch-französischen Bildungskanals zur Wahl des französischen Staatspräsidenten. Was ist das für ein Niveau?!«
»Bist Du sicher, daß er das gesagt hat?«
»Der Dolmetscher hat's gesagt. Zwar hat er, meine ich, kurz gezögert, es aber ausgesprochen. Vermutlich wollte er's noch beschönigen. Doch dann wäre er wohl nicht mehr hinterhergekommen. Er hatte ja mehrere Leute sozusagen zu übersprechen. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß ihm der Chefredakteur derart unsympathisch ist, daß er sich mit einer solchen Übersetzung so weit aus dem Fenster gelehnt hat. Er würde sich doch wohl selber rausstürzen damit. Nun, wie auch immer, da müßte Herr Saint-Paul den Übersetzer rauschmeißen. Überhaupt – dafür, daß Monsieur Saint-Paul – von Politikers Gnaden?! – ansonsten mit vielen Wörtern recht wenig zu sagen hat, war das doch recht vielsagend.«
»Du siehst es sonst nicht so sehr eng.«
»Das ist wohl richtig. Bei ihm hat's mich gestört, weil er ansonsten so gesittet gebildet tut. Na ja. Er ist eben genauso ein solcher eitler Kulturschalträger der elektronischen Medien, wie man Hörfunk und Fernsehen heute nennt. Irgendwie wird er schon auf seinen Chefsessel gerutscht worden sein. Seine Absetzung würde ich deshalb nicht unbedingt fordern wollen. Aber die Ohren gehören ihm langgezogen dafür.«
»Didier. Nun hast Du aber définitivment die Haftung am Boden verloren. Wir sprachen über Verzierung an Kleidung. Über – und Schuhe.«
»Ach je. Richtig. Haben mich meine Laufschuhe mal wieder aus der Kurve getragen.«
»Wie war das bei ...«
»Genau, Naziza. Einer meiner ersten Blicke war auf Deine Schuhe. Und sie haben mir ausgesprochen gut gefallen. Zu diesem Zeitpunkt wußte ich nicht, daß Du wenig Geld zur Verfügung hast ...«
»Ich kaufe das – alles Soldes.«
»Es spielt ja keine Rolle, wo und wann. Du kaufst die Schuhe im Schlußverkauf. Du tust es. Du kaufst nicht irgendwann irgendetwas. Du wartest auf den Schlußverkauf. Obwohl es bei Deiner Schuhgröße nicht leicht sein dürfte, noch eine entsprechende Auswahl zu finden ...«
»Oh! Didier. Du weißt – bei uns ist doch immer irgendwie soldes. Le grand Soldes de France.«
»Naziza. Ich weiß, mir geht jetzt der romantizistische Gaul durch. Aber jetzt mach mir das doch nicht auch noch madig! Laß mich Dich doch verklären! Wenn sowieso alles schon so klar ist.«
Sie gluckst ein wenig in sich hinein. Trotz meiner leichten, durchaus auch anhaltenden Verunsicherung, mit solchen Einwürfen aus meiner Argumentationsbahn geworfen zu werden. Doch es erheitert es mich aber auch – weil die Anspannung weg ist. Und ihre Heiterkeit macht sie nicht eben häßlicher.
»Nächstes Beispiel – Deine wunderschöne Handtasche. Vermutlich auch Soldes. Billig war sie aber auch dann nicht.«
»Doch. Sie war sehr billig. Mais – eigentlich hast Du recht. Sie war nicht billig.«
»Wie?«
»Sie hat gar nichts gekostet.«
»Aha! Ein Kavalier.«
Sie schüttelt heftig den Kopf.
»Aber – jetzt erzähl mir nicht, daß Du sie von Deinen Habenichtsen Eltern – pardon. Ich hab das nicht so gemeint.«
»C’est bon. D’accord. Ich habe es nicht so verstanden. Aber ich habe sie sowieso nicht von meinen Eltern. Sie wäre wirklich zu teuer gewesen. Außerdem geht ihre Geschmack doch ein bißchen mehr in das Armenische und das Arabische – vielleicht gemischt mit diese, wie Du sagst, typische Application à la femme française. Sie sollten mir besser keine Handtasche oder Schuhe oder Hose oder überhaupt etwas zum Tragen kaufen. Sie wissen das. Deshalb kaufen sie mir solches auch nicht. Sie würden mir vielleicht ein bißchen Geld geben dafür. – Bien. Du siehst, daß sie nicht mehr sehr neu ist.«
»Sie hat gewisse Gebrauchsspuren. Doch das macht sie nicht häßlicher ...«
»Wie mich?«
»Oh, Naziza. Du bist doof ...«
»Jedoch es stimmt.«
»Was? Daß Du doof bist?«
»Du bist unverschämt, mon amour. – Wie alt ist diese Tasche? Was meinst Du?«
»Ich weiß es nicht – vielleicht zwei Jahre alt.«
»Ich kann es Dir genau sagen, wie alt sie ist ...«
»Es ist zu vermuten, daß Du es weißt.«
»Buffle. Sie ist genauso alt wie unsere Liebe. Non, ein wenig jünger. Du hast mir nicht nur Chansons d’amour italiennes von Petrarca geschenkt. Du hast mir auch Praktisches gegeben für das tägliche Leben. Und so trage ich Deine Briefe, diese Notice explicative für meine Golem, in dieser Tasche mit mir herum, die er mir geschenkt hat, als er von besonders weiche Lehm war.«
»Jetzt bin ich geplättet.«
»Was erstaunt Dich? Du mußt keine Angst haben. Es ist nicht Dein Geschmack. Es ist der meine. Ich habe sie mir ausgesucht. Du hast sie nur bezahlt.«
»Ui. Womit meine These aber auch bestätigt sein dürfte.«
»Was willst Du jetzt? Applause? Große Théoricien. Es gibt neben Dir noch andere Menschen mit einem guten Geschmack.«
Mein verlegen grinsendes Schmollen wird mit einer dieser luftigen Zärtlichkeiten sofort wieder gelöscht. Und das kaum merkliche Zucken der Mundwinkel zeigt überdies an, daß es mehr Scherzchen als Ernst war. Aber ich bin doch wirklich allzu leicht aus meinem Bimmelbähnchen der Beweisführung zu tragen. Ich ärgere mich. Es wäre doch wahrhaftig nicht nötig. Sie will mir doch gar nicht an die Karre fahren.
»Ich gebe Dir ja recht, Didier. Du muß nicht weit ausholen zu Deine Essai de vérification – être d’accord avec Monsieur le docteur ès lettre Dietrich Aubertin ...«
Ich schreie auf – »Nein! Sag das bitte nie wieder!«
»Quoi? – Auf Deine Docteur wirst Du sowieso verzichten müssen in Deine neue Heimat.«
»Du weißt, daß ich den nicht meine. Außerdem kenne ich die französischen Gepflogenheiten. Wenn ich auch nicht einsehe, weshalb ausgerechnet Ärzte, die mit ein paar Versuchsanordnungen über drei Monate oder von mir aus einem halben Jahr ihre Urkunde ans Revers geheftet kriegen, diesen akademischen Grad führen, während Geisteswissenschaftler, die oft harte Jahre an ihren Arbeiten sitzen, dies nicht tun sollen. Aber das ist ein Thema für sich. Es bringt mich nicht um. In deutschen Landen ist es mir oft genug eher peinlich, welcher Kult da getrieben wird, mit welchem Wahn, mit welchem Einsatz hinter solchen sogenannten Titeln hergehechelt wird. Vor allem von Männern. Nur in Österreich ist’s noch schlimmer. Schon allein deshalb ist es angenehm, daß en France ein akademischer Grad nicht geführt wird. Doch was ich meine, ist dieses Dietrich Aubertin. Na, wenigstens den Nachnamen hast Du französisch ausgesprochen. – Du erzählst mir was von französisch denken und sprechen – und dann das. Aus Deinem Mund. Es ist das erste Mal, daß Du das sagst. Es trifft mich hart. Ernsthaft. Ich möchte von Dir nicht so genannt werden. Für Dich gibt es Dietrich nicht. Der Name allein reicht schon. Meine Mutter hat ihn mir gegeben – wer sonst?! Mein Vater wollte irgendeinen fröhlichen hebräischen Namen, ich glaube Ygal. Er hat’s mir mal erzählt, aber ich hab’s wieder vergessen. Also bitte, Naziza. Nix Dietrich.«
»Vous me comprenez mal, Monsieur. Es ist Dein Nom officielle. Und ich habe ihn nur in diese Zusammenhang gebraucht – avec le docteur ès lettre Aubertin. Mais – ich verstehe Dich. Es tut mir leid. Du hast recht. Ich bin dumm. Surtout – ich habe Dir gesagt, das Alte ist vorbei, wir beginnen neu. Pardon. Für mich bist Du Didier-Cheri. Ich sage es nicht mehr. Ich verspreche es. Darf ich zurückgehen zu Dir in meine Handtasche?«
»Willst Du schon wieder die Vergangenheitsbetriebsanleitung verlesen?«
»Oh non! Ich will mit Dir in die tiefe Histoire von dieser Tasche.«
»Na gut. Es klingt weniger gefährlich. Obwohl ich ja bei Dir nie wissen kann, was herauskommt – aus so einem kleinen Täschchen.«
»Es ist Dir unangenehm? Du erinnerst? Wir haben uns gestritten.«
»Wir haben uns gestritten? Geht das?«
»Oh! Monsieur. Es ist so lange nicht her, daß wir das getan haben. Vor ein paar Minuten erst. Und noch viel mehr vor ein paar Stunden erst. Und vor ein paar Jahren haben wir das auch getan. Manchmal gab es Auseinandersetzung. Aber es war auch lustig – wenn wir gelacht haben danach über unsere Tempérament – Esprit querelleur plus que de raison. Und es war immer so großartig, sich in den Arme zu liegen und zu schwören, daß wir nie wieder streiten würden. So, wie ich mir das wünsche, nun. Dann. Ab in das Hôtel.«
»Gut. Das ist schön. Dann ist Streiten schön. Aber sprich – wegen der Tasche haben wir gestritten?!«
»Oui. Banalité. Wir waren dorthin gegangen, wo Du mich hinschleppen willst – in Lyon. In diese terrible Rue du Président Edouard Hérriot. Diese Rue de luxe. Aber wir waren dort. Und ich habe gerne geschaut überall in diese grand Étalages. Dann habe ich ein Tasche gesehen und geschrieen.«
»Diese da?« Ich zeige auf das schöne gebrauchte Gebrauchsstück vor der Schönen auf dem Entenboden.
»Non. Diese nicht.«
»Oh. Schade.«
»Ècoute. Ich habe sie gesehen. Ich habe Dich an Deinem Arm gezogen vor diese Étalage, diese – Schaufenster?«
Ich nicke. »Ich bin wie eine Katze um Dich herumgestreift. Um Deinen Kopf. Um Deinen Hals. Und habe immer gefragt – ist sie schön?«
»Und? Ich habe nein gesagt? Oder wie?«
»Non. Du warst très cool. Du warst eine ganze Mann von Welt. Du hast gesagt – dann kaufen wir sie. Und ich habe wieder geschrieen.«
»Vor Freude?
»Bist Du verrückt? Weil sie war so teuer.«
»Verstehe einer die Weiber.«
»Diese Weiber haben manchesmal eine Beziehung zur Réalité. Sie hat gekostet unglaublich viel Geld!«
»Wieviel war’s denn?«
»Trois mille deux cents Francs.«
»Rund tausend Mark. Das ist tatsächlich nicht eben wenig für ein Täschchen, in dem Betriebsanleitungen gelagert werden sollen.«
»Jedoch Du wolltest sie kaufen.«
»Und? Wer hat gesiegt? – Aber Moment mal. Du hast doch eben gesagt, daß es nicht diese Tasche ist, es ...«
»Correct. Monsieur. Wir haben sie nicht gekauft. Du weißt also, wer gesiegt hat?«
»Es hat den Anschein, daß nicht ich. Mal wieder. Und wo kommt dann diese Tasche her?«
»Aus Lyon.«
»Also doch!«
»Non, Didier. Ich habe Dich erinnert an Deine Worte.«
»Wie meinen?«
»Du hast so oft gesagt, daß das Gute oftmals neben die große Pfade liegt, man muß nur schauen. Es war nicht sehr neu. Jedoch es wird immer neu, weil man diesem Pfad nicht oft folgt. Ich habe Dich daran erinnert – an Deine Worte. Du hast genickt und hast mir recht gegeben. Und Du hast Deinen Kopf eingeschaltet. Mein Widerstreben hat Deinen Ehrgeiz ausgelöst.«
»Das soll vorkommen. Also, was ist geschehen?«
»Du hast Dich erinnert an ein Quartier in Lyon, wo es gibt viele Magasins en gros et en detail.«
»Ach ja. Oben im Croix-Rousse. Wo Hélène wohnt.«
»Oui. Die kleine Straße – diese kleine Pfad! –, die geht hinauf von die place – maintenant, ich weiß nicht, wie er heißt. Wo diese riesige Sculpture steht, diese Statue de fontaine. Vor die Musée et la Mairie.«
»Ja ja. Ich weiß nie, wie der heißt, mit seinem monströsen Denkmalbrunnen. Ich glaube, es ist der place des Terreaux. Und Du meinst die kleine Straße, die hinaufgeht zur place Croix-Paquet. Wo die vielen, vielen Groß- und zugleich Einzelhändler sind. Aber das sind doch ausnahmslos Klamottenhändler – ach nein. Es stimmt nicht. Es gibt alles mögliche. Accessoires et cetera.«
»Oui, Monsieur. Von dort ist diese Tasche hier. Und sie hat mir noch besser gefallen als die auf diese Paquebot de luxe, diese terrible Rue du Président Edouard Hérriot. Wirklich. Noch besser. Weil sie hat keinerlei Hinzufügung. Sie ist schön. Du sagst es selbst.«
»Ich bewundere sie immer wieder. Und was hat sie gekostet?«
»Du weißt es nicht?«
»Woher sollte ich?«
»Oh! Versuche einmal nachzudenken. Wir haben dann noch ein wenig gefeiert. Weil wir so sehr viel schönes Geld gespart haben. Deshalb haben wir ein schöne Flasche alte Champagner getrunken. Er hat auch nicht viel gekostet da oben an diesem schönen Platz, wo Deine Freundin wohnt. Sie ist heruntergekommen von ihre Wohnung und war gut fröhlich.«
»Ach ja? Ich habe da oben mit Hélène öfters gesessen. Mit ihr und Isaac. Aber auch mit ihr alleine, wenn ich in Lyon war. Eben fällt mir auch der Name der Straße ein. Es ist die Rue Romarin. Ich habe mich in dieser meist unglaublich drückenden Sommerhitze von Lyon öfters da hinaufgekämpft. – War das in einem ganz kleinen Restaurant. Es gibt ja zwei da oben. Eines ist etwas größer. Aber das ist eher bourgois.«
»Es war nicht bourgois. Es war sehr klein. Deux table et d’un comptoir. Mit kleine und mit große Leute. Ein paar nur. Ein wenig wie in Dein Café de retraite à l’Estaque. Wenn auch ein wenig schönere Ameublement. Kleiner und mehr – intime. Wie heißt es noch? Ah! Gemütlich. Und es gibt Essen zu Mittag. Jedoch nicht am Abend.«
»Meine Güte. Ja. Ich habe da mal Champagner getrunken. Und einen unglaublich guten Vin ordinaire blanc. Nein, das war ja kein Ordinaire mehr. Denn er hat ein oder zwei Francs mehr gekostet pro Glas. Was dem Patron ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat, daß der mir so gut schmeckte. Ich weiß auch nicht mehr, wo der herkam. Irgendwo westlich von Lyon. Und es war fürchterlich nett. Aber ich dachte immer, das sei mit Isaac gewesen.«
»Vielleicht auch mit Isabelle. Es ist möglich. Jedoch dann hast Du zweimal Champagner getrunken dort. Fröhlich.«
»Ich war einmal dort, ich erinnere mich, mit Hélène. Es war eine wunderschöne Frau dabei. Wenn ich mich recht erinnere, war das eine Freundin von Hélène. Ich war ganz hibbelig ..«
»Was ist das – hibbel ...«
»Nerveux. Es ist ein Wort, das, ich glaube, aus dem Norddeutschen kommt. Wie ein Pferd kurz vor dem Start eines Rennens.«
»Das warst Du. Sehr aufgeregt. Non – es gibt ein besseres Wort im Deutschen. Aufgedr ...?«
»Ah! Aufgedreht. Ja, das kommt deutscher an hibbelig heran.«
»Du bist des öfteren aufgedreht. Und wir waren eine ganz frisches Paar. Immer noch. Auch nach ein paar Wochen. Und Du hast immer gesagt – mon Dieu, habe ich eine gute Frau! Diese Frau war wohl ich. Es hat uns sehr lustig gemacht.«
»Und weshalb habe ich, bitte, meine schöne Erinnerungshelferin, immer gerufen, ich hätte eine gute Frau?«
»Weil sie so viel Geld gespart hat, daß wir nicht nur eine gute alte Champagner trinken konnten, sondern auch noch gut gegessen haben und guten Wein, zu dritt, und alle glücklich waren. Auch der Patron. Er hat extra für uns gekocht. Es gibt ja normal nur Repas de midi. Wir hatten viel Spaß – und immer noch viel Geld übrig.«
»Donnerwetter! Was hat sie denn nun gekostet?«
»Une mille Francs.«
»Au weh. Das ist tatsächlich ein Unterschied. Das ist eine Differenz von siebenhundert Mark.«
»Das ist es wohl. Und der wunderschöne Abend hat alles zusammen gekostet – zehn Jahre alte Champagner, menu, vin et cetera treize cents Francs. Pour trois personnes.«
»Vierhundert Märker. Dann habe ich ja wohl wirklich eine gute Frau. Eine kluge Frau. Eine weise Frau.«
»Und wir sind mit guten Gefühlen in unsere Gefühle gegangen.«
»Und wo haben wir die ausgelebt?«
»Im Hôtel.«
»Ach? Nicht an Saône oder Rhône? Tatsächlich im Hotel? Und in welchem?«
»Château-Perrache.«
»Ach da. Am TGV-Bahnhof. Aber das ist doch auch ein alter Kasten.«
»Du hast mich in viele alte Kasten verschleppt. Es war wirklich nicht häßlich. Vrai. Aber es war, ich erinnere das, auch eine günstige Preis. Sie hatten es gerade eröffnet. Es war so etwas wie ein Prix de lancement. Es hat nicht mehr gekostet als die andere mit drei Sterne. Jedoch es waren fünf.«
»Sag – sind wir dann in den Lozère gefahren?«
»Oui. Oh! Mon Dieu! De mémoire! Und wohin sind wir gefahren?«
»Das kann dann nur Grandrieu gewesen sein. Gérard? Er wohnt oben – habiter la montagne. Der ...«
»Le Psychologue. Ancien. Allemande. Oui. Mon Dieu! C’est trop beau pour être vrai.«
»Langsam, Liebes. Noch ist die schöne Wahrheit nicht da. Ich bin noch nicht soweit. Ich bin noch nicht dort.«
»Wir werden gleich ankommen.«
»In Colmar.«
»Non. In unsere Histoire!«
»Nein. Wir kommen gleich in Colmar an.«
»Dann müssen wir anhalten. In ein Café gehen. Ich will nicht, daß es weggeht. Ich bitte Dich.«
»Ich habe ja nichts dagegen. Nur wo? Ich will in diese Filmkulisse für Touristen nicht hinein. Diese Altstadt zieht mich runter.«
»Wir gehen irgendwo hinein. C‘est pareil. Ich will jetzt weiter mit Dir darüber sprechen. Irgendwo.«
»Da vorne ist ein Platz mit einer kleinen Bar. Gut. Gehen wir da rein.«
Ich lenke sozusagen ein. Neben einem der immer beachtenswerten Restaurants für die Routiers, die Fernfahrer, befindet sich eine kleine Bar. Ein Kneipe eben. Das ist häufig so. Sie verdienen ein paar Francs mit denen, die lediglich einen Café trinken oder ein Sandwich essen wollen. Und das ist alles in der Regel so gut wie das Essen in diesen Gaststätten. Die Routiers würden ihnen das Zeugs sonst hinter den Tresen schmeißen. Nur die Deutschen – vielleicht ja noch ein paar andere auch – lassen sich jeden Dreck verkaufen. Keiner würde sich das getrauen wie unser italienischer Tenor – Isaac hatte mir das erzählt –, der in einem italienischen Restaurant in München einen Espresso fünfmal hat zurückgehen lassen. Bis er gepaßt hat. Hier in Frankreich ist es nicht anders. Und wer so hart arbeiten muß wie diese Fernfahrer, der will, schon als Franzose, etwas Ordentliches zu essen und zu trinken haben. Und es stimmt. Wie auch anders. – Der Café ist hervorragend. Ich bestelle gleich einen neuen von diesen schaumigen kleinen Schwarzen. Meine andere süße Schwarze bohrt mich mit ihren entzückenden Eierbriketts zurück auf meine Erinnerungsschiene, die tatsächlich wohin zu führen scheint.
»Wohin sind wir von Lyon aus gefahren? Du und ich und unsere neue Tasche in Deine fette Voiture? – Pardon!«
»Ist ja gut.« Offensichtlich nach Grandrieu. Wir sprachen doch gerade darüber.«
»Non. Cheri. Wo entlang sind wir gefahren? Über Saint Etienne?«
»Ich glaube nicht. Da bin ich ja noch nie langgefahren. Ich bin einmal, von Paris her, über Clermont-Ferrand hinein ins Massif Central. Aber Saint Etienne? Eher nicht.«
»Wie fährst Du dann, wenn Du hinwillst in die Lozère?«
»Na – die Rhône entlang und dann über Annonay hinein ins Massif. Man kann auch über Tournon fahren.«
»Oui. Le long de la Rhône. Wo Du mit mir fahren wolltest vers Marseille.«
»Ja. Ist das schlimm?«
»Non. Cheri. Wir sind eben bereits – bon, ein Stück – gemeinsam die Rhône gefahren. Und dann nach Annonay. Und dann?«
»Na – vermutlich Direction Le Puy, die D 121 über Montfaucon-en-Velay und weiter über Yssingeaux. Wie sonst?«
»Oh! Merde. Es kommt nichts?!«
»Nein. Naziza. Bitte. Es hat keinen Sinn, daß Du mich so bedrängst. Es macht mich eher unsicher. Ich bin gerade dabei, Lyon zu verarbeiten. Da kommt so langsam etwas hoch. Aber Du bist schon wieder in Grandrieu. Ja. Ich war da überall. Zum Teil des öfteren. Aber ich bin früher auch mit anderen gereist. Ich kann das jetzt nicht unterscheiden, wann und mit wem. Klar ist, daß ich alleine nie über Annonay in den Lozère gefahren bin. In die Gegenrichtung ja. Aber nicht hin. Ich pack das so nicht.«
»Es ist schade. Es macht mich ein wenig traurig. Mais – ich bin vielleicht zu heftig mit Dir. Verzeihe das bitte. Ich will Dich nicht bedrängen. Es tut mir leid. Laß uns trotzdem noch ein wenig sitzen hier. Es ist angenehm. In kurze Zeit werden wir an anderes denken müssen. An Deine Arbeit. Ich möchte noch ein wenig in Ruhe mit Dir sitzen. Es ist noch nicht so spät. Im Hôtel werden wir nicht mehr darüber sprechen.«
»Von mir aus. Es soll mir recht sein. Mich drängt es nicht an die Arbeit. Meine Frau drängt mich.«
»Buffle. Eine ganze Herde von Büffel bist Du! Ich will Dich noch ein wenig anschauen. Mit Dir sprechen. Von uns. Ich will noch etwas wissen. Mais – vielleicht ich bekomme nun ...«
»Bläst Du wieder zum Angriff auf mich?«
»Non. Ich will wissen. Puh! Ob Du mich auch würdest nehmen, wäre ich nicht so schön, wie Du sagst.«
»Ebenso Puh! Das ist die einzig richtige Äußerung darauf. Du weißt selbst, daß das eine hinterlistige Frage ist.«
»Vielleicht empfindest Du es so. Dommage. Jedoch sie ist ehrlich.«
»Das sagt sich so leicht. – Also. Wenn ich daran denke, wie es war, als wir korrespondiert haben – das war schon kompliziert. Ich hatte – das hatte ich Dir ja schonmal gesagt – mir ein Bild von Dir gemalt.«
»Du erinnerst Dich jetzt.«
»Ja. Ich erinnere mich ein bißchen besser.«
»Oh. Das ist wunderbar.«
»Und es war ja klar, daß wir uns kennenlernen würden. Das Problem war, daß ich ja schon recht ordentlich in Dich vernarrt war. Eben wegen der Briefe, die Du mir geschrieben hast. Sag – haben wir nicht sogar mal miteinander telephoniert?«
»Oui. Correct.«
»Genau – das war es wohl, das kam ja dann noch hinzu – Deine Stimme. Es war der reinste Horror.«
»Ma voix?! Pour quoi?«
»Nein. Nicht Deine Stimme. Doch. Nein. Sie paßte eben zu dem von mir gemalten Bild. Sie paßte hundertprozentig zu Deinen Briefen. Aber ich wußte auch, was hinter einer wunderbaren weichen, angenehmen, sympathischen Stimme für eine Person stecken kann. Ich habe da schon Fürchterliches erlebt.«
»Schreckliche Menschen? Ich kann es nicht glauben.«
»Nein. Nicht schreckliche Menschen. Puh. Du stellst mich vielleicht auf die Probe! Ich meine schlicht, daß die zu diesen Stimmen gehörenden Menschen nicht adäquat, eben nicht genauso schön waren.«
»Ich verstehe.«
»Ja. Ich hatte richtig Angst davor. Daß Du eben nicht annähernd so aussehen würdest wie – wie ich mir das gewünscht habe.«
»Und was ist geschehen?«
»Du weißt es doch.«
»Was weiß ich?«
»Na – Du, meine Kriegsberichterstatterin, erzählst mir doch immer aufs neue, wie ich reagiert habe. Ich habe Dich geheiratet. Eigentlich undenkbar.«
»War es schlimm?«
»Was? Das Heiraten? Daran erinnere ich mich eben nicht richtig. Bröckchenweise kommt ja etwas. Aber an die Begegnung mit Dir erinnere ich mich irgendwie schon. Glaube ich. Es war eben der Horror.«
»Ich verstehe Dich – wieder einmal – nicht. Du sagst immer zu mir, ich bin schön. Et maintenant – horreur?«
»Ja. Das blanke Entsetzen. Ich stand vor Dir und wußte nicht wohin mit mir. Und sofort setzte Verlustangst ein. Obwohl ich ja überhaupt nicht wußte, ob Du mit mir etwas anfangen kannst. Ob ich überhaupt infrage komme. Ob Du nicht glücklich verheiratet mit Mann und Kinderchen – und so. Du weißt schon. Ob Du mit mir spielst. Oder einfach nur flirtest. Was ja völlig in Ordnung wäre. Gewesen wäre. Ich hätte mich ja nicht beklagen dürfen. Es beklagen können. Es wäre ja ein Spielchen. Aber schon als ich Dich gesehen habe, blieb mir der Atem stehen. Hast Du das denn nicht gemerkt?«
»Mais oui. Es hat mich ein wenig erheitert. Non, mehr gewundert. Jedoch es erging mir ebenso.«
»Aber ich bin ja doch nun beileibe nicht mit Deiner Schönheit zu vergleichen! Auch nicht mit der von unserem Helden, diesem saft- und kraftstrotzenden Haudegen Cyrano, diesem Athleten. Und ich Pykniker ...«
»Écoute, mon cher. Du warst von Beginn an identisch mit Dir ...«
»Ach, kuck mal an! Ich identisch mit mir persönlich. Was es alles gibt.«
»Crétin. Mit diese Mann, der mir hat so schöne Briefe geschrieben. Es war etwas, was ich fast nicht habe geglaubt. Wovor ich habe gehabt ein wenig Angst, daß es nicht so würde sein. Mais – Du hattest diese Witz auch im Gespräch mit mir. Deine Sentences waren gesetzt ...«
»Naziza! Übertreib nicht. Ich spreche nicht wie gedruckt. Das ist Unsinn.«
»Non. Das meine ich nicht. Deine Humour war vorhanden, Deine Spiele mit den Worten und Wörtern. Sicher, es war ...«
»Wahrscheinlich habe ich mich sehr konzentriert, um zu gefallen.«
»Didier, es war nicht schlimm. Nur ein wenig. Doch wer tut es nicht? Ich habe es auch getan. Man zeigt sich von seine schöne Seite. Es ist normal. Es ist jedoch sogar, meine ich, mehr das Gegenteil gewesen – Du hast Dich sicher mehr bemüht, nicht Deine Federn aufzufächern. Es war mehr Zurückhaltung. Vielleicht gezielt, utile. Doch es ist égal, es hat mir sehr gut gefallen.«
»Ich muß so verdattert gewesen sein, daß ich nicht mal zum Schauspielern kam.«
»Ah! Du hast es. Ein wenig Théâtre es war. Jedoch, Du warst wunderbar. Du warst jener, der mir hat geschrieben! Es war Cyrano – nicht Christian! Verstehst Du es denn nicht?! Ich bin in Dich hineingefallen. Non. Ich war es schon zuvor. Non – wie heißt das? Hereingefallen.«
»Hineingefallen ist schon richtiger. Hereingefallen hieße, ich hätte dich hereingelegt, also getäuscht.«
»Mais oui. Also, ich habe diesen Mann dieser Briefe ein wenig viel gemocht. Diese Cyrano. Und er stand vor mir. Du hattest ja einmal, zweimal auch ein wenig über Dein Äußeres geschrieben. Du weißt es nicht?«
»Nein. Unvorstellbar. So etwas tue ich sonst nie. Siehst Du – Du hattest mich bereits in Deinen Fängen.«
»Was mich etwas in die Irritation hat getrieben – Du wolltest nicht ein Bild haben von mir.«
»Das versteh ich nicht. Wie, kein Bild?«
»Ich habe Dir geschrieben, ob Du haben möchtest eine Photographie von mir. Du hast es nicht haben wollen.«
»Demnach hatte ich bereits ein Bild von Dir und wollte es nicht zerstören.«
»Du meinst in Deinem Kopf?«
»Ja. Im Hirnkino. Ich vermute es. Flucht vor der Wirklichkeit. Anzunehmenderweise. Ich kenn mich doch.«
»Oui, Didier. Es war so. Du hattest es mir später zugestanden. Ich muß lachen darüber. Avant tout, weil Du hast geschrieben, Du möchtest lieber eines Tages den Tatsachen in das Auge sehen. Es hat mich jedoch zu Beginn etwas in Bedenken geführt. Auf der andere Seite es hat mich beeindruckt. Es war ein gutes Gefühl, es ist jemand, der sich nicht dem Äußeren unterwirft.«
»Wenn Du Dich da nicht mal täuschst ...«
»Didier! Ich weiß es, wie es sich hat verhalten! Wir hatten darüber gesprochen. Ich versuche lediglich, es in Erinnerung zu rufen! Eh bien, das Mélodrame hatte ein Happy end. Es war ein wenig Cyrano, in Abwandlung. Es ist richtig. Du hattest ein Bild, daß Du behalten wolltest in Dir. Und es ist ebenfalls richtig, daß Du Furcht hattest. Jedoch, es liegt zurück. Ich weiß es. Doch Du mußt es zurückhaben. Deshalb wir müssen wieder zum Anfang gehen.«
»Das tun wir ja. Wenn auch in kleinen Schritten. Wie war das also mit dem Bild von mir in Dir?«
»Desire, mon amour. Ich habe Dich gesehen. Ich habe gewußt, es kommt nicht Christian. Non. Ich habe es nicht gewußt. Ich wußte nicht, ob Du mir schreibst, Du bist nicht Christian und bist es doch. Mir wäre es auch égal gewesen. Und es war sehr angenehm, denn es stand dann diese Mélange! – vor mir aus Cyrano und Christian. Ein wenig hiervon und ein wenig davon. Ein wenig dieser Masse von Depardieu, non, nicht so viel, sehr viel weniger, etwas Bauch und ein wenig, non, un tout petit peu anders diese Nase. Ah! Fin! Es verhielt sich – es war entscheidend, daß ich habe directement in Dich hineinschauen dürfen. Et tomber amoureux! Pif! Paf!«
»Das ist alles wunderschön. Wie im Kino eben. Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, die Du mir gestellt hast. Sie bedrückt mich. – Was wäre gewesen, wenn Du nicht so schön vor mir gestanden hättest. Also, zum ersten – mit soviel Schönheit habe ich nicht gerechnet.«
»Je embarrasser ...«
»Das muß Dich nicht verlegen machen. Ich habe es Dir ja auch nicht zum ersten Mal gesagt. Und ich habe es Dir nicht zum letzten Mal gesagt. Doch das ist jetzt nicht mein Problem – das ich gelöst haben möchte.«
»Ich habe Dich hineingestürzt. Mon Dieu!«
»Es ist eine Frage, die ich mir hätte stellen müssen. Ich habe es ja auch getan. Kurz habe ich darüber nachgedacht. Aber dann wieder verdrängt. Es ist ja wohl so, wie du vorhin gesagt hast – daß man während der Liebe nicht so schrecklich an die Theorie der Liebe denkt. Also, zweitens: Mir hätte angesichts und angehörs Deines Charmes und Deiner schlichten Eleganz quasi auch halb soviel Schönheit ausgereicht, um mich heillos in Dich zu vergaffen ...«
»Was ist das?«
»Was? Ach – vergaffen. Dasselbe wie tomber amoureux. Man steht da und glotzt nur noch. Wie ein liebeskranker Ochse. Wenn das geht. Vermutlich weiß ein Ochse eher nicht, daß er verliebt ist. Obwohl, ein Kastrat liebt ja durchaus auch eine Frau. Und singt dann Arien wie der Troubadour aus den Canzoniere oder vielleicht eher wie Klaus Nomi ein Stück von Händel oder Purcell. Leicht artifiziell tönt man dann eben. Und dann sieht man auch wohl so aus. Wie ein liebeskranker Ochse eben. Man sagt dann gaffen.«
»Ah! Oui – eben amouracher. Sich vernarren.«
»Ich darf – wir dürfen ja auch nicht vergessen, was mir passiert ist, als Du gestern – war’s vorgestern? Siehst Du, ich bin schon wieder völlig durchgedreht. Egal. Als Du vor mir saßest, standst. Bei mir. In meiner Wohnung.«
»Was ist geschehen?«
»S’amouracher. Tomber amoureux. Aber wie!«
»Du hast Dich nicht so verhalten.«
»Ach, Naziza. Das ist doch klar. Da sitzt eine wildfremde Frau ...«
»Wilde fremde ...«
»Nein. Doch. Wild und fremd. Richtig. Du wirst doch wohl zugeben müssen, daß solches kein normaler Zustand ist! Aber das ist doch jetzt auch gleichgültig. Ich meine, daß es nicht lang gedauert hatte, bis ich mich in Dich vergafft hatte. Ich wurde ganz hibbelig. Ich hab den Clown gegeben vor lauter Unfähigkeit, mich Dir gegenüber normal zu verhalten. Ich wußte nur – da sitzt sie! Vermutlich die Frau meines Lebens.«
»Es war Erinnerung.«
»Das mag ja sein. Aber nein – in diesem Moment sicher nicht. Du warst mir völlig unbekannt. Doch ich hatte mich in Dich verliebt. Und eben – das ist eindeutig klar! – nicht nur in diesen schönen Körper. Das warst Du, Du wilder Feger!«
»Comment?«
»Ja, Du wilde fremde schöne Frau. Nein – Du wilde fremde Frau. Du hast mich fasziniert. Ich habe deutlich gespürt, welche Leidenschaft da vor mir steht oder sitzt. Na, sicherlich auch liebevolle Leidenschaft«
»Das ist sehr schön. Jedoch ich sage – Mémoire.«
»Meinetwegen. Ist mir auch egal. Mag ja sein. – Aber zurück. Zurück nach Marseille. Also – Du halb so schön. Von mir aus im Gesicht. Oder so ähnlich. Du hättest blond sein können, blauäugig. Ein Meter achtzig groß. Zwei Meter. Meine Güte, warum nicht. Das gab es alles. Meine erste nennenswerte Freundin war einen Kopf größer als ich. Große Frauen sind eine Augenweide für mich ...«
»Mais – ich bin nicht groß!«
»Aber auch nicht kurz. Du bist zierlich, aber nicht klein. Wenn Du in Deine ‘hauts talons steigst ...«
»Du weißt es?!«
»Ja sicher. Ich habe es Dir doch gesagt. Ich erinnere mich recht gut mittlerweile. Zumindest habe ich ein Bild davon im Kopf. Nach dem habe ich Dich kennengelernt in einem entzückenden schlichten blauen, gepunkteten Kleid ...«
»Mon Dieu! Ist das schön.«
»Was? Das Kleid. Ja. Es war sehr schön.«
»Grosse Idiot. Ich meine Deine Mémoire.«
»Ich habe es Dir doch gesagt. Und die etwa einen bis zwei Meter hohen Absätze – ja! ich erinnere mich jetzt gut! anscheinend – hattest Du bei Cyrano an ...«
Meine Erinnerung wird unterbrochen durch einen Überfall auf Hals und Kopf. Im 2 CV hätte dies einen unfallträchtigen Schlenker zur Folge gehabt. Doch jetzt drehen sich lediglich alle Insassen unserer Liebeslaube nach uns um. Die sogenannten gestandenen Männer schütteln alle den Kopf, die junge Frau hinter dem Tresen lächelt glücklich. Noch um einiges glücklicher schaut mich meine damals hochhackige Gazelle an.
»C'est fantastique. Ich bin so froh darüber! Sage mir – das, ich weiß es nicht mehr. Du weißt mehr als ich! Ich hatte ‘haut talons getragen? Ich tue das nicht häufig. Sie sind – puh! – très incommode. Man kann nicht laufen damit – wie heißt es? Ah! Rennen. Es ist nur gestattet, zu gehen.«
»Du sollst ja auch nicht rennen. Du sollst schreiten. Gazellen rennen nur auf der Flucht. – Wie auch immer. Es hat mir sehr gut gefallen, obwohl ich wahrlich zu den Anhängern dieser Schuhart gehöre. Du hast mich in jeder Hinsicht überragt. Et Madame en noir. Meine große Schwarze im kleinen Schwarzen. Traumhaft schön. Ich bin mir vorgekommen wie im Kino, und das im Theater. À propos schwarz – ich war ja auch mit Blond verheiratet und später viele schöne Jahre mit einer blonden und blauäugigen Frau zusammen ...«
»Fiche-moi la paix! Avec cela. Das ist eine Vergangenheit, die mich nicht interessiert!«
»Ach, Naziza. Meine Liebe zur Dunkelheit stellte sich ja erst später ein. Nein, es stimmt so auch nicht. Es gibt weibliche Sabras zum Beispiel, bei denen das Semitische stark ausgeprägt ist. Nein, es ist überwiegend so. Ich nehme an, heute noch viel mehr, da mittlerweile die Massen aus Osteuropa eingewandert sind. Aber auch damals – da hat es mich jedesmal gerissen, wenn ich in Israel die Verwandten besucht habe ...«
»Sabras? Und Du hast Verwandte besucht? In Israël? Es ist neu.«
»Mir ist neu, daß Du etwas nicht weißt.«
»Vielleicht ist meine Erinnerung – perdu?«
»Jetzt wirst Du aber kokett! – Sabras, das sind die in Israel Geborenen. Ja, ich habe Verwandte besucht. Häufig. Aber das ist ja ewig her. In Haifa. Die ganze väterliche Familie. Ich wäre ja beinahe umgesiedelt. Die Einreisepapiere waren fertig. Aber irgendwie muß ich die göttliche Eingebung gehabt haben. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund habe ich es verzögert, die Abreise hinausgezögert. Ich glaube allerdings, es hat den banalen Grund in meiner eigenen Unentschlossenheit. Ich war mir allerdings soweit darüber im klaren, daß es kein Zurück geben würde. Meine Güte – ich war knapp Zweiundzwanzig! Oder Dreiundzwanzig. Und sah aus wie achtzehn. Ich weiß es gar nicht mehr so genau. Egal. Meine Eierschalen hinter den Ohren waren auf jeden Fall noch sehr fest. Die Familie hatte mich wohl auch ein bißchen bedrängt. Ich glaube, sie wollten mich aus dem Deutschen heraushaben. Was heißt, ich glaube – es war mit Sicherheit so. Doch auch in der Familie wollten sie mich haben. Aber ich wollte wahrscheinlich wegen der vielen schönen Mädchen und Frauen dorthin. Na ja, vielleicht war's auch ein bißchen eben diese Familie, die ich gesucht habe ...«
»Sie sind schön?«
»Die Familie aus dem Schtetl?«
»Nigaud.«
»Ach Gottchen – ja. Sehr schön. Aber eben auch nicht alle. Wie überall. Denk an Villon und Paris.«
»Salaud! Und ebenfalls wie überall sind es – das ist effectivement diese Procès sociale! – es sind die Töchter der gebildeteren Schicht. Éducation und die Möglichkeit zur Muße wird damit, mit diesem höheren Einkommen, in das Erbe gegeben!«
»Da dürftest Du nicht irren. Woran das liegt – genau konnte ich das für mich nie erklären. Nun gut, ist ja klar – die haben mehr Zeit, ans Poesiealbum zu denken.«
»Sie haben nicht so diese Angst der Extistence. Und dort ist es vermutlich nicht anders als hier.«
»Also nicht im Elsaß – pardon, Alsace. Wie zuhause. In Marseille. Die Mischung macht's. Es ist wahrscheinlich noch sehr viel ausgeprägter. Sie kommen ja nun wirklich von überall her und wurden im politischen Reagenzglas der Geschichte durcheinandergeschüttelt. In Israel hockt ja tatsächlich die ganze Welt. Aber meine Welt war damals – wie heute? Wie heute wieder? Sind's nicht doch die Gene? Ich weiß es nicht – das sogenannt Semitische. Da stecke ich irgendwie drinnen. Du darfst ja nicht vergessen, daß das die rund dreißig Völker sind, deren Siedlungsgebiet von Westanatolien über Persien und Armenien und wo sonst noch hin reicht. Wir sind also sozusagen über meinen Vater miteinander verwandt. Und dann wohl auch über Deine Mutter. Du und ich – Brüderchen und Schwesterchen ...«
»Bon. Pareil – Mariage sonsanguin.«
»Das ist im Deutschen viel drastischer ausgedrückt – wie es im Deutschen, ganz nebenbei, übrigens sehr viel mehr Möglichkeiten gibt, etwas zu beschreiben!«
»Ich weiß es. Es ist richtig.«
»Also – im Deutschen, en allemand heißt es Inzucht. Züchtung innerhalb einer Sippe eigentlich – wie im Französischen auch. Aber wenn man im Deutschen von Inzucht sprichst, denkt jeder sofort an Geschwister – na, sag ich mal Geschwisterliebe.«
»Jedoch es gibt es! Ich emfinde es nicht als schlimm. Wenn es so ist, dann soll es so sein.«
»Du kennst ja sicherlich Lessings Nathan, den Weisen ...«
»Wie sollte ich Nathan le Sage nicht kennen, Didier?! Wir – wir beide! – haben ihn sehr oft ... Jedoch – wie geraten Deine Gedanken dabei auf Nathan?«
»Na ja, Inzucht eben.«
»Du bist verrückt! Moment. Jedoch ...«
»Jawoll! Na ja, beinahe. Recha und der Tempelherr wären ja beinahe ins Bettchen gekrochen, wenn ich das mal etwas flapsig sagen darf. Im zwölften Jahrhundert oder meinetwegen auch in Lessings achtzehntem Jahrhundert nannte man das ja noch Heiraten.«
»Didier – wir sind es auch! Jedoch, es kommt mir zu Gedanken. Es ist mir vollkommen aus dem Gedächtnis, weil ich bei Nathan immer nur an die Vereinigung der Réligions denke. Und richtig, es ist ein Thème! Es gehört alles zusammen. Du hast recht ...«
»Ja, genau. Lessing hat gerade noch die Kurve gekriegt. Aus dem Engel Kreuzritter, der das Juden-Mädchen aus dem Feuer rettete, wäre beinahe ein profaner Ehemann geworden. Aber Lessing hat kurz vorm Absturz in die Langeweile oder in die Sünde der Inzucht noch einen geschwisterlich liebenden Bruder aus ihm gemacht. Und aus ihr die liebende Schwester, deren Augen dadurch jedoch nicht gerade an Glanz verloren.«
»Möchtest Du lieber mein Bruder sein und nicht mein Geliebter, mein geliebter Ehemann?«
»Dann ginge ich auch mit Dir ins Bett ...«
»Nur in das Bett? Das geschieht doch immer. Ich meine – nicht nur in das Bett. Auch in mich hinein, in mich als Deine Höhle Calypso? Geliebte Schwester?«
»Richtig. Du hast recht. Nach der Endphase der Doktorspiele verbietet man Geschwistern ja den weiteren Vollzug der körperlichen Liebe. Ich glaube, daß ich allein deshalb immer gerne eine Schwester gehabt hätte. Mir kommen da gerade unglaubliche Bilder aus der Erinnerung angelaufen. Ich bin nämlich der Meinung, daß es kaum eine nähere Nähe geben dürfte als die zwischen Bruder und Schwester. Wenn man eben die Anziehung unter den Geschlechtern hinzurechnet. «
»Du bist mein Bruder? Pourquoi pas?!«
»Das haben wir doch ohnehin gerade festgestellt. Über die Völker der Antike. Wie bei Lessing. Nur eben ein bißchen moderner.«
»Vielleicht ist das eine gewagte Interpretation von Nathan?«
»Gut, ich übertreibe vielleicht ein bißchen. Denn zu dieser Zeit dürfte man – oder ein Mann wie Lessing – kaum an Geschwisterliebe gedacht haben, die sich auch im Sexuellen ausdrückt. Aber weiß man's? Und warum nicht? Er durfte es halt nicht schreiben. Er hat dann halt sein Alle-Menschen-werden-Brüder-und-Schwestern draus gemacht. Auch gut. Allein deshalb mag ich ja das Stück.«
»Das wir oft zitiert, oui, woraus wir in Rollen uns vorgelesen haben. Es ist sehr schade, daß Du es nicht mehr weißt. Eh bien. Ich gebe Dir völlig recht. Wenn Bruder und Schwester miteinander – warum nicht. Wir sind schließlich ...« Sie lacht hell, fast klirrend. »Aber es ist doch ein große Gefahr, daß herauskommt ein Imbécile – wie heißt es?«
»Ein Schwachsinniger. Das ist aber auch der einzige Grund, es zu unterlassen. Ich meine, daß Geschwister Kinder kriegen. Eine Bekannte hat mir vor einiger Zeit erzählt, daß es in ihrer Verwandtschaft eine Offziersfamilie alten Adels gibt, die fast durch die Bank Schäden an den Organen hat. Und so, wie sie sie geschildert hat, wohl auch am Kopf. Schwachsinnige also. Wie bei den Deutschen. Ich meine den Hitlerschen Rassenwahn. Wobei er ja genug Mittäter hatte! Vermutlich bis heute hat. Meine Güte – wenn ich nur an diesen Lebensborn denke. Man hat im Ausland Eltern deren Kinder geraubt, für die gesunde Aufforstung, für die Umsetzung dieser abstrusen, irrsinnigen Idee von deutschem Aussehen. Schrecklich. Du weißt?«
»Oui. Diese Mütterheim für blond und blaue Augen. Kinder für die Führer.«
»Nun denn. Aber man muß ja nicht – na ja. Die reine, eher weniger leibliche Früchte tragende Liebe tut's ja auch. Wie bei uns.«
»Oh! Didier. Sag es nicht. Es tut mir weh.«
»Dann machen wir eben eins.«
»‘helas!«
»Naziza – meine Mutter war vierzig. 1944! Das war eine – durchaus auch medizinisch gesehen – weitaus kompliziertere Zeit.«
»Mais – vielleicht war sie deshalb böse.«
»Wenn, dann eher wegen des dreißig Jahre älteren Mannes, der im Kopf dreißig Jahre jünger war als sie. – Aber lassen wir das.«
»Du willst auch nicht.«
»Ich will was nicht?«
»Nicht mehr Enfants. Du hast es gesagt. Du hast gesagt, Du hast genug Kinder geboren.«
»Also ich persönlich ja weniger. Eher die Mütter der Kinder. Was soll's. – Aber, ach ja. Es beginnt jedoch neues. Doch wir sollten das jetzt nicht vertiefen. Was nicht heißt, daß wir nicht darüber sprechen können, vielleicht sollten. Aber jetzt besser nicht.«
»Je t‘aime, mon amour.«
»Wollen wir zurück zur semitischen Inzucht? Gleich zu Dir und mir?«
»Eh! Oui!
»Doch zunächst – ich hab's nicht gemacht. Und kurz danach brach der Sechstagekrieg aus. Vermutlich läge ich jetzt auf dem Heldenfriedhof. Man ist ja ganz schnell eingezogen worden zum Militär, ich meine, innerhalb von drei Monaten. Genau weiß ich es nicht. Nicht mehr. Auf jeden Fall schnell. Und ich zum Militär! Unvorstellbar. Strammstehen. Unterwerfen. Dienen. Jemandem dienen. Das war schon damals unmöglich. Es hätte mich auch ohne Dienst an der arabischen Front umgebracht. – Siehst Du – damals haben wir noch gegeneinander gekämpft. Bruder und Schwester haben einander beschossen und umgebracht. – Aber das ist lange her – und eine andere Geschichte.«
»Doch es interessiert mich sehr! Wollen wir noch einmal darüber sprechen? Über Israël? Peut-être que oui – avec Maman et Papa? Maman weiß einiges über jüdische Réligion. Doch über das Land wissen wir wenig. Wir haben sehr oft darüber gesprochen – über diese Bruder- und Schwesterkrieg. Diese ganz schlimme.«
»Na ja. Als Bruder- und Schwesterkrieg würde ich das dann doch eher nicht bezeichnen. Dazu sind die Araber doch zu sehr ein Volk und die Israelis eine zu wilde Mischung. Aber ich habe nichts dagegen. Allerdings fürchte ich, ich habe nicht viel zu erzählen. Es ist tausend Jahre her, daß ich das letzte Mal dort war.«
»Du warst nie mehr dort?«
»Nach der Durchtrennung aller Blutsverwandtschaftsbande nicht mehr. Manchmal bedaure ich das. Doch nun ist es nicht mehr zu ändern. Vielleicht kriege ich ja jetzt eine neue Familie.«
»Du hast sie, Cheri!. Es gibt sie. Sie muß nicht neu geschaffen werden. Sie ist da! Niemand hat Dich vergessen. Wir sprechen sehr oft über Dich. Und nie böse. Vielleicht eher traurig. Tenir! Nicht nur Maman et Papa et Mirjam et Aaron. Auch die anderen! – Mais. Es gibt noch etwas, das Du sagen wolltest. À cause de moi.«
»Was meinst Du – Deinetwegen?«
»Wo es hätte geben können ein Abweisung von Dir. Wo Du mich nicht hättest haben wollen.«
»Ach so. Ja. Ui. Problematisch. Also – Du hättest zwei Meter fünfzig groß sein können, blond, blauäugig. Du hättest ein schiefes Gesicht haben können, von mir aus auch hinken oder sonst ein Gebrechen haben. Das hätte ich gepackt. Dein Charme, zugestandermaßen auch Deine Bildung, hätten das alles ausgeglichen. Das wäre alles überhaupt kein Problem gewesen. Was nicht gegangen wäre – ich mache jetzt eine gigantischen Satz über meinen Schatten! –, wenn Du dick gewesen wärst. Das hätte ich nicht gepackt.«
»Nicht ein bißchen – rondelette?«
»Nein. Auch nicht ein bißchen mollig. Es geht nicht. Ich weiß nicht weshalb. Irgendein Mann hat mal behauptet, Männer, die diese hyperschlanken Frauen mögen, seien latent schwul. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, wenn’s auch bißchen arg nach Amateurpsychologie klingt, weil’s möglicherweise gar nicht solche tiefenpsychologische Wurzeln hat und eher in einem schlichten Geschmack begründet ist, der von irgendwelchen Moden geprägt wurde. Ich kann es nicht be- und ergründen. Mittlerweile tue ich es auch nicht mehr. Aber es ist so. Alles in mir sträubt sich dagegen.«
»Das ist nicht schön. Jedoch es ist auch gut – weil Du es sagst. Es ist aufrichtig. Es ist das, was ich an Dir liebe. Auch.«
»Es ist lieb von Dir, daß Du das sagst. Aber ich habe manchmal deshalb ein wenig Gewissensbisse. Gerade weil ich weiß, daß der Körperumfang eines Menschen nichts über sein Inneres aussagt. Ich habe liebe Menschen kennengelernt, die etwas runder und auch noch ein bißchen viel mehr als das waren. Es ärgert mich fürchterlich. Aber ich – ich kann nicht anders. Weißt Du – ich glaube, ich bin im Grunde ein sehr schlichter, sehr einfach gehäkelter Mensch, der wider seine Verlautbarungen doch in Klischees und Vorurteilen gefangen ist. Wie ein Buch, in dem inhaltlich nicht sonderlich viel enthalten ist, aber mit Vorsatzpapier und feinem Umschlag. Ich kaschiere viel. Doch ich glaube, daß es vielen anderen auch so geht, sie es aber nicht wahrhaben wollen.«
»Non, Didier. Doch nicht, weil Du Problèmes hast mit dicke oder auch nur mit ein bißchen dicke Menschen. Das ist ein – etwas anderes. Hier hast Du ein schlechtes Gewissen. Ob es richtig ist? Ich weiß es nicht. Ich habe es noch nicht überdacht. Doch Du bist nicht schlicht. Du bist eines der schwierigen Wesen, die ich kenne. Du bist, es ist im Gegenteil, Du bist très, très complexe. Du bist un Personne à difficile. Es ist jedoch ein Unterschied, ob man schlicht ist oder man sich nach Schlichtheit sehnt. Nach weniger Application. Nach weniger Lärm im Kopf. Nach weniger Aufwand. Das bist Du. Es ist nicht leicht mit Dir. Mais – es ist auch sehr schön, weil ich mit Dir viele runde Flüge drehen kann ...«
»Du meinst wohl Rundflüge.«
»Ah! Oui. Ich mit Dir viele Rundflüge intellectuel machen kann und auch nur dumme Witze. Und immer landen wir zusammen auf dem Boden. Das ist schön. Manches Mal ist es ein bißchen holpern. Aber wir kommen immer an dieses Ziel, diese – oui, unsere – Wunsch nach der Réduction. Wir lieben es beide. Das ist mit eine Punkt, an dem wir immer einander begegnen. Begegnet sind und es werden. Mir tut es sehr gut. – Was meinst Du – für diese Mal heute? Wir sollten hineinfahren in das Hôtel?«
»Ja. Laß uns aufbrechen. Es wird noch ein langer Abend.«
Wir zahlen und trotten zu unserer Chaise à porteurs, dieser fahrbaren, schlichten Sänfte. Ich muß an die Arbeit denken. Es behagt mir nicht. Doch es muß wohl sein. Und zu schaffen wird es auch sein. Wenn ich nur nicht so müde wäre! Das läßt mich an die Sänfte denken, die Naziza sinniger- und sinnlicherweise erstehen möchte. Aber diese Lagerstätte wird auch die Hälfte des Honorars wegfressen. Wenn's reicht. Doch sie soll ja lange halten. Vielleicht für den Rest meines sicherlich nicht mehr allzu langen Lebens. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß es nicht mehr ewig halten wird. Doch es spielt jetzt keine Rolle. Ich sollte es so nehmen, wie es kommt. Es ist also gut so. Und die Vorstellung baut mich auf, daß Naziza sie zuallererst, vor allem anderen Gerümpel, in das Zimmer mit dem Fenster zum Meer stellen möchte. Wie bitte? Woher weiß ich das? Ach richtig, sie hat es ja erzählt – der Blick zum Meer. Doch irgendwie ziehen auf einmal Erinnerungsschwaden auf. Ich bin jetzt fast sicher, in diesem Zimmer gewesen zu sein, mich an diesen Ausblick zu erinnern – vorne rechts der Parkplatz oder, ein bißchen weiter hinaus, die nicht eben attraktiven Betonbefestigungen des Hafens von l'Estaque. Aber man braucht den Kopf nur ein wenig anzuheben, und schon blickt man hinaus aufs weite Meer oder nach rechts oben in die riesigen dünenartigen Felsen. Stimmt das überhaupt? Hat man im Sommer dort nicht doch eher den dichten Blättervorhang der Platanen vor Augen? Irgendwas war da. Wurscht. Ich hab’s so in Erinnerung. Wie auch immer: es entschädigt für alle optischen Unbilden französischer Küstenarchitektur. Ach, was soll das! In Deutschland oder den Niederlanden sieht der Küstenschutz auch nicht anders aus. Und dort gibt es nicht diese Atmosphäre wie in l’Estaque. Man geht aus dem Haus und befindet sich mittendrin im geruhsamen und dennoch sehr kommunikativen Leben. Obwohl dieses Leben nicht im typischen französischen Ortskern stattfindet, sondern an der langgestreckten, dem Meer zugewandten Seite. Zumindest kenne ich es so. Ich wünsche mir sehr, daß das alles so glatt abläuft, wie es sich abzeichnet. Aber ich bin skeptisch. Das wäre fast zu viel auf einmal auf die alten Tage. Denn es kann ja wohl nicht angehen, daß man siebenundfünfzig Jahre strampelt und ackert und hinwartet, und auf einmal soll mit einem Schlag die Vorstellung von der Glücksseligkeit als Wirklichkeit aus der geliebten Badewanne Mittelmeer auftauchen. Und mit ihr gleich noch so eine Fée morgane aus Fleisch und Blut. – Ein hektisches, sehr realistisches Kramen dieser Märchenprinzessin in unserer schönen Handtasche aus dem lyonesisch-arabischen Croix-Rousse reißt mich aus allen Träumereien. Aha. Das Telephon. Es wird wohl endlich Germering sein, mit dem Studiotermin. Doch es hört sich anders an. Offenbar nicht. Vielleicht ist es unser Fischfilmer. Vielleicht hat er ja gleich eine Luxusliege mit reingestellt.
»Cheri. Es ist Isabelle. Ich glaube, es ist sehr wichtig.«
Sie reicht mir ihr Mobiltelephon.
»Du, ich war eben an Deinem Briefkasten, Post holen. Es ist ein Brief da vom französischen Generalkonsulat in München. Ist da was Wichtiges?«
»Nicht, daß ich wüßte. Ich hab mit denen seit ewigen Zeiten nichts gehabt. Ach – mach's halt auf. Oder willst Du's erst mal lesen und rufst Dann nochmal an. Es ist sonst so teuer. Oder sollen wir Dich zurückrufen?«
»Blödmann. Seit wann interessieren mich Telephonkosten? Ich bin doch nicht Du. Außerdem bin ich neugierig. Kennst mich doch. Und wenn ich schon mal den Kurier des Zaren spielen darf.«
»Also gut. Dann mach's auf.«
Ich höre sie den Umschlag aufreißen. Ihr Schweigen ist seltsam. Ich habe keine guten Vorahnungen.
»Also paß auf – ich muß es grob übersetzen ...«
»Französisch? Typisch.«
»Mein Lieber. Ich glaub, Du wirst Dich gleich sehr wundern. Ich hab's überflogen. Denn – ach, hör zu. Ich les vor. – Monsieur. Zuständigkeitshalber wurden wir von der französischen Botschaft mit der Übermittlung folgenden Sachverhaltes beauftragt. Also, Du hast am blablabla 1998 in Marseille die französische Staatsbürgerschaft beantragt. Dem requête – na, wie heißt, verdammt, eh ...«
»Vermutlich Antrag oder so.«
»Ja – nein, Ersuchen, jetzt hab ich's, also Ersuchen wurde durch den Minister blablaba stattgegeben. Das wurde Ihnen mit Brief vom soundsovielten an Ihre Anschrift in Marseille von et cetera auch mitgeteilt ...«
»Wie bitte?!«
»Blödmann. Ich hab Dir doch gesagt, daß die Frau nicht lügt.«
»Trotzdem bin ich ...«
»Ach was – trotzdem. Du bist ein ewig mißtrauischer Kotzbrocken. Aber jetzt weiter – Sie sind leider bisher unserer Einladung zu einem letzten klärenden Gespräch mit Erledigung der restlichen Formalitäten nicht gefolgt – nicht Folge geleistet. Wurscht. Da Sie jedoch diese weitere Adresse in München angegeben haben, wenden wir uns jetzt über diese an Sie mit der Frage, ob Sie Ihre Demande de naturalisation aufrecht halten möchten. Sollte dem so sein, bitten wir Sie, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Sie können sich selbstverständlich auch mit dem – eh, an den zuständigen Präfekten in Marseille wenden, wo Ihre Papiere weiterhin verwahrt sind.«
»Dunnerlittchen. Soll das heißen ...«
»Ja, Du Volldepp. Das soll es heißen! Aber jetzt kommt der Hammer. Sitzt Du?«
»Nein. Ich stehe. Aber ich werde mich an meiner Frau festhalten. Ich weiß allerdings nicht, ob die mich halten kann. Sie sieht sehr wacklig und bleich aus. Es ist wohl die solidarische Liebe – weil ich vermutlich auch so aussehe. Also, was is‘? Schmeißen's mich jetzt doch wieder raus? Kaum daß ich drin war im Land meiner Träume.«
»Daß Du nie ernst sein kannst! Also ...«
»Mir war's nie ernster als jetzt. Warte. Ich lehne mich an das Auto entsprechender Nationalität.«
»Du bist ein solcher – ach. Also weiter: Wir fühlen uns jedoch verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß Ihrem Antrag immédiatement, also unmittelbar, stattgegeben wurde. Die Begründung liegt in unserem Code Civil, also darin, daß Madame votre mère sich immer im Besitz der französischen Staatsbürgerschaft befand. Die Occupation durch die deutsche Wehrmacht hat nach unserem Code Civil – also sowas wie Grundgesetz – an diesem Status keine Änderung hervorgerufen. Somit sind auch Sie Bürger der République Française. Es ist darüber hinaus hinzuzufügen – jetzt kommt der Hammer! mein Gott! –, daß Madame votre mère, Madame Liliane Aubertin, sich seit 1930 im Dienst der République Française befand und bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 ihr verdientes Ruhegeld empfangen hat. Für weitere Auskünfte in dieser Sache müssen wir Sie allerdings bitten, sich an das Ministère de l'Interieur in Paris, Adresse und so weiter, zu wenden. Und jetzt?«
»Nix, Isaac. Jetzt bin ich fertig. Laß uns jetzt mal Schluß machen. Ich glaub, ich muß jetzt erstmal schnaufen. Wir können ja später nochmal ...«
»Halt! Was soll ich mit dem Brief machen? Soll ich‘n faxen? Ins Hotel?«
»Ich weiß nicht, ob das so gut ist. Warte mal – ich frag Naziza.«
»Liebes. Ich habe einen wichtigen Brief bekommen. Wo können wir den, wo soll Isabella den hinschicken?«
»Naturel zuhause. 16, Rue de l’Évêché. 13002 Marseille. Ist es schlimm?«
Ich schüttele den Kopf.
»Isaac. Bist Du noch dran.«
»Klar. Was denn sonst.«
»Meinst Du, man kann den faxen? Es steht ja eigentlich nichts Anzügliches drinnen. Wie das direkt in meinen Computer reingeht, übers Hotel, das weiß ich nicht. Was meinst Du?«
»Ich glaub auch nicht, daß es schlimm ist. Was wollen die denn damit anfangen? Höchstens, daß die Dich mit Allons enfants de la Patrie begrüßen.«
»Jetzt bist Du saudoof!«
»Also, ich fax ihn Dir durch und schick ihn dann mit der Post. Die Adresse hab ich ja. Wohin soll ich ihn faxen?«
»Scheiße. Weiß ich nicht. Ach. Halt. Ich schau im Hotelführer nach ...«
»Mußt Du nicht. Wie heißt das Hotel?«
»Champ-de-Mars. Ist ein Mercure.«
»In Colmar?«
»Oui.«
»Okay. Ich find das schon raus. Kennst mich ja. Ich ruf da vorher an. Daß auch ja nix passiert. Dann beruhig Dich erstmal. Wir telephonier'n später.«
»Ja. Ich danke Dir herzlich.«
»Schon gut. Kopf hoch. Salut, auch an Deine Araberstute.«
»Cheri – sag mir, was es ist? Es ist nicht schlimm? Vrai? Ich glaube doch.«
»Nein. Ach, ich weiß es nicht. Mir ist speiübel, glaub ich. Komm, laß uns nochmal da reingehen. Ich kann jetzt nicht fahren.«
Jetzt muß ich tatsächlich würgen. Es kommt mir hoch. Ich renne hinter den kleinen Flachbau. Bis zur Toilette schaffe ich es nicht mehr. Es ist nur wenig, was ich herauswürge. Aber mein Kreislauf ist am Ende. Seitlich hinter mir steht Naziza. Als ich mich aufrichte, faßt sie mich sofort unter den Arm.
»Komm, Didier. Wir gehen hinein. Du kannst Dich setzen.«
Ich schleppe mich, nein, ich werde geschleppt. Im Eingang sehe ich kurz das entsetzte Gesicht der Bedienung. Sie fragt sofort, ob sie einen Arzt rufen soll. Ich verneine. Es ginge schon. Um einen Stuhl bitte ich. Wir setzen uns direkt neben dem Eingang in eine Nische.
»Cheri. Bitte sag mir, was ist – Mon Dieu! – geschehen?!«
»Einen Moment noch.«
Ich muß noch ein paarmal tief durchatmen. Der Kreislauf beginnt langsam, sich wieder zu normalisieren. Naziza bestellt zwei Mineralwasser ohne Kohlensäure. Ich schüttele den Kopf.
»Non. Gazeuse, s'il vous plaît, Madame. Pour moi. Et un café pour moi.«
»La même chose pour moi«, ruft Naziza zu ihr hinüber.
»Ich bin Franzose.«
»Mais oui! Ich habe es Dir gesagt. Es ist so schlimm, daß Du Dich mußt übergeben? Ich verstehe es nicht.«
»Nein. Das ist es nicht. Was mich ein bißchen rausgehoben hat, ist die offensichtliche Tatsache, daß ich es immer gewesen bin.«
»Comment?! Du warst es immer? Was immer?«
»Franzose.«
»Mon Dieu! Wie geht es?
»Meine Mutter ...«
Nazizas Telephon unterbricht mich. Diese verfluchte neumodische Pest. Jetzt ruft wahrscheinlich ausgerechnet Germering an. Wie soll ich das bloß schaffen?! Nein. Es kann Germering nicht sein. Naziza spricht französisch. Oui, Madame. Non, Madame. Ich verstehe nur das.
»Didier. Es ist Radio France, wegen die Studio à Colmar. Sie sagt, München will das haben am Nachmittag. Sie können es dorthin spielen um fünfzehn Uhr. Sie hat ein Studio früh um dix heure und ein um quatorze heure.«
»Um wann?« Ich werde diese französischen Zahlen nie lernen.
»Um zehn Uhr ...«
»Das habe ich verstanden, aber ...«
»Und um vierzehn Uhr.«
»Oh, Naziza. Ich kann nicht. Ich bin fix und alle.«
Sie spricht mit der Frau von Radio France. Wieder in diesem Wahnsinnstempo. Das kann doch nichtmal ein Franzose verstehen. Doch den Brocken Quatorze kriege ich dann doch mit. Sie macht einfach. Aber wer weiß, wozu es gut ist.
»Cheri. Ich habe nun doch diese Uhrzeit später genommen. Wir werden sehen. Wenn es nicht geht, dann werde ich absagen. Aber vielleicht ...«
»Ja. Es ist in Ordnung. Vielleicht kriege ich's ja hin. Aber dann eher morgen in Allerherrgottsfrühe ...«
»In wann?«
»Ach. Sehr früh eben. Wenn überhaupt. Heute abend kriege ich nichts mehr gebacken.«
»Es ist gut. Wir werden früh schlafen. Ich werde Dich schaukeln, mon Prince.«
»Du bist lieb. Ich danke Dir.«
Nun kullern mir doch die Tränen herunter. Was sind es für Tränen? Der Trauer? Der Wut. Kommt jetzt meine komplette Vergangenheit wie eine Feuerwalze auf mich zu? Auf einmal? Vierzig Jahre und mehr nichts. Und jetzt alles? Hier, auf einem Rastplatz, in einer Fernfahrerkneipe auf der RN 83 kurz vor Colmar. In meiner elsässischen Heimat. Heimat? Selbst da hat sie mich angelogen. Es ist nicht zum Aushalten.
»Darf ich Dich weiterfragen?«
Es klingelt wieder das Telephon. Ich werde gleich wahnsinnig. Aber es ist offensichtlich nicht Radio France mit der lapidaren Feststellung, es komme doch nur der frühe Termin in Frage. Es hätte mich endgültig geschafft. Naziza spricht wieder rasend. Aber es klingt intimer. Und jetzt höre ich es – Maman. Sie wird schnell, aber offenbar liebevoll mit drei dieser rennenden Sätze abgefertigt.
»Es war Maman. Ich habe ihr gesagt, daß es gibt eine Problème. Aber nicht mit uns. Und daß dieses alles in Ordnung ist. Und daß ich sie anrufe. Und ich soll Dich umarmen und Dir sagen, daß sie sich alle freuen auf Dich.«
Sie legt ihre Arme um mich. Um alles. Bis in meine wunde Seele hinein. Es ist tatsächlich Geborgenheit. Alleine dafür würde ich sie lieben.
»Soll ich das Portable ausschalten?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht kommt ja jetzt keine Horrormeldung mehr. Laß es an.«
»Horreur? Nun sage es mir. Du bist immer Franzose gewesen? Weil Dein Maman ...«
»Sag zu ihr nicht Maman! Sie war keine Maman. Deine Maman ist eine Maman. Diese Frau war nie so etwas wie Mutter. Und außerdem ist sie jetzt tot. Richtig.«
»Mais, sie ist ...«
»Das hab ich auch gedacht. Man hatte mir das mitgeteilt. Das wäre jetzt das zweite Mal, daß man eine solche Nummer mit mir fährt. Vor vielen Jahren war es schonmal so. Jemand hatte mir auf den Anrufbeantworter gesprochen, meine Mutter sei gestorben. Da hatte mich dann doch das schlechte Gewissen gepackt, und ich habe mich erkundigt. Sie war mitnichten tot. Sie war krank, aber nicht tot. Multiple Sklerose. Bei Krankheiten – sie war gerne krank, weil man da so schön jammern kann, mon Dieu, mon Migraine! –, also bei dieser zu ihr passenden Verhärtung von Geweben und Organen war sogar sie der Mode voraus. Wahrscheinlich war's auch die Rache für ihre Schlechtigkeit. Dann bin ich – Isaac hatte mich damals begleitet – hingefahren in dieses Stinkluxuspflegeheim. Sie hat mich nicht erkannt. Sie hat immer gefragt – bist Du wirklich mein Sohn? Und nachdem ich ihr das fünfunddreißig mal gesagt habe und sie sogar – ich würde es nicht glauben, wenn ich nicht selber dabei gewesen wäre – auf den Mund geküßt. Und weißt Du, was die zu mir gesagt hat, nach fünfundzwanzig Jahren Trennung?«
»Non.«
»Dann frag mich mal, daß ich es auch selber verstehe!«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hätte gehört, daß ich es wirklich geschafft hätte. Weißt Du, was die mit wirklich geschafft gemeint hat?«
»Was kann es sein? Daß es Dir gut geht.«
»So denkt ein normaler Mensch. Aber das ist kein – ich habe es Dir doch gesagt! – Mensch. Irgendjemand – ich habe später mit der verantwortlichen Ärztin gesprochen, daher weiß ich es – hat ihr erzählt, der Herr Doktor Aubertin hätte angerufen und gefragt, ob er kommen dürfe. Den hat sie gemeint – den Doktor!«
»Vrai? Mon Dieu. – Und sage – das weitere Mal war auch nicht richtig? Wann war es – 1995? 1996?«
»Richtig. Es war auch nicht richtig. Das war mein Bruder, dieses Schwein.«
»Und nun ist es ...«
»Nun habe ich es von offizieller Stelle. Vom Generalkonsulat – im Auftrag des Botschafters der République Française à Allemagne. Man hat mir den Tod meiner Mutter im Jahr 2000 mitgeteilt.«
»Mais – ich verstehe das alles nicht. Warum teilt Dir la République Française den Tod von Deine Mutter mit? Sie ist ...«
»Nein. Eben nicht. Das ist es ja. Daß sie tot ist. Gut. Jetzt habe ich es offiziell. Jetzt ist sie eben das dritte Mal gestorben. Obwohl – bei der weiß man nie, ob sie nicht doch nochmal auftaucht. Die neun Leben einer Katze. Ach was, einer Hydra. Kaum hast du einen abgeschlagen, wachsen gleich mehrere nach. Sie verfolgt mich, diese Frau. Sie bringt mich um.«
»Es ist sehr schlimm, was Du sagst.«
»Jetzt fall Du mir noch in den Rücken!«
Sie umarmt mich. »Mais – jetzt sage mir bitte, warum La République ...«
»Es ging in erster Linie um den Einbürgerungsantrag. Bei dieser Gelegenheit hat man mir – vermutlich aus irgendeiner Verpflichtung heraus – mitgeteilt, daß meine Mutter bis zu ihrem Tod Ruhestandsbezüge von der République Française bezogen hat, der sie seit 1930 treu gedient hat.«
»Mon Dieu!«
»Das kannste aber laut sagen!«
»Was ist das?«
»Wenn ich das wüßte.«
»Du weißt es nicht. Man hat es Dir nicht mitgeteilt?«
»Nein. Weitere Auskünfte dürfe mir nur das Innenministerium erteilen. Ministerium! Mysteriös. Nicht war? Jetzt muß ich wohl nach Paris.«
»Didier – wir müssen nach Marseille!«
»Selbstverständlich. Das hat absoluten Vorrang. Offensichtlich liegt dort auch mein Paß.«
»Das ich habe Dir gesagt!«
»Ja. Sicher doch. Aber der Hammer ist ja, daß ich offenbar sofort nach meinem Antrag auf Einbürgerung auch eingebürgert worden bin. Sofort. Nix ein Jahr. Oder zwei. Sofort. So habe ich es jedenfalls verstanden. Verstehst Du das alles? Das stinkt doch gewaltig!«
»Du hast nie gewußt, ob Deine Mutter lebt?«
»Es hat mich nicht interessiert. Die Gründe, die ich Dir eben genannt habe, dürften ja doch wohl ausreichen.«
»Es ist terrible. Mais – weißt Du, warum Dein Bruder solches macht? Diesen Tod ansagen?«
»Mutmaßungen. Reine Mutmaßung. Ein paar Verdachtsmomente gibt es ja schon. Im übrigen vermute ich ja, daß er es auch war, der beim ersten Mal die Todesbotschaft geliefert hat. Nicht er persönlich. Er hat sie in Auftrag gegeben. Denn seine Stimme hätte ich, auch nach so langer Zeit, wiedererkannt. Radfahren verlernt man ja auch nicht. Zumal ich ja damals, nachdem ich meine Mutter besucht hatte, auch ihn angerufen hatte. Ein paar Tage später. Und – es ist der reine Irrsinn, es kommt mir jetzt gerade. Man muß sich das mal vorstellen!«
»Was war da?«
»Ich hatte spät angerufen. Für mich war es nicht spät, da ich zu dieser Zeit noch nachts gearbeitet habe. Ich wußte damals wohl auch noch nicht, daß es so etwas wie Frühaufsteher gibt. Es mag gegen halb zwölf gewesen sein. Es ging auch sofort jemand ans Telephon, eine Frau.«
»Du hattest seine Numeró. Du hattest sie doch – immer? Für Dich, in Dir getragen?«
»Die Frage ist berechtigt. Denn eigentlich hatte ich sie ja nun wirklich nicht. Er stand ja auch in keinem Telephonbuch. Immer wieder habe ich da mal nachgeschaut – da liegst Du wohl richtig. Es wird immer abstruser. Die Nummer hatte mir die Stieftochter meiner Mutter, also meine Stiefschwester ...«
»Was ist das? Dein Mutter hat ein Tochter?!«
»Nein. Es war – und ist wohl – die Tochter des Mannes, den sie geheiratet hat. Den sie mir als einen Jugendfreund ins Bewußtsein jubeln wollte. Dabei war sie, die leidenschaftliche Französin, nie in Norddeutschland, wo er herkam. Wo sie ihm die Stiefel angezogen haben. Ach, wer weiß! Ein übler Typ. Fünfundvierzig Jahre in Polizeiuniform. Das waren die Schlimmsten von allen. Schlimmer als die SS. Weil man solchen Typen vertraut hat. Die mußten nicht in den Kanonendonner. Die wurden an der Heimatfront gebraucht. Volksnah. Heute sagt man dazu vorsichtig Kontaktbereichsbeamter. Solche kennen alle. Hautnah sozusagen. Polizist, sozusagen an der Heimatfront. SS und Polizei gehörten ja ohnehin einem Verein an. Menschen aushorchen. Mit dem Blockwart innigst verhaftet. Verhaften. Ach – und was sonst noch alles. Ein schrecklicher Kerl. Ein unglaublicher Pedant. Rostige Nägel hat der aufgehoben, die ich ihm geradekloppen sollte. Wenn ich ihm – unter großen Schwierigkeiten! – in Berlin etwas besorgt hatte, ließ er auf einen Zehntelpfennig abrechnen. Aber das Haus bis unters Dach voll mit Antiquitäten. Ich bin ja eine Zeitlang hingefahren. Zu meiner Mutter. Alles vom Feinsten. Seidenteppiche. Rosenholzschränke. Mit Filigrankristall darin. Ein Polizist. Wahrscheinlich alles arisiertes Material. Aber vielleicht haben sie ja das Zeug zusammengelegt.«
»Didier – Du bist verrückt! Deine Eltern waren Juden! Deine Mutter soll mit eine solche Mann? Nach Deinem Vater?«
»Genau. Diesen meinen Vater, den sie dann doch noch ins KZ gesteckt hatten. Zwar nur kurz, aber immerhin. Ein Jahr nach seinem Tod. Solange hat sie immerhin gewartet. Oder einfach nur die Konvention des Trauerjahrs. Das würde eher zu ihr passen. Exakt das Gegenteil von meinem Vater. Und von dem meine Mutter wollte, daß ich Vater zu ihm sage, zärtlich Paps. Das muß man sich mal vorstellen! Also, mit dieser Frau, die an sich ganz in Ordnung war – ist? ich weiß es nicht – hatte ich gesprochen. Am Telephon. Sie hatte mich regelrecht bekniet, doch wieder in den Schoß der Familie zurückzukehren, hat irgendwas davon erzählt, meine Mutter hätte doch immer von ihrem Lieblingssohn gesprochen. Diese Mutter, die ihren Sohn nicht erkannt hat!«
»Didier. Das macht angst. Ich habe so etwas noch nie gehört. Du hattest etwas erzählt. Aber nur ein wenig. Manchmal habe ich gedacht, Du übertreibst es doch. Oft ich habe mich gewundert über diese – oui, fast es hat geklungen wie Haß. Aber dieses ist wirklich Horreur.«
»Es scheint erst zum Horror zu werden. Denn ich ahne Fürchterliches, sehe Fürchterliches auf mich zukommen. Ich habe ja irgendwann begonnen, zu verdrängen, wollte gar nicht mehr darüber nachdenken, weil ich solche Ahnungen hatte. Nein. Das wollte ich nicht. Diese Vergangenheit will ich nicht. Dann lieber keine. Ich glaube, ich schmeiße das alles.«
»Non! Cheri! Je prier instamment! Es gibt ein Zukunft. Nous avoir une avenir! Nous! Es gibt uns! Du darfst nichts schmeißen weg!«
»Ach – ich meine ja nicht Dich. Ich meine diese ganze Geschichte mit meiner Mutter. Ich befürchte nur, daß es nichts wird mit meiner französischen Staatsbürgerschaft, wenn ich da nicht dranbleibe.«
»Wie glaubst Du das? Doch es ist Gesetz. Zudem wir sind verheiratet! Und es steht in diesem Brief! Warum also nicht. Was glaubst Du, daß man will von Dir?«
»Ich weiß es eben nicht. Es gibt eben Vermutungen. Es gibt eben Äußerungen, die mein Bruder gemacht hat, damals, als er seinen Arsch endlich aus dem Bett gehoben und mich angefegt hatte – kannst Du nicht früher anrufen?! Gerade so – wie bei meiner Mutter – nach fünfundzwanzig Jahren! Dieser Bruder, der mich früher unter seinen Bekannten so gerne vorgezeigt hat als seinen Super-Bruder aus Berlin. Der Gebildete – ich hatte Dir ja wohl erzählt, daß wir nicht zusammen aufgewachsen sind?«
»Oui. In eine andere Famille? Ist es richtig?«
»Ja. Bei einer grauenvoll kleinbürgerlichen Familie. Später, als ich einigermaßen denken und mir einen Reim machen konnte, mußte ich bei denen immer an die typische Nazi-Familie denken.«
»Mon Dieu! Es wird immer mehr schlimm!«
»Ja. Aber es sind eben wirklich nur Vermutungen. Ich kann überhaupt nichts von dem belegen, was ich da sage. Auch nicht, daß er nicht mein Bruder ist. Zumindest daß er nicht von meinem Vater ist ...«
»Quelle malheur! Vrai?«
»Ich weiß es eben nicht. Aber wir sind so unterschiedlich. Doch hier kann allerdings wieder Dein sozialer Prozeß ...«
»Es ist nicht mein ...«
»Ja. selbstverständlich. Verzeih mir jetzt bitte solche Ungerechtigkeit. Ich meine es nicht so. Aber ich bin so aufgebracht. – Meine Güte. Wie soll ich das bloß alles packen?! Diese Arbeit auch noch.«
»Wir können absagen.«
»Jetzt warte mal. Vielleicht muß ich mir erstmal Luft machen. Ob wir doch im Hotel anrufen? Es ist zwar nicht notwendig. Aber ich bin immer so ein Übergenauer. Das habe ich von dieser Franzosenstaatsdienerin. – Rufst Du eben an? Jetzt ist ohnehin Berufsverkehr. Frag doch mal, wie lange wir bis zum Champ-de-Mars brauchen.«
Naziza geht zur Bedienung hin und spricht mit ihr. Ich bin völlig aus dem Ruder. Es ist unglaublich, was die alle wieder gebracht haben. Alle haben gewußt, wo ich bin. Seit über fünfzehn Jahren lebe ich an derselben Adresse. Nie hat sich jemand an mich gewandt. Bis auf diesen üblen Anruf meines Bruders. Auch wenn er mich damals kaltgelassen hatte, so ist er jetzt, im nachhinein, doch ein Grund für einen Mord. Wie können Menschen nur so mies sein. Doch was steckt dahinter? Und was steckt hinter dieser jahrzehntelangen Tätigkeit meiner Mutter für die République Française? Ich weiß nicht, wieviele Jahre. In allen möglichen Ländern in allen möglichen Erdteilen. Mit mir. Mit meinem Vater. Ob ich das wirklich wissen will? Jetzt, nachdem sich mir endlich ein kleines Wolkenkuckucksheim auftun will.
»Cheri. Es ist nicht weit. Ein paar Minuten. Sie sagt auch, es ist besser jetzt nicht zu fahren. C’est trafic – heures d'affluence. Alles Stauung. Soll ich anrufen in die Hôtel?«
»Ich bin eigentlich doof. Das Zimmer ist immer reserviert. Aber was soll's. Mach's. Ich hab gesagt, daß wir gegen sechzehn Uhr da sind. Ruf eben an und sag, wir kämen irgendwann im Lauf des Abends.«
Sie wählt und spricht mit der Rezeption – meine Sorgenträgerin. Mein Güte – was die Arme alles mitmachen muß mit mir. Sie diskutiert. Was ist denn jetzt wieder los? Was ist denn so problematisch?
»Probleme?«
Sie schüttelt den Kopf, hat aber ihre Stirn in Denkfalten gelegt. Sie kann machen, was sie will – ihre Schönheit zeigt sich jedesmal anders. Sie sieht zum Verlieben aus. Ich darf mich dieser Frau gegenüber nie wieder schofelig oder in irgendeiner Weise unangenehm verhalten. Was die alles bringt! Und nun rattert sie wieder, diese südfranzösische Sprechstakkatomaschine. Aber wahrscheinlich hat das mit Südfranzösisch gar nichts zu tun. Normales Französisch eben. Doch bei diesem Tempo verstehe ich trotzdem absolut nichts. Das lerne ich nie. Und nun klingt es, als ob gerade jemand fürchterlich die Meinung gegeigt bekommt, und zwar ausgesprochen korrekt, langsam, Silbe für Silbe. Dieser formale Ton klingt höchst kakophonisch. Und in diesem Sprechtempo bekomme auch ich etwas mit.
»Madame«, es hört sich bedrohlich an, »je suis Madame Aubertin! Mon époux, Monsieur Aubertin, reservée le chambre aujourd‘hui à midi. Nous vous faisons poliment remarquer – regarder de très près, s'il vous plaît!«
»Was ist denn los, im Himmels willen?«
»Sie findet die Buchung nicht. Es war Schichtewechsel.«
»Ach. Hat wieder eine Mist gebaut. Sauber. Das hat jetzt gerade noch gefehlt.«
»Oui, Madame. Le numeró ...«
Ich höre am besten gar nicht weiter hin. Wenn das jetzt jemand hingebügelt bekommt, dann diese angsteinflößende Meisterin des ruhigen Tonfalls. Da kann ich ohnehin nicht mithalten. Ich werde bloß wieder ausfallend und rutsche hinein in ein hektisches Pidgin-Englisch. Wenn ich die Fassung verliere – und das geschieht leider allzu häufig –, entgleitet mir alles. Selbst der Minimalwortschatz. Bei solchen Angelegenheiten sollte man mich ohnehin sofort aus dem Verkehr ziehen, bis ich mich wieder beruhigt habe. Und obwohl ich bereits von fast seltsamer Ruhe bin, verstärkt das jetzt dennoch mein Engel der Strenge mit mir. Als solcher gelte zwar eigentlich ich – die sich immer irgendwie sich im Alten Testament und dessen philosophischen Auslegungen herumräkelnde Pariser Freundin hatte mich einst mit diesem Chavakiah verbal verdroschen, als ich wieder mal am Erbsenzählen war. Doch es ist wohltuend, den Stab weitergeben zu dürfen und mal jemand anderen schimpfen lassen.
»Es wird sich finden. Ich glaube, es hat jemand sein Arbeit nicht correct gemacht.«
»Aber weshalb hat die dann nicht einfach neu eingebucht?«
»»Ich glaube, es ist complet, das Hôtel.«
»Au weh! Jetzt schwimmt alles weg. Jetzt können wir wirklich einpacken und kerzengerade nach Marseille düsen. Jetzt reicht es. Aber vielleicht wäre es genau das. Einpacken. Alles liegen und stehen lassen und ans Meer fahren, sich aufs noch nicht gekaufte Bett legen und aneinanderkuscheln. Nichts mehr hören und sehen. Nur noch fühlen.«
»Nun warte. Ich kenne das. Sie werden jetzt sehr viel Problèmes zur Seite geben müssen. Ich habe ihr gesagt, daß Du bist viele lange Jahre Client von Mercure, von Accor. Ich kenne doch Accor. Les Clients sind das wichtigste. Sie schaut jetzt in die zentrale Computer. Und dort kann sie lesen, daß Monsieur Aubertin weit über die Durchschnitt viele Übernachtungen hat. Sie wird große Ärger haben. Nicht sie. Die andere – es war doch eine Frau, bei der Du hast die Reservierung gebucht?«
»Ja ja. Ich krieg gleich einen Lachanfall.«
»Es ist mir lieber als Tränen.«
Sie nimmt mich in den Arm. Ich müßte sie in den Arm nehmen. Ihr gebühren die Streicheleinheiten. Sie fängt alles auf. Aber ich bekomme sie. Und mittlerweile gelange sogar ich zu der Überzeugung, es gäbe hier Zusammenhänge. So viele Zufälle auf einmal kann es nicht geben. Das ist ja aufgereiht wie auf eine Perlschnur. Hoffentlich geht dann in Marseille alles gut. Ich beginne mich zu fürchten. – Das mittlerweile auf dem Tisch in Erwartungshaltung liegende Telephon gibt diesen schlimmen Alcatel-Billigton ab. Sie muß unbedingt ein anderes Telephon haben.
»Oui ...«
»Sag ihr, ich ...«
Blitzschnell hat sich diese weiche Hand auf meinen Mund gelegt. Herrlich zart, nein, zärtlich kühlt sie ihn auf Schweigetemperatur.
»Es ist sehr angenehm, daß zu hören, Herr Germering.«
Ach du meine Güte. Der. Das wäre ja beinahe in die Hose gegangen. Aber was will denn der jetzt? Was kommt denn nun?! Es ist doch wahrhaftig und wirklich genug. Ich drehe gleich durch. Aber Moment! Sie hat doch was von angenehm gesprochen.
»Es kommt mir sehr gelegen. Es ist einiges geschehen die letzten Stunden, die mich sehr gerne zu Monsieur Aubertin – zu meinem Gatten fahren lassen. – Non. Es ist ihm nichts weiteres schlimmes Körperliches geschehen. Es geht ihm leidlich. Jedoch wir haben hinzukommend Problèmes familiarer Natur. – Non. Es ist nicht so arg. Nicht wir haben persönliche Problèmes. Sie müssen sich nicht sorgen. Aber wir müssen sprechen miteinander, meine Mann und ich. Und ich bin sehr glücklich, daß dieser Druck nun genommen ist von mir, daß ich kann zu ihm fahren. Direct. – Oh! Es wäre sehr, sehr freundlich, täten Sie dieses. Das hieße für mich, sofort fahren zu können zu ihm. Sie sind sehr angenehm und zuvorkommend. Ich werde es ihm zu berichten wissen. – Au revoir, Monsieur Germering.«
»Meine Güte – sprichst Du ein Deutsch! Wie aus dem Lehrbuch. Wie mit mir. Vor ein paar Stunden! Als Du mich fertiggemacht hast. Erstaunlich.«
Sie grinst wie ein junges Mädchen. »Es ist aber gut, es nicht zu müssen mit Dir. Es ist sehr anstrengend. Wie mit ‘haut talons. Man kann nicht laufen. Man muß immer schreiten in dieser Sprache, mit Kopf oben und mit eine starre Gesicht, wie une grande Bringue – wie heißt es noch einmal deutsch?«
»Weiß ich doch nicht. Grande versteh' ich ja gerade noch.«
»Puh, Didier! Grande Bringue. Grande Échalas. Grande Perche. Merde! Tonnere de Dieu! Diese langen Frauen, die nicht gehen, sondern – ah! Stange für die Bohnen.«
»Meinst Du ‘ne Bohnenstange, ‘ne lange Latte? Dann sagen wir auch – Es kam eine biblische Gestalt.«
»Enfin! Merci. Mais – warum biblische Gestalt?«
»Es kam eine lange Dürre.«
»Bonté divine! Vachement. Vrai! Or – ich muß in dieser Sprache dann gehen wie eine solche auf eine Passerelle, und ich darf nicht wackeln mit dem Hintern. Meine Créativité hängt dann an mir wie deren Arme. Ohne ein wenig Bewegung. Puh! Bei Dir darf ich hüpfen.«
»Ach, könnt ich doch wenigstens ein wenig bewegungslos französisch sprechen! Du bist gut. Aber erzähl. Was ist denn nun wieder. Abgeblasen? Doch Du klingst nicht eben bedrückt.«
»Wollen wir sofort vers Marseille? Nach Hause? Wir können es. Es ist frei.«
»Ja was denn? Sendung gestrichen? Aus die Maus? Aus mit dem neuen Bett?«
»Non. Sie haben nur die Sendung verschoben. Er wollte mir das mitteilen. Weil ich nicht so müßte rennen dann. Er hat vorgeschlagen, es zu verschieben. Wenn ich es wünsche. Sie senden es am Wochenende. In ein Kultursendung – ich habe es nicht richtig verstanden.«
»Ach du meine Güte. Im Kulturjournal.«
»Oui. Das hat er gesagt.«
»Ich steige offenbar wieder auf. Wie in früheren Zeiten.«
»Es ist wichtig?«
»Ja. Es ist wohl die beste Sendung. In diesem an sich schon sehr guten Sender – für die Kultur gutem Sender. Und nun?«
»Es ist alles in Ordnung. Er sagt auch diese Studio ab bei Radio France. Und er regelt auch die andere Sender.«
»Es ist nicht zu fassen. Was so eine französische Ehefrau alles ausrichtet. Mit mir wär der so nicht umgegangen. Hat der überhaupt nicht gefragt.? Nichts Dämliches wie – oh! Ich wußte gar nicht, daß – und so. Aber ne', der is' ja diskret. Gut erzogen. Protestant.«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. – Sage zuerst – wollen wir nach Hause fahren? «
»Jetzt wird es wohl das Beste sein. Das glaube ich wohl. Es ist zwar eine Monsterstrecke. Meine Güte. Das sind Hunderte von Kilometer. Fast tausend. Aber meinetwegen.«
»Wir werden etwas essen. Ich habe Hunger. Soll ich fragen hier? Es gelangt mir ein wenig. Und Du mußt auch essen!«
»Mir ist alles vergangen.«
»Wir werden es sehen. Ich werde fragen. Es ist angenehm hier. Sie sind sehr freundlich und besorgt. Ich gehe zu ihr ...«
Das Telephon hat seinen Plastikton wiedergefunden.
»Oui. Non, Madame.«
Nun geht das TGV-Sprechgeräusch wieder los. Vermutlich zweihundertachtzig Stundenkilometer oder mehr. Es amüsiert mich. Ich bin wohl auch etwas gelöster jetzt. Aber was kann das schon wieder sein?
»Cheri – sie haben die Réservation nicht gefunden. Aber selbstverständlich bekommen wir ein Zimmer. Une Suite. Selbstverständlich zum normale Preis.«
Nun muß ich doch heftig lachen. Aber das ist dieser Laden. Ich habe noch nie Probleme gehabt mit diesem Hotelkonzern. Jedenfalls keine ernsthaften. Ich weiß schon, weshalb ich dem treu bin. Die haben über die Jahre hin noch jede Klippe umschifft. Deshalb dürfen die auch mal den Kahn trockenfahren – solange sie ihn wieder flottkriegen.
»Cheriiii! Qu‘est-ce qui t‘arrive? Wo bist Du? Was sollen wir machen?«
»Das weißt Du doch. Im Heim-Bettchen schlafen. 16, Rue de l’Évêché à Marseille, place de Lenche. Die sollen ihre Paläste anderen geben. Ich bin sowieso nicht geil auf Colmar. Mußt Du ja nicht sagen. Sag, wir hätten uns bereits anderweitig orientiert. Es sei uns zu unsicher geworden.«
Ein verschmitztes und zufriedenes Lächeln zieht sich über dieses an sich schon Gelassenheit ausstrahlende Gesicht. Aus dem süffisant gespitzten Mund kommen temporeiche, extrem prononcierte Wörter, die aber einen völlig anderen Klang haben als das Gesicht zeigt.
»Didier.«
»Ja«, schrecke ich aus meinen Gedanken hoch.
»Gib mir bitte Deine Accor-Karte.«
Ich fummle mein scheckkartengroßes Accor-Entrée zu den weltweit heil‘gen oder auch manchmal schlichteren Hallen aus meiner Hosentasche und gebe sie ihr. Sie nudelt meine Kartennummer herunter. Wiederholt sie. Sehr streng. Man sollte es nicht glauben. Die grinst in sich hinein und bürstet dabei am anderen Ende der Leitung jemanden ab. Nun gut, sie wird oft genug einstecken müssen durch Deppen wie mich. Schade, daß ich das nicht verstehe. Und gut, daß ich nicht der Gesprächspartner bin. Aber ich bin ja andererseits auch nicht Hotelangestellter in einem Großkonzern. Das fehlte mir gerade noch. Jahrelang Konzern gewesen. Wenn auch nicht gerade der unterste Abtreter. Mich haben sie eher angeflötet. Wenn sie was wollten. Aber auch wider meinen Willen. Doch so ist eben unsere ach so unhierarchische Welt. Allerdings hat es bei mir ja schon eine Weile auskonzernt. Zwanzig Jahre. Erst öffentlich-rechtlich und dann fünfzehn Jahre die sogenannte freie Wirtschaft. Lieber vogelfrei und so zum Abschuß freigegeben, aber atmen können. Und das tue ich jetzt. Nun kriege ich auch das andere in die Gerade. Mit einer solchen Krücke an meiner Seite!
»Mon Cheri, ich habe mir erlaubt, ihr in Deinem Namen ein paar Wörter zu sagen ...«
»Worte. Naziza. Das waren Worte. Ich hab's zwar nicht verstanden. Aber soviel weiß ich – daß das Worte waren. Klare Worte.«
Sie kiekst wieder in sich hinein. Es ist diebische Freude. Möge es ihr guttun.
»Was hast Du ihr denn beigebogen? Platzverweis? Konzernverweis?«
»Ich habe im Grunde Schreckliches getan.«
»Wie denn? Was denn?«
»Ich habe geschimpft. So, wie ich oft geschimpft werde. Puh – nun mache ich das auch! Dieses, worüber ich mich so oft ärgere. Es ist schlimm.«
»Ach was. Laß es gut sein. Du hast auch ein Recht darauf, mal Dampf abzulassen. Also, was hast Du gesagt?«
»Es würde haben Konsequenzen.«
»Das ist nur korrekt. Wenn die Mist bauen, müssen sie auch dafür gerade stehen. Ich zahle schließlich drei Mark fünfzig.«
»Exactement. Man wird Dir eine Gutschein senden.«
»Ach – die Gutscheine kenne ich. Sie wollen mit uns am Wochenende ihre Häuser füllen. Sie gelten nur an Wochenenden. Da sitzen dann immer die Billigheimer in den Hotels rum.«
»Und ich kenne das auch. Du weißt, daß ich manchmal eine Job mache – in Deine Absteige, wie Du sie nennst, an die Bourse.«
»Ja. Und?«
»Es wäre zwar nicht sehr schlimm, da wir an Wochenenden reisen müssen. Aber wir können wenigstens an zwei Wochenenden reisen. Deux week-ends, Monsieur. Pas seul deux nuits. Deux week-ends.«
»Donnerwetter. Gleich zwei komplette Wochenenden. Du bist engagiert. Jetzt muß ich nur noch Lotto spielen.«
»Wofür brauchst Du Loto?«
»Na – um Dich bezahlen zu können.«
»Ich bin Deine Frau und nicht Dein Secrétaire. Du hast mir zu geben Liebe und nicht Salaire pour l'amour. Et maintenent l'envie, non, l'volupté et l'amour est graduit. Aller et retour. Compris?«
Nun bemühe ich mich, sie ein wenig zu entschädigen. Ich tue das ohnehin viel zu selten. Dabei weiß ich genau, daß sie nicht minder empfänglich ist für Zärtlichkeit. Wie war das? – Wenn Du zärtlich bist, wirst Du immer noch mehr Zärtlichkeit zurückbekommen. Und dann bist Du es noch mehr, und Du bekommst wiederum noch mehr zurück. Nicht Hegel-Zizak. Al Arfaoui. Nein – Aubertin.
»Ich gehe nun zur Serveuse und frage sie nach Essen. Oui?«
»Mach das.«
Wenn nur diese schrecklich lange Strecke nicht wäre. Aber wenigstens geht die Autobahn mittlerweile durch. Es ist so lange noch nicht her, daß immer wieder Landstraßenstücke dazwischen gefahren werden mußten. Das in Frankreich! Wenn da irgendwas stockt, ist der Motor aus. Tagsüber ist das kein Problem. Es ist sogar sehr schön. Viel angenehmer. Wenn man Zeit hat, wie ich sie mir eigentlich immer nehme. »Wer reist, um zu reisen, reist bei Tag. Wer reist, um nicht zu reisen, reist bei Nacht.« Saint-Pol-Roux hat es Anfang der dreißiger Jahre geschrieben. Vermutlich für mich, der ich heute Nacht nicht reisen darf, sondern rasen muß. Und das mit einem für die Entfernung zwischen Hof und Scholle konzipierten Gefährt. Wichtig war nur, daß man ein Faß Wein hinten hineinbrachte und sich ein Korb Eier auf dem Beifahrersitz über den Acker transportieren ließ, ohne daß Dotter die Sitze verfärbte. Und dieser Paul-Pierre Roux, ein Zeitgenosse meines Vaters, der sich später Saint-Pol-Roux nennen und eine Republik der Poesie verfassen sollte, schrieb's unsern ganz Flotten ins Gebetbuch: »Geschwindigkeit: ein eitle Person, die hinter ihren Spiegel gelangen möchte.« Nun gut. Das heißt aber für alle Fälle noch einen zusätzlichen Reservekanister kaufen – und auch füllen. Hat man Pech, findet sich erst dann wieder eine Tankstelle, wenn man bereits abgeschleppt ist vom Dépanneur. Wenn man nächtens überhaupt einen bekommt. Aber vielleicht gehen wir ja doch in eines dieser Sarglager, die überall an der Autoroute stehen. Grauenvoll. Tatsächlich? Es ist wieder typisch – ich war noch nie drinnen in einem dieser Fast-Sleep-Hotels, aber meine Ästhethikbenotung ist klar. Wenn ich einmal eine Einordnung geschaffen habe, dann ist es äußerst schwierig, sie zu korrigieren. Selbst dann, wenn sie aus der Unkenntnis kommt. Mit den Ibis-Hotels war es genauso. Mein Urteil stand fest, da ich ein Haus kennengelernt hatte – vor zwanzig Jahren in Düsseldorf. Damit stand fest – nie wieder in eine solche Naßzelle mit Fernsehgerät. Und als ich dann gezwungenermaßen in Metz in einem solchen Hotel übernachten mußte, da alles andere belegt war, kam ich ins Staunen. Ein bißchen kleiner und ohne Minibar. Aber ansonsten einwandfrei. Sogar hübsch, angenehm zurückhaltend ausgestattet. Und 200 Francs billiger, immerhin rund sechzig Mark. Und diese Schnellschlafgruften kosten insgesamt sogar weniger. Überall wird's auf riesigen Tafeln verkündet: 149 Francs, etwa fünfundvierzig Mark. Pro Zimmer. Soviel wie ein gutes Abendessen. Aber dafür gibt man hier ohnehin grundsätzlich mehr Geld aus als für alles andere. Schlafen, gut, muß sein. Man merkt ja nichts. Aber bei einem zwei- bis dreistündigen Mahl ist man hellwach. Da möchte man nicht, daß etwas wehtut. Wie auch immer – wenn's nicht mehr geht, dann wird's schon gehen. Vermutlich wird Madame Aubertin jedoch ohnehin gnadenlos durchbrettern wollen. Entchen, heute Nacht mußt Du arbeiten. Andererseits habe ich das selbst ja schon zwei- oder dreimal durchgezogen. Alleine. Es wird sich weisen. Zudem ist mir zugestandenermaßen ein kleine intime Höhle lieber als eine Hotelzimmerflucht. Ich sehne mich nach Rückzug. Und den werde ich zur Zeit in Nazizas kleiner Wohnung wohl eher haben als in einem dieser Frontabschnitte des Tourismus.
Auf einmal kommt Bewegung in mein Herz. Es ist mein Telephon, das mir vibrierend eine Herzmassage verpaßt. Offenbar habe ich doch vergessen, es auszuschalten. Was mache ich jetzt. Wenn das ein Kontrollanruf von Germering ist? Ich fuchtele zu Naziza hin, rufe sie. Sie kommt sofort angerannt.
»Hier, nimm bitte mein Telephon. Ich hab vergessen, es auszuschalten. Du weißt ja – ich bin krank.«
»Allô. Pardon. Hier ist das Téléphon von Herr Aubertin. Ich spreche für ihn. Was kann ich für Sie tun?«
Das Gesicht am anderen Ende der Luftleitung möchte ich jetzt sehen. Der Anrufer muß annehmen, das sei die Luxusversion einer Mailbox. Solche Flötentöne hat der noch nie gehört bei einem Anruf.
»Pardon. Herr Aubertin ist erkrankt. Ich bin befugt, sämtliche Mitteilungen entgegenzunehmen. Ich bin Madame, pardon, Frau Aubertin.«
Den Nachnamen hat sie so deutsch als irgendmöglich ausgesprochen. Es klingt äußerst amüsant. Auf jeden Fall immer noch schöner als korrekt deutsch. Auf einmal spricht sie französisch. Schnell. Sehr schnell. Und der offizielle Ton ist weg. Was ist denn das nun wieder. Mich rufen doch keine Franzosen an. Und Isaac ruft doch auf Nazizas Telephon an.
»Cheri. Es ist Monsieur – diese Freund von euch, von Dir und Isabelle. Le Français.«
»Ach. Pépin. Gib her.«
»Hallo, mein Lieber. Ich muß mich zuallererst mal bei Dir bedanken, daß Du den rennenden Spediteur machst für mich.«
»Du weißt, es ist ein mein schnellst Übung. Ich bin ein Heim-ins-Reich-Zurück-Führer. Ein groß Ehre. Ihr Deutsche geht nach Frankreich. Und wir üben spät Rache und okkupieren Deutschland. Als erste die Autobahn zum schnelle Fahren ...«
»Mein großer kleiner Franzose! Wir sind Brüder ...«
»Klar. Franzose und Deutsche waren immer Brüder. Die Geschichte lügt nur ein klein bißchen.«
»Mein Guter. So recht Du hast. Aber ich bin Franzose. Wie Du.«
»Dann werde ich Deutsche. Es ist ein Schande, wen wir alles hineinlassen. Du bist naturalisée? Oui? Bon. Es geht in Ordnung. Ich genehmige es.«
»Nein. Pépin, es ist viel dramatischer. Zwar habe ich vor drei Jahren die französische Staatsbürgerschaft beantragt. Aber ich war es immer schon. Allerdings weiß ich erst seit ein paar Stunden ...«
»Merde! Was ist das? Wie geht so etwas?«
»Das würde jetzt zu weit führen. Ich erklär's Dir später. Vielleicht können wir uns ja sehen. Du fährst doch nach Marseille? Wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Ja, Didi. Deshalb ruf ich ja an. Wir fahren schon früher. Die Produktion muß noch ein paar Drehorte ausgucken ...«
»Vielleicht kann meine Frau ja helfen. Und ein bißchen kenne ich mich auch aus.«
»Dein Frau? Spinn ich? Du bist verheirat?! Es wird immer schlimmer mit Dir.«
»Gemach, gemach. Isaac, pardon, Isaballa ...«
»Ich weiß schon, wie Du zu ihr sagst. Wenn Du sie anfegst.«
»Also, sie hat Dir offensichtlich nichts erzählt. Das erstaunt mich dann doch. Ansonsten ist sie ja eine fürchterliche Ratschkattel. Gut. Ich hab Dir ja gesagt, ich kann es Dir erklären. Vielleicht verstehe ich dann ja sogar alles ein bißchen besser.«
»Ich habe immer gewußt, daß Du bist ein Mystère.«
»So etwas ähnliches habe ich auch immer in mir vermutet. Also, jetzt erzähl mal. Was ist mit Dir und Deiner Produktion? Was macht ihr überhaupt. Du Lichtgestalt.«
»Ich mach kein Kunstlicht diesmal. Nur Beleuchtung. Ich muß Geld verdienen, um es wieder in die Kunst ausgeben zu könne. Es ist ein Tatort. Ach – Peter macht die Architekt. Du kennst ihn.«
»Wie? Unser ...«
»Ja. Er braucht auch Geld. Und er macht es, glaub ich, auch wegen France.«
»Ja. Er ist ja sehr gerne dort. Wenn er's auch mehr mit der Côte d'Azur hat. Er hat, wenn ich mich recht erinnere, dort einen Freund. – Wie lange dreht Ihr?«
»Zwei Woche Deutschland, drei in Marseille und Umgebung. Und vielleicht Nachdreh.«
»Was? So lange?«
»Ja. Man will es die ZDF und die andere mal wieder zeigen. Wahrscheinlich mehr die private. Ich glaube, sie haben Verlustangst bei die ARD. Angst vor die Zuschauer, die weglaufen. Nun klotzen sie. Eine Riesenbesetzung. Das Buch ist von – ich glaub, Du kennst ihn auch. Es ist Thomas ...«
»Sag bloß Kaminski.«
»Ja. Er kommt auch. Er spielt wieder ein klein Rolle auch.«
»Ich fass‘ es nicht. Ganz München fährt nach Marseille. Die sind überall. Man entkommt ihnen nicht. Meine Flucht war also umsonst.«
»Ach du! Du kennst ja niemand mehr! Du gehst ja nie mehr auf die Straße. Du bist ja out of die Welt. Es wird sein, als ob Du alle kennenlernst – wenn Du sie wirst sehen. Viele bekannte Gesichter. Ganz Schwabing. Ich weiß ja nicht, was Du machst. Flitterwochen?«
»Ja. So ähnlich. Aber alleine. Meine Frau muß arbeiten.«
»Mon Dieu! Ist sie Araberin? Moderne?«
Nun muß ich heftig lachen. Ich muß das Telephon von mir weghalten, um bei meinem Gesprächspartner einen Gehörschaden zu vermeiden. Neben mir sitzt Naziza und lächelt fragend mit. Sie amüsiert sich gerne. Aber es ist schrecklich, neugierig zu sein und nicht zu wissen, um was es geht.
»Naziza, ich erklär's Dir gleich.«
Sie nickt heftig und begierig. Die Bedienung kommt an den Tisch. Naziza bedeutet ihr, bitte noch einen Moment zu warten.
»Was erklärst Du mir gleich?«
»Ich habe gerade einer Araberin versucht zu erläutern, daß da einer ist, der sie für eine Araberin hält.«
»Vrai? Ich spinne. Du bist mit eine Araberin verheiratet?! Aber stimmt. Du stehst ja auf so was. Schon immer.«
»Also, mein lieber Pépin. Es ist nicht ganz so. Sie ist auch noch ein bißchen was anderes. Französin zum Beispiel.«
»Sag ich immer. In Frankreich treibt sich alles herum. Deshalb müssen die Franzose auch das Land verlassen. Wie ich.«
»Depp. Also, ich hab's Dir ja gesagt – ich kann's Dir gerne erklären. Wenn Du möchtest.«
»Aber ja!«
»Braucht Ihr denn Hilfe in Marseille.«
»Du kannst uns nicht helfen. Du bist vielleicht Franzose. Aber Du kannst Deine Sprache nicht. Wir brauchen was von dort. Moment. Ich weiß nicht. Aber ich glaube, Peter hat was gesagt, daß man suchen will jemand dort, der sich auskennt.«
»Und da, vermute ich mal, wüßte ich jemanden. Meine Frau ist aus Marseille. Sie lebt seit tausend Jahren dort.«
»Du hast aber doch immer Schulmädchen gemocht. Nun hast Du ein biblische Gestalt geheirat? Es ist wirklich so? Die Welt ist nicht in Ordnung. Ich spinne.«
»Ja doch. Ich kann's Dir ja erzählen. Nun sprich erstmal. Wann fährst Du?
»Also – Isabelle hat mich gesagt, ich soll Dich anrufen deshalb. Wird es gehen? Es ist vielleicht ein Problème?«
»Nein, Pépin. Ist es nicht. Denn die Sachlage ist die, daß wir auch schon früher fahren. Genau – heute abend schon. Wir sitzen gerade bei Colmar. Wir essen was und fahren dann los. Direkt. Allerdings braucht eine Ente erwiesenermaßen etwas länger ...«
»Oh! Meine Döschwoh von früher fahren immer sehr schnell.«
»Du hast ja auch immer die Scheibenwischermotoren von Ferrari eingebaut gehabt. – Gut. Pépin – ich vermute mal, daß Du doch etwas länger brauchst. Jetzt sag mir doch erstmal, wann Du losfährst.«
»Morgen früh, gegen sieben Uhr. Vielleicht früher. Und ich will fragen, ob es geht. Weil ich dann Deine Karton heute abend einladen muß. Isabelle hat gesagt, es ist in Ordnung. Aber ich soll Dich vorher anrufen. Ich habe es getan ...«
»Mensch. Pépin! Soll ich Dich zurückrufen? Es wird so teuer.«
»Pas de problème. Ist Produktionstelephon.«
»Gut. Angenehm. Wann kommst Du vermutlich an? Und – dürfen's auch zwei Kartons sein?«
»Es ist Platz genug dafür. Es ist eine Renner. Leihwagen. Du weißt – so eine Maserati-Diesel-Kombi. Also – zehn Stunden?«
»Mein Guter – das sind über zwölfhundert Kilometer. Oder fährst Du durch die Schweiz?«
»Ja. Es ist besser.«
»Trotzdem. Du weißt, daß Du in Deiner Heimat nicht rennen darfst. Sonst viele Argent. Und in der Schweiz schon gar nicht!«
»Es zahlt die Produktion.«
»Aber Du wirst angehalten an der Péage. Oder direkt auf der Autoroute. Es kostet also nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Und die kostet bekanntlich Geld.«
»Es ist nicht Deine Sorge. Also, weil Du es bist, sag ich zwölf Stunden.«
»Also am Abend. Und wohin mußt Du?«
»Es ist ein große Hôtel. Zentral. Ein Mercure. Euro-Centre. Alle gehen dorthin.«
»Das ist lustig. In meiner Absteige.«
»Du bist verheirat und hast kein Wohnung?! Was hast Du geheirat. Ein Zigeunerin?«
»Nein. Nein – ich bin früher immer dort abgestiegen. Nun schlafe ich im Bett meiner Frau. Bei ihr. Mit ihr. Nicht weit weg vom Euro-Centre. Es ist hinter der Börse.«
»Es ist schwierig zu finden?«
»Eigentlich nicht. Wenn man sich auskennt.«
»Aber ich kenn es nicht, Du Trottel.«
»Vorschlag – bis Du ankommst, haben wir ein bißchen geschlafen. Dann könnte ich Dich am Quai du Port abholen und hinbringen. Es ist doch recht kompliziert, wegen der Einbahnstraßenregelung. Ich hab beim ersten Mal ewig gebraucht. Willst Du das?«
»Das wär spitze.«
»Du rufst dann vorher an, und ich fahre hin zum Hafen. Dort kann ich stehenbleiben und auf Dich warten. Oder besser ich gehe zu Fuß runter und steige bei Dir ein. Es sind nur ein paar Schritte von der Wohnung aus. Aber aufpassen – Du mußt von Aix her die Nordautobahn nehmen, in Richtung Centre beziehungsweise Vieux Port! Es gibt welche, die von Aix aus den östlichen Weg nehmen. Dann kommt man über Aubagne rein. Das ist außerdem fad. Du mußt den direkten Weg nehmen. Dann kommst Du auf jeden Fall auf den Quai du Port. Einfach Direction Centre. Und außerdem ist es ein herrlicher Blick von oben hinab auf Marseille. Was ist es für ein Auto? Ein Transporter?«
»Du kennst diese Dinger. So eine große Weiße von Sixt. Es hat eine Münchner Nummer.«
»Das ist in Ordnung. Den erkenne ich relativ rasch. Münchner Kennzeichen gibt es da unten so gut wie nie. Wollen wir's so machen? Dann würde ich Dich ins Hotel bringen. Moment! – Naziza.«
»Oui.«
»Sollen wir die Kartons gleich in die Wohnung transportieren? Es wird zwar eng werden, aber ins Hotel können wir sie ohnehin nicht stellen.«
»Mais oui!«
»Also, Pépin. Du rufst an, kurz vor Marseille, und sagst mir, wo Du genau bist. Dann kann ich einschätzen, wie lange Du brauchst. Ich gehe dann hinunter zum Hafen und nehme Dich auf. Nein, Du nimmst mich auf. Dann fahren wir eine kurze Biege, laden die Kartons aus, und anschließend geht's ins Hotel. Es ist, wie gesagt, ganz nah. Und noch etwas, bevor wir's wieder vergessen – fragst Du, ob sie jemanden brauchen? Meine Frau spricht fließend deutsch, italienisch und englisch und arabisch und armenisch – und vor allem den Dialekt von Marseille, überdies eine Mischung aus allen erdenklichen Sprachen. Das ist das Allerwichtigste da unten. Er klingt nämlich wie eine korsische Sprache brasilianischer Einwanderer. Und sie kennt sich, wie gesagt, aus in der Gegend. Und sie kennt sich aus in den Kulturwissenschaften und in der Literatur. Aber das dürfte bei einem Tatort eher weniger gefragt sein. Und ich könnte den Wasserträger geben.«
Ich erhalte zunächst einen Schubs in die Seite und dann einen fragenden Blick, der von einem ungläubigen leichten Kopfschütteln begleitet ist.
»Aha. Du hast echte Bâtard geheirat. Das ist gut. Aber Du bist jetzt arm dran. Jetzt hilft Dir Dein Bildung nix mehr. Jetzt mußt Du endlich mal zuhören. Hast Du das wirklich gewollt?! – Alors – ich glaube schon, daß wir sie gebrauchen können. Aber ich kann es nicht entscheiden. Aber ich werde sofort in die Produktion anrufen und das sagen. Ich bin ziemlich sicher. Denn die wollten ja erst jemand suchen dort. Wir sind ja noch in die Vorbereitung. Ich glaub sogar, sie wollten über ein Vermittlerbüro suchen. Und Du kannst Wagen waschen und Café kochen. Wir brauchen unbedingt eine Doktor von die Philosophie dafür. Und es ist sicher so, daß es gut wäre, es so zu machen, wenn Du mich abholst. Ich bin zwar nicht ganz blöd. Aber es macht es mir doch leichter. Wollen wir?«
»Also gut, mein Lieber. Du meldest Dich. Halt. Ich geb Dir für alle Fälle noch die Portable-Nummer meiner Frau. Sicher ist sicher. – Naziza – Deine Nummer bitte.«
Sie spricht sie mir vor. Ich wiederhole sie. Und mein Gesprächspartner notiert sie sich – vermutlich. Ich verabschiede mich von ihm.
»Didier! Ich habe nur das Halbe verstanden. Aber ich glaube, es ist genug. Bist Du verrückt?! Es ist zwar grandiose et très intéressant. Und Du bist so lieb. Mais – ich muß arbeiten in dem Office de Tourisme ! Ich kann nicht das machen!«
»Kommt Zeit, kommt Rat. Jetzt warte doch erstmal ab. Man soll immer viele Eisen schmieden. Außerdem könntest Du Urlaub nehmen ...«
»Malédiction! Was ist mit uns? Wir wollen reisen. Deine Mémoire suchen. Rappeler! Und ich will mit Dir sein. Du hast mir drei Jahre genommen. Und ...«
»Ach Naziza. Ich glaube auf einmal, daß wir ganz viel Zeit haben werden. Mir ist das auf einmal alles nicht mehr so wichtig. Außerdem nehme ich mittlerweile an, daß alles von selbst kommt. Ich beginne, optimistisch zu werden. Auch denke ich darüber nach, ob ich diese ganze Vergangenheitsscheiße mit meiner Mutter einfach vergesse ...«
»Ob das wird gehen?!«
»Wir werden sehen. Außerdem – es wäre eine Chance für Dich. Für uns. Vielleicht ließe sich daraus etwas machen. Wenn eine deutsche Fernsehproduktionsfirma weiß, daß in Marseille jemand sitzt, der sich auskennt in der Branche, ist das viel wert.«
»Aber ich kenne mich nicht aus!«
»Es läßt sich alles lernen. Learning by doing. Ich habe es nie anders gemacht. Oder glaubst Du, ich habe das alles in der Schule gelernt? Oder während des Studiums? Da lernt man nichts. Meinen gesamten Journalismus habe ich während der Arbeit gelernt.«
»Vrai? Pas de école?«
»Als ich anfing, hat es, ich weiß es nicht genau, vielleicht drei Journalistenschulen gegeben. Mit einem extremen Ausleseverfahren. Aber egal – die meisten meiner Kollegen sind ohne Journalistenschule hineingekommen. Wie ich.«
»Étonnant.«
»Was ist daran erstaunlich? Es ist letzten Endes in vielen Berufen so, daß man erst während der Arbeit richtig zu lernen beginnt. Du kannst ja auch nicht Autofahren, nur weil du einen Führerschein hast.«
»C’est vrai.«
»Also – mein Vorschlag. Wir warten, was auf uns zukommt. Vielleicht können wir etwas daraus machen. Möglicherweise wäre das eine Chance für uns gemeinsam. Vielleicht ließe sich so etwas aufbauen. Ich habe ja ganz ordentliche Kontakte. Und wie Du sicherlich mitbekommen hast, existieren ja auch einige noch. Sie stammen aus meiner früheren journalistischen Tätigkeit. Da ich im gesamten kulturellen Bereich tätig war, gehört auch der Film dazu. Es ist zwar sehr lange her, aber es ist noch nicht alles tot. Und die Leute, von denen Pépin gesprochen hat, sind offenbar von der alten Garde. Und die kenne ich von früher. Und sie sind in Ordnung. Die arbeiten richtig. Es gibt ein Qualitätsbewußtsein. Es wird zwar meistens von den Redakteuren zunichte gemacht. Aber es ist in den Köpfen. Was irgendwo dann doch immer wieder ein bißchen Niederschlag findet.«
Die Bedienung kommt wieder. Sie spricht mit Naziza, dabei leicht mit den Schultern zuckend.
»Es gibt nicht viel. Sie sagt, das Réstaurant ist ja dort drüben. Ob wir nicht vielleicht ...«
»Nein. Ich will nicht da rüber. Was hat sie? Ich hab ohnehin keinen Hunger ...«
»Cheri – Du mußt.«
»Ich muß garnix.«
»Bon alors. Ich bestelle etwas.«
Sie schnattert mit der ausgesprochen freundlichen Bedienung. Die nickt schließlich, geht wieder hinter ihren Tresen und ruft dabei etwas in den Raum hinein. Hinter meinem Rücken höre ich, wie jemand aufsteht.
»Bien. Ich habe Salat bestellt. Es gibt ein Potage ...«
»Potage?«
»Es ist ein Soup. Eine dicke Suppe von Gemüse mit etwas Viande.«
»Fleischeslust stelle ich mir jetzt anders vor als kurz vor Colmar in ...«
»Fou! – Und es gibt dazu Sandwich. Sie hat auch ein Dessert. Ich glaube, es wird gehen.«
»Sicher. Ich hab ja noch Dich halbe Portion. Ich freß sowieso lieber Dich.«
»Du wirst nun noch etwas warten müssen. Mais – dann wirst Du nicht in mich fallen, sondern in einen tiefen Schlaf. Wie ich.«
»Es wird sich zeigen. Wie alles. Ich beginne zu lernen, alles auf mich zukommen zu lassen. Wie Deinen neuen Job.«
»Didier. Du bist verrückt!«
»Du hast mir die Arbeit angeschafft. Und jetzt ich Dir. Ach du Scheiße ...«
»Was ist?«
»Das muß ja auch gemacht werden! Und überhaupt – was ist denn jetzt weiter? Was hast Du mit Germering ausgemacht? Studiotermin und so?«
»Er ruft an morgen. Er klärt alles und ruft mich an.«
»Morgen. Wenn wir ein paar Stündchen miteinander ineinander schlafen wollen.«
»Mon Dieu! Was ist mit Dir? Es gefällt mir schon sehr schön. Aber Du bist auf einmal so excité – eh, aufgeregt! Wenn es weiter geht so, wir werden nie arbeiten ...«
»Ich bin verliebt. Verliebt in die wunderbarste und schönste Frau von die Welt.«
»Puh! Das wird es sein, was ich muß arbeiten – non, wie heißt? Verar ...«
»Ja. verarbeiten. Du mußt mich verarbeiten.«
»Enfin. Er wird anrufen. Es macht nichts für mich. Ich kann telephonieren und dann mich wieder herumdrehen.«
»Zu mir!«
»Oui. Zu Dir. – Ich werde sagen, er soll machen ein Termin für – für?«
»In Marseille dürfte es nicht so leicht sein, einen Studiotermin zu kriegen.«
»Es ist viel größer. Das ist nicht Colmar!«
»Aber es ist auch viel mehr los.«
»Es wird gehen. Also – für wann?«
»Wenn die das am Sonntag senden wollen, dann wollen sie es spätestens am Freitag haben. Sie müssen vorproduzieren.«
»Es geht! Du machst es fertig am Übermorgen. Wenn Du hast ausgeschlafen. Dann ist erst Mercredi. Und am Freitag Du kannst es produzieren.«
»Wenn's so klappt, ist es gut. Und unser Bett?«
»Du bist wirklich verrückt auf einmal. – Morgen an die Tag schlafen. Am Abend kommt Deine Freund. Wir werden vielleicht sitzen ein bißchen.«
»Das glaube ich aber auch.«
»An die Mittwoch wir gehen zum Bett ...«
»Es heißt – in das Bett.«
»Comment? Es heißt doch nicht – ah ah! Non, mais alors! Du bringst mir meine ganze Sprache kaputt. Merde! Durcheinander. Du bringst mir durcheinander.«
»Mir und mich verwechsel ich nich, das kommt bei mich nich vor.«
»Was ist das ?!«
»Es verulkt ein bißchen die Berliner, die ständig mir und mich verwechseln. Du bist also Berlinerin.«
»Quelle Ânerie!«
»Was ist das jetzt wieder?«
Welche?«
»An ...«
»Ah. Ânerie. Puh. Was ist es? Dumme Zeug. Ah – Quatsch. Dasselbe. – Allez! Wir müssen ein wenig planen.«
»Ich will nicht planen. Ausgeplant.«
»Nun sei nicht dumm. Das Leben geht weiter. Es ist eine andere Leben jetzt, aber es geht voran. Wir müssen etwas machen. Das Bett ist gerettet. Was retten wir dann. Mon Dieu! Wir müssen auch nach l’Estaque.«
»Genau. Und dann vermieten wir gleich die Wohnung an die Produktion.«
»Monsieur jetzt völlig débloquer? Jetzt mußt Du verrückt geworden sein. Wir können das doch nicht ...«
»Mein Güte, Naziza. Wir können dem Ausstatter – es ist der Architekt, den ich sehr gut kenne –, wir können ihm die Wohnung doch zeigen. Wenn sie ihm gefällt, wenn er sie für geeignet hält, dann könnten wir gutes Geld dafür kassieren. Und unser Fischfilmer dürfte ja wohl kaum etwas dagegen haben.«
»Ist es so? Sie bezahlen gut dafür?«
»Aber ja doch. Es muß nur genehmigt werden.«
»Was muß genehmigt werden? La Police?«
»Nein. Der Vermieter ...«
»Mais, es ist mein – es ist unsere Wohnung!«
»Tatsächlich? Du bist bereits Eigentümerin?«
»Ah, Didier. Mais oui! Paul hat sie sofort eingetragen. Er verwaltet sie nur. Er hat das gemacht für mich. Ich war darüber sehr froh. Sie ist sein, bis sie bezahlt ist. De droit. Aber officiel sie ist mein. Pardon. Unsere.«
»Nein nein. Es ist zwar lieb, was Du sagst. Aber es ist schon Deine Wohnung.«
»Non, Didier. Ich habe sie gekauft für uns! Uniquement pour nous. C'est à nous!«
»Nun gut. Was hältst Du davon? Die Lage ist einmalig. Sie könnten das Meer filmen, die Felsen. Obwohl ich natürlich nicht weiß, ob die sowas überhaupt suchen. Wahrscheinlich suchen die alleine Motive in der Stadt. Ach. Ist ja gleichgültig. Wir werden ihnen die Wohnung zeigen. Und wie ich Peter kenne. wird der schon was daraus machen – wenn es das Drehbuch zuläßt.«
»Was geben sie an Geld dafür?«
»Ach du liebes bißchen. Jetzt habe ich aber was fabriziert! Naziza – wir reden hier über ungelegte Eier! Ich weiß ja gar nicht, ob das was wird. Es ist doch nur eine Idee! Ich fände viel wichtiger, es würde mit Job klappen. Darauf ließe sich etwas aufbauen. Für Dich. Für mich. Oder, wie ich gesagt habe, für uns gemeinsam. Ich habe Kontakte nach Deutschland. Und die suchen immer wieder mal was. Es ist ja nicht nur der Film. Vielleicht ergäbe sich ja auch noch was anderes daraus. Wir müssen ja von was leben.«
»Oui. Deshalb ich muß arbeiten bei den Office ...«
»Merde! Höllenkind. Laß es uns doch erstmal abwarten. Vielleicht ließe es sich ja einrichten, daß Du Urlaub bekommst. Hast Du überhaupt noch Urlaub?«
»Mais oui. Meine ganze. Quatre semaines, peut-être cinq. Non. Maintenant une semaine minus – wegen die Suche nach meine Mann. Ah oui – ich bin ein alte Kuh.«
»Du bist ‘ne Quatschkuh. Also vier Wochen, vielleicht fünf. Wenn ich das richtig verstanden habe. Meinst Du, es könnte klappen? Hast Du ihn schon festgelegt?«
»Non. Mais – es geht nicht in die pleine Saison. Wie damals bei uns.«
»Hauptsaison? Ach ja. Aber warten wir mal ab. Vielleicht drehen die ja früher. Die suchen ja jetzt schon Motive. Ich glaub nicht, daß die in der Hochsaison drehen. Das würde ihnen wahrscheinlich zu teuer. Die werden warten, bis das Licht gut ist, daß sie das typische Licht des Mittelmeers haben. Und das haben sie ja bald. Noch vier Wochen.«
»Oui. Es ist richtig. Doch es ist jetzt bereits gut.«
»Also. Dann bleiben wir da dran. Vielleicht erzählt uns Pépin ja morgen schon was.«
Die Bedienung bringt den Salat und kündigt die Suppe an. Naziza stürzt sich hungrig auf das Grünzeug, das meine Sache nicht unbedingt ist. Ich mag zwar Salat, wenn die Vinaigrette fein komponiert ist, aber aus unerfindlichen Gründen esse ich selten welchen. Das wird sich allerdings jetzt vermutlich ändern. In Frankreich wird immer Salat gegessen. Vielleicht bekomme ich auf diese Weise ja ein paar Vitamine in mich hinein. Der Körper wird es mir voraussichtlich danken. Oder er wird vor Naziza eine Verbeugung machen. Voller Vorfreude sind allerdings meine Geschmacksnerven – auf Fisch, Fisch und nochmals Fisch. Den könnte ich früh, mittags und abends essen. Alles, was schwimmt, paßt zu mir. – Leicht unverständlich grummelt etwas an mich hin. Die Verursacherin dieser Geräusche merkt ihre Unschicklichkeit und wird leicht verlegen.
»Pardon, Didier. Ich benehme mich schlecht.«
Ich muß leicht lachen. »Mir macht das nichts aus. Solange Du die Krümel nicht wieder in mein Gesicht spuckst wie gestern.«
»Mon Dieu! Habe ich das getan?!«
»Ja. Ist ja gut. Es macht mir nichts aus. Es kommt immerhin aus Deinem süßen Maul. Nein wirklich. Ich weiß ja, daß Du Dich nicht wie die Axt im Wald aufführst, daß Du Dich benehmen kannst. Mir ist ein bißchen Natürlichkeit sehr viel angenehmer als das gespreizte Getue bei Tisch. Es hat mir ebenfalls die Kindheit versaut.«
Sie schaut mich an. Nun tatsächlich fast kuhäugig. Nein. Um Himmels willen – kalbäugig. Ein süßes hellschwarzes Kälbchen, das Gras frißt.
»Mon Cher! Du bist sehr gut. Maintenent – ich möchte jetzt schon etwas wissen, was sie zahlen für eine solche Miete.«
»Naziza! Verrenn Dich nicht in etwas! Ich weiß doch nicht – meine Güte, ich hab's mal mit meiner Wohnung gemacht. Damals mit Isaac. Drei Tage haben sie gedreht. Dreieinhalbtausend Mark ...«
»Ah oui?! So viel?«
»Nun, ich glaube kaum, daß die hier unten soviel bezahlen wollen. Sie gehen sicher davon aus, daß Marseille Afrika ist und man sich in den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts befindet. Ihre Kenntnisse entstammen dem kriminell schlechten deutschen Kriminalfilm der fünfziger Jahre. Eddie Constantine und so. Sie wissen nicht, daß Marseille eine richtige Stadt ist, daß bereits in den zwanziger Jahren hier fünf- bis sechshunderttausend Menschen lebten. Dabei müßten sie nurmal Tucholsky lesen. Bei dem erfährt man ohnehin mehr als durch die komplette Belegschaft des Stadtarchivs von Marseille. Ich hab Dir die Geschichte ja erzählt, mit Madame Documentaliste ...«
»Comment? Tucholsky? Deine Kurt Tucholsky?«
»Ja. Er ist viel gereist in Frankreich. Kurzum: Die denken doch alle, Marseille sei ein marokkanisches Dorf am Rande des Atlas-Gebirges. Dabei ist München eines – ein ambitioniertes, aber letztendlich bierdimpfeliges Dorf an den ausgelaufenen Alpen. Mit wem auch immer ich gesprochen habe bei uns – kaum einer, egal wo, kannte auch nur ein Fitzelchen von Marseille. In München kennen sie jeden Kuhfladen in der Toskana oder meinetwegen auch noch in Umbrien, jede Pißlache in Venedig. Da fahren sie dauernd hin, weil sie sich dort heimisch fühlen. Oder vielleicht auch, weil sie dort endlich finden, von dem sie meinen, daß es zuhause so sein müßte, weil es ständig behauptet wird: italienisch, weil ...«
»Wie meinst Du dieses? Ich habe in München überhaupt nicht ein Association d'italien. Es ist ...«
»Du sagst es! Naziza, endlich sagt's mal jemand. Und den münchengläubigen Filmfritzen mußt Du's auch sagen! Mir hört ja schon lange keiner mehr zu! Alles schwafelt immer was von der nördlichsten Stadt Italiens. Damit sind allenfalls die paar wärmeren Tage auch im Herbst oder bereits im Frühjahr zu verbinden. Und daran ist der Föhn schuld. Der sie so wirr macht, daß sie glauben, sie seien in Italien – und es überall rumerzählen. Dabei fahr'n sie nur bei Rot los und halten bei Grün an und rumpeln dauernd ineinander mit ihrem lackglänzenden BMW-Cabrio-Schrott. Vor allem die ganzen Düsseldorfer und Bielefelder, die über die Stadt gekommen sind seit der Olympiade 1972. Dabei hocken sie in einem der miefigsten Kaffs der ganzen Republik. Italien? Daß ich nicht lache! Dieses Biergartendorf. Na und? Was ist daran italienisch? Das bißchen der Renaissance oder schwülstig der Antike nachempfunde Architektur? Königsplatz? Ich kriege Zustände, wenn ich davorstehe. Filmkulisse. Wie Neuschwanstein. Disneyland. Das meiste ist ohnehin dieser süßliche, putzige, niedliche oder sonstwas Barock, von mir aus auch spätputtige. Nun gut. Vielen gefällt's. Ich bin da eher französisch fundiert, fundamentiert sozusagen. Und ein Kölner, genau, der käme nicht auf die Idee, in dieser Stadt wohnen zu wollen. Der hätte auch andauernd Heimweh in sein nördliches Italien. Mir sind einige Menschen bekannt, denen es so ging. Sie sind bald wieder zurück. Wenn's ging. Die Düsseldorfer, die fühlen sich wohl in München. Sie passen auch gut dorthin. Aber Kölner? Denn Köln ist tatsächlich italienisch. Und manchmal auch ein bißchen französisch. Wenn ich vorm Kölner Dom stehe und mir diese schlimme Fußbodenplatte wegdenke – na ja, ich kucke ja ohnehin nach oben, weniger zu diesem ewigen Herrn Vater, sondern eher zum ewigen Baugerüst. Denn an diesem Filigranmonster wird ja nicht nur seit 1400, ach was, seit 870, sondern noch weitere vierzehnhundert Jahr gebaut. Dann habe ich Gedanken vers France: römisch, romanisch, Colonia Claudia Ara Agrippinensium. Außerdem war das Vorbild ohnehin französisch: die Kathedale von Amiens. Oder die vielen anderen romanischen und auch gotischen Kirchen. Das läßt sich aus der Geschichte leicht erklären. Die Kölner haben von beidem etwas: die Offenheit der Italiener. Das ist die römische Geschichte. Und das französische laisser-faire. Und manchmal auch die Sturheit. Aber nur manchmal. Und sie können über den spezifischen rheinischen Katholizismus lachen. Der rheinische Kapitalismus. Kennst Du Jürgen Becker? Den Erfinder des Rheinischen Kapitalismus? Wahrscheinlich nicht.«
»Non. Ich habe noch nicht von ihm gehört.«
»Klar. Geht ja gar nicht. Ist höchst spezifisch. Also, Becker hat am Beispiel des Franz von Assisi die Kapitalismus-Werdung erklärt. Und das geht in etwa so:
›Er war nämlich der Sohn des berühmten italienischen Tuchhändlers Piedro Bernadone. Ein richtiger Modezar, daraus entstand dann später Benetton. Der Vater reiste als Tuchhändler viel in der Welt herum und nannte seinen Sohn Francesco, den Franzosen. Dazu muß man sagen: Die Italiener lieben die Franzosen, aber sie achten sie nicht. Die Franzosen wiederum mißachten die Italiener. Aber sie lieben sie auch nicht. Das mit der europäischen Einigung wird noch schwer kompliziert.‹«
»Er hat auch Glucksmann gelesen. Es ist zu vermuten. Vielleicht Du hast ihn darauf hingewiesen?«
»Vielleicht hat Glucksmann ja bei ihm abgeschrieben. Écoute, es geht weiter! Er zeigt in seiner Vorstellung ein Bild. Dazu seine Paroles:
›So stellt sich die Diözesan-Bildstelle die Toscana vor. Die beiden Hirsche am Fluß sind Schröder und Lafontaine. Die Kuh unter dem Baum ist Scharping.‹ – Das sind ...«
»Didier! Ich lese Journals. Journals de l'Allemagne. Wir sehen arte. Dort es gibt auch Berichte über die deutsche Provence. Nicht nur Provence française.«
»Excusez-moi. Also weiter, aber mit Becker: ›Kleine Anspielung. So wie heute die reiche Jugend im Alfa Spider oder gar im Ferrari über die Landstraßen fegt, so ritt damals die italienische Jugend auf dem edlen Araber-Hengst durch die Pastapampa. Der Franz muß da dermaßen rumgerast sein, man sieht, hier hat er schon wieder ein Schaf überfahren, überritten. Sehen Sie, das heutige Auto ist ja psychologisch nichts anderes als ein mechanisches Pferd, und deshalb setzen sich auch beim Auto die physikalisch viel sinnvolleren Kilowatt einfach nicht durch, hartnäckig bleiben wir bei unseren mittelalterlichen Pferdestärken. Und die Autos mit den meisten PS tragen das Pferd als Symbol. Michael Schumacher im roten Ferrari ist somit ein moderner Paul Schockemöhle. Aber das Gute an Autos ist, die muß man nicht mal barren. Die springen auch so an. Auch bei Schumi. Ich sag immer: Wenn dich ein roter Wagen rammt, kann sein, daß er aus Kerpen stammt. Und Kerpen hat ja das Kennzeichen BM. Bergheim. Bei uns sagt man bereifte Mörder. Deswegen fährt der Schumi auch Formel 1. Das ist für den die einzige Möglichkeit, ohne Bergheimer Nummer zu fahren. Nein, ich muß hier einmal unseren Schumi Schumacher in Schutz nehmen. Der hat ja gesagt, die Erkenntnisse aus dem Formel 1-Sport fließen in die Serie ein. Also wir alle hier profitieren doch davon. Ein Beispiel: Der Mischaeell ist zum Beispiel mit seinem Formel-1-Wagen von 56 Einsätzen 38mal liegengeblieben. Was lernen wir Verbraucher daraus? Wer sich einen Ferrari kaufen will, braucht noch ein zweites Auto, das fährt! Wo war ich jetzt stehengeblieben. Ach ja, beim Pferd. Franz von Asi sein Pferd. Jetzt ist der nach dem Unfall nach Hause, Pferd in die Werkstatt bringen, un jöckelt mim Leihpferd und frischen Klamotten wieder los.‹«
»Das ist sehr komisch. Es ist schade, daß es hier Schumacher heißt. Es wäre besser, er hieße Alain Prost. Oder so ähnlich. Doch es geht nicht mit Ferrari. Oder vielleicht, weil armenische Automobiles nicht so schnell fahren. Oder weil wir lieber eine Calèche benutzen, die gezogen wird von Chévals arabe. À propos – woher hast Du dieses alles?!«
»Was mir gefällt, das hab ich eben drauf. Wie Dich. Na ja, Dich wenigstens so langsam. Eben nicht so schnell wie Ferrari. Oder die bereiften Mörder von Vitrolles mit ihren Peugeot 306 GTI. Leider erkennt man in France ja nur die Pariser an ihrem Kennzeichen. Der Rest geht in der Égalité der Département-Kennzeichen unter. Also, ich habe ein Video von dieser Reihe. Ab und zu gibt's ja sogar beim WDR was zu lachen. Für Menschen, deren Geist nicht fünf unter Toastbrot gelagert ist. Eben nicht nur Karneval der Tiere. Ich hab's mir sehr gerne und eben auch sehr oft angeschaut. Darüber hinaus gibt es ein Buch. Und wenn mir nach Köln ist und ich nicht hinfahren kann, dann stellt mir eben Becker die virtuelle Reise nach Köln her. Also, die Kölner eben. Ach, was mir einfällt: Köln ist die einzige Stadt – halt, Berlin ist noch so eine Ausnahme –, in der ich nicht in mein französisches Mercure-Bett gehe ...«
»Das kann ich nicht glauben. Du reist seit fünfzehn Jahren toute le monde mit Deine Carte d'Accor. Ich weiß es. Und wir beide sind nie in eine andere Hôtel gegangen! Es kann nicht sein, daß Du ...«
»Das ist schon richtig. Dans France ohnehin. Da gibt es sowieso nichts besseres. Aber in Köln gibt es ein kleines, sehr feines, aber eben nicht piekfeines, anzüglich neureiches – wenn's die dort auch gibt, manchmal, wenn die Golffreunde der Besitzer kommen, aber da kuck ich einfach nicht hin. Du weißt ja, Tucholsky: Golf ist ein verlorener Spaziergang. Ach, ist ja wurscht. Die führen sich ja auch nicht auf. Die tun mir nix. Vermutlich sind das sogar alles fürchterlich nette Menschen ...«
»Manchesmal es ist schlimm mit Deinen einmal gerichteten Urteilen. Ein Pourvoi de Révision ist selten möglich bei dir. Ein wenig mußt Du noch lernen für un Marseillais par excellence.«
»Es wird schon so sein. Also, sondern ein gepflegtes Hotel mit ausgesprochen schönen, großen Zimmern. Es ist vom Charakter her ähnlich den Mercure-Häusern dans France. Vor allem in der Art, als Accor vor etwa zehn Jahren begonnen hat, die kleinen, zentral gelegenen Hotels in den Städten, oft direkt neben den Kathedralen, aufzukaufen und zu modernisieren. Ein Vergleich, von Art und Lage her, wäre Le Yachtman in La Rochelle, Reims-Cathédrale, ganz besonders mein Lieblingshotel in Paris an der place d'Italie, am Quartier Butte-aux-Caille, oder Lyon-Centre an der place de la République – oder Pérpignan-Cours Palmarole, da, wo ich den Chabert de Barbera von 1983, vin doux naturel du Maury für mich – und Deinen Vater ...«
»Didier! Fanfaron. Doch vielleicht ich habe Unrecht. Pardon. Continue.«
»Na ja. Also ähnlich diesen Mercure. Dort werde ich gelagert, wann auch immer irgendwie was los ist in der Nähe. Auch wenn ich nach Düsseldorf muß oder nach Bonn, ist das Hotel Mado meine Heimstatt. Es ist ein kleines, na ja, mittleres, rein familiar geführtes Haus, ausgesprochen persönlich. Dort erhalte ich sogar den Wein aus dem Giftschrank von Madame, weil ...«
»Es muß Liebe sein.«
»So ähnlich. Natürlich liegt es auch daran, daß es nirgendwo in der bundesrepublikanischen Hotellerie passablen Wein gibt. Im Gegensatz zu France. Oder den Mercure dans Allemagne! Ich meine offenen. Also, wenn man, wie ich, nur ein Glas trinken möchte. Da kriegst du nur, wie man in deutschen Landen sagt, Plempe. Grauenvoll. Und Signora Mancuso ...«
»Mancuso? Sie ist Italienne!«
»Sie? Non, Madame. Sie ist das Kölnischste, das man sich vorstellen kann. Sie könnte zwar als französische Italienerin durchgehen oder als italienische Französin. Wenn so was überhaupt statthaft ist. Ich hab's ja gerade mit Hilfe von Herrn Becker geäußert. Aber das ist ja mit den Kölnern häufig so. Und bei denen geht's eben auch. Da brechen sich eben die römisch-französischen Erbfaktoren Bahn. Doch sie ist die Inkarnation der Kölnerin. Sie ist Köln.«
»Dann sie ist die Frau von eine ...«
»Eines Amerikaners. C'est ça! Exactement! Aber er hat wenigstens die Heimatflagge nicht gehißt.«
»Weil Du sonst kämest mit Deinen Guerrier d'Marseille et la canon d'Marseillaise.«
»Getroffen. Aber vielleicht rollt er sie ja prophylaktisch ein, wenn er weiß, daß ich komme ...«
» ... 'hisser la tricolore?«
»Wer weiß. Jedenfalls fühle ich mich dort so wohl wie in einer italienischen Familie in Marseille. Er stammt aber ursprünglich tatsächlich aus Italien. Aus dem Süden. Und er sieht auch so aus. Wenn er auch immer behauptet, er sei durch und durch amerikanisch durchblutet. Aber das tun ja ohnehin alle Amerikaner, auch wenn sie so blutleer sind wie die meisten. Oder Mischblütler. Wie alle Amerikaner. Sogar wenn sie aus Algerien kommen.«
»Non. Non. Et encore une fois: non! Peut-être un Arménien. Mais jamais un Algérien. Du weißt es genau. Weil Du in Dir hast sange d'algérien. Ich habe es in Dich gegeben.«
»Ja. Mach nur weiter so. Dann nehme auch noch Deinen Namen an und werde algerischer Bluter.«
»Idiot.«
»Ach was, dann hieße ich ja tunesisch. Außerdem hast Du auch armenisches Blut in mich hineingepumpt in mein leidendes Herz d'Marseillais.«
»Du hast ebenfalls ein Herz für diese Stadt – à ce qu'il semble, paraît ...«
»Ja. So ist es. Es ist die einzige deutsche Stadt, in der ich leben könnte. Mit dem Klima hätte ich allerdings Probleme. Und Meer gibt's auch keins. Wenn sich der Rhein auch manchmal so gebärdet, wenn er so uferlos wird wie seine Anrheiner. Nun denn: Sie haben den Protestantismus im Kölnischen Krieg von 1582 erfolgreich niedergerungen. Sie sind mit den französischen Besatzern von 1801 bestens klargekommen. Die waren über diese unangestrengte, geradezu französische Gleichgültigkeit derart verblüfft, daß sie die kriegerischen Segel gestrichen, sich fröhlich vermischt haben. Wie hat Johanna Schopenhauer, die Mutter unseres großen Geistes Arthur, so treffend erkannt: ›Eine Menge durchaus fremdartiger Worte sowie die Physiognomie, die Gestalt und das ganze äußere Wesen der echten Kölner deuten durch mancherlei Eigentümlichkeiten auf eine in längst vergangenen Zeiten sich verlierende Abstammung von einem fernen Volke, von aus dem Süden eingewanderten Kolonisten: einige gelehrte Sprachkundige behaupten sogar, daß manche Worte, besonders aber Ortsbenennungen, die man täglich hier im Munde des Volkes hört, unter der nämlichen Bedeutung auch in der griechischen Sprache sich wieder antreffen lassen, worüber ich freilich nicht urteilen kann. In Bonn und der ganzen benachbarten Gegend, bis Koblenz zu, wird zwar auch eine Art Plattdeutsch gesprochen, aber der Kölner wird doch überall an seiner Sprache erkannt, die durch eine Menge verstümmelter, ursprünglich französischer Worte, welche während der langen Oberherrschaft der Franzosen in dieselbe aufgenommen wurden ...‹ Alles klar? In Köln spürt man Geschichte. Köln ist alt! Als Stadt! Nicht so alt wie Marseille, aber immerhin etwa so alt wie Lyon. Das wäre ein Vergleich. Köln wurde 38 vor unser aller Christus ...«
»Unser aller Christus? Deine vielleicht? Deine jüdische Christus? Pareil. Vielleicht auch meine. Von Maman. Und diese gregorianische Christus hinzu. Égal.«
»Also: 38 vor unserer Zeitrechnung als Hauptstadt der von den Römern umgesiedelten Ubiern als als Oppidum Uborium gegründet. Und die Kölner leben auf der Straße. Wie die Marseillais. Immer. Und zu jeder Jahreszeit. Sogar im arschkalten, ekelhaft nieseligen November siehst Du die Menschen nachts auf dem Hohenzollernring, weil sie ins Kino oder in die Kneipe gehen. Während im italienischen Zwiebelturm-München mit seinen ganzen Provinzlern aus Düsseldorf oder Hannover – das ist jetzt exemplarisch für die Stadt – ein Bäcker am Schwabinger St.-Josephsplatz seit Urzeiten, ich glaube, seit zehn Jahren versucht, die Genehmigung dafür zu erhalten, Tische und Stühle auf den recht hübschen, nachgerade idealen Platz zu stellen, um Capuccino – wahrscheinlich mit Instantsahne obendrauf – und Panini zu servieren, die er den Alteingesessenen wiederum als Semmeln verkauft. Aber Semmeln essen diese Münchner Italiener nicht. Panini müssen's sein. Im wahrlich italienischen Marseille sieht Du diesen Wahn nirgendwo. Nun, der Bäcker kriegt keine Genehmigung. Die Buchhändlerin von nebenan hat mir erzählt, daß es ihr wirtschaftlich um einiges besser geht, seit sie dorthin gezogen ist, von einem lediglich ein paar Meter weiter gelegenen Eck, weil an diesem Platz Leben in der Bude ist. Es wuselt regelrecht, denn es ist eine ausgesprochene Wohngegend mit ein paar kleinen mittelständischen Betrieben. Dennoch: null. Es gibt da eine radiologische Kleinklinik. Die Menschen kommen von überall her. Sie müssen oft warten. Aber Café? Ich hab da mal verzweifelt eines gesucht, weil ich mit jemandem was zu besprechen hatte. Nichts. Aber der zuständige Bezirksausschuß sagt nein. Das deckt sich mit der jahrelangen Diskussion in der Stadt um die sogenannte Sperrstunde. Während ich in Marseille abends um elf zum Friseur am Boulevard de la Liberté gehen, anschließend bei Deinen halben Landsleuten noch was einkaufen gehen und mich anschließend bis Ultimo irgendwo vor eine Bar setzen kann, schließen sie in diesem unsäglichen Kaff spätestens um dreiundzwanzig Uhr die Luken zur Außenwelt. Das zum italienischen München. Und die Kenntnisse über Marseille? Eine Kunsthistorikerin kenne ich, die bewundernd von Marseille gesprochen hat. Oh – von Griechen gegründet! Vor zweitausendfünfhundert Jahren! Bei dem Alter kommt’s ja auch bei einer Kunsthistorikerin auf hundert Jahre mehr oder weniger nicht mehr an. Und unterm Strich hat sich herausgestellt, daß auch sie wieder nur ein bißchen Architektur und ein paar Ruinen in der Umgegend kannte. Cassis. Klar. Château d'If. Logisch. Monte Christo haben sie alle gelesen. Aber daß diese Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht, das wissen sie schon nicht mehr, unsere Gebildeten. Und die Îles de Frioul? Drei Meter neben dem Château. Zero. – Ach, was soll's. Kehren wir zurück zum richtigen Leben. Ich gehe davon aus, daß es für einen Drehtag allenfalls zweitausend Francs geben wird. Eher fünfzehnhundert. Und ein bißchen Bestechung für die Anwohner. Ein paar Runden Pastis. Weil ihnen die Parkplätze genommen werden. Und sie räumen dann noch ihren Dreck weg und renovieren, was sie kaputtgemacht haben. Wände streichen und so.«
»Mais – es wird gerade reno ...«
»Naziza! Du treibst mich in den Wahnsinn! Wart's doch mal ab!«
»Bien – das ist auch nicht wenig. Quinze cent Francs per jour.«
»Du bist völlig durchgedreht.«
Nun kichert mein grasmampfendes Kälbchen. Es macht sich lustig über mich. Der ich mich wieder mal ereifere, ohne zu merken, welche wahrhaftig diebische Freude es daran hat, mich aufzuschaukeln. Was bleibt mir anderes, als mitzulachen?
»Aber – warte mal. Naziza, ich hab eine Idee!«
»Es klingt dangereux.«
»Du Miststück.«
»Es nutzt nichts. Sie kichert immer noch mehr. Lediglich die eintreffende Gemüsesuppe mit Fleischeinlage nimmt etwas zurück von ihrer Vorstellung von einem gutgelaunten Teenager.
»Darf ich trotzdem meine Eingebung vortragen.«
Ein vinaigrettedurchtränkter Schmatzer auf meinen sprachlosen Mund gibt keinen Aufschluß darüber, ob ich weitersprechen darf oder gar soll.
»Nimm keine Blatt vor die Mund – oh non! Du sollst eines in den Mund nehmen. Sonst ich muß Dich fütteren!«
»Das hast gerade getan. Mit Vinaigrette.«
»Siehst Du. Nun weißt Du, woher das Küssen kommt.«
»Es ist nicht zu fassen! Jetzt bist Du aber aufgedreht!«
»Du magst es nicht, wenn ich gute Laune habe?«
Nun nehme ich ein wenig Potage in den Mund und gebe die Suppe ohne Umschweife in den meiner Nachbarin.
»Bon. Merci. Du hast es bereits etwas gekühlt für mich. Es verbrennt mir nicht mehr den Mund.«
Das packe ich nicht. Aber warum auch. Es ist angenehm, so entspannt zu sein. Die dicken Brocken kommen schon noch. Womit ich nicht die der Suppe meine, die tatsächlich ausgesprochen wohlschmeckend ist. Der Appetit hält mit Riesenschritten Einzug.
»Also. Ich rufe Isaac an und bitte sie, Pépin den großen Rechner mitzugeben. Wenn wir ohnehin die nächsten Tage nach l’Estaque ziehen, ist ja Platz genug.«
»Mais – Du hast eine Computer dabei! Weshalb zwei?«
»Meine Entzückende – das iBook ist was für die Reise. Man kann zwischendrin mal was arbeiten damit. Aber auf Dauer ist es sehr anstrengend mit der kleinen Tastatur und dem kleinen Bildschirm. Und ich mach's jetzt einfach mal wie Du und spekuliere auf diese Filmproduktion. Ich biete ihnen meine Dienste an – und eben gleich das Equipment mit! Man kann damit CD-ROM, man kann DvD anschauen, man kann brennen. Er hat eine riesige Kapazität.«
»Das alles? Énorme.«
»Mehr noch – ich lasse alles einpacken. Auch den anderen Brenner. Alles. Was soll ich in München damit? Ich gründe die Neue Heimat, la Nouveau Patrie, la Nouveau Monde à Marseille ...«
»Cheri! Du machst mich – hereuse!«
»Ich mache nicht nur Dich glücklich, sondern auch diese Filmproduktion – wenn's klappt. Aber wenn's klappen soll, muß ich alles dahaben! Ich ruf gleich Isaac an.«
»Du große Enfant! Du mußt ...«
»Wer von uns beiden das größere Kind ist ...«
»Wir sind gleich groß. Mais – Du mußt doch essen! Du mußt noch wachsen.«
»Du hast recht. Auf die paar Minuten kommt es auch nicht an. Obwohl ...«
»Non! Assis! Manger! Sacré nom de Dieu!«
Ich nehme diesen Befehl an und noch einen Löffel Suppe. Es ist ohnehin nicht mehr viel im Teller. Ich wähle Isaacs Nummer.
»Du sollst meine Téléphone nehmen. Es ist billiger.«
»Du erinnerst mich an was – ich muß sofort eine Nummer beantragen. Ich habe ja ein Konto bei France Télécom.«
»Du hast?!«
»Ja. Schon lange. Seit über zehn Jahren. Früher lief es über die Deutsche Telekom. Aber seit zwei Jahren habe ich ein direktes Konto bei der France Télécom.«
Ich nehme wunschgemäß ihr schlabbriges Alcatel und wähle – zunächst meine Geheimnummer und dann die des Anschlusses. So wird’s immer noch günstiger.
»Isaac. Ich habe eine Bitte. Pépin hat mich angerufen – übrigens vielen Dank ...«
»Ja. Ich hab mich ja erst nicht getraut, weil ...«
»Ja, ist schon in Ordnung. Paß auf! Die drehen in Marseille einen Tatort. Und ich will mich – und auch Naziza – andienen.«
»Spitzenidee!«
»Frage – ob Du Pépin ...«
»Ich treff mich in einer Stunde mit ihm. Er kommt in die Wohnung.«
»Gut. Ich habe ihn schon gefragt, ob er auch zwei Kartons mitnimmt. Er hat ja gesagt. Und da hab ich mir gedacht, es wäre besser, das ganze Computergeraffel hierzuhaben als die Bücher. Die kann man immer noch transportieren. Die fahren ja in nächster Zeit noch öfters hier runter. Vielleicht kriegt man auf diese Weise nach und nach alles kostengünstig transportiert. Na ja, sie werden nicht immer so viel Platz haben. Aber gut. – Packt doch den gesamten Computerkram ein. Alles!«
»Wie? Alles.«
»Ja – Scanner, Brenner. Und der alte iMac steht ja auch noch rum. Vielleicht kann ich den ja sogar hier unten verticken.«
»Wie – hier unten. Seid ihr schon da? Das geht doch gar nicht!«
»Nein. Wir sitzen immer noch in Colmar. Aber wir fahren dann los und direkt durch. Es hat sich alles geändert. Germering braucht den Beitrag erst am Freitag. Ich habe also Zeit und Ruhe und muß das nicht alles hektisch runterhacken. Aber im Geist bin ich schon in Marseille. Sogar schon in l’Estaque ...«
»Donnerwetter. Du scheinst Dich ja schnell erholt zu haben!«
»Ach – die große Scheiße kommt schon noch. Aber ich will jetzt nicht daran denken. Ich gehe irgendwann nächste Woche zur Préfecture. Oder rufe erstmal an.«
»Ich mein ja nur. Ich find's gut. Aber was is‘en mit dem Fax?«
»Ach Du Scheiße. Das hab ich vergessen! Hast Du's schon raus ...«
»Nee. Ich wollt's heut abend machen.«
»Dann laß es. Du kannst es ja morgen faxen. Zu Naziza. – Hast Du‘n Fax, Naziza?«
»Non. Malheureusement non!«
»Egal. Isaac. Ich schließ dann mein iBook an. Das geht ja dann. Über Nazizas Telephonnummer.«
»Oh! Formidable!« tönt es freudig von meiner Seite.
»Ja, Alter. Ich mach das dann morgen.«
»Wir müssen aber erst telephonieren. Ich muß ja den Computer einschalten. Sonst geht's ja nicht.«
»Ja. Ist ja kein Problem. Aber wie sollen wir das machen mit dem Computerkram. Ich hab ja keinerlei Kartons! Ich wüßt auch nicht ...«
»Im Keller liegen noch welche aus unserer seligen gemeinsamen Zeit ...«
»Arschloch. – Du hast die doch alle verkauft.«
»Nein. Ein paar sind noch da. Sie dürften ein bißchen wacklig sein. Aber es dürfte gehen. Also alles einpacken, was Du an Computerhart- und Weichware herumliegen und -stehen siehst.«
»Ob ich das packe.«
»Das Packen packen? Pépin ist ja dabei. Der kennt sich doch aus. Und der weiß, was zum Computer gehört. – Aber sag dem nix! Von wegen Andienen und so.«
»Zu mir hat er schon gesagt, daß Ihr bestimmt zusammenarbeiten würdet.«
»Wie?«
»Na, er hat gesagt, daß das vermutlich ein Glücksfall für die Produktion wär. Besser, hat er gemeint, könnt's gar nicht laufen. Da müßten sie nicht so lang rumsuchen. Du würdest ja ganz ordentlichen Café machen, hat er gemeint.«
»Merdemerdemerde! Hundling.«
»Nee. Der hat offensichtlich schon mit dem Peter gequatscht.«
»Tatsächlich. Das hör ich gerne.«
»Ich bin sicher, daß der bald anruft. Laß Dein Telephon also ma‘ besser an. Ist ja jetzt wurscht. Und wenn das mit Germering sowieso geregelt ist.«
»Der läutet sowieso Naziza an. Würd ich auch. Mit sowas spricht man ja auch lieber.«
»Womit Du ausnahmsweise mal recht haben könnt‘st. – Also. Was soll ich jetzt?«
»Einpacken halt.«
»Ja was denn, Himmel, Arsch – keine Bücher?«
»Hab ich Dir doch gesagt – den ganzen Computerkram. Aber nicht die kleinen Macs, die Classics. Das sind Museumsstücke. Mit den Dingern kann man ja nichts mehr anfangen. Da würde ja nicht mal Office auf die Festplatte passen. Nich‘ ma‘ die Hälfte. Aber den alten iMac noch. Den können wir vielleicht gebrauchen. Vielleicht kann ich ihn ja dort verkloppen. Und ein paar Bücher. Wenn er Platz hat. Ja. Schnapp Dir, was Du greifen kannst. Dir Klassiker zuerst. Lessing, Hegel, Kant, Schiller. Hölderlin ist wichtig, auch Jean Paul, Tucholsky, den brauch ich für Naziza. Kerr, Karl Kraus. Hanns Henny Jahn. Lang Dir einfach die Gesamtausgaben. Aber Geheimrat Goethe kannst Du erstmal stehenlassen.«
»Das sind fünf LKW! Spinnst Du?! Ich kuck ma‘. Aber ich seh das schon – Ihr müßt direkt anbauen. Also, mach ich. Bist Du erreichbar. Normal, mein ich.«
»Was soll das heißen? Normal.«
»Ob Du Dein Ding anläßt?!«
»Mein Ding. Ja, ich lasse mein Telephon, solltest Du dieses meinen, eingeschaltet.«
»Volltrottel.«
»Aber denk dran – es gibt Löcher in Frankreich. Und ich meine damit keine Schlaglöcher. Auch nicht die in mei'm Kopp.«
»Es ist nicht zu fassen. Und an einer solchen Scheißgutenlaune bin ich auch noch mitschuld. Du bist ekelhaft gut drauf. – Ja, ich versteh schon. Manchmal gibt‘s weiße Flecken in diesem Land. Telephonisch, mein ich natürlich. Ich mein ja auch nur, wenn irgendwas ist. Es könnte ja sein, daß wir die eine oder andere Frage haben – mit Deinem ganzen Umzugsmist. Ach – ich hab wahrscheinlich schon ‘ne Mieterin. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Erzähl ich Dir später. Außerdem können wir die Wohnung ja vermutlich sowieso bald auflösen – so, wie's aussieht. Wann seid Ihr unten?«
»Ich vermute mal gegen sechs Uhr früh.«
»Ihr braucht doch von Colmar aus keine zwölf Stunden! Nich‘ ma‘ mit 'ner Ente!«
»Is‘ ja wurscht. Is‘ dann eh früher Morgen. Dann wirst Du wohl kaum anrufen wollen.«
»Das is‘ wohl richtig. Also – tschauou. Schönen Gruß.«
»Das ist erledigt. Morgen abend haben wir alles unter Dach und Fach. Ich frage nur – wohin damit?! Deine kleine Wohnung!«
»Es wird gehen. Wir können ja schon in l’Estaque hinein.«
»Aber wann? Das wird eng.«
»Warum es ist eng? Du meinst mit die Zeit?
»Ja. Wohnung und Zeit.«
»Oh, Cheri! Wir haben Mercredi et Jeudi!«
»Das sagst Du so einfach – Mittwoch und Donnerstag. Wann soll ich die Arbeit machen?!«
»Es wird gehen. Du siehst es.«
Die Tür geht auf, und herein kommt ein lärmende Meute. Mehrere Erwachsene und Kinder. Schlagartig ist alle Ruhe dahin. Ein radauartiges Stühle- und Tischegerücke setzt ein. Es läßt zunächst ein wenig nach, um sich dann in infernalisches Gebrüll umzuwandeln. Diese Menschen sprechen nicht miteinander, sie schreien sich an. Mit lachenden, fröhlichen Gesichtern. Irritiert schauen wir alle in die Runde. Mein Blick trifft den der Bedienung. Wir schütteln synchron die Köpfe. Auch Naziza schaut entgeistert.
»Was ist das? Diable.«
Ich lausche ein wenig, um die Sprache einzuordnen. Aha. Hebräisch. Zwischendrin ein paar französische Fetzen. Vermutlich Familienbesuch aus Israel. Die Bedienung geht an die Tische mit ihrer neuen Anordnung zu den nun doch arg krawalligen Gästen und ermahnt sie. Es seien schließlich noch andere Gäste hier. Soviel verstehe ich. Nun ist es mir fast ein bißchen unangenehm.
»Naziza.«
»Oui.«
»Es ist mir zwar zu laut hier. Aber ich möchte mich jetzt zwingen, es auszuhalten. Eine Weile wenigstens noch.«
»Warum das? Ich verstehe Dich nicht. Du bist sonst sehr auf Ruhe bedacht.«
»Ja. Aber es tut mir leid. Weißt Du, wo sie herkommen?«
»Non. Ich kann es nicht einordnen. Ich höre zwar ein wenig Französisch. Aber das andere weiß ich nicht.«
»Es ist Hebräisch. Sie kommen aus Israel.«
»Ist das ein Grund, eine solche Lärm zu machen? Sie dürfen das, während alle schweigen müssen?«
»Genau. Das ist der Grund.«
»Ich höre nicht richtig. Und damit meine ich nicht diese Höllenlärm. Ich bin viele Krach gewohnt von uns Arabes. Aber ...«
»Sie haben früher schweigen müssen. Immer. Über Jahrhunderte. Immer und immer und überall. Und wenn sie zusammen sind, machen sie Lärm. Sie machen sich Mut, wenn sie in der Familie, unter Freunden sind. Normalerweise machen sie das nur zuhause in Israel. Dort sagt ihnen niemand mehr, sie sollen schweigen. Doch hier scheint mir jetzt die Wiedersehensfreude ein bißchen eine Rolle zu spielen.«
»Ich kenne das nicht von Dir. Du bist voll Güte. Ich bin sehr überrascht.«
»Auch wenn Du jetzt ätzend bist. Ich bitte um Vergebung. Denn tief innen gehöre ich dazu. Zu ihnen. Nun, mittlerweile habe ich ein bißchen nachgedacht – ein paar mehr Information eingeholt und auch mit einigen – jüngeren – Menschen aus Israel darüber gesprochen. Ich hab das früher im Gelobten Land auch immer ziemlich verflucht. Es ist ein geradezu infernalischer Lärm. Schlimmer als in Marseille. Viel schlimmer. Vor allem bei Familienfesten. Da drehen selbst die ansonsten ruhigeren Temperamente geradezu durch. Es wird dauernd irgendwas gefeiert. Aber jetzt haben sie auch was zu feiern. Sag ich mal – seit einiger Zeit. Zuhause sagt ihnen niemand mehr, sie sollen die Klappe halten, weil sie sonst eine draufbekämen. Ich glaube auch, daß die legendäre Unhöflichkeit der Israelis, das immerwährende schlechte Benehmen damit zu tun hat. Sie machen einfach, was sie wollen. Das dürfte auch der Grund sein, daß sie heute erst zuschlagen und dann erst fragen, was denn eigentlich los ist. Danach. Niemand soll ihnen mehr was vorschreiben. Niemand soll ihnen mehr etwas wegnehmen. Nie wieder darf ihnen jemand mehr an die Haut! Es ist äußerst schwierig, das in den hiesigen Breiten zu vermitteln.«
»Ich habe es noch nicht bedacht. Du könntest recht haben. Mon Dieu!«
»Ich bin ziemlich sicher, daß dem so ist. Ich habe, wie gesagt, einige Male darüber gesprochen. Vor allem mit jungen Leuten eben, die darüber reflektiert haben. Die älteren sind immer noch schweigsam. Es sei denn, es wird gefeiert. Dann lassen sogar die Alten es krachen. – Läßt Du mich bitte mal raus.«
Sie macht mir Platz. Und ich tue etwas, was mit Sicherheit noch vor kurzer Zeit selbst in meinen kühnsten Heldenträumen nicht geschehen wäre – ich gehe zu den Israelis hin und krame meine wenigen Brocken Hebräisch zusammen, die noch übrig sind von meinen Reisen in das Land, dessen Bürger ich ja beinahe einmal geworden wäre. Ich grüße freundlich und wünsche einen guten Tag, der ja in Israel mit Frieden beginnt. Ich bitte um Verständnis dafür, daß solcher Ausdruck an Lebensfreude für hiesige Ohren doch etwas ungewohnt sei. Und ich bastele noch die Bemerkung zusammen, man habe hier vielleicht auch nicht diese triftigen Gründe. Ich blicke in sehr erstaunte Augen. Ein älterer Herr steht auf, geht auf mich zu und umarmt mich. Er wünscht mir Frieden. Für alle Zeiten. Ich grüße zurück, wünsche dies ebenso. Ich wende mich ruhig um und gehe an unseren Tisch. An ihm sitzt eine zauberhafte Frau. Und sie hat Tränen in den Augen. Sie schüttelt ganz sachte den Kopf. Sie nimmt mich aufhebend sanft in den Arm. Wir schweigen ein wenig. Alle. Es wird dann wieder lauter, aber doch wesentlich reduzierter. Es wird nicht lange dauern, und der Pegel wird wieder anschwellen. Es ist so. Und es ist auch gut so.
»Was hast Du gemacht, Cheri?! Ich habe nicht verstanden, was Du hast gesagt. Aber ich weiß: Das war eine Heldentat. Une prouesse. Ich habe ein ‘héros. Ich bin sehr stolz. Je t'aime.«
Ich fühle mich sehr gut. Nicht, weil ich ein Held bin. Oder doch? »Meine Nymphe, meine Göttertochter?«
»Oui, meine kleine Seefahrer.«
»Du kennst Saint-Pol-Roux?«
»Wie geht es nicht?! Er stammt aus einem Dorf prés de Marseille! Wenn er uns auch hat verlassen in die Brétagne. Vielleicht es war ihm zu laut dans le sud. Er hat La Répoètique geschrieben. Oh – et beaucoup plus!«
»Ja – ein kleiner Verlag – Edition ad absurdum – hat eine Werkausgabe in deutscher Sprache herausgegeben.«
»Vrai?! Énorme. Man kennt ihn in Deutschland?«
»Ich fürchte eher – nein. Vielen dieser Kleinverleger geht nach solchen Projekten meistens die Luft aus. Häufig ist kein Geld mehr für Werbung vorhanden. Und somit bleiben sie auf ihren Büchern sitzen. Ich halte so etwas durchaus für Heldentum. Nicht das Planen von Projekten durch irgendwelche Macher, denen es nicht um Inhalte geht, sondern um Formalismen. Also nicht das Sitzenbleiben. Denn nichts anderes wäre solcher Aktionismus – im Sinn von: Ich habe etwas getan! Sondern das Aufstehen ist es. Nicht machen, sondern Tun.«
»Du hast es getan. Soeben.«
»Na ja. Aber in diesem Zusammenhang komme ich auf Saint-Pol-Roux. Er ist mir vorhin schon einmal in den Kopf gezogen. Im Zusammenhang mit Reisen und Geschwindigkeit.«
»Ah! Oui – La Randonnée! Wie heißt es noch ...«
»Deutsch – Der Ausflug. Genau. In diesem Buch hat er Heldenmut als eine Geschwindigkeit der Moral bezeichnet.«
»Ich kenne es nicht.«
»Er hat – ich versuche, es einigermaßen exakt zusammenzubringen – gemeint, wenn man den Heldenmut drosselt, macht man sich schnell lächerlich. Saint-Pol-Roux empfiehlt, es mit dem Kieselstein Davids zu versuchen. Ein bißchen fühle ich mich gerade wie David. Weil mir zum ersten Mal etwas gelungen ist, wonach ich mich immer gesehnt habe. Nicht nur mitzufühlen – das gelingt mir oft. Sondern es auch zu zeigen und zu sagen. Ich habe den Goliath in mir besiegt, den Philister.«
»Deshalb bist Du auch meine König.«
»Aber jetzt muß ich aufpassen, daß der Stein nicht zurückkehren will zur Schleuder.«
»Wie meinst Du dieses?«
»Ich paraphrasiere damit den Titel einer Arbeit des Künstlers Jochen Gerz – er lebt seit über dreißig Jahren in Paris. Kennst Du ihn?«
»Ich habe von ihm gehört, auch gelesen. Er hat ein paar Aktionen gemacht ...«
»Er arbeitet sehr viel – mit Menschen zusammen. Viele Jahre gemeinsam mit seiner Frau Esther Shalev. Sie ist – aber das nur nebenbei und wie leicht dem Namen zu entnehmen ist – aus Israel. Er ist meiner Meinung nach einer der wichtigsten Künstler überhaupt, weil er die Kunst wieder dorthin zurückzuführen versucht, wo sie herkommt – vom Menschen. Er hat einmal einen – einen von sehr vielen – mehr als bemerkenswerten Satz geschrieben, den ich sogar genau im Kopf habe, weil ich ihn sehr oft und sehr gerne zitiere. Er hat in seiner scheinbaren Lapidarität meiner Meinung nach auch programmatischen Charakter – durchaus auch im Sinn der Romantik. Und er ist von außerordentlicher poetischer Kraft!«
»Attention soutenue!«
»Die Zeitlichkeit des Sprechens ist evident. Das Sprechen führt den Zug der zeitlichen Dinge an wie ein tanzendes Kind mit einem Wimpel, auf dem nichts geschrieben steht, oder etwas, das es weder weiß noch versteht, oder mit Kinderschrift: Tod. Deshalb folgt die Kunst in dem Zug der zeitlichen Dinge weit hinten nach, mürrisch. Sie träumt von der Gegendemonstration.«
»Puh! Difficile. Es zu lesen ist nicht so schwierig für mich. Aber zu hören. Encore, s‘il te plaît. Das Sprechen ...«
»Die Zeitlichkeit des Sprechens ist evident. Das Sprechen führt den Zug der zeitlichen Dinge an wie ein tanzendes Kind mit einem Wimpel, auf dem nichts geschrieben steht, oder etwas, das es weder weiß noch versteht, oder mit Kinderschrift: Tod. Deshalb folgt die Kunst in dem Zug der zeitlichen Dinge weit hinten nach, mürrisch. Sie träumt von der Gegendemonstration.«
»Es sagt sehr viel. Énorme! Er ist eine Écrivain!«
»Er ist alles. Ihm geht es nicht um Bilder, sondern um Inhalte. Nur muß man manchmal Bilder herstellen, um sie vermitteln zu können, die Inhalte. Wie in der biblia pauperum, der Armenbibel eben. Für diejenigen, die nicht lesen können. Und davon haben wir ja genug heutzutage. Und damit meine ich nicht, wie Du Dir denken kannst, die sogenannten Analphabeten, die Schwierigkeiten mit den Buchstaben haben. Ich meine in erster Linie die Analphabeten des Denkens. Denen muß man manchmal Bilder herstellen, damit sie was kapieren. Womit ich nicht Dich meine, klar. Du bist ja Donna Polyglotta. Aber deshalb wollte ich das auch zitieren, weil sonst dieses Der Stein will zurück zur Schleuder allzu schwierig zu verstehen ist. Compris?«
»Oui.«
»Gerz meint damit also eher, den Schuß ungeschehen machen zu wollen, mit dem Goliath niedergestreckt wurde. Oder aber auch, den Urzustand wieder herstellen zu wollen. Es mag jedoch genauso eine ironische Brechung sein. Es ist interpretierbar. Wie auch immer – ich befinde mich nun in der Situation, nicht Stein sein zu dürfen, nicht zurückzudürfen in den geruhsamen Zustand. Ich muß mich verhalten wie David. Ich muß tun. Es ist ein elementarer Widerspruch in mir. Ich will auf mein Ruhekissen und muß meinen Hintern dennoch bewegen.«
»Man muß sich bewegen, um dorthin zu kommen. Du tust es!«
»Es ärgert mich ein wenig, daß ich hier ja auch schon wieder Abstriche machen muß. Wer weiß, ob ich es getan hätte, wären es nicht Israelis gewesen wären.«
»Ich glaube es nicht.«
»Was glaubst Du nicht?«
»Daß Du es nicht getan hättest auch bei anderen.«
»Da kannst Du sogar sicher sein. Da gibt es eine gewaltige Lücke zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wollen und Handeln. Soweit bin ich noch lange nicht, daß ich grundsätzlich mit allen solidarisch wäre. Ich bin zugeschüttet mit Vorurteilen. Nein, das ist falsch – mit Urteilen. Ich tue mich sehr schwer mit dem Revidieren von Urteilen, die ich gefällt habe. Ich bin ein fürchterlicher Richter.«
»Warum sprichst Du so? Das bist Du nicht.«
»Da irrst Du Dich aber gewaltig. Du kennst lediglich den, der dagegen ankämpft. Du kennst nicht den, der das alles in sich hat. Du kennst nicht die Inhalte. Die bringen mich oft genug zum Absturz.«
»Du hast Saint-Pol-Roux genannt. Jetzt werde ich ihn Dir nennen! Er hat davon geschrieben, der Mensch hat vielleicht noch etwas im Kopf, was ihm helfen kann. Er meint, der Mensch kann sich vielleicht einmal erinnern, daß er in seiner Schulter Flügel hat – und diese wieder aus diese herauswachsen können. Wenn der Mensch seine Vorstellungskraft verloren hat, wird er sie wiederfinden, sobald er gelernt hat davonzufliegen. Also – Du wirst aufsteigen, nicht stürzen. Fliegen. Du hast bei Israel begonnen. Du fühlst, es ist Deine Familie. Aber ich glaube, Du fliegst bald über die Arabe et les autres. Über uns. Und Du wirst keine Steine werfen hinunter. Ich weiß es. Ich fliege mit Dir.«
»Ach Gottchen, bist Du lieb. Aber der Steineschmeißer ist in mir. Normalerweise gibt es dieses Problem, wenn es denn eines ist, für die Juden in Europa nicht. Schon gar nicht für die jüngeren. Sie wachsen hier auf, wie ihre Großeltern und Urgroßeltern aufgewachsen sind – als Deutsche, als Franzosen, als Spanier oder sonst irgendeine Nationalität. Viele haben einen israelischen Paß. Er ist das, was die Schekel in der Geldbörse meines Vaters waren. Immer die Möglichkeit haben, sofort auszureisen. Oder auszureißen, abzuhauen. Die Jüngeren haben vermutlich nicht mehr so eine Angst. Die Älteren jedoch schon. Es steckt in ihrer Seele, im Kopf.«
»Ich glaube das. Aber ich weiß auch so wenig. Du hast recht – wir schimpfen immer nur. Wir schimpfen sogar auf diese Fascistes, diese Fascistes israélien.«
»Manche benehmen sich auch so. Das ist schon richtig. Manche sind schrecklich. Sie würden am liebsten alle Araber umbringen. Wie die Deutschen sie umgebracht haben. Auge um Auge. Obwohl das so ja nun wirklich nicht in der Bibel steht. Und viele Araber würden am liebsten alle Israelis umbringen. Aber es gibt auch Araber, die gerne mit den Israelis leben möchten. Nicht nur im Frieden. Sondern auch als Freunde. Und umgekehrt. Ruth Lapide hat einmal ...«
»Ruth Lapide? Wer ist das?«
»Sie ist die Witwe des ehemaligen – puh, jetzt komme ich ins Schleudern. Er war Vorsitzender einer jüdischen Gemeinde. Er war aber auch sicher im Gesamtvorstand der deutschen Juden, dem sogenannten Zentralrat. Den es ja in Frankreich auch gibt. Sie hat einmal im Bayerischen Rundfunk in einem bemerkenswerten Beitrag gesagt, schon das Buch Genesis richte sich an alle Menschen. Weder Kain und Abel, nicht Nimrod oder Methusalem seien Juden – und schon gar nicht Christen! Sie verweist auf die etwa siebzig Völker der Antike, die in den alttestamentarischen Schriften erwähnt seien. Aus nicht bekannten Gründen schließe Gott ausgerechnet mit Israel einen Bund. Aber es war weder das beste, größte oder verdienstvollste Volk – und ist es auch nicht.«
»Das glaube ich wohl!«
»Weißt Du, daß es Araber gibt, vor allem jüngere, die nicht glauben können, daß ein Jude mit ihnen leben möchte. Ja, nicht einmal, daß ein Jude gut über sie spricht?«
»Es ist so schlimm?«
»Es ist so. Es ist sogar noch viel schlimmer.«
Die Bedienung tritt an unseren Tisch. Sie hat wieder diese wunderbar offene, natürliche Freundlichkeit im Gesicht. Mir scheint, es sei noch etwas ausgeprägter als zuvor. Sie fragt, ob wir etwas trinken möchten – die Nachbarn hätten eingeladen. Ich verneine. Ich wende mich den Gastgebern zu und stammle etwas von Autofahren und weitem Weg, noch bis nach Marseille. Ich nehme verständnisvolles Nicken entgegen. Oh, bis nach Marseille, wird staunend nachgereicht.
»Schau, meine Liebe. Schau Dir das Gesicht der Bedienung an. Ist es schön?«
»Non. Didier, Du weißt, ich bin nicht arrogant. Du weißt, ich habe Solidarität. Sie ist charmant. Jedoch sie ist nicht schön.« Kurzes Schweigen, kurzer Blick. »Mais – ich glaube, ich weiß, was Du meinst. Oui – so gesehen, es ist schön. Es ist Plato.«
»Wie bitte? Platon?«
»Oui. Schönheit bedeutet nicht das Äußere allein, sondern alles dieses, das wertvoll ist. Er hat es ›Bestheit‹ genannt. Inneres, verbunden mit dem Äußeren.«
»Es freut mich. Du hast verstanden, was ich unter Schönheit verstehe. Ohne daß mir das jetzt Platon geflüstert hätte. Aber es ist wohl so überkommen. Ja. Sie ist durch und durch sanft. Sie trägt ihre warme Seele im Gesicht. Sie hat eine weiche Haut. Ihr Gesicht ist alles andere als ebenmäßig, es entspricht allem anderen als den uns vorgegebenen Normen. Aber es spiegelt eben die Anmut eines klaren Charakters. Das ist durchaus Schönheit. Man muß es nur sehen. Wenn man nicht hinschauen kann oder hinschauen will, dann sieht man die Schönheit nicht.«
»Monsieur Aubertin – mit Staunen lerne ich von Dir. Und ich lerne kennen eine noch andere Mann als diese Mann, den ich habe geheiratet.«
»Laß mich nochmals kurz nach Israel. Was glaubst Du, weshalb so viele Deutsche – und ja sehr viele Franzosen – auf der Seite der Araber stehen?«
»Puh! Compliqué. Weil sie, die Israélien sich so schlimm verhalten und die Deutsche Schuldgefühle haben, von diesen sie so besser ablenken können.«
»Da ist sicher etwas dran. Aber ich glaube, es ist viel schlimmer. Es ist Rassismus.«
»Mon Dieu! Was sagst Du da?! Es wird geben noch Deutsche, die solches denken. Wie Franzosen auch. Aber so! Ich glaube, ich muß mich empören! Welche Art von Racisme soll es sein?«
»Simpler Rassismus. Nichts anderes.«
»Eh bien – das mußt Du erklären!«
»Die Araber sind ein sogenanntes reines Volk. Die Israelis, die Juden, sind wild durcheinandergemischt. Aus aller Welt. Wir sprachen darüber. Die Araber sind immer unter sich geblieben. Und sie tun es heute noch. Sie sind, so betachtet, eine reine Rasse.«
»Mon Dieu! Das ist hart, was Du sagst.«
»Aber ich bin davon überzeugt, daß es stimmt. Ich habe, wie gesagt, mit einigen Menschen darüber gesprochen. Man hat mich bestätigt. Doch, daß hier keine Mißverständisse entstehen – ich will damit nicht sagen, daß alles, was vermischt ist, mit gut gleichzusetzen ist. Aber Du kennst meine These – neues Blut, aus anderen Rassen, also nicht Lebensborn und ähnliche Schrecklichkeiten, bringt frischen Geist. Ich glaube an die Toleranz, die aus der Vermischung entsteht. Nicht diesen Rassenwahn der Nationalsozialisten, begründet vom Vorläufer der Max-Planck-Gesellschaft, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie. Die dort führenden Herren mit ihrer menschlichen Erblehre und Eugenik meinten, jede Bastardisierung, also jede Zerstörung von Reinheit schaffe menschliche Minderwertigkeit. Götz Aly hat es beschrieben: Liebten sich ein definitorischer Jude und eine definitorische Arierin, beging sie als ›rassenvergessene‹ Deutsche minderschwer geahndeten ›Rassenverrat‹, er hingegen machte sich als ›Artfremder‹ der ›Rassenschande‹ schuldig. Das alles entstammt den Nürnberger Gesetzen von 1935. Blutschutzgesetz. Es ist mir unerklärlich, wie ein Mensch so etwas überhaupt denken – geschweige denn umsetzen kann. Mir hüpft das Herz, wie erst vor ein paar Tagen, wenn ich so ein Pärchen sehe: er milchcafébraun, vermutlich irgendeine Mischung aus kreolisch und afrikanisch-südfranzösisch, vielleicht auch von den Antillen, mit einem zauberhaften, weil undefinierbar-kunterbunten Mädchen auf den Schultern, die Ausgeburt der Schönheit, und die Maman der Kleinen hellhäutig-rothaarig vor den beiden herschlendernd. Äußerst gelöst das Ganze. Nicht wie diese rassereinen Berliner Frostbeulen drumherum. Damit geht jedoch nicht die Forderung einher, alles aneinander anzupassen. Nein. Jede Kultur soll für sich leben, wie bisher. Aber miteinander leben und keine Annäherungsängste haben. Alexander Kluge ...«
»Es ist dieser deutsche Réalisateur?«
»Ja – Regisseur, Filmemacher, wie es im Deutschen heißt. Ein fürchterliches Wort. Macher! Da haben wir's wieder. Er ist weitaus mehr. Biograph, Essayist – Documentaire du circonstance.«
»Documentaliste.«
»Merci. Alexander Kluge eben hat diesen großartigen Begriff von der Globalisierung der Gefühle geprägt.«
»Dies ist einmal eine vernünftige Définition von Mondalisation!«
»Das ist wohl wahr. – Also, in meinem Verständnis von Durchrassung ...«
»Puh! Was ist das für eine Wort?! Es klingt wie haché – wie Hache de guerre! Terrible!«
»Ja. Genau! Kleingehackt, durch den Fleischwolf gelassen – was ist Hache de guerre?«
»Das Beil des Krieges.«
»Ah. Kriegsbeil. Richtig. So war es wohl auch gemeint – als Kriegserklärung an alle, die die Grenzen zur Bundesrepublik Deutschland überschreiten wollen ...«
»Deutsche Le Pen?«
»Nein. Nach außen hin nicht. Und wie er wirklich denkt – man weiß es nicht. Es war Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident und akute Kanzlerkandidat der CDU/CSU. Auf jeden Fall einen dieser populistischen Sätze, mit denen die Rechte abgefischt werden soll. Es war, als die Neonazi in Deutschland extremen Zulauf hatten. Es ist schon einige Jahre her. Heute spricht keiner mehr drüber. Ich meine damit nicht, daß es keine Nazi mehr gibt! Den Begriff der Durchrassung erwähnt er nicht mehr. Doch die Inhalte sind geblieben. Mehr – durch das Zu- oder Einwanderungsgesetz sind sie noch verschärft. Wie das Beil, das ab- und kleinhackt. Nun – ich meine: Wenn eine Türkin einen Deutschen haben will oder einen Franzosen oder einen Schweden, ein Armenier mit einer Afrikanerin glücklich werden möchte oder mit einer Inuit, dann sollte das auch geschehen. Das hielte ich für einen Fortschritt. Für einen Segen. Durch wen auch immer. – Und jetzt sollten wir aufbrechen. Ich mag kein Dessert. Oder Du?«
»Non. Du hast recht. Wir können beim Fahren weitersprechen.«
Wir bitten die Bedienung, zahlen zu dürfen. Sie nickt und signalisiert ihr sofortiges Kommen. Als ich den Blick wieder etwas senke, steht ein entzückendes – ach was, alle Kinder sind entzückend – etwa vier Jahre altes Mädchen mit großen runden, fast schwarzen Augen und mittel-, beinahe hellblonden Locken am Tisch. Es hält etwas Weißes in den nach oben geöffneten Händchen, das wie ein Tuch aussieht. Es murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Ich beuge mich zu ihm hinunter. Nein. Ich stehe auf und gehe in die Hocke, auf seine Höhe. Es streckt mir die Händchen entgegen und bedeutet mir, das Tuch aus der Hand zu nehmen. Ich sehe aus den Augenwinkeln, daß alle an den beiden Tischen Sitzenden die Szene aufmerksam beobachten. Ich folge behutsam der Aufforderung und nehme das Tuch. Ich schlage es auf. Es entfährt mir, als ob ich bereits assimiliert wäre, ein lautes mon Dieu! Es ist ein kleiner, goldener Magen David, ein Davidstern. Mir fehlen, im wahrsten Sinn des Wortes, die an sich schon dürftig vorhandenen Worte. Es durchströmt mich eine unglaubliche Freude. Und zugleich ist es mir unsagbar peinlich. Dafür, daß ich einmal meine Feigheit etwas niedergerungen habe, soll ich gleich so belohnt werden. Ich küsse die Kleine auf beide Wängchen. Ich sehe, wie Naziza sich zu ihr hinunterhockt und sie in den Arm nimmt. Ich überzeuge mich davon, daß dort, wo soviel Überwindung vorhanden war, noch ein bißchen mehr Kraft stecken muß, und gehe zu ihnen hin. Ich konzentriere mich, um einen einigermaßen verständlichen Satz zuwege zu bringen. Ich bedanke mich mit ruhigen, klar gesprochenen Wörtern. Dann gehe ich zu jedem einzelnen hin, umarme ihn und kehre ohne einen weiteren Blick an unseren Tisch zurück, bitte Naziza, die Rechnung zu begleichen und verlasse das Café und gehe langsam in Richtung Auto.
Es dauert ein Weilchen, bis Naziza nachkommt. Sie schmiegt sich an mich.
»Incroyable, mais vrai! Was ich mit Dir alles darf erleben! Es hat eine Bestätigung gegeben davon, was Du gesagt hast. Es ist ein Vorkommen, daß mich belehrt hat. Nicht Du bist ein schlimmer Richter. Ich bin es.«
»Jetzt werd nicht albern. Wir wollen's doch wohl nicht übertreiben. Außerdem bin ich selbst überrascht. Und richtig gut wäre es gewesen, ich hätte mich nicht auch noch geschämt. Ich Trottel. Ich hätte mich doch auch einfach nur freuen können. Da sitz ich da und erzähl Dir einen vom Pferd ...«
»Comment?«
Ich muß lachen – »Ich rede mit Dir geradeso, als ob ich‘s mit einer Muttersprachlerin zu tun hätte ...«
»Didier – es ist mir angenehm. Ich lerne. Ich will das. Mais – manchmal muß ich fragen. Berlin ist lange zurück. Du auch. Non, nun habe ich meinen Correcteur wieder. Und die Menschen, mit denen ich zu tun habe, sprechen nicht so. Also, es heißt – wie?«
»Es ist eine Redensart. Siehst Du, ich weiß nicht einmal, wo sie herkommt. Jemandem ›einen vom Pferd zu erzählen‹ bedeutet in erster Linie, eine unglaubhafte, eine unglaubwürdig klingende Geschichte zum besten zu geben. Vermutlich ist damit gemeint, daß man an ein Pferd lange hinreden kann, weil es ohnehin nichts versteht.«
»Und was hast Du mir Unglaubliches erzählt?«
»Na, diese Sache mit den Arabern, die nicht glauben, daß es Juden gibt, die sie mögen. Oder Juden, die sich nicht vorstellen können, daß andere Menschen sie mögen.«
»Jetzt ist es keine Geschichte mehr von einem Pferd.«
»Aber wir reiten jetzt unser Pferd. – Ach ja. Ich hatte abgebrochen. Ich wollte sagen, daß es ein Unding ist, daß ich nicht einfach hingehe und laut mitlache. Daß ich mich einfach freue. Daß mich wieder dieser deutsche Tiefsinn, ach was, Triefsinn überkommt.«
»Was ist daran deutsch?«
»Ach – dieses Pathos. Dieses larmoyante Getue. Deshalb mögen die Franzosen Walter Benjamin nicht.«
»Das ist jetzt aber große Unsinn, was Du sagst.«
»Doch, doch. Mir hat mal ein Franzose – ich hatte es ja mal angesprochen – einen langen Vortrag darüber gehalten.«
»Mon Dieu! Ein Franzose! Er ist nicht alle Franzosen.«
»Ich hab's Dir doch erzählt – ich hatte ihm entgegnet, daß Benjamin aus Rache dafür in Spanien ins Wasser gegangen ist.«
»Es war wohl viel schlimmer! Und er ist auch nicht ins Wasser. Es waren ...«
»Richtig. Ich nenne es lediglich so. Ich kehre eben die romantische Metapher um.«
»Es ist cynique.«
»Ja. Ich bin eben ein Zyniker. Nach heutiger Wortdeutung vielleicht, vor allem des Romantischen. Ins Wasser gehen ist ein verklärenderes Bild als Alkohol, Tabletten und so weiter. Aber ich würde mich allenfalls ein bißchen sarkastisch nennen. Ich mag den Begriff Selbstmord auch nicht. Das klingt mir zu sehr nach katholischer Sünde. Wie auch immer. Ihm ist übel mitgespielt worden. Aber nicht nur ihm. Das darf man auch nicht vergessen. Sie haben alle Dreck am Stecken, auch die Franzosen. Doch es könnte genausogut ein Mensch, die Menschen anderer Nationalität gewesen sein.«
»Das ist auch richtig. Aber zurück – es ist nicht deutsch, diese Trauer. Ich glaube eher, es ist Deine Papa. Ich kenne es von meine Maman. Sie ist so. Und manchmal fühle ich sehr wie ihre Tochter. Dann habe ich dieselbe Maladie. Dann weint die weite Land von Osten. Und dann gibt es noch ein Musique dazu – und Papa geht zu die Juden und macht aus Wein Wasser.«
»Und aus Schinken Fisch. Ich kenn die Nummer. Den alten jüdischen Witz haben wir bereits erwähnt.«
»Es ist keine Witz! Merde alors! Es ist vrai! Verité! Et réalité! Tonnerre de Dieu! Er geht dorthin und ißt Fisch, obwohl es ist Schwein.«
»Ich glaube, es gibt keinen jüdischen Witz, der nicht aus der Wirklichkeit stammt. Das ist ja das Schöne daran.« Ich öffne unsere Voiture, steige ein und schubse Naziza die Beifahrertür auf. »Und solche Geschichten erzählen zudem davon, wie trickreich die Jidden dabei sind, ihren Gott zu überlisten. Aber sie wissen natürlich und selbstverständlich, daß er milde auf sie hinablächelt, weil er diese kleinen Sünden gar nicht als Sünden zu erkennen vermag. Das sind Gesetze, mit denen er weniger am Hut hat. Die haben die Menschen gemacht. Und ich gehe mal davon aus, daß es in anderen Religionen keinen Deut anders ist. Doch der jüdische Humor ist schon ein besonderer. Dieses trickreiche Überlisten des Schicksals gebiert schon Eigenartigkeiten.
»Oui. Ich glaube auch, das es eine Besonderheit ist. Manchmal gehe ich ja mit Papa zu ihnen hin, wenn ich in Pérpignan bin. Und ich fühle mich sehr wohl. Es sind sehr warme Menschen. Und ihre kleine Äuglein blitzen immer. Immer.«
»Kleine Äuglein? Dann sind sie aus dem Osten.«
»Es kann sein. Sie sind überall. Parfait.«
»Da fällt mir eine Geschichte, ein – bei kleinem Mann mit kleine Oigen. Im Jiddischen spricht man das so aus – Oigen.«
»Ich weiß es. Es ist ein Mélange aus dem Osten und dem Deutschen – und vielem. Allez. Le Histoire.«
Ich starte unser Gefährt, das hurtig anspringt. Es ist ja auch näher dran am Süden und will vermutlich noch schneller in die wohlige Wärme als wir. Ich rolle langsam in Richtung Tankstelle.
»Wohin fährst Du?! Die Straße ist dort!«
»Cherie. Wir haben gegessen und getrunken. Und auch ein Döschwoh will was zum Saufen.«
»Oh! Pardon, mon petit bagnole 2 CV – le histoire, Monsieur.«
»Es ist auch eine Anekdote, die den Unterschied zwischen den Christen und den Juden verdeutlicht. Also – Jacques Monod, französischer christlicher Philosoph, Existentialismus-Antipode und ...«
»Didier!«
»Pardon. Ich vergaß, daß ich mit einer Philosophin verheiratet bin ...«
»Nom de Dieu! Was soll es?! Ich bin so wenig eine Philosophe wie Du. Wir haben es gelernt. Mehr nicht. Ich habe es nur gesagt, weil Du mir nicht mußt unsere Philosophes erklären. Compris? Oder muß ich Dir erklären, wer ist Jahve oder ...«
»Ja. Ist ja gut. Du hast ja recht. Aber es ist doch nicht böse gemeint. Du mußt deshalb doch nicht so aufbegehren.«
»Ich habe es getan primaire wegen Deine dumme Bemerkung. Es muß nicht sein. Sprich nicht mir mir wie mit eine kleine Kind, dem man muß eine Welt erklären. Es ist ärgerlich. Fin. Sprich weiter.«
»Also gut. – Entschuldige, auch auf die Gefahr hin, daß Du mich jetzt zum Schwimmen in den Styx schickst – eine Frage habe ich zu Monod.«
»Ich hoffe für Dich Nichtschwimmer, sie ist schwierig zu beantworten!«
»Weiß Du, daß die sogenannt aufmüpfige deutsche Literatengruppe 47 sich an dem Franzosen Monod und nicht etwa an Sartre orientiert hat?«
»Du hast Glück gehabt. Du wirst nicht von Naziza Al-Charon über Bord geworfen. Ich wußte es nicht. Es ist sehr traurig für eine ehemalige Apprentie de littérature et de Civilisation allemandes.«
»Traurig? Weil Du mich nicht ins Wasser schmeißen darfst?«
»Idiot! Du weißt, wie ich es meine. Du hast den Kampf gewonnen.«
»Naziza! Ich will nicht kämpfen! Deshalb bin ich ja vorsichtig.«
»Passe pour cette fois. Oui? Allez – Monod.«
»Nun denn. Monod meinte, der Mensch müsse seine Vergessenheit am Rande des Universums endlich erkennen. Es sei taub für seine Musik und blind für seine Hoffnungen, Leiden und Verbrechen. Darauf das kleine Männchen mit die listige Oigen, Albert Einstein: Wenn das Weltall die Frucht blinden Zufalls sein sollte, so sei das so glaubwürdig wie eine Druckerei, die in die Luft fliegt und alle Buchstaben wieder zur Erde fallen – aber in Form eines fehlerfreien und gedruckten Lexikons. – Immerhin war Monod ebenfalls Naturwissenschaftler. Na ja, wohl zuerst Biologe, nee, Biochemiker, na, das ist ja sowas ähnliches, und dann erst Christen-Philosoph. Und sehr, sehr komisch finde ich auch Einsteins Antwort auf die Frage, ob er an Gott glaube – womit wir noch näher am jüdischen Witz wären. Er meinte, er brauche ihn nicht. Denn er sähe ihn ja täglich bei der Arbeit.«
»Didier, mir fällt eben etwas ein. Ich wollte es Dich ein paarmal fragen, weil Du es oft gesprochen hast. Du sagst immer, es ist falsch, wie man es versteht, dieses Auge um Auge – œil pour œil, dent pour dent. Was ist daran falsch?«
»Das sollte Deine Maman aber wissen.«
»Oh! Didier! Sie sagt auch immer, daß es ist nicht richtig. Aber ich habe nie danach gefragt. Es hat nicht wirklich eine konkrete Anlaß gegeben. Doch ich höre es immer wieder. Was ist richtig?«
»Alle Welt spricht von der jüdischen, der israelischen Rachementalität. Man schiebt der jüdischen Religion dieses Gebot als Formel dafür unter. Aber vermutlich glauben es viele Israelis, viele Juden selber, daß es so ist, so sein muß. Vor allem hat es wohl den Arabern gegenüber Gültigkeit. Und die Araber meinen dann, sie würden nach jüdischen Gesetzen handeln. Es ist abstrus.«
»So sag es doch. Ich weiß es nicht. Wir müssen dann auch mit Maman et Papa sprechen darüber.«
»Es geht um die Rache. Nein. Falsch. Um die Selbstjustiz. Oder Vergeltung. Oder auch – beides. Im Alten Testament steht von Rache nirgendwo was. Ich vermute ja auch, daß es sich dabei um einen Übersetzungsfehler handelt. Unbewußt oder bewußt, vielleicht wie mit dem auf dem Kalender ins Gegenteil verkehrten Satz von Tucholsky. Das mag dahingestellt sein. Oder es verhält sich mit dem Koran, in dem es ebenfalls überwiegend Auslegungssache ist. Vermutlich ist es so. Die Problematik ist allerdings auch über Jahrhunderte hin von den Gelehrten diskutiert worden. Doch die neuere theologische Forschung, wenn Theologie überhaupt der Forschung zugeordnet werden kann, also die neuere Rechtsphilosophie des Glaubens besagt, daß es sich in der korrekten Bedeutung um eine schlichte gerichtliche Anweisung zum Ausgleich von Schadenersatz handelt. Es geht dabei um das Zivilrecht, wörtlich Geldurteile, also um Rechtsstreitigkeiten, die mit Geldwert ausgeglichen werden. Einer, der geschädigt hat, soll geben. Im Original steht gib und nirgendwo nimm. Im höchsten Fall heißt es, einer, der geschädigt hat, soll. Der Judaist Reinhold Mayer verweist in seinem ellenlangen Talmud-Kommentar auf die ius talionis, auf diese uralte nomadischen Rechtssprechung, nach der ursprünglich die Angemessenheit einer Bestrafung gefordert worden sei. Er schließt eindeutig, daß in der Rechtsprechung der talmudischen Zeit nur Schadenersatz in Frage kam. Also – nix mir den Schädel einschlagen, weil mein Cousin Deinem das Haus in die Luft gejagt hat. So einfach ist das. Und hat dennoch solche Folgen. Zudem ist das ja ohnehin so eine Sache mit der Bibel. Die gibt es ja als solche gar nicht. Zum einen erkennt der Mensch mosaischen Glaubens nur den ersten Teil des Buches, der von den Christen Altes Testament genannt wird, als Heilige Schrift an und spricht vom ›Gesetz und den Propheten‹. Zum anderen besteht die Bibel als Ganzheit ja geradezu aus einer Bibliothek von Büchern, die durch die Jahrhunderte hindurch entstanden sind. Das gilt für das ganze ›Buch der Bücher‹, also für das Alte wie für das Neue Testament. Das ist das eine. Das andere ist: Die Geschichte der Israeliten ist ausschließlich aus dem Alten Testament übernommen worden. Kein außerbiblischer literarischer Beleg bzw. archäologisches Zeugnis ist mit den Berichten des Alten Testaments eindeutig in Verbindung zu stellen. Dennoch gelten heute David und Salomon als historische Persönlichkeiten. Selbst ihre Herrscherzeiten, etwa um 1000 vor Christus, stehen fest. Soweit, so gut. Doch es gibt ja, wie das bei Mayer angedeutet ist, sehr viel ältere Kulturen als diejenige, auf die im Alten Testament verwiesen wird. Gilgamesh beispielsweise zählt nicht mehr bloß zu den sumerischen Legenden, sondern es wird ihm eine historische Bedeutung zugerechnet, wobei auch seine Herrschaftszeit – 2700 vor Christus, also vor unserer Zeitrechnung, im Deutschen mit v.u.Z. abgekürzt, mit ihm! – feststeht. Während also das Alte Testament und die mesopotamischen Legenden als Wegweiser der Altertumskunde gelten, ist den iranischen Überlieferungen, dem Avesta und der traditionellen Geschichte Irans, der gebührende Wert bisher verweigert worden. Somit sind aus der Sicht der westlichen Forschung die frühesten Phasen der iranischen Geschichte in den Berichten Herodots gesammelt. Aber selbst seine Berichte über die älteren Perioden der Iranier werden grundsätzlich übersehen. Das ist ja überhaupt ein Problem: Die Geschichtsschreibung besteht aus lauter Aussagen über Ereignisse, die durchweg weit in der Vergangenheit stattgefunden haben. Diese Ereignisse sind im allgemeinen einmalig und nicht nach Belieben reproduzierbar. Hier liegt der Unterschied zu den Naturwissenschaften. Während in den Naturwissenschaften versucht wird, Theorien zu konstruieren, die dann eine immer umfassendere Gesamtheit von reproduzierbaren Erscheinungen erfassen, werden in der Geschichtswissenschaft aus den gegebenen Spuren und Dokumenten die einmaligen Ereignisse gedeutet. Dieser Vorgang ergibt hier, wie auch in der Kriminalistik, oft kein eindeutiges Bild. Daher spiegelt die Geschichte nicht die Wahrheit – was ist überhaupt Wahrheit, was ist Wiklichkeit? – über die älteren Perioden wider, sondern stellt eine Kette von Hypothesen dar – siehe Kunstgeschichte! –, über die sich eine Gruppe der Forscher einig ist. Das ist die übliche Auffassung von der Geschichtstheorie. Der Autor des Beitrages, aus dem ich diese Erkenntnisse habe, meint, daß diese Art Beurteilung irreführend und oft irrelevant sein kann, sie könne oft von persönlicher oder gar politischer Motivation beeinflußt sein. Aber auch sonst steht heute die Geschichtsschreibung unter starkem Einfluß der Ideologie, Politik beziehungsweise des politischen Klimas. Siehe die katholische Kirchengeschichte. Das ist zwar insgesamt eine Binsenweisheit, über die der einigermaßen Aufgeklärte oder, meinetwegen, Informierte also bereits verfügt, aber es sind im hiesigen Fall ja lediglich erklärende, einleitende Worte zur Problematik hier der iranischen Geschichte.«
»Oui. Wie heißt es im Deutschen? Es ist eine alte Hut, vrai – je connais ça depuis longtemps. Viel mehr wichtig erscheint es mir, was Du angesprochen hast, daß immer das Alte Testament, le Bible herangezogen wird und alles andere durch diese Raster fällt. Oder bei uns die Coran. Manchmal sage ich zu den andere: Was wollt ihr? Diese Coran riecht noch nach Druckerei, noch nach frische Farbe. Es ist ein Witz, was ihr erzählt. Und er ist teilweise abgeschrieben aus die Bible de Crétiens. Es ist wie mit diese Histoire du Saint-Graal – manchesmal un Roman de quatre sous. Am liebsten man möchte mich umbringen dann. Maman lacht, und Papa lächelt. Und beide nicken dazu.«
»Was ist das. Roman de quatre sous?«
»Un Roman de colportage.«
»Groschenroman? Wie unserer? Unser ganz persönlicher.«
»Mon Dieu! Oui. Peut-être. La vie est un roman. Wie das von Allah und Jesus und Roi Arthur und seine Table ronde.«
»Aber alles hat angefangen da unten im Süden. Da hat einer den Kelch geklaut und ihn nach Frankreich gebracht. Und wieder andere haben ihn dann geklaut und nach England gebracht. Bis er in den Pyräneen eingegraben wurde.«
»Es war sein Kelch, Didier! Ob darin wirklich das Blut von Jésus-Christ war, steht in keinem von diesen Büchern, in diesen Reisebeschreibungen mit viel Fantaisie für Menschen, die keine haben. Mon Dieu – es ist, wie Du es gesagt hast mit diese Auteur: sehr viel Spéculation. Im achtzehnte Siècle man geht davon aus, daß Buddha ein aus Afrika nach Indien eingewanderter, bei den alten Ägyptern ausgebildeter Weiser gewesen sei: ›qu' il se donna pour un autre Hermès, pour un nouveau législateur, et qu'`il enseigna à ces peuples non seulement la doctrine hiéroglyphique des Egyptiens, mais encore leur doctrine mystérieuse.‹ Man gibt einen Hinweis darauf, daß die Bilder von Buddha sind wie ›un visage éthiopien et les cheveux crépus‹. Dann sind wir mit einem Mal beinahe wieder in die Géographie von Deine schöne Jeminitinnen. Auch wird die Buddhalehre mit der jüdischen Kabbala und der En-Soph-Lehre verglichen, diese Lehre vom Infiniten, vom Unendlichen. Und diese Discussion über den ägyptischen oder indischen Ursprung der Philosophie zieht sich hinein bis weit in das 19. Jahrhundert. Doch wem erzähle ich es? Es ist unsere Zeit. Unsere gemeinsame Zeit. Es ist dennoch mehr als eine Witz, was es alles an Spéculation gibt. Bis heute. Diese ganze große Industrie de la Ésotérisme nährt diese Feuer des Glaubens, um daran Geld zu verdienen. Ich habe einen Essai gelesen, von einem deutschen Historien de Philosophie, er heißt Lutz Geldsetzer – Moment, ich habe das sogar in meine Tasche. Ich habe es sofort ...«
»Die Damenhandtasche ist philosophisch betrachtet ohnehin ein bemerkenswertes Gefäß. Was Du alles somit Dir rumschleppst.«
»Immer mußt Du Witze machen, sogar über mich. Ich wollte lesen auf der Reise, und ich bin vor kurzeZeit darauf gestoßen. Hier. Écoute:
›Die spürbare Verunsicherung in den eigenen abendländischen Traditionen stimuliert ein weites populäres Interesse an allem Fremd- und Andersartigen. Dem weltüberspannenden Tourismus entspricht ein geistiger und stimmungsmäßiger Tourismus mit Neugier und viel gutem Willen zur Kenntnisnahme und zum Einleben in exotische Verhältnisse. Ersichtlich kommt dem in Indien und bei seinen geistigen Repräsentanten eine recht missionarische Kulturpropaganda entgegen, die mit modernen Werbetechniken einstige und auch noch andauernde christliche Missionstätigkeit in umgekehrter Richtung beantwortet.
Die Unzufriedenheit mit dem herrschenden realistischen Weltbild, der Verwissen-schaftlichung aller Lebensverhältnisse und der Technisierung der Welt im Westen insgesamt motiviert zur Suche nach der Alternative zu alledem. Diese Alternative wird ersichtlich weniger in den eigenen in den Hintergrund gedrängten Traditionen des Idealismus, des ›einfachen Lebens‹ und der ›Nachfolge Christi‹ oder eines Franz von Assisi – ah! Assisi! – , und des handwerklichen und künstlerischen Umgangs mit den Dingen und der Natur gesucht, als vielmehr in meditativer Versenkung in höhere Regionen oder tiefere Schichten des Bewußtseins, in der Verweigerung gegenüber den Ansprüchen des Herkömmlichen oder in der schieren Untätigkeit, wozu indische Philosophie und brahmanische Weisheit frustrierte Abendländer einzuladen scheint.‹«
»Also, das ist doch zumindest so ein alter Hut wie der, den Du vorhin erwähnt hast. Sowas hab ich schon vor über zwanzig Jahren geschrieben. Und nicht nur ich. Genutzt hat's nix. Gerade das Indische hatte ja in meiner nachstudentischen Sturm- und Drangzeit Hochkonjunktur. Ach was, schon während dieser Zeit ging's los. Ich hab immer noch den Gestank der Räucherstäbchen in der Nase. Jedes Mädel hatte davon 'nen Container in seiner Bude gelagert ...«
»Salaud!«
»Daran war'n Schopenhauer und – vor allem – sein Interpret Hermann Hesse schuld. Ständig klimperte sein Glasperlenspiel oder sein Siddhartha oder sein Steppenwolf irgendwo. Schwerst nervig. Mich hat das Zeugs vom jeher eher in die Impotenz getrieben.«
»Salaud! Fumier! Tas de fumier!«
»Ist doch wahr.«
»Das Du dieses bist. Das ist wahr.«
»Meinetwegen. Deine ganze Fluchkiste rauf und runter. Aber es ändert nichts an der Tatsache, daß das Schnee von gestern ist, den der da verbrennt. Meine Güte. Es ist derselbe Mist, der mit anderen getrieben wird. Versatzstücke, Rosinen herausnehmen und daraus eine Großindustrie machen. Und die Idioten fressen den Kram. Wie unsere Euro-Pampe. Und bloß nicht in die Tiefe der Ur-Küche greifen. Es könnte ja sein, daß was anderes dabei herauskommt als das, was in diesen Rezeptbüchern steht. Wahrscheinlich schmeckt das Original überhaupt nicht. Wie unsere Italiener, die deutsch kochen, angepaßt eben, und die Deutschen meinen, es sei italienisch. Es gibt ja auch genügend sogenannte Restaurants, bei denen es transparentgroß angeschrieben steht: Asiatische Küche – vietnamesisch, thailändisch, chinesisch. Manchmal steht dann noch darunter: Wiener Schnitzel. Und das klopfen sie dann aus dem Schwein heraus. Dabei gibt's wahrscheinlich schon in China tausend verschiedene Küchen. Oder in Indien. Um näher am Thema zu bleiben. Ich hab mal in meiner Berliner Studienzeit bei einem Inder – siehste, ich fang auch schon so an, als ob's eine einzige indische Küche gäbe! –, also, bei einem Inder, von dem ich nicht mehr weiß, wo er herkam, eine Zeitlang essen dürfen. Nach etwa zwei Wochen hab' ich so langsam was rausgeschmeckt. Weil das so scharf war, daß mir anfänglich die Flammen aus den Ohren geschlagen sind. Und nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, es also richtig gut wurde, isser umgezogen. In die DDR. Wahrscheinlich hat er jetzt 'ne Softwarefirma in Bitterfeld. Oder in Goa. Und stellt Weichware für übriggebliebene Hippies her.«
»Ah! Didier. Sot. Sprechen wir nun über Küche oder Philosophie?«
»Über Küchenphilosophie.«
»Merde! Ich sehe es so: Vielleicht muß man es immer wieder neu sagen. Es ist bei ihm jedoch primaire so, daß er darauf verweist, es gebe zu wenig Lehre darin. Avant tout en Allemagne! Doch es ist trotz ein bessere Angebot an den Univérsités dans France auch bei uns nicht besser. Diese ganze Ésoterisme ist sehr ausgeprägt. Vermutlich es liegt daran – écoute:
›Brucker‹ – er ist der eigentliche Begründer der deutschen Philosophiegeschichte und hat sich 1742 diesem gewidmet – ›Brucker kennt die genannten Quellen aus der Antike und meint, die besten Köpfe Griechenlands hätten es für notwendig gehalten, bei den Indern Weisheit und Tugend zu lernen – was in der antiken Literatur ja auch bezüglich der griechischen Vorliebe für die ägyptische Weisheit behauptet worden war – und deshalb ›zu den Indern hinauszulaufen‹ Maintenent – es ist erwiesen, daß es keine Parallelen gibt zwischen einer Philosophie des Abendlandes und der indischen. Auch wenn man sich immer wieder darum bemüht. Geldsetzer. Doch die klassische indische Philosophie – die vedische Periode beginnt 2000 vor Jésus-Christ! – dies ist nicht aus unserer Perspektive zu beleuchten. Das ist es, was immer wieder wurde falsch gemacht. Es entstand im Abendland keine vergleichbares Bewußtsein von eine Verantwortlichkeit oder Zuschreibung auch fernerliegender und späterer Verhältnisse. Und wo es geschah, etwa die Seelenwanderung und bei Platon, dann geschah es erwiesen unter indischem Einfluß!«
»Im jüdischen Neuplatonismus findet die Seelenwanderung allenfalls in der Lehre vom Adam-Kadmon, dem Urmenschen, eine gewisse Entsprechung, der alle folgenden Geschlechter in sich vereinigt. In der christlichen Version in der Erbsündenlehre, nach der jeder Mensch in sich ›den alten Adam‹ als Tatfolgenhypothek des ersten Sündenfalls wiederfindet. Das spätere Christentum aber hat sich schnell dabei beruhigt, daß Gott die Sünden der Väter nur bis ins dritte und vierte Glied bestrafen, Wohlverhalten aber in tausend Generationen belohnen wolle. So hat es zwar die schönen oder schlechten Umstände der Existenz des Einzelnen erklärt, aber die Verantwortung dafür Gott zugeschrieben. Die säkuläre Gesellschaft der Moderne aber hat auch den verantwortlichen Gott noch abgeschafft und zuletzt die Grundlosigkeit und pure Faktizität der menschlichen Existenz entdeckt. Sie feiert Freiheit und Spontanität und versteht sie als grund- und ursachenlosen Anfang. Und damit ist sie sehr weit davon entfernt, einen Gedanken wie den vom Karman nachvollziehen zu können. Und deshalb wird das nix mit Siddhartha und seinen Nachfolgern auf Tele Dingsbums, dem Sender mit der Philosophie der nächtlichen bäuerlichen Nackheit, oder mit der Astrologieberatung im WDR oder so.«
»Ah! Didier. Du Trivial-Nihilist! Es ist ein anderes Licht. Ein andere Grundgewürz. Dieses Gewürz heißt Nihilismus! Jedoch eben nicht wie bei Glucksmann ...«
»Oder bei Aubertin. Das möchtest Du doch wohl noch hinzufügen.«
»Du hast es getan soeben. Alles führt auf die Frage von Anfang und Ende. Der Anfang verliert sich bei den Göttern – und sie sind auch in dem indischen Denken nur ein ratloses Antworten auf diese Frage. Das Ende jedoch wird gedacht als ein Verlöschen und Verzehren der Energie, der Kraft des Wirkens, welches herbeizuführen geradezu den Inhalt aller indischen Ethik und Lebensführung bildet. Und dies führt auch die Karman-Lehre zum mystischen Punkt zurück, wo das Sein sich ins Nichts verkehrt. Und diese steht in eine völlige Widerspruch zu Wiedergeburt, etwa in dem Islam. Oder die Himmelfahrt in dem Christentum.«
»Oder die Höllenfahrt. Was uns jetzt droht. Die Hölle des Stehenbleibens. Das heißt, wenn ich jetzt nicht tanke, hat das zur Folge, daß Du mit Deinem Ehemann in einem fremden Bett schlafen mußt. Und nicht unter unserm Himmel. Womit auch nicht, wie Du Dir denken kannst, die vielzitierte bairische Himmelhölle, sondern unser Himmelbett in Marseille gemeint ist. Ich will eben heim!«
»Wer wird sich bemühen, das zu verhindern?«
»Der Tankwart. Allez. – Gehst Du bitte mal rein und fragst, ob sie eine Karte haben, auf der alle Tankstellen der Autoroute verzeichnet sind? Und einen Reservekanister brauchen wir auch noch.«
»Du hast eine genommen in München!«
»Ich will sichergehen. In den Tank passen doch nur zwanzig Liter rein. Und France schläft nachts. Nur wir werden unterwegs sein. Als einzige. Ich kenn das doch.«
Sie rauscht, nein, sie tanzt diesen federnd-schwebenden, langen Schritt mit leicht ausgestellten Füßen in das Häuschen hinein, das (noch) nicht den Charakter eines großeuropäischen Supermarktes hat. Es sieht trotz Elsaß sehr französisch aus in seinem scheinbar heillosen Durcheinander. Es ist nachgerade heimelig. Sofern sich eine Tankstelle so beschreiben läßt. Doch es ist anders als in diesen globalen Kraftfahrzeugversorgungsstationen für Fastfoodabhängige. In denen weiß man nie so genau, ob man sich im süddänischen Gedser, auf der grünen Wiese neben dem thüringischen Apolda oder am Rand des katalanischen Gerona befindet. Es ist erstaunlich, daß MacDonald's noch keinen Sprit verkauft. Allzu gerne erinnere ich mich an die Situation, als ich den Tank meines für Frankreich etwas zu groß geratenen Fahrzeugs deutschen Gütesiegels fast leergefahren hatte, weil es damals noch nicht überall möglich war, mit internationaler Kreditkarte zu bezahlen und ich auch kaum mehr Francs in der Tasche hatte. An einer der schlimmsten Trümmerstationen irgendwo in der Nähe von Nevers sah ich schwach ein völlig verrottetes Eurocard-Plakat vor sich hindösen. Zwar hatte ich wenig Hoffnung, aber ich wollte sie nicht aufgeben, bevor sie dahin war. Ich ging auf einen Schrottplatz zu, aus dem ein klappriges Hüttchen herauslugte. Vorsichtig fragte ich den kurzen Dicken, der nahezu zu hundert Prozent aus Altöl zu bestehen schien, ob ich denn – und winkte mit meiner Karte. Mais oui, Monsieur! Er kriegte sich fast nicht mehr ein, weil es gar nicht mehr aufhören wollte, hineinzulaufen in den Tank. Und tatsächlich unterbrach die Pumpe bei achtundachtzig Litern. Ein paar Tropfen gingen dann noch, aber seine elektronische (sic!) Kartenlesemaschine nicht. Sie war wohl ebenso ein bißchen verschlammt. Oder sie hatte wegen jahrelanger Nichtbeachtung ihrer Anwesenheit gestreikt. Pas de problème, Monsieur! Er schlug ein paarmal heftig drauf – und dann fiepte sie zweimal und spuckte den Beleg aus. Seitdem fahre ich, wenn es irgend geht, solche Tankstellen an. Aus Sympathie und Solidarität gegen diese Kaputtmachglobalisierung. Und zur Aufrechterhaltung der Tradition von Werkstätten, in denen man den Motor eines 2 CV mit verbundenen Augen ein- und auszubauen vermochte.
Und tatsächlich schlurft hier ein solcher Altöloverall heran und fragt in einer elsässisch-französischen Sprachmischung, ob‘s denn fünfzig Liter oder ein paar mehr sein dürften. Aus Dank und Angst, es könnte etwas überlaufen, signalisiere ich ihm in meinem besten Kauderwelsch – aufpassen, geht nicht viel rein. Er lacht charmant klappernd. Meine Tänzerin hüpft heran, als ob sie an einem dieser Spiele beteiligt wäre, in dem man von Quadrat zu Quadrat springt. Sie winkt mit einer Straßenkarte und knallt fröhlich und freundlich lächelnd dem Tankwart den Kanister vor die Füße.
»C‘est bon. Le plein, s‘il vous plaît, Monsieur. Sans plomb. Merci. – Didier!«
»Oui! Madame. Présent. Vous désirez?«
»Le autre.«
»Le autre was?«
»Le bidon de réserve!«
»Ach du Scheiße. Den hätte ich um ein Haar vergessen. – Merci, Madame.«
»Ce n‘est rien.«
»Und was ist mit der Karte?«
»Ouh! Mon Dieu! Pardon.«
Sie zieht los wie ein Segelflugzeug in plötzlichem Aufwind. Ich hole den anderen Reservekanister aus dem Kofferraum und stelle ihn zum neu gekauften dazu.
»Le plein, s‘il vous plaît, Monsieur.«
»Ouh! Honnert Litre!« scheppert es aus ihm heraus.
Mein Leichtfliegerin ist bereits wieder gelandet und fächelt mit einer Michelin-Karte herum – France Sud. Klar, was anderes existiert ja auch nicht. Anderswo gibt’s kein Leben. Auch wenn wir uns noch mittendrin im feindlichen Norden befinden. Oder gerade deshalb? Nun denn. Sie beobachtet aufmerksam die offenbar komplizierte Tätigkeit des Tankwartes. Ich schleiche mich an die Hafenmeisterin meiner neuen Welt heran und umarme sie von hinten. Ein solcher Gegendruck ist gut auszuhalten.
»Ich hätte jetzt lieber Deinen warmen, weichen, gazelligen Alabasterleib als Oase inmitten meiner Wüstenei als Hunderte von Kilometern vor mir.«
Sie dreht sich herum und flüstert mir ins Ohr. »Du wirst alle Mikrokosmen meines Kosmos atmen. Ich werde ein großes Chanson d‘amour singen hin zu Dir. Deine Capilaire werden sich in meine Océan aufmachen. Meine Maman werde ich anrufen, und sie soll mir sagen, wie alle Lieder geben zu Rosh ha-shannah. Weil es ist unser jeder Tag ein neue Jahr. Ich werde Dir alle diese schönen Lieder auf arménien, auf arabe, auf italien, auf marseillien aus mir in Deine Körperseele strömen. Ein Schweben werde ich Dir hauchen, unsere Träume werden eine sein. Mais chez-soi, chez-moi. – Wenn wir sind an die Lenche, wirst Du umfallen und Deine Naziza vergessen für eine Schlaf aus Blei. Mon ours.«
Es ist angenehm – wir können direkt auf die Autoroute vers sud. Man könnte auch ein wenig abkürzen. Doch es ist alles andere als eine Zeitersparnis, über die RN 83 zu fahren. Es geht sozusagen über die Dörfer. Lieber den kleinen Schlenker über Mulhouse und dann der Alsace den Entenauspuff zeigen und in La Franche Comté eintauchen, in die Freigrafschaft Burgund. Bei Belfort hat für mich seit je France erst begonnen. Die Landschaft wird mit einem Mal eine andere. Die Verkehrsschilder sehen nicht mehr aus wie nach dem täglichen Samstagnachmittagsbad. Oder sie fehlen überhaupt. So geschieht es schon mal, daß man sich verfährt. Hat man Zeit, gibt sie einem etwas zurück. Manchmal lediglich ein paar Kilometer mehr auf dem Tachometer. Es kann aber auch ein Café irgendwo in einem Dorf sein. Anschließend fragt man nach dem Weg. Irgendwie geht es dann weiter. Oder man bleibt für eine Nacht, weil man mitbekommen hat, daß Madame persönlich kocht. Für ein paar Alleinstehende des Ortes oder reisende Handwerker. Ein paar Male hatte ich bereits das Vergnügen dieses schlichten, aber immer wohlschmeckenden Menüs. Im Dörfchen Saugues im Margeride oder mal am Flüßchen Vézère im Périgord. Und jedesmal aufs neue ist es geradezu verblüffend preiswert. Doch in der Regel kommt man nur in Begleitung Einheimischer dorthin. Alleine würde ich mich ohnehin nicht hineingetrauen. Es sei denn, es geschieht, wie zwei-, dreimal passiert, daß Madame zu einem ans Tischchen tritt und freundlich lächelnd befiehlt, sich doch gefälligst an den gemeinsamen Mittagstisch zu setzen. Es sei reichlich vorhanden, und es müsse gegessen werden. Wer folgte solchen Befehlen nicht gerne? Aber meistens sind diese in ihrer Schlichtheit so wohltuenden Wiederherstellungsstationen irgendwo versteckt. Daß sich eine solche mitten im Städtchen befindet wie in Grandrieu im Lozère, ist eher seltener. Doch auch dort findet die Speisung im Nebenraum statt, während in der Bar die Bauern ihren Pastis trinken, bevor sie zum Essen bei Madame mit dem Traktor nach Hause knattern. Im Cognac hatte ein Bekannter mir während des Essens in einer dieser Restaurationen erklärt, weshalb das so ist. Offenbar gibt es ein uraltes Gesetz. Angeblich stammt es noch aus der Zeit der Revolution. Nach ihm hat jeder Bedürftige ein Anrecht auf ein bezahlbares, kräftigendes Mahl. In der Regel kosten drei bis vier Gänge nicht mehr als fünfzig Francs. Inclusive Wein. Nicht gerade ein Grand Cru, aber immer ein angenehmer, schmackhafter Verschnitt. Die Franzosen geben sich ja überhaupt nicht der Hysterie des mindestens fünf Jahre alten Weines hin. Allenfalls zu einem Fest. Und mehr als ein, zwei kleine Ballons braucht es in der Regel auch nicht zum Essen. Wasser gibt es ohnehin und überall kostenlos. Es sei denn, man möchte es gazeuse. Für die Kohlensäure muß man dann richtig bezahlen. Sogar am Kiosk kostet das gekühlte oder lauwarme Fläschchen Perrier oder oder Döschen Badoir zehn Francs, drei Mark. Bei Perrier ist's wahrscheinlich der Aufpreis für den extrem hohen Nitrat-Gehalt. Das haben jedenfalls Untersuchungen ergeben. Was soll's. Es ist erstens schon einige Jahre her, und zweitens trinke ich's trotzdem recht gern. Nur die nicht so bekannten Marken sind etwas günstiger. Aber immer noch teuer genug. Weshalb das so ist, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.
Am nächsten Tag geht es dann am Doubs entlang, dort, wo im Hochsommer sich die Kühe im flacheren Wasser die Waden kühlen gehen, wie die Freundin der vielen früheren gemeinsamen Reisen mal ganz verzückt festgestellt hat. Sie hat sich gar nicht mehr eingekriegt. Bis nach Besançon läßt sich gemütlich an ihm entlangschlängeln. Nicht die Rennstrecke. Hinter Montbéliard erst einmal rund fünfzehn Kilometer auf der weitaus weniger befahrenen Nebenstrecke über Bavans, die kurz hinter Lougres dann allerdings wieder zur Hauptader wird. Doch es bleibt gemächlich, wenn man sich nicht gerade in den Feierabendverkehr einfädelt. Und immer wieder mal wird man über den Doubs geschleust. Wenn man Glück hat, wird das kurvige Dahinrollen nicht vom Zoll unterbrochen, der wegen der nur rund zwanzig Kilometer entfernten Schweiz immer irgendwie Rauschgift zu erschnüffeln trachtet. Nur, weil sie dort begonnen haben, ein paar Hanfpflänzchen anzubauen. Aber im kleinen Land der großen Ordnung regt sich ja immer irgendwie ein bißchen was, das sie zu unterlaufen versucht. Doch auch die Überprüfung des Reisegefährts geht mit der gewohnt französischen Gelassenheit ab. Bestimmt sind sie, die sehr adrett unifomierten Douaniers, ja, aber eben freundlich, höflich, sehr bald lächelnd, wenn sie merken, in dem scheinbaren Späthippie keinen Konsumenten und schon gar keinen Kurier vor sich zu haben. Nicht dieses martialische Gehabe und Getue in einem anderen Land. Und dann rollt man wieder seines Weges.
Doch heute wird nicht gerollt. Heute gibt es definitiv einen Zielort. Geschätzte Strecke – achthundert Kilometer. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich in Frankreich je zu einem bestimmtem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gewesen sein wollte. Nun geschieht es. So etwas macht man eigentlich nur, wenn man sich zu Hause befindet. Demnach bin ich es. Ich muß, nein, Unsinn – ich will. So, wie ich in der anderen Richtung immer schnell durch den Elsaß hindurch bin und dann meistens noch bis nach München. Dann wollte ich mich lieber in meine Höhle eingraben – als mich diesem Kulturschock unterziehen: Elsaß, Baden-Württemberg, Bayern. Einmal habe ich in Ravensburg einen Freund besucht und bin deshalb von Strasbourg über die Europa-Brücke über Offenburg hineingefahren ins Ländle. Diese Blankgeputztheit und der anschließende Dialekt hat mich so niedergedrückt, daß ich drei Tage in seiner kleinen Dachwohnung geblieben bin und mich versteckt habe vor weiteren Eindrücken. Aber jetzt geht es in die andere Richtung. Nach Hause. Kein Kulturschock, sondern sanftes Hineingleiten in die Wärme. In die innere und die äußere. Seit mindestens zehn Jahren male ich mir das aus. Nun ist es soweit. Ist es das?
»Wir werden morgen abend essen gehen, mon amour! Fisch. Aber nicht von einem Schwein.«
Es geht also tatsächlich nach Hause. Wo ich fast dreißig Jahre ansässig war, gibt es nur Steckerlfisch oder Süßwasserbrachse oder Schwimmtier aus der Tiefkühltruhe. Letzteres beim mehr als assimilierten Italiener. Frisches ist nur zum Preis der Flugpassage erhältlich, mit der der als Adria-Gewächs avisierte Nordatlantik- oder Pazifikfisch eingeflogen wurde. Französisches wird dort auch vereinzelt angeboten. Aber dann Franc gleich Mark. Fünf Gänge hundertfünfzig Mark. Nicht Francs. So in etwa. In der nördlichsten Provinz Italiens wird ein solcher Exotismus mit hohen Strafen exekutiert. Ich lenke ein in Richtung Péage. Entrée zum Glück? Zwar auf der Autobahn, aber wenigstens Direction sud. Außerdem dürfte der Verkehr sich in Grenzen halten, da Dänen, Niederländer und Deutsche noch lange nicht unterwegs sind nach Spanien, um Würstel con Krauti zu genießen.
»Und wo, meine entzückende Wirtin gibt es diesen Fisch?«
»Ich bin nicht Deine Wirtin. Du bist nicht zu Gast. Ich bin Deine Frau. Mais – Du bist schon eine Virus. Mais – ich bin doch Dein Hôte.«
»Hôte? Was ist das?«
»Eine Wirt justement! Mais un biologique. Du bist ein Wurm in mir.«
»Ach so! Ich fresse Dich von innen auf. Ich bin also Dein Parasit?«
»Oui. Doch Du frißt sehr zart, zärtlich an mir. Du – wie heißt es? Knabb ...«
»Knabbern. Also – wo, bitte, knabbere ich ...«
»16, rue de l’Évêché. Vieille Ville. Quartier du Panier. place de Lenche. Doch bald plage de l'Estaque.«
»Ich meine – wo schwimmt dann der Fisch in mich hinein, an dem ich dann knabbere, bevor ich an meinem Dauerdessert Naziza weitermache? Aber nicht Rive Neuve?!«
»Wie denkst Du? Ich bin glücklich, Dich zu haben. Ich will nicht Dich morden. Non, ich spreche nicht gerecht. Oder vielleicht auch dumm. Es gibt dort auch gute Restaurants. Einige. Doch auch die meisten leben primaire von dem Tourisme. Jedoch mehr einen Schritt zur Seite es gibt recht gute. Nicht direct am Quai Rive Neuve.«
»Habe ich nie gesehen. Aber es ist wohl so, daß ich mich dort nie so wohlgefühlt und deshalb nicht so genau hingeschaut habe. Manchmal habe ich einen Abend-Pastis getrunken gegenüber der Post, ein Haus weiter nach der Ecke. Da waren ein paar Einheimische drinnen. Freundlich, aber mir zu hibbelig, zu sehr aufgedrehtes junges Mittelalter. Eher Rock'n Roll und Pop. Auch nicht meine Lautstärke. Dann bin ich ein Haus weiter zur Ecke umgezogen. Es lebe mein Marseille des Kitsches ...«
»Des Kitsches? Wie meinst Du das? Vielleicht Du meinst die Bar Marengo? Rue Saint-Saëns, an der Ecke Cours Jean Ballard. Das ist nun wirklich nicht Kitsch! Das ist normales Leben. Sicher es ist auch Scheiße. Jedoch man sieht sie!«
»Ich weiß es nicht. Mag sein. Du hast recht. Freundlich. Mit Abstand am freundlichsten. Und am preiswertesten. Alle Altersgruppen, alle Mischungen – wenn's in dieser Stadt überhaupt Rassereinheit gibt. Ach, ich rede dämliches Zeugs. Alle möglichen Sprachen habe ich da schon gehört. Untereinander sprechen sie Italienisch oder Spanisch oder Griechisch ...«
»Und mit den Mädchen, den Frauen, die bedienen, Français. C’est ça. Oder?«
»Ja. Es ist so. Am Anfang hab ich mich noch gewundert und hab gedacht, das sind Touristen. Aber dann hab ich gemerkt ...«
»Es sind Marseillais. Du weißt es doch – man spricht sehr oft die Sprache seiner Herkunft. Auch wenn man bereits die dritte oder zehnte Génération ist. Ich habe es Dir gesagt, daß ich sehr oft mit Italiens italienien spreche, mit Arménien arménien, mit Arabes ...«
»Ja ja, ich weiß. Und mit mir Deutschem ein Gemisch aus allem ...«
»Didier! Nun bist Du nicht gerecht. Ich ...«
»Ja. Ich bin die personifizierte Ungerechtigkeit. Ich sag’s doch. So ist’s, ja. Im Marengo. Alteingesessene, Renter, Arbeitslose oder solche, die es werden, wie Alt-Achtundsechziger bis Sozialarbeiterinnen und leichte Mädchen, die's gewiß nicht immer leicht haben. Auch nicht die Sozialarbeiterinnen, die sich bei den flotten Damen von gegenüber vermutlich erholen von ihrer sonstigen Klientel. Du hast schon recht. Nix Kitsch. Und der Tresen immer belagert. Oft schon morgens um neun. Also auch viel Herumhänger. Es gibt einige, die dort den ganzen Tag über einem Stuhl hängen. Und man läßt sie in Frieden für sich hinschmurgeln. Also, vermutlich, wie Du richtig gesagt hast: das Marseille ohne Kitsch, weil es die Scheiße zeigt. Ein Marseille, das es nicht mehr gibt, wie man mir mal bedeutete. Der Herr hatte noch hinzugefügt, ich hätte überhaupt ein leicht veraltetes Frankreich-Bild, das es allenfalls noch im Kino gebe.«
»Es ist Unsinn, was Du sagst. Du siehst die Problèmes doch. Und wir sprechen immer wieder darüber. Sehr oft sogar. Doch es ist normal, sich nicht immer au Milieu de ordure hineinzusetzen. In die Banlieu de nord gehe ich auch nicht! Zudem Du fühlst Dich dort auch mehr wohl, wo nicht diese Dreck von diesen Menschen liegt, die glauben, besser zu sein als andere. Die Bar Marengo ist eine Beispiel für die Wärme von Menschen. Nicht nur in den Monaten des Sommers! Merde! Was rede ich?! Es ist simplement ein normale Bar mit normale Menschen. Es ist erstaunlich, daß sie so existiert in die Mitte, non, am Ende oder zu Beginn von dieser Passarelle de tourisme. Eh bien. Immer sehe ich Dich suchen eine Nähe, die diese andere Menschen nicht haben, die sich als bessere fühlen. Innere Wärme ist keine Frage von eine Époque. So stelle Dich nicht niedriger als Du bist.«
»Einem Menschen im Leben mußte ich ja begegnen, der mein Inneres auszuleuchten vermag. Danke für die Blumen. Also auf unserer Seite? Dorthin also, wo man nicht hingeht, wie die Hamburgerin mir mal mein Marseille-Bild zurechtrücken wollte.«
»Pourquoi poses-tu la question alors que tu connais la réponse?«
»Das war zuviel.«
»Was zuviel? Es ist nicht gut?«
»Non. Zuviel Französisch auf einmal.«
»Pourquoi? Alors – pourquoi?
»Klar.«
»Poses-tu la question?«
»Aha – Frage stellen.«
»Connais la réponse?«
»Uff. Réponse – klar. Antwort. Aber connais?«
»Ich bin eine Kenner en Didier – un peu. Donc – un? Eh alors!«
»Aha – Connaisseur.«
»Also kennst Du etwas. Was kennst Du?«
»Garnix.«
»Sei nicht dumm. Du bist nur faul. Du kennst etwas und fragst trotzdem danach. Was ist es? Allez, Monsieur. Apprendre.«
»Ach, Naziza. Ich krieg's nicht hin.«
»Was fragst Du, wenn Du die Antwort kennst?!«
»Welche Antwort?«
»Ouoh! Comprenette. Es heißt: Was fragst Du, wenn Du die Antwort kennst?!«
»Aber ich kenne sie nicht!«
»Wo Deine Fisch hineinschwimmt in Dich. Du hast es gesagt – auf unsere Seite. Lenche! Chez Madame Boubou.«
»Kenn ich nich‘.«
»Et pourtant!«
»Weshalb – trotzdem?«
»Weil Du oft dort warst. Und gerne.«
»Tatsächlich?«
»Hast Du nicht ein paarmal dort gegessen und getrunken?«
»Wo? An der place de Lenche?«
»Oui. Monsieur.«
»Doch, schon. Öfters. Ich fühle mich dort sehr wohl. Aber es war nie besonders. Das Übliche. Es war auszuhalten. Aber es war ja auch immer sehr preiswert. – Doch jetzt – Moment mal. Kocht da in einem winzigen Laden, eher ein Guckloch als ein Lokal, nicht manchmal eine Schwarze, eine Afrikanerin?«
»Oui. Madame Boubou. Es ist nicht ihr Bistro. Aber sie kocht dort. Nicht jeden Tag. Manchmal. Wenn sie gut gelaunt hat. Und dann hört man sie von weit ...«
»Und sie ist immer sehr farbenfroh gekleidet, und sie hat ein großen, nein gewaltigen Posterieure. Wir würden sagen – einen gigantischen Arsch.«
»Oui, was ein Gazelle nicht hat. Weshalb sie damit nicht wackeln kann. Und es ist normal, daß man mit diese Größe von Boubou das auch nicht kann. Aber Boubou kann es.«
»Und sie singt beim Kochen fürchterlich laut. Nein, die Musik ist laut, und sie singt noch lauter mit. Nein. Sie übertönt sie.«
»Du weißt es. Also kennst Du es.«
»Und dort war ich? Mit Dir?«
»Mais oui!«
»Am Ende gar bei unserer Hochzeit?«
»Oh non. Nicht nur bei unsere Mariage. Aber auch. Didier – es ist nur ein Schritt von unsere Wohnung!«
»Tatsächlich? Und sie hat gekocht? Toten Fisch?«
»Didiercheri. An unsere Hochzeit habe alle gekocht. Nicht vor die Wut. Sondern in die Töpfe und Pfanne. Nicht alle. Viele am Platz haben etwas gebracht, aus ihre Cuisines. Aber alle haben gegessen – und getrunken. Nicht wenig.«
»Ich erinnere mich jetzt, daß ich auf der place de Lenche mal in ein Riesenfest geraten bin. Ich glaube, ich wollte mich höflich wieder aus dem Staub machen. Aber irgendjemand hat mich zurückgehalten. Glaube ich.«
»Kann es sein, daß es Deine Frau war?«
»Meine Frau? Aber ich – Du meinst? Es war meine Frau?«
»Didier –« Sie lacht jetzt ansteckend. »Du wolltest immer wieder einmal gehen. Aber nicht nur Deine Frau hat Dich nicht weggehen lassen. Nur wenn sie mit Dir gegangen ist, dann haben auch die andere Dich gehen lassen. Dann hat Papa immer gerufen, laßt sie gehen, sie gehen für Pépé.«
Sie kiekst jetzt wieder wie ein Teenager. Es ist angenehm. Aufreizend angenehm. Ich möchte mitlachen. Aber ich habe nichts zu lachen, weil ich – noch – nicht dabei war bei meiner Hochzeit. Die Erinnerung an das Fest wird allerdings ausgeprägter.
»Ach – Du meinst, so, wie Du erzählt hast, daß Dein Vater gemeint hat, die beiden müßten üben gehen, auf daß er Großvater werden dürfte?«
»Absolutement.«
»À propos Großvater – hat er denn keine. Ich meine Enkel. Ich meine von Moses und Aaron.«
»Idiot. Mirjam et Aaron«
»Es war mir schon irgendwie klar, daß ich das vermutlich nicht gemeint haben konnte – daß Moses und Aaron Deinem Vater süße kleine Enkelein geschenkt haben dürften. Ich glaube, wir sind mit der Genforschung noch nicht ganz so weit.«
»Didier le grand – Ballot! Sie waren zugegen auf diese Fest, von dem Du immer weglaufen wolltest. Manchmal mit mir.«
»Wer – sie. Gleich mehrere von diesen Bastarden?«
»Deux. Anouk et Esther.«
»Ach Gottchen. Ich hab's ja immer gewußt – ich bin ausnahmslos mit Frauen verwandt.«
»Es gibt auch noch Männer. Sie wurden gebraucht, um Deine weibliche Verwandten zu gründen.«
»Ach? Tatsächlich. Ich ignoriere sie.«
»Du wirst das nicht tun! Merde! Es ist Papa. Er hat mich mit Maman gestaltet. Im Sand von die Île Ratonneau.«
»Aha! Man hat Deinem Vater eine Rippe herausgeschnitten. Und die hat er dann auf den Grill gelegt.«
»Mon Dieu! Un peu bêta?!«
»Weshalb bin ich doof? Weil ich die Entstehungsgeschichte meiner Verwandtschaft biblisch-dialektisch wiedergebe?«
»C'est incroyable! Mußt Du alles kleinmachen?«
»Ach, Naziza – vielleicht ist es schlicht die Angst des Torwarts vorm Elfmeter.«
»Und was ist das? Es ist eine Pièce de thêátre von Peter Handke. Aber wie meinst Du es?«
»Ganz einfach – der Fußballtorwart fürchtet sich vor dem Schuß.«
»Vor diesem, was kommt?«
»Oui, Madame.«
»Was soll kommen?«
»Der Schuß eben.«
»Ich verstehe Dich nicht. Er kommt. Und dann? Er ist da. Aber er ist nicht schlimm. Er geht vorbei. But. Goal. Fin.«
»Ja. Aber ein Tor für den Gegner.«
»Mais – Du hast keine Gegner.«
»Oh! Ich dürfte einige haben.«
»Nicht in diesem Spiel! Es ist eines zur Freundschaft. Alle lachen dabei.«
»Meinst Du?«
»Es ist so.«
»Also gut. Zurück zu den Kleinen. Sind sie überhaupt klein? Und wer hat sie fabriziert? Beide von ...«
»Mirjam. Aaron ist nicht verheiratet.«
»Vernünftig.«
»Sacré nom d'un chien! Du willst mich ärgern. Ich mag es, verheiratet zu sein. Auch mit Dir.«
»Jetzt hast Du gerade noch die Kurve gekriegt. Aber, ist ja gut, Liebes. Nimm's doch nicht so ernst. Ich versuche lediglich, mir Mut zu machen. Ich brauche das.«
»Wofür brauchst Du Mut? Laß diese Ballon kommen. Uiiii – er ist vorbei. Und es tut nicht weh. Man wird lachen und sich auf Dich stürzen und Dich umarmen und küssen. Alle.«
»Auch Anouk und Esther? – Esther. Schon wieder ein hebräischer Name.«
»Es ist ein kleine Verbeugung. Ich glaube, vor der Wurzel von Maman. Und es gefällt uns allen. Aber Anouk ist, glaube ich, nicht jüdisch.«
»Klingt eher so, als ob er arabischen Ursprungs ist. Aber ich weiß es nicht. – Also, wie alt sind die Mädels?«
»Anouk war zwei Jahre und ein wenig mehr bei unsere Mariage. Sie ist also ein bißchen älter geworden.«
»Ach? Wer ist hier albern?«
»Ich muß zurückgeben. – Alors. Esther ist vor zwei Jahre geboren.«
»Ach, wie süß. Noch richtig zum Knuddeln.«
»Sie ist es. Mais – auch immer noch Anouk. Wenn sie auch manchmal ist ein wenig eine Dame. Aber sie ist sehr schmiegsam.«
»Anschmiegsam, meinst Du wohl. – Und wer ist der Papa der beiden?«
»Quel dommage, daß Du Dich nicht erinnerst. Bof! Aber jetzt wirst sehr lachen.«
»Und weshalb?«
»Écoute – die Papa von Anouk et Esther ist eine Noir.«
»Ach du meine Güte! Jetzt wird's aber bunt. Hier sollen wohl meine Theorien verifiziert werden?«
»Mais oui. Es wird alles nur gemacht Deinetwegen. Alle Farben.«
»Dann muß Moses also auch noch Vater werden – mit einer Indianerin oder einer Chinesin oder einer ...«
»Es geht auch ein Französin? Eine Blonde? Ist es genehm, Monsieur?«
»Warum? Hat er eine?«
»Oui. Zur Zeit es ist so. Und es hat den Eindruck, es ist länger. Sie kommt aus die Bretagne. Doch sie lebt seit lange Zeit in dem Département Tarn.«
»Albi und so.«
»Oui. Sie leben zusammen in ein Wohnung, in Albi. Seit einige Zeit schon. Sie sind beide Ingénieur.«
»Flugzeug?«
»Richtig. Es ist so. Dans Toulouse. Sie fahren jeden Tag dorthin. Sie wollen es lieber ruhiger. Sie sagen, in Toulouse es ist schön, aber laut.«
»Nur weil dort manchmal eine Fabrik in die Luft fliegt? Außerdem ist in Albi der Hund begraben.«
»Hund begraben?«
»Tote Hose. Nichts los. Nur Touristen. Aber zwei Meter neben der gigantischen, nein, gigantomanischen Basilika Saint Cécile, neben diesem nicht nur nach Tucholsky furchteinflösenden ...«
»Warum das?«
»Meinst Du mich oder Tucholsky?«
»Warum Tucholsky?«
»Er war es, der geschrieben hat: Ihr Anblick schlägt jeden Unglauben für die Zeit der Betrachtung knock-out. Ist das nicht furchteinflößend? Oder soll ich noch einen draufsetzen?«
»Du oder Tucholsky?«
»Tucholsky. Weil er vor mir dort war. Und ich, weil ich es so empfand, bevor ich es gelesen hatte.«
»Es scheint terrible zu sein mit seine Neuschnee.«
»Fürwahr. Also: Es ist zum Erstarren. Das Monstrum. Doch ich meine eben, nicht nur das Monstrum ist zum Erstarren, sondern das Kaff ist erstarrt. Totentanz der Einheimischen.«
»Toulouse-Lautrec kommt von dort!«
»Der ist doch auch schon tot. Jean Giorno stammt aus Manosque. Aber meinst Du, daß ich deshalb in in einer lieblichen Kleinstadt im Luberon, in der Haute-Provence leben möchte?!«
»Nihiliste contemporain! Du gibst alles der Lächerlichkeit hin.«
»Ach, Naziza, verdammt. Das sind Sprüche. Nicht mehr. Nimm's doch nicht so ernst! Ich hatte lediglich den Eindruck, in Albi nicht über dem Gartenzaun hängen zu wollen.«
»Was ist das wieder? Lerne ich alles ...«
»Es ist dasselbe wie Hund begraben, tote Hose, nicht dort leben zu wollen ...«
»Ah! Oui! Ne voudrais y vivre pour rien au monde.«
»Und dürfte ich jetzt ausnahmsweise mal fragen, was dies bedeutet?!«
»Dasselbe.«
»Dasselbe wie, was?«
»Ich möchte nicht begraben sein dort.«
»Na. Nun sind wir ausnahmsweise mal einer Meinung.«
»Du bist unmöglich. Es ist vielleicht doch auch eine Zeichen von Deine gute Stimmung.«
»Das ist wohl richtig, meine Entzückende. Und – ist meine zukünftige Schwägerin auch eine Negerin? Eine bretonische? In France weiß man das glücklicherweise nie.«
»Man sagt es nicht! Es ist politisch comportement incorrect.«
»Weißt Du, was mich der Erfinder der politischen Korrektheit mal kann? Es ist derselbe, der auch den Supermarkt und den Hamburger – ich meine diesen widerlichen, flachgeklopften Fleischklops zwischen zwei Hälften einer weiteren Geschmacklosigkeit – und den politischen Terrorismus und die Schurkenstaaten erfunden hat, aber auch das Verdrängen der eigenen Vergangenheit, in der fast die gesamte Urbevölkerung umgebracht wurde. Und was sonst noch alles an Absonderlichkeiten, unter denen ich so manches Mal leide, nein, Wutanfälle kriege. Also hab mich gerne mit political correctness!«
Meine Zauberfee lacht wie ein 2 CV, bei dessen Motor der Kolben durch die Zylinderabdeckung geschossen ist. Nur das herausquellende Altöl scheint sehr frisch und klar, transparent sozusagen. Es sind sozusagen lächerliche Tränen. Sie dämmt sie mit mindestens drei Papiertaschentüchern ein.
»Das ist politisch nicht ganz correct, was Du gesagt hast.«
Jetzt bin ich dran. Es ist nur ein kleinerer Motorschaden. Ein etwas ungewöhnliches, aber immerhin rhythmisches Geräusch in mir und aus mir. Doch es bringt mich doch um ein Haar aus der Spur. Nein, die Ente. Ich muß korrigieren. Aber es ist auch nicht allzuviel unterwegs, das angerempelt werden könnte. Es geht auf die abendliche Essenszeit zu. Obwohl es noch taghell ist. Auch das ist ein Zeichen der geographischen Veränderung. Die paar Kilometer weiter westlich machen schon etwas aus. Früher hat mich das immer verblüfft. Doch seit ich es weiß, ist es nicht mehr so dramatisch. Schön ist es allerdings immer. Erhebend ist es am Atlantik. Da kann man im Juli um elf Uhr abends am alten Hafen von La Rochelle die Füße am Beckenrand baumeln lassen und den sich langsam eindunkelnden windigen Wolken zuschauen. In meiner neuen Heimat finstert es früher. Aber dafür ist es noch viel schöner südlich dort.
»Laß uns also zur Unkorrektheit der Rassenvermischung zurückkommen. Nicht nur ich bin also ein gotisch-weltverwanderter Bastard, sondern meine Verwandtschaft lacht mich aus ob solcher Minimalitäten an Blutauffrischung. Ich habe also einen Neger in der Familie.«
»Er sagt – de propos délibéré ...«
»Das meinst wohl so etwas wie absichtlich oder bewußt. Ist es richtig?«
»Oui – Du lernst schnell. Oder ist es Zurückrufung?«
»Du meinst Abrufen des Vorhandenen. Ja. Es kann sein. Du weißt ja – es geht rasch, wenn ich im Land bin. Also – was meint mein mit mir verwandter Neger?«
»Er sagt Nègre. Er nennt sich selbst eine solche. Manchmal auch Roi nègre.«
»Ist er denn ein Häuptling?«
»Ah – non. Ganz früher einmal. Er ist auch sehr lange bereits gemischt. Und er ist auch schon seit viele Generation Franzose ...«
»Das sind doch ohnehin alle Franzosen. Zwangsfranzosen.«
»Mais oui. Er lebt, non, seine große Eltern ...«
»Du meinst Großeltern.«
»Merde. Oui. Grands-parents. Sie sind nach Frankreich gegangen. Sein Maman ist – auch – aus die Brétagne. Sie ist jedoch nicht so blond wie unsere Belle-sœur in spe.«
»Schwägerin?«
»Oui. Ihr Name ist Lamennais. De Lamennais.«
»Nein!«
»Doch. Catherine de Lamennais. Nun kannst Du endlich einmal zu Recht sagen – Schriftsteller. Sie stammt von ihm ab. Von diesen Écrivain breton des Romantisme, Félicité Robert de Lamennais. Eine entfernte Verwandte, wie sie gerne sagt. Ich weiß es, sie wird Dir gut gefallen. Und Du ihr auch. Wir passen alle gut zusammen. Une Bande de sauvages.«
»Du meine Güte. Hab ich eine Verwandtschaft. Aber die gehört ja offenbar noch nicht dazu.«
»Ich spekuliere auf ein Baldiges. Dann haben wir auch définitivement die Gaulois erobert, in das Reich geholt.«
»Siehst Du Dich jetzt schon als Römerin, die das kleine gallische Dorf eingemeindet?! Wenn, dann bist Du doch eher Griechin als Römerin.«
»Ich bin eine Amazone aus allem. La Mediteranée. Marseillaise. Du solltest es wissen. Und eine haben wir ja bereits gefangen. Die Frau von Raymond. Jedoch sie fällt nicht so sehr zu Gewicht, weil sie, ich habe es gesagt, so dunkel ist, daß man sie nicht sieht bei uns. Quoique – sie hat zwar dunkle Haare, jedoch sehr helle Haut. Und man sieht es an Anouk und Esther.«
»Ach du liebes bißchen. Also lauter Durcheinander. Keine Ordnung unter den Völkern. Das muß ja eine Mischung sein. Also Asterix und so, aber schwarz?«
»Oui. Er ist sehr lustig. Négro-gaulois.«
»Ah. Und wie sehen denn nun meine Nichten aus? Bunt, nehme ich an. Sehr bunt vermutlich.«
»Das kann man sagen. Anouk hat dunkle Haut und ein bißchen blonde Augen.«
»Blonde Augen? Wie geht das? Vielleicht noch blaue Haare? Wirklich bunt.«
»Oh, Didier! Du machst mich complet confus. Ich meine ein bißchen helle Augen. Nicht ganz. Ein bißchen.«
»Och – ist das schön! Aber jetzt warte mal. An sowas Seltsames erinnere ich mich. Das kommt ja auch nicht allzu oft vor. Relativ dunkle Haut und ein bißchen Helles auf dem Kopf. Ja, genau – dunkelblaue Augen.«
»Mon Dieu! Es ist richtig. Wie etwas helle Tinte. Blaue Tinte.«
»Meine Güte. Sowas hatte ich mal auf dem Schoß. Ich erinnere mich – und sehr gerne. Aber daß das bei diesem Anlaß, bei diesem Fest war?!«
»Jetzt erinnere weiter! Was hat sie gemacht?«
»Was soll sie gemacht haben. Was macht ein Kind in diesem Alter? Doch, jetzt. Es war sehr schmusig.«
»Es war was?«
»Verschmust. Warte mal, wie heißt das ...«
»Allez!«
»Enfant câlin. Schmusekatze. Ist das richtig?«
»Note dix-neuf!«
»Donnerwetter. Höchstnote. Und das bei einer solch gestrengen Lehrerin.«
»Bin ich eine strenge Lehrerin? Vrai?«
»Nein. Wenn Du das wärst, würde ich mit Dir auch keinen Französischunterricht betreiben. Da könnte ich ja gleich zu meiner Mutter ins Grab. Und da will ich nun wirklich nicht hin. Ich meine weniger wegen des Grabes – Du weißt schon.«
»Wollen wir darüber sprechen. Obwohl es wäre mir lieber ...«
»Nein. Nein. Und nochmals nein. Ich habe zur Zeit überhaupt nicht das Bedürfnis, über diese Dame zu sprechen. Die kommt mir schon noch früh genug wieder hoch. Süße kleine tintenblondäugige schwarze Schmusekatzen sind mir lieber.«
»Darf es auch ein tintenschwarzäugige sein? Und eine bißchen größer?«
»Unglücklicherweise kann ich die gerade nicht auf den Schoß nehmen.«
»Gut. Später. Dann sprechen wir über Deine Schoßkätzchen von damals. Es ist größer geworden. Aber ich habe Dir gesagt, es ist es immer noch. Mais – maintenant sie ist jetzt sechs Jahre. Aber es gibt Esther. Sie ist so alt wie ihre Schwester damals. Und sie ist ...«
»Auch blondäugig?«
»Sacré nom de Dieu! Darf ich keine Fehler machen?!«
»Ich liebe Deine Fehler geradezu.«
»Das ist bestimmt auch wieder so eine gemeine Gedanken dahinter – Hintergedanke.«
»Du bist sehr mißtrauisch mir gegenüber.«
»Man muß es sein – continue. Du hast eine Ersatz. Du kannst ihre pépé etwas Arbeit abnehmen.«
»Wie soll ich das verstehen? Ich Deinem Vater Arbeit abnehmen? Wie käme ich denn dazu? Arbeit. Ich glaub, ich spinne.«
»Nein, nicht harte. Weiche.«
Wie bitte? Das klingt gefährlich.«
»Non. Weich. Esther. Sie ist noch mehr ein Kätzchen als ihre Schwester.«
»Das ist ja wunderschön. Ich mag diese Knuddeltierchen ja sehr. Aber wie soll das gehen? Soll ich immer nach Pérpignan fahren? Ich mag die Stadt ja sehr. Aber ich bin froh, in Marseille zu landen.«
»Wer sagt Pérpignan?«
»Ja. Wer sagt Pérpignan? Ich wohl. Aber Du sprichst davon, daß ich den Ersatzopa geben soll. Also denke ich an Pérpignan. Ist doch wohl logisch. Oder?«
»Puh. Mon hommes de logique! Oui. Non. Wenn Pépé ist in Marseille, er muß immer schmusen mit dem Kätzchen.«
»Ach. Das Kätzchen schnurrt in Marseille? Sie leben in Marseille?«
»La pensée est arrivé!«
»Das ist doch ein bestechender Gedanke. Wenn Du nicht da bist und brav für Deinen Mann arbeiten gehst, ihn also schmählich verlassen hast, geht er zu fremden Frauen zum Schmusen.«
»Nicht zu fremde und nicht zu Frauen. Zur kleinen weichen Esther mit schwarzen Augen und weiche Haut. Oui. Approuvé.«
»Sie hat keine blonden Augen?«
»Non. Dafür Haare.«
»Nun denn. Ich kann mir denken, daß sie im Alter von zwei niedlichen Jährchen keine Glatze hat. Nicht mehr und noch nicht.«
Sie schüttelt den Kopf. Und grinst fröhlich. Das macht mich fröhlich.
»Ich nehme an, Du weißt, was Deine Schülerin des Deutschen damit gemeint hat.«
»Daß sie Haare auf dem Kopf hat. Das hast Du gesagt.«
»Wo ist Dein viel berühmtes Vermögen der Abstraktion?«
»Mein vielgerühmtes Abstraktionsvermögen? Gibt es das? Es ist mir neu. Daß ich ein solches haben soll. Wer spricht so dummes Zeugs. Abstrahieren heißt, sich anstrengen. Und das ist bei mir vorbei. Ende. Ausgedacht. Nur noch schmusen.«
»Mon Dieu! Du hast den Alkohol doch abgelehnt vorhin. Wie geht es?«
»Den brauche ich doch schon seit ewigen Zeiten nicht mehr, um gut gelaunt zu sein. Genauer – überhaupt gelaunt zu sein. Ich habe ja, wie Du weißt, mittlerweile andere Drogen. Ich habe einen entzückenden Bastard. Und jetzt soll ich auch noch einen dazubekommen. Meine Güte! Die Welt meint es auf einmal gut mit mir. Wo leben sie denn – Esther et Mirjam et Anouk et – wie heißt denn mein mit mir verwandter Negerhäuptling überhaupt?«
»Raymond ...«
»Schon wieder ein Literat.«
»Comment?«
»Na. Raymond Queneau. Noch einer meiner Lieblinge.«
»Fou. Raymond Saint-Louis. Wie eine Stadt dort.«
»Wo?«
»Dans Sénégal.«
»Ach so. Das ist praktisch. Außerdem kann sogar ich mir das merken. Aber ich will dabei nicht an die USA denken.«
»Es ist auch französisch.«
»Na ja. Da kommt diese fürchterliche Blechmusik her. Und die ist sehr amerikanisch. Ich mag sie nicht.«
»Du magst überhaupt nichts, was ist amerikanisch. Wie Franz bei Kundera. Er schreibt von Franz – wie die Personnification von Europe. Monter au créneau. Mai 68. Wie Du. Bei ihm ist der Vater Français, bei Dir die Mutter. Und ich verstehe Dich, wie Sabine ihn versteht. Jedoch, zurück: Saint-Louis es gibt auch an der Rhône. Port Saint-Louis. In die Delta. Und inmitten von Marseille, an der Canebière. Und was Du meinst – es ist New Orleans.«
»Von mir aus. Also – das könnte sein. Amerikaner durchaus. Aber nichts Amerikanisches. Vereinzelte ja. Es gibt ein paar sehr angenehme. Doch die mögen auch nichts Amerikanisches. Andererseits hab ich Dir doch gesagt – ich bin Rassist.«
»Idiot. Sarcastique.«
»Auch gut. Nein. Ich mag diese Musik einfach nicht. Auch wenn es der Ursprung des Jazz ist, den ich wiederum mag. Aber doch eher die Nachfolge. Und auch da bin ich fürs Durchraßte. Purismus ist mir zuwider. Was natürlich auch mal wieder nur zur Hälfte stimmt. Ich bin ja auch als formalästhetischer Erbsenzähler gefürchtet. Oder belacht. Eine seltsame Mischung: spätpostmoderner Purist. Wie auch immer – mir geht diese Blechmusik einfach auf den Keks. Und das hat nichts mit der Bevölkerung zu tun – die ich ja auch nicht kenne. Ich weiß nur, daß es die wohl französischste Stadt der USA sein soll.
»Didiiier. Wovon Du sprichst – es ist New Orleans!«
»Da siehst du mal, was ich für ein Ignorant bin. Also, wie gesagt – Saint-Louis kann ich mir merken. Also – wo wohnen sie?«
»Dans la premier arrondissement. Proche Opéra.«
»Im Hurenviertel.«
»Didier! Du redest dumm. Du weißt, es ist nicht nur ein Quartier mit diese Frauen. Diese paar! Drei kleine Straßen, vielleicht es sind vier. Und überall normales Leben darum herum.«
»Ich hab doch auch nichts weiter gesagt. Mich stören sie auch nicht. Andere auch nicht. Sie sind außerordentlich höflich und gesittet. Selbst Männern gegenüber. Da kann sich manch einer ‘ne Scheibe von abschneiden. In Deutschland wäre so etwas nicht möglich. In Lyon gibt es eine ähnliche Situation. Ebenfalls mitten in der Stadt. An einer Ecke, so einem lauschigen Plätzchen, ich meine, mich zu erinnern, es ist die Rue de Brest. Und alle friedlich vereint im selben Café. Sie tun ja auch niemandem etwas.«
»Es stimmt. Du hast recht. Sie sind ravissant ...«
»Zauberhaft? Reizend?«
»Oui. Sie sind es zu den Kindern. Zu alle. Viele haben selbst welche. Absolu vrai!«
»Und was tut der schwarze Vater meiner süßen kleinen bunten Nichten, um sie über Wasser zu halten.«
»Er geht unter Wasser. Und auch auf dem Wasser.«
»Aha. Ein Christ. Vielleicht er persönlich?«
»Was ist mir Dir? Du bist en verve. Très! Es ist komisch. – Gelernt hat er Économie nationale. Es hat ihm nicht gefallen. Nun hat er hat ein Tauch- und ein Segelschule.«
»Oje. Ein Sportler in der Familie. Es paßt gut zusammen. Aus der Ökonomie des Volkes eine des Wassers. Ein abtauchender Ökonom. Hervorragend. Es macht sich gut. Man erkennt ihn sogleich. Man weiß immer, wo der Lehrer sich befindet, wenn man ihn braucht beim Absaufen.«
»Didier. Ich muß zwar lachen. Aber es ist genug. Du bist so albern. Mais – es ist mir lieber als anders. Bleibe so.«
»Ich werde mich bemühen.«
»Bitte nicht so sehr.«
»Wo hat er seine Schule? In Marseille habe ich sowas noch nie gesehen – doch Moment mal. Den kenn ich! Drüben. Îles de Frioul? So ein ziemlich großer, der immerfort lächelt. So ein ganz ruhiger. Für einen Neger ziemlich sympathisch.«
»Didier. Es ist genug! Das ist nicht mehr lustig!«
»Du weißt ganz genau, daß ich es nicht so meine. Ich bin ja selber einer. Aber – nein. Ich werde mich nicht zurückhalten. Wenn Du das nicht aushältst, wissend, daß ich dabei nichts Böses denke – dann ist es nicht zu ändern. Dann stinkt's mir aber auch gewaltig. Dann kann ich das mindestens ebensowenig haben wie Du das Gegenteil. Ich laß mir als Jude doch nicht verbieten, Judenwitze zu reißen.«
»Didier – Du erschreckst mich.«
»Es tut mir leid, Naziza. Nein. Ich bin sogar sehr verärgert. Ich wiederhole – obwohl Du weißt, wie ich denke, erwartest Du von mir, daß ich mich dazu so nicht äußere. Nein. Das geht zu weit. Aus ist's mit der Pietät. Ich will das nicht. Es reicht, daß ich mich anderen Menschen gegenüber ständig zurückhalten soll. Ich will das nicht mehr. Hörst Du. Ich will es nicht mehr. Ich werde schon nicht draußen herumrennen und brüllen, daß ich Neger nicht ausstehen kann. Oder Le Pen. Oder Deutsche. Oder sonstwas oder sonstwen. Ich bin überhaupt niemand, der draußen irgendetwas herumbrüllt. Aber drinnen, in mir will ich herumblöken können, ohne daß es durch mich ein Widerwort gibt. Oder Verhaltensmaßregeln. Oder sonst irgendetwas anderes dieser Art. Compris?«
»Es ist gut.«
»Gar nichts ist gut. Es stinkt mir jetzt schon wieder unbändig, daß ich das überhaupt gesagt habe. Daß ich mich schon wieder entschuldige für etwas, daß ich nicht wollte. Daß ich mich entschuldigen muß fürs Entschuldigen. Verstehst Du das nicht, Naziza? Es steht mir bis zur Halskrause. Das ist mit ein Grund gewesen dafür, daß ich mich völlig zurückgezogen habe. Ich will keinerlei Konventionen mehr. Lange genug bin ich selber die Inkarnation der Konvention gewesen. Und so, wie ich irgendwann begonnen habe, nichts mehr in mich hineinzufressen, habe ich beschlossen, auch nicht mehr dauernd von vornherein mit der Friedensflagge herumzufuchteln, obwohl ich grundsätzlich gegen Krieg bin. Es ist doch absurd, daß ich Dir das erklären muß. Ich dachte, Du kennst mich so gut! Ich lerne Dich kennen, weil ich ein Loch im Kopf habe, daß es aufzufüllen gilt. Das ist vielleicht mein Vorteil, mein Vorsprung Dir gegenüber. Oder aber Du kennst jemanden, den Du nicht kennst. Vielleicht willst Du den ja gar nicht, von dem Du glaubst, ihn zu mögen.«
»Ich mag ihn nicht. Ich liebe ihn.«
»Uff. Ein Sätzlein. Bist Du sicher? Und wenn ja, weshalb?«
»Jetzt bist Du aggressiv. Auf einmal. Innerhalb eine Sekunde.«
»Naziza. Ich bin ein Wrack. Ich habe mich seit mindestens zwei Jahren über nichts mehr freuen können. Erst habe ich mir nur noch den Tod gewünscht, den sie mir genommen hatten mit ihrer Scheißwiederbelebung. Er war so schön, so greifbar nah gewesen. Ich war schon im Elysium. Lächelnd stand ich neben mir und habe mir zugeschaut, wie ich mich von mir verabschiede. Aber sie haben mir auch das genommen, sie haben mich zurückgeholt. Dann habe ich diese verfluchte Hoffnung ständig in mir herumgeschleppt. Die habe ich dann nach und nach abgeladen. Aber damit hatte ich auch jedes Fitzelchen Freude mit über Bord geschmissen. Ich habe nur noch funktioniert. Dann geschah es vor ein paar Stunden, daß eine Frau vor mir sitzt, die mir erzählt, ich hätte mal gelebt. Und die zu mir sagt, ich solle es wieder tun – leben. Nun gut, habe ich zu mir und zu ihr gesagt, ich will's versuchen. Es hat den Anschein, es könnte sich lohnen. Da hab ich irgendwo in einem der letzten Eckchen meines durchlöcherten Hirns noch einen Krümel dieser Hoffnung wiedergefunden. Dann kommt es nach und nach knüppeldick über mich. Und nun, kaum sind ein paar Minuten vergangen, sagt diese meine Hoffnung zu mir, ich soll mich mäßigen. Verstehst Du das, Naziza. Ich verstehe es nicht. Und ich will es auch nicht verstehen. Nicht mehr. Das ist das Entscheidende – nicht mehr! Es gibt keine Kompromisse mehr in meinem Leben. Es war eigentlich schon abgeschlossen. Und ich mache die Tür sofort wieder zu, wenn es anders nicht geht. Du mußt das alles nicht tun. Es ist jetzt ein paar Jahre gegangen mit mir. Und irgendwann hätte ich es auch gepackt, irgendwann nächtens ganz langsam in mein geliebtes, nur zehn Grad kühles Mer méditeranée zu gehen, um mich von den Fischen anknabbern zu lassen, mich ihnen zurückzugeben, weil ich so viele von ihnen gefressen habe und weil ich zu ihnen gehöre. Vermutlich hätte ich mich trotz dieser Temperatur gefühlt, als ob ich langsam in den Mutterleib zurückkröche. Nicht in den. In einen anderen. Den einer Leihmutter. In den der Leihmutter La Mediterannée. Ich kann also einen Neger zum Schwager nur gebrauchen, wenn ich auch Neger zu ihm sagen darf. Ich bin festgefahren. Ich habe das so gelernt. Ich bin ein alter Sack. Längst weiß ich, daß Neger keine Neger sind. Mein Sprachzentrum ist allerdings miserabel ausgebildet. Ich sage ja auch immer noch Swerdlowsk, obwohl es längst wieder anders heißt, so wie ganz früher. Aber ich weiß doch, daß es Jekaterinburg heißt. Was macht das denn also für einen Unterschied?!«
»Er hat mir von Eure erste Begegnung erzählt.«
»Wer?«
»Der Neger.«
Wutsch. So läßt diese Frau meinen Dampf raus. Meinen Dampf. Der mir gehört. Aber wenn es so geht?
»Wir sagen also jetzt gemeinsam Neger.«
»Ich habe Dir gesagt, daß er es selber sagt.«
»Weshalb maßregelst Du mich dann?«
»Puh! Es war etwa unüber ... – muß ich antworten darauf?«
»Nein. Mußt Du nicht. Also. Was war das für eine Begegnung?«
»Ich glaube diese, von der Du gesagt hast – Du hast gesagt, Du kennst ihn.«
»Ich war mal in einer etwas unangenehmen Situation. Wenn er es ist – und ich bin mittlerweile fast sicher, daß es sich dabei um ihn handelt –, dann hat er mich aus ihr befreit.«
»Du warst in das Wasser gefallen.«
»Verflucht, woher – ja, dann war es wohl es mein Schwager. Aber da war er wohl noch nicht mein Schwager. Denn das liegt lange zurück.«
»Er war noch nicht Deine. Aber er war schon meine. Aber diese Histoire haben wir auf unsere Mariage erzählt. Und alle haben sehr gelacht. Es war auch vorher eine unglaublich große Freude, daß ihr würdet sein eine Familie. Ihr habt doch ein bißchen einander geschrieben. Früher.«
»Ja. Mensch! Meine Güte! Raymond Saint-Louis. Ach, bin ich ein Trottel! Richtig. – Also, ja. Früher. Aber das hat sich ja im Sand verlaufen. Wie so vieles bei mir. Ich hatte ja jeden Ankerpunkt verloren. Ich glaube, es war 1996. Nein. Da war ja noch alles im Lot auf‘m Boot. Also eher 1997. Es war ja nach Marius et Jeannette. Außerdem war mir der für meine damalige Stimmung einfach zu fröhlich. Ich war mehr automisanthropisch veranlagt. Ich zog ja alles und alle runter. Und dann natürlich – die Sprachbarriere. Ich fühle mich ja auch im Englischen nicht gerade zuhause. – Mensch, Naziza. Ich erinnere mich. Der war doch auf diesem Fest dabei ...«
»Das unsere Mariage war.«
»Verflucht noch auch. Daß ich das aber auch nicht richtig abgerufen kriege. Verfluchter Mist.«
»Merde. Didier. Es kommt so vieles so langsam. Ich spüre es. Dann tue es nicht bedrängen. Es wird kommen. Ich bin schon sehr glücklich, daß es soweit ist. Komm, erzähle mir diese Geschichte. Es ist möglich, daß mehr zurückkommt auch von diese 15 août 1998. – Du warst in die Wasser gefallen.«
»Ach – ein denkwürdiger Tag in meinem Leben. Ich glaube, nein, der vorletzte. Der letzte war das Platzen meines Gehirns ...«
»Oh! Monsieur! Ich kenne noch eine Tag in Deine Leben! Le 15 août 1998.«
»Da war ich doch nicht dabei – na ja, ich bin noch nicht angekommen an diesem Tag. Nun gut. Dieser Mann, der offensichtlich nun mein Schwager ist, dieser immerfröhliche Schwarze mit den funkelnden Augen, ist mir genau genommen gleich dreimal begegnet an diesem Tag. Er hat mir, der Katze, von ihren neun Leben quasi drei zurückgegeben – an einem Tag.«
»Dreimal? Ihr habt nur von eine Mal erzählt.«
»Ach, Naziza. Eigentlich sollte ich das ein bißchen besser wissen. Er weiß es auch. Vermutlich habt ihr alle immer nur die Hälfte mitbekommen, weil alles andere ständig im jeweils autohomerischen Gelächter unterging. Und ich muß die Geschichte erzählen. Sonst wird es nie was mit dem Memorieren.«
»Das ist mir sehr lieb! Ich kenne sie scheinbar nicht ganz! Je suis tout ouïe!«
»Zunächst hatte er mich befreit. Das erste Mal. Ich war oben in diesem kleinen Häuschen auf der Île Pomegues, in diesem Turm ...«
»Tour Pomeguet?«
»Ja. Obwohl eigentlich alles verrammelt war, hat meine Neugierde es geschafft, mich dort hineinzuzwängen. Genauer, ich hatte mich irgendwie – nein, als ich eine Weile herumgeschnüffelt hatte, stellte ich auf einmal fest, daß die Eingangstür nicht versperrt war. Und da bin ich – der oberste aller Oberangsthasen! – hinein. Es war eigentlich nicht viel zu sehen. Müll, in erster Linie. Wahrscheinlich haben ihn alle möglichen Clochards hinterlassen. Oder auch junge Leute, die dort Parties gefeiert hatten. Vermutlich hat man deshalb den Turm auch abgesperrt gehabt. Oder weil er baufällig ist. Ist ja auch gleichgültig. Nur für mich muß ihn jemand geöffnet haben – auf daß ich in die Geschichte eingehe. Sozusagen als Turmgeist. Denn als ich wieder hinauswollte, war die Tür verschlossen.«
»Mon Dieu! Was hast Du gemacht. Du bist nicht Geist. Du sitzt neben mir und fährst mit mir nach Hause. Oder bin ich auch Geist?«
»Was macht man in einer solchen Situation? Es war zwar glücklicherweise noch Nachmittag, wenn auch später. Aber dort ist ja eigentlich nie was los. Du wirst es wissen.«
»Oui.«
»Man kann ja während der Woche ewig da herumspazieren, ohne daß man einer Menschenseele begegnet. Herrlich. Aber nicht, wenn man Gefangener des Turms ist. Also habe ich gebrüllt und gebrüllt – m'aidez! m'aidez! Glücklicherweise fiel mir das trotz aller langsam aufkommenden Panik noch ein, wie das auf Französisch heißen könnte. Später habe ich erfahren, daß aus diesem französischen Pilotenhilferuf das internationale Mayday entstanden ist, weil die dämlichen Amis das so verstanden haben und so daraus der Frühlingstag der Panik entstanden ist. Es hat natürlich nichts genutzt. Es war ja auch längst tiefer Sommer. So habe ich mich langsam darauf vorbereitet, die Nacht in meinem historischen Verließ unter Mäusen und wahrscheinlich auch Ratten verbringen zu müssen. Ein nicht eben beschaulicher Gedanke.«
»Diese Geschichte kenne ich nicht! Das ist ganz neu. Didier – le revenant de tour Pomeguet. Puh!«
»Das Gespenst wurde wieder zum Menschen. Dank der Hilfe meines späteren Schwagers. Ich muß jetzt doch heftig lachen. Es war zu komisch. Es ist. Damals war's, als ich noch drinnensteckte in diesem Gemäuer, gar nicht der Fall. Kurzum – auf einmal rief jemand – Monsieur! Monsieur. Là-dedans?! Lá-dedans?! Dans le tour?! Und ich wie wild in Richtung der Stimme. Und da sehe ich durch die Holzlatten auf dem Gang, der um den Turm herumführt, einen schwarzen Neger – und rufe. Ici, Monsieur! Ici, Monsieur! Délivrer, s'il vous plaît!«
»Du hast gut französisch gesprochen – Raymond hat mir davon erzählt.«
»Und ich habe Dir erzählt, daß ich damals noch gesoffen habe. Aber hier muß es wohl die Droge des Schreckens gewesen sein. Denn tagsüber habe ich selbst damals eher weniger getrunken. Es ging ja auch gar nicht bei dieser Hitze. Das waren damals, wenn ich mich recht erinnere, gute vierzig Grad. Und im Turm. Na ja, man kann sich's denkend fühlen, wahrscheinlich etwas mehr. Auch noch ein bißchen sehr muffelig dazu. Es ging. Aber gut warm war's eben. Also. Er dirigierte mich sprachlich irgendwie zur Tür. Aber die war verschlossen. Irgendjemand muß sie eben hinter mir verriegelt haben. Dem war auch so, wie wir später erfahren haben. Der Inselhüter hat die geöffnete Tür gesehen und sie ordnungsgemäß verschlossen. Wie sich das gehört. Und mein Befreier hat sie kurzerhand eingetreten. Ganz einfach so. Mit einem Tritt hat er die bevorstehende Geschichte korrigiert.«
»Kaum kann man es glauben.«
»Daß Du so einen tatkräftigen Schwager hast? Wir ihn haben?«
»Diese ganze Geschichte ist unmöglich!«
»Aber wahr. – Also, ich habe mich ganz herzlich bedankt. Habe ihn gefragt, ob ich das irgendwie wieder gutmachen könnte, schließlich verdankte ich ihm ein Stückchen meines Restlebens. Er hat immer nur gelacht und gesagt, es sei schon gut. Dann wünschte mir freundlichst einen guten Tag und rauschte ab. Er hat noch irgendwas gesagt und dabei auf die Tür gedeutet – irgendwas von réparer und so.«
»Vermutlich hat das gemeint, sie muß wieder repariert werden.«
»Dem ist wohl so. Da ich nun ziemlich verdreckt war, vor allem an Händen und Füßen, ging ich hinunter zum Wasser. An die Bucht. Eher ein hafenähnliches Gebilde. Du kennst es?«
»Ein Hafen. Oui, Cheri. Wir waren dort. Ein paarmal. Du hast mir gezeigt, wo Du in das Wasser gegangen bist? Du hast gesagt, Deine Liebe zu France sei grenzenlos. Du würdest es anders machen als Walter Benjamin. Du würdest in Frankreich ins Wasser gehen. Diesen Teil der Geschichte kenne ich. Doch erzähle. Es ist auch zu komisch.«
»Also gut. Wer weiß, wozu es gut ist, sie noch einmal zu erzählen. An diesem Tag muß mich die Abenteuerlust geritten haben. Oder der Schwachsinn. Vermutlich eher letzterer. Ich will mich also säubern. Will zum Wasser. Doch anstatt in Richtung Fährhafen und damit zu einer der kleinen Calanques zu gehen – es war ja auch schon relativ spät –, kraksle ich die Felsen hinunter zu diesen Fischbecken. Nein, zum Hafen, offenbar. Der Weg außen herum war mir zu weit. Deshalb habe ich das Bergabsteigen geübt. Ich Übersportler. Weshalb, weiß ich nicht. Ich habe nur drei, vier Menschen gesehen da unten. Das wird wohl der Grund gewesen sein. Die Sehnsucht nach Menschen, da ich gerade dem sicheren Einsamkeitstod entronnen war. Daß es am Fährhafen noch mehr Menschen gegeben hätte, kam mir nicht in meinen Schwachkopf. Unten angekommen plätschere ich in dieser dunkelgrünen Brühe herum. Das war ja kein richtiges Meerwasser ...«
»Moules. Vielleicht. Non. Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht genau.«
»Ja. Igitt. Schmecken tun Muscheln ja ganz gut. Aber – na ja, ich rutsche aus auf so einem veralgten Stück Stein. Vermutlich das einzige weit und breit. Ich falle rein in diese Brühe. Und ich hänge fest.«
Naziza gluckst nun ständig in sich hinein. Es dauerdurchzuckt sie nachgerade.
»Du hast gut lachen. Und Du tust das, obwohl Du mein mir widerfahrenes Leid kennst. Du solltest Dich schämen. Weinen solltest Du, anstatt zu lachen!«
»Pardon. Didier, es ist so komisch. Pardon.«
»Du mußt Dich nicht entschuldigen. Erst erzählst Du mir, Du würdest mich lieben – und dann das.« Es rüttelt sie nur noch mehr. »Also wieder gefangen – in meiner eigenen Dummheit. Also wieder rumbrüllen – au secours! au secours! Dieses Mal geht's rascher, daß jemand angerannt kommt. Und wer ist es? Wieder mein Neger. Und was macht mein Neger – er lacht. Er lacht sich fast so kringelig wie Du Dich gerade. Irgendwas von keinem guten Tag für mich, erzählt er. Und ich schäme mich fürchterlich. Was macht der?! Er hüpft hinein in die Brühe und löst mich aus irgendwas heraus. Irgendein Netz oder sowas ähnliches, was so ein Muschelangler da reingehängt hat. Aber sicher nicht, um mich altertümlichen Weißfisch zu fangen. Dann hievt er mich, mal eben so, auf die steinerne Beckenabgrenzung hinauf und steigt mir – sehr, sehr! sportlich – nach – hups, und er ist draußen. Na gut. Drinnen war ich ebenso schnell. Ich bin sprachlos angesichts solcher Güte und umarme ihn. Es war nicht weiter tragisch, denn naß waren wir ja beide.«
»Bis dorthin kenne ich dieses. Aber was war dann? Du sagst, Ihr seid einander noch einmal begegnet. An diesem Tag?«
»Ja ja. Lange sollte es nicht dauern. Vermutlich wußten wir damals schon, daß wir alle Neger sind und zu einer Familie gehören, weil wir eben alle Afrikaner sind. Ich trotte also über den Digue Berry gen Hafen, um zum Festland hinüberzufahren. Als ich ankomme, fährt gerade ein Schiff. Es war das letzte dieses abenteuerlichen Tages. Dachte ich. Heute weiß ich, daß um Mitternacht noch eines fährt. Aber damals war ich einfach nur erledigt.«
»Mon Dieu! Mon Dieu! Was hast Du gemacht? «
»Da sitze ich nun am Anleger auf einem Poller und hadere mit meinem Schicksal. Beinahe eins mit mir. Was soll's, dachte ich mir. Besser, als im Turm gefangen zu sein. Dann werde ich mich eben windgeschützt in eine Calanque legen und die Natur der Nacht kennenlernen. Das einzige, was mir nicht so recht war, war die Tatsache, daß ich am Abend verabredet war. Doch das war eben auch nicht mehr zu ändern. Telephon hatte ich keines dabei. Das war damals noch fest im Auto installiert. Doch dann kommt ein Boot um die Kurve. Dem bedeute ich nichts weiter bei. Es fahren viele Boote hier ein in den Hafen. Es liegen ja sehr viele vor Anker hier, vor allem im größeren Hafen in Blickrichtung Hôpital Caroline. Aber dieses Boot tuckert langsam auf den Anleger, auf mich zu. Und wer ist es? Mein Neger. Und was macht er? Er lacht. Und er fragt mich, ob er vielleicht heute noch einmal etwas für mich tun könne. Er täte es gerne. Er habe sich so an mich gewöhnt. Schmeißt mich in sein Bateau und schießt mich nach Marseille. Dort trinken wir einen gegenüber im Tabac. Und ich lache mit ihm. Meine Verabredung sage ich ab. Es hat dann nämlich noch ein bißchen gedauert, bis ich ihm alle meine Französischkenntnisse vermittelt hatte. Ich weiß ja nicht, ob er einfach zu höflich war, mir zu sagen, daß er besser englisch spricht als ich. Es würde zu ihm gepaßt haben. Auf jeden Fall war's ein wunderschöner Abend. Er hat sich nur mal eben kurz zurückgezogen, um zu telephonieren. Ich nehme an, er hat meine spätere Schwägerin angerufen, um ihr zu sagen, er müsse auf einen extrem gefährdeten Menschen aufpassen. Wir waren dann also noch essen – oben, an diesem Platz, in den die Rue de Rome einmündet, wo man diese Fisch- und Austern- und so weiter Berge besteigen muß, um sie zu verputzen. Um sich einen Eiweißschock fürs Leben zu holen. Ich glaube Cours Saint-Louis – Mensch, ja, richtig, Cours Saint-Louis! Ich war offensichtlich mit Saint-Louis in Saint-Louis. Ich wußte ja damals nicht, wie der ...«
»Ihr waret bei Toinou.«
»Genau. Natürlich haben wir auch Muscheln gegessen. Trotz alledem haben sie mir gut geschmeckt. Und der Wein war auch wunderbar. So, lebensfrisch das alles. – Ach ja. Es war schön. Und daß das mein Schwager ist und ich mich nicht an ihn erinnere. – Quatsch. An ihn erinnere ich mich ja gut. Nur nicht an das Fest. An unser Fest.«
»Aber er tut das.«
»Das ist mir schon klar. Alle erinnern sich an mich. Nur ich nicht.«
»Soll ich ihn anrufen?«
»Wen?«
»Raymond. Anouk. Esther, Mirjam.«
»Bist Du des Wahnsinns? Was soll ich denn sagen. Du kennst doch meine sprachlichen Irrungen und Wirrungen, Ich würde sagen Bonjour und dann ins Telephon weinen. Außerdem darf ich nicht. Ich muß Döschwoh fahren. Bei uns ist das bei Strafe verboten.«
»Es ist France. Außerdem hast Du – ich mag sie anrufen. Ich mag es sagen, daß wir unterwegs sind. Raymond muß wieder retten. Ich werde ihm sagen, Du brauchst ihn.«
»Spinnst Du jetzt! Es ist tausend Jahre her!«
»Aber doch nicht für uns. Alle wissen es jetzt, daß wir kommen.«
»Woher denn? Um des lieben Himmels willen?«
»Mon Dieu! Ich habe es doch Maman gesagt. Du weißt es. Und was glaubst Du, was Maman getan hat in die letzte halbe Stunde?«
»Ich vermute sehr stark, sie hat ausgeprägt telephoniert. Das, was alle Frauen tun.«
»Diese Frau ist eine Maman, die ihre Sohn wieder hat zurück – und eine glückliche Tochter! Das ist keine Frau, die nur tut telephonieren. Alle freuen sich. Verstehst Du das nicht?«
»Zumindest kenne ich solche Gefühlsanflüge nicht. – Meinetwegen ruf sie an. Aber ich sag nix. Das sag ich Dir gleich.«
»Oh! Didier. Du kannst Bonjour sagen.«
»Ich spreche nicht französisch. Fin.«
Sie wählt. Wie sie das schafft bei dieser Dunkelheit, ist mir unerklärlich. Und nach dem funselhaften Entenlicht ruft sie auch nicht. Wahrscheinlich kommt sie jetzt im Senegal raus, bei der Urfamilie meines Leibgardisten. Nein. Es scheint doch Frankreich zu sein. Obwohl, im Senegal ist die Amtsprache ja ebenfalls Französisch. Sie spricht jedoch so, wie sie vermutlich kaum mit einer Behördenautorität, am Ende gar noch mit einem Häuptling aus einem Kral aus Senegal – meine Güte, sogar meine Gedanken kommen aus der untersten Schublade – sprechen würde. Ein solches Wahnsinnsgeschnattere scheint nur möglich, wenn man eine Schwester oder ähnliches aus der Blutsverwandtschaft dran hat. Und sehr, sehr fröhlich klingt es auch noch. Zugestandenermaßen wäre mir eine Lauthörtaste jetzt schon recht. Denn irgendwie ist das ein Palaver, das Gutes verheißt. Doch das heißt noch lange nicht, daß ich auch telephoniere. Wenn ich es durchaus gerne täte.
Es ist aber auch schlimm mit meiner schon fast krankhaft zu nennenden Abneigung gegen das Telephonieren. Wenn es irgend geht, unterlasse ich es. In meinem Beruf läßt es sich allzu häufig nur schwer vermeiden, aber es ist ja andererseits nicht so, daß ich Angst davor hätte. Ich mag es einfach nur nicht. Über die Jahre hin habe ich mir auch alle Menschen erzogen, mit denen ich beruflich zu tun habe. So ist es bei Höchststrafe, also kurz vor der Todesstrafe, verboten, Aubertin über das Mobiltelephon anzuläuten, wenn es nichts wirklich wichtiges ist. Diejenigen, mit denen ich des öfteren zusammenarbeite, haben es sich gemerkt. Und wer neu hinzukommt, der wird es sich schon merken, weil er es sich merken muß. Zu jeder Email-Unterschrift gehört der Vermerk: In dringenden Fällen. Privat – da geht bei mir so gut wie gar nichts. Sehr, sehr wenige Ausnahmen gibt es. Und nur das Allernotwendigste. Wenn man allzuweit voneinander entfernt ist. Und ich rufe auch so gut wie nie jemanden an. Doch selbst dann muß ich mich überwinden, einen Satz zu sprechen, der über die Norm hinausgeht. Wobei die Norm von mir festgelegt wird. Richtete ich mich nach der der Menschen, die hin und wieder das Bedürfnis verspüren, meine Stimme zu vernehmen, käme es höchstenfalls zu einer Verabredung. In Sekundenschnelle. Mit diesen Menschen zusammensitzen, bereitet mir das höchste Vergnügen. Ihnen in die Augen, ins Gesicht schauen. Ihnen mal die Hand auf den Arm oder in die Hand zu legen. Ihre Nähe zu spüren. Wenn sie mir genehm oder gar lieb sind. Stundenlang. Irgendwo in einem angenehmen, weil ruhigen, also unbeschallten Café oder Gasthaus sitzen und miteinander sprechen. Die Themen gehen nie aus. Mit anderen verabrede ich mich ohnehin nur aus beruflichen Gründen. Da geht es dann wie beim Telephonieren – abhaken und auflegen.
Der ausgesprochen kommunikative Aubertin existiert telephonisch also nicht. Und schon gar nicht, wenn ihn das Sprachzipperlein überkommt. Wenn ich nicht richtig frei sprechen kann, bin ich gelähmt. Und da das telephonisch nicht geht, lasse ich's sein. Dann lieber nicht. Wenn wir gegenübersitzen, dann wird das anders sein. Ich beginne mich sogar darauf zu freuen, erinnere ich mich doch immer genauer an meinen persönlichen Negerhäuptling. Und dieses wuselige kleine Wesen auf meinem Schoß hält auch zunehmend Einzug in die Abgründe meines Resthirns. Und vielleicht kriege ich ja auch die anderen noch zusammen, bis wir in Marseille angekommen sind. Diejenigen, die mich drei Tage lang verheiratet haben. Aber telephonieren. Nein. Beim besten Willen nicht.
»Didier – hier ist Dein nièce Anouk. Sie möchte Dir bonjour sagen. Sie freut sich auf Dich. Sie würde sogar wieder auf Deine Schoß gehen, auch wenn sich das für ein Dame nicht gehört. Bei Dir würde sie ein Ausnahme machen. Komm. Nehme das Telephon! Du Poule mouillée.«
»Ich kann nicht. Ich muß mich auf die Straße konzentrieren. Ich will schließlich heil ankommen, um mit meiner Nichte Anouk zu schmusen. Sag ihr das.«
Sie rattert etwas fremdländisch Klingendes ins Telephon. Und das hält sie mir dann sofort an den Kopf. So, daß ich es auf jeden Fall nicht übersehen kann. Und sie beugt sich dabei leicht nach vorne, um mir ihren stechenden Blick in stumpfem Winkel in meine Augen zu bohren. Ich bin hilflos. Wie soll man sich bei einer solchen Übermacht telephoniersüchtiger weiblicher Wesen erwehren. Ich nehme das Telephon und allen meinen Mut zusammen.
»Bonjour Anouk. Rappelez moi?«
»Oh! Oui! Bonjour Didier – ça va? C'est très bien, que te ...«
»Moment, s'il te plaît.«
Das Schicksal meint es gut mit mir. Es hat ein undefinierbares Etwas auf die Straße gelegt, über das ich nicht hinwegrattern möchte. Ein Plattfuß bei Tempo Fünfundneunzig ist auch für einen Enten-Ralley-Piloten wie mich nicht so ohne weiteres zu meistern. Also muß ich das Hindernis umkurven. Und dazu braucht man eben zwei Hände. Die Rechte hat ganz schnell das Telephon an Naziza übergeben.
»Pardon. Aber ich hab ja gesagt, daß ich mich heil nach Hause bringen muß zum Schoßrutschen.«
Naziza lacht aufreizend entzückend. Und sie lacht auch noch weiter ins Telephon hinein, während sie mit meiner Gesprächspartnerin spricht.
»Un peu timide – Didier. Voilà – nous arriver.«
So weit habe ich dann noch verstanden. Beides trifft außerdem zu – ein bißchen schüchtern und daß wir kommen. Was soll ich auch mit einem sechsjährigen Mädchen auch sprechen, das vorJahren mal auf meinem Schoß herumgerutscht ist und dem gesagt wurde, daß es gefälligst ja sagen soll auf Didiers Frage, ob es sich noch an ihn erinnere? Vor allem, was soll ich sprechen, wenn mir die Sprache fehlt. Dann kümmere ich mich doch lieber um das, was ich einigermaßen beherrsche – den 2 CV.
Naziza hat offensichtlich den Ehrgeiz, den Akku leerzutelephonieren. Vermutlich handelt es sich um eine Konferenzschaltung zwischen allen Al Arfaoui und Malakian Frankreichs. Wahrscheinlich hängen noch ein paar Armenier und Algerier in den Heimatländern mit in der Leitung. Angeschlossen die Brétagne und der Senegal. So eine Art Eurovisionssendung mit Freundesländern. Ich dachte immer, so etwas geschähe nur bei Schlagerausscheidungen. Aber offenbar ist es ebenso interessant, wenn eine Frau ihren Mann wieder eingefangen hat. Die Moderatorin der Sendung hat doch tatsächlich das Gespräch beendet.
»Fin? Ich glaub's nicht.«
»Non, mon amour! Sie rufen gleich zurück. Wir teilen die Kosten.«
Ich kriege einen leichten Lächelanfall.
»Hocken die alle zusammen? Oder wie?«
»Oui. Non. Aaron kann nicht. Noch nicht. Er muß arbeiten. Aber er kommt. Mit sein Freundin. Maman et Papa sind bereits unterwegs.«
»Wie bitte?! Warum denn das?!«
»Sie wollen Dich begrüßen. Und sie wollen uns helfen.«
»Wobei denn, um Himmels willen?«
»Bei der Déménagement.«
»Ach du liebes bißchen. Umzug. Naziza – wir sind doch noch nicht mal angekommen. Wir befinden uns in nördlichen Breiten, in der Höhe von Dole. Und ich soll mit so vielen Menschen ...«
»Didier! Das sind keine Menschen. Das ist Dein Famille! Sie freuen sich auf Dich. Verstehst Du es nicht?!«
»Nein.«
»Warum?«
»Ich kenne sowas nicht. Mir wird Himmel, Angst und Bang.«
»Sei nicht ein sot.«
»Ich bin aber ein Doofkopp. Nein. Naziza – mir wird das zuviel. Ernsthaft. Laßt mich doch erstmal ankommen. Mich ängstigt das alles. Und was ich alles machen soll die nächsten Tage. Morgen Pépin. Meine Arbeit. Undundund. Ich bin einen solchen Aufmarsch nicht gewohnt. Ich bekomme ja jetzt schon Platzangst. Und wenn's mir zu eng wird, dann laufe ich weg.«
»Das wirst Du nicht tun! Pour l‘amour de Dieu!«
»Doch. Dann flüchte ich. Ich bin aber kein Herdentier, daß in die Meute hineinflüchtet. Ich bin ein einzelgängerisches Fluchttier. Und selbst ein im Rudel lebender Wolf streift bisweilen nachts alleine durch die Wälder ...«
»Er geht nur ohne seine Gefährtin, wenn sie Junge säugt! Sonst gehen sie zusammen.«
»Ja. Das ist in Ordnung. Mit Dir streife ich ja gerne durchs Unterholz. Aber mit Dir! Und nicht mit dem ganzen Rudel. Wenn er Sehnsucht nach den anderen hat, dann heult er. Dann trifft man sich zum großen Allgemeinradau. Außerdem ich möchte ich in Ruhe mal überall rumschnüffeln. Ich werde ja offensichtlich gerade erst wieder ausgewildert. Vielleicht gibt es irgendwo tatsächlich eine Duftmarke, die Ursächliches verheißt. Vielleicht erkenne ich es ja sogar wieder.«
»Überall dans Marseille sind Deine Gerüche. Sie kommen alle, um zu schnuppern. Ja, Dich zu schnuppern.«
»Aber ich muß doch riechen. Bei diesem Getümmel rieche ich doch nix. Die Stadt ist doch so schon groß genug. Die ganzen Köter haben ja längst verkorkste Nasen. Alles kaputt vor lauter Geruchssinnesüberreizung. Und wenn nun alle armenischen und arabischen und senegalesischen Rudel zusammen ...«
Das Telephon klappert. Die Konferenzschaltung ist wieder im Gang. Ich höre eine nach wie vor aufgekratzte Moderatorin. Doch sie gleitet sachte in ihre Berufsbezeichnung – sie dämpft das Gespräch, sie gleicht aus. Zwar verstehe ich wieder nur Bruchstücke. Aber aus ihnen erkenne ich, daß meine Alpha-Wölfin meine Bedenken ernstnimmt. Sie will offenbar mit mir in die Wälder. Wenn sie auch sehr gerne mehrfach herumrudelt.
»Didier.«
»Oui.«
»Wann glaubst Du, daß wir uns sehen können? Alle zusammen? Maman et Papa kommen morgen. Sie werden zu Mirjam und Raymond gehen.«
»Morgen ist erstmal Schlaf angesagt. Am späten Nachmittag kommt Pépin. Mit ihm wollen wir essen gehen. Am Mittwoch muß ich diesen Scheiß-Beitrag schreiben, den Du mir angeschafft hast ...«
»Das ist ânerie!«
»Albernheit hin oder her – ich muß es machen. Am Freitag muß ich ins Studio.«
»Du brauchst nicht die ganze Tag.«
»Und Bett wollen wir auch kaufen. Und bitte – einen Tag Ruhe für mich!«
»Wir können es machen zusammen – avec Maman et Papa.«
»Was? Ruhen? Wie wär's noch mit Mirjam und meinem Neger und all den bunten Kindern? Alle zusammen Probeliegen. Auf daß sich auch alle wohlfühlen in unserem Bett.«
»Tonnerre de Dieu!«
»Ja. Am Freitag. Nach dem Studiotermin.«
»Enfin. Ma douceur.«
Ich erhalte eine süße kleine Belohnung aus saftigen Weinherzkirschen. Sie wendet sich wieder ihrem Familiensprachrohr zu. Ich komme zur Ruhe.
Ich bin ausgesprochen guter Dinge. Wenn das so weiterläuft, dann läuft es rund. Fast hat es mir im Augenblick zu wenig Unwucht. Andererseits war es ja schlimm genug, was mir da aus meinem Blutsverwandtenheimatverein angeliefert wurde. Ob da mein Bruder dahintersteckt?! Ach was. Ich verdränge jetzt einfach, stecke den Kopf – nicht in den Sand, sondern ins Glück, das sich abzeichnet.
»Naziza la douce. Einsteigen. Ab jetzt geht's kerzengerade in den Süden. Ich tanke gleich gegenüber. Und schon haben wir ein bißchen Freilauf. Wie ist Deine Stimmung?«
»Deine Süße fragt ihre Süße – trinken die beide Süße un verre de champagner, wenn wir sind zuhause? Es gibt viele Gründe.«
»Wir werden todmüde sein!«
»Ein Glas – zu unsere Freude. Und dann eine Schlück Naziza und ein von Didier. Und dann faire dodo.«
»Na. Was Du noch alles vorhast. Wir werden sehen.«
»Möchtest Du, daß ich fahre ein Stück?«
»Es wäre mir lieber, Du tätest es, wenn ich tatsächlich richtig müde bin. Dann täte ich mich leichter, anschließend wieder zu fahren. Bei mir reicht manchmal ein Nickerchen von einer halben Stunde, daß ich wieder fit bin.«
»Bien. Wie Du möchtest. Aber Du mußt es sagen! Ich fühle mich sehr gut.«
»Alles klar. Wenn es so weiterläuft wie bisher, sind wir auch noch in zweieinhalb Stunden in Lyon.«
»Vrai? Wieviele kilometre sind es?«
»So etwa hundertachtzig. Dann kommt das Tor zum Süden. Immer Sommer genieße ich das immer sehr. Ab Vienne macht es päng, und der Himmel sieht anders aus.«
»Ich glaube, das wird jetzt nicht so sein.«
»Du meinst, im Frühling sieht man das noch nicht so?«
»Non, mon amour. Du siehst es nicht wegen Dunkelung.«
»Ach so! Wegen Verdunkelung. Ich glaube schon, daß man es spürt. Es war noch immer so. Vor zwei Jahren war ich im April in Narbonne ...«
»Du hattest es erzählt. Ich bin jetzt noch ganz im Schmerz.«
»Weshalb denn?«
»Oh! Didier! Dein Frau sucht Dich in den Wolken von der ganze Welt. Und Du fährst an ihr vorbei. In den Frühling. Bei mir war dunkler Winter der dépression.«
»Ich war ja letztes Jahr auch und das Jahr davor in Marseille ...«
»Non! Fin! Es ist genug. Ich möchte nichts mehr davon hören. Verstehst Du das nicht?! Tonnerre de Dieu! Du bist kalt. Dein Herz ist aus Stein.«
»Aber nun sitzen wir doch zusammen und fahren gemeinsam nach Marseille.«
»Didier. Non. Vrai. Es schmerzt mich schon, daran zu denken. Ich möchte es nicht.«
»Aber wir müssen. Und Du selbst hast es gesagt. Wir müssen mir auf die Spur kommen. Das klappt nicht, wenn wir es nicht tun.«
»Du hast recht. Aber bitte nicht jetzt. Ich möchte ein wenig schwel – heißt es schwelgen?«
»Ja. Richtig.«
»Ein bißchen schwelgen im Glück. In die Illusion.«
»Weshalb denn Illusion? Es ist doch keine Täuschung.«
»Ah. Ein bißchen träumen. Wir könnten gehen in die cinéma. Zu Marius et Jeannette. Wir machen nun diese beide ein wenig concurrence. Wir haben so eine situation. Mais avec la mer! Es ist besser noch als Marius et Jeannette! Und wir können jetzt auch etwas kaufen für diese schöne Wohnung. Für unsere Wohnung. Dieu merci! Mein Glück ist doch noch gekommen!«
»Meine Süße. Wir müssen das sogar tun.«
»Was müssen wir sogar tun?«
»Kaufen. Wir müssen in die Wohnung etwas hineinstellen. Wenn das auch Büro sein wird.«
»Mais – pas complet! Ich will nicht eine einzige bureau! Nicht ein neue Office de Tourisme ! Ich will eine Wohnung mit Dir. Meine Liebe funktioniert nicht in einem bureau.«
»Ja doch.« Ich muß lachen. »Ich kann vollgestellte Wohnungen nicht ausstehen. Aber ein Zimmer richten wir als Büro ein. Dort können wir gegebenenfalls beide arbeiten. Gibt's dort eine digitale Telephonleitung?«
»Ouf! Ich weiß nicht. Das glaube ich nicht.«
»Das machst Du bitte sofort. Du fragst Roland Barthes ...«
»Paul!« Sie kommt ganz nahe an mein Ohr und wiederholt es leise singend. »Pauhohol.«
»Ist ja gut. Roland Barthes. Also, bitte. Wenn's kein Digitaltelephon gibt, dann rufst Du bitte direkt bei France Télécom an und beantragst eine Leitung. Auch für die Rue de l’Évêché.«
»Dort. Warum das?!«
»Wir brauchen es für die Tatort-Produktion.«
»Es wird notwendig sein für drei Wochen?«
»Ja. Es muß alles vorhanden sein. Ich will, daß die sich das merken – da unten in Marseille ist alles da, und es funktioniert hundertprozentig. Das ist doch wahrscheinlich eine uralte Leitung?«
»Das glaube ich wohl.«
»Siehste. Da brauchst Du ‘ne halbe Stunde, um eine Email wegzuschicken oder ins Internet reinzukommen. auch benötigen wir mehrere Anschlüsse. Außerdem kostet das unnötig Geld. Vor allem, wenn man faxen will.«
»Es ist ein so große Unterschied?«
»Gewaltig! Weißt Du das denn nicht?«
»Zuhause habe ich das nicht. Und in dem Bureau macht es mir keine Sorge.«
»Also. Mach das bitte gleich.«
»Ich will jetzt nicht über Bureau sprechen. Ich will über unsere Tempel von Philemon et Baucis sprechen. Cette putain de bureau!«
»Also gut. Ich werde München auflösen.«
»Mon Dieu! Du tust es? Magnefique. Aber diese viele Bücher! Wir müssen doch noch ein Wohnung kaufen.«
»Nein. Ich hab doch gesagt, ich nehme nur einen Teil. Ich brauche diesen ganzen Kataloge nicht. Isaac soll sie nehmen. Aber die Regale können wir gut gebrauchen.«
»Mais oui! Sie sind schön. Ich mag sie. Das Holz ist sehr schön warm. Und es ist patine daran. Patine de Didier.«
»Achtzehn Jahre Roth-Händle. À propos – gestern abend hast Du gequalmt wie'n Schlot. Jetzt kaum noch!«
»Es ist immer, wenn ich bin nerveux. Nun bin ich es nicht mehr. Dann brauche ich die Gitanes nicht so sehr.«
»Gitanes. Genau. Zwischendrin Gitanes. Die ich immer mitgebracht habe. Davon sechs Jahre doppelt.«
»Hat Isabelle auch geraucht? Roth-Händle? Wie Du?«
»Ja. Nicht soviel wie ich. Aber auch gut. Vor ein paar Jahren ist sie auf leichtere Zigaretten umgestiegen. Und dann hat sie's ganz sein lassen. Und dann ist sie leicht in die Breite gegangen. Vor allem untenrum.«
»Mon Dieu! Toute de suite rauche ich mehr.«
»Naziza! Du doch nicht. Da besteht doch überhaupt keine Gefahr.«
»Es ist mir égal. Ich will nicht das, wie Du sagst – in die Breite gehen. Ich rauche. C'est tout! Ich kann keine Didier gebrauchen, der schaut auf meine hintere Seite, wie sie geht immer weiter auseinander. Non. Ich will es selbst nicht. Nicht heute und nicht in zwanzig Jahre.«
Nun muß ich doch sehr schmunzeln. Da macht sich eine Hochverbrennungsmaschine Gedanken über Unterbrechungen des Verdauungsorgans. Doch es ist mir wahrhaftig nicht unangenehm. Ich hätte es wirklich nicht so gerne. Und ich werde mich jetzt auch selbst etwas zusammenreißen und mein Bäuchlein, na, dickes Bäuchlein, reduzieren. Gleiches Recht für alle. Ich fürchte nur, daß dies bei dieser Fresserei in diesem Land nicht ganz so einfach sein wird. Es wird sich weisen.
»Also, Liebes. Die Regale. Wir können sie überall hinstellen. Und von der Höhe müßten sie gut passen.«
»Woher weißt Du – Du erinnerst das?!«
»Ja. Mir kommt's so langsam. Ich habe zumindest den Eindruck. Irgendwie habe ich ein scheinbar klares Bild von der Wohnung. Zumindest von dem Teil, in dem ich ja wohl drinnengewesen sein muß.«
Sie hüpft ganz aufgeregt auf dem Entenstuhl auf und ab.
»Quelle miracle! Comme dans un rêve! Erzähle mir, was Du siehst in unsere Traum von eine Wohnung. Du weißt schon, daß sie ist größer als Deine à Munich. Maintenant. Nach der Hinzufügung der andere Zimmer. Und die terrace! Es ist ja wie eine kleine Hof. Justement wie in Marius et Jeannette. Oh! Ich freue mich so sehr. Doch erzähle, was Du siehst.«
»In erster Linie erinnere ich mich an ein größeres Zimmer, das zur Straße, zum Meer hinausgeht.«
»Du weißt, daß es ist am Abend fast keine Trafic. Es ist ganz ruhig.«
»Ja. Sonst würde ja wohl der letzte Bus auch nicht um – ich glaube, um sieben oder um halb acht fahren. Das stimmt doch?«
»Oui. Non. Nicht ganz. Jedoch es spielt kein Rolle.«
»Ist das nicht nervig? Ist das nicht ein Problem?«
»Warum? Man braucht es nicht. Wir brauchen es nicht. Und wenn man muß, man hat ein Auto. Oder man nimmt ein Taxi, wenn man zurückmuß. Es ist nicht so schlimm. Ich glaube vielleicht quatre-vingts Francs, au maximum cent.«
»Na ja. Wenn man kein Geld hat, sind dreißig Mark viel Geld.«
»Du sollst das nicht sagen. Es gibt kein Mark dans la France! En plus – Du bist français!«
»Also gut. Fünfzehn Euro.«
»Merde Euro.«
»Mir wären Ecu auch lieber gewesen. Doch nun werden wir uns wohl damit abfinden müssen. Ich muß ja weinen, wenn ich nur daran denke. Also gut – achtzig bis hundert Francs, das geht. Außerdem hast Du völlig recht – was sollen wir in der Stadt. Und schön ist das mit dem Verkehr am Abend. Nämlich, daß es kaum welchen gibt. Es erinnert mich an meine eheliche Wohnung in Berlin. In Spandau. Da war auch ab achtzehn Uhr Schluß. Himmlische Ruhe. Für ein junges Ehepaar.«
»Du bist ein junges Ehepaar. Und ich will diese alten histoires nicht hören. Für ein Weile. Jetzt bin ich auf die Reihe. Ich bin auch eine junge Ehepaar. Und Du als die andere Teil davon hast viel nachzuholen. Ich habe lange gewartet. Genug. Es ist unsere Wohnung. Mit uns. Didier et Naziza. Das ist Ernst! Concentration, Monsieur Aubertin! Wie sieht das aus?«
»Ouf ! Ich fürchte, ich kann mich nur an das eine Zimmer erinnern. Aber an das sicher. Es war wohl einfach zu schön. Den Ausblick habe ich ziemlich genau in Erinnerung.«
»Et la cuisine? Le bain?«
»Bad? War das nicht nur eine Dusche?«
»Correct Monsieur. Point par point. Brauchst Du eine Bad?«
»Nein. Warum? Ich habe die schönste Badewanne der Welt vor der Tür.«
»Monsieur – mener aux points!«
»Sowas nimmt auch soviel Platz weg. Es ist ja wohl auch nicht so groß?«
»Correct. Mais – ich sage es Dir. Es ist nicht so schön. Wir müssen das schön machen. Wenn wir haben ein bißchen Geld, wir sollten das tun.«
»Was meinst Du mit nicht schön?«
»Es sind solche – wie heißt das. Es sind Carreau.«
»Kacheln.«
»Bien. Es sind nicht schöne Kacheln. Ein terrible Wort. Kachcheln. Man wird krank im Hals. Sie sind dunkel und mit Blumen darauf. Das sollten wir ...«
»Unbedingt. Das ertrag ich nicht. Jetzt erinnere ich mich auch. Fürchterbar! Müssen wir sofort machen – lassen. Und zwar, bevor wir einziehen. Ernsthaft. Wenn ich mich nicht wohlfühle, dann mit sowas. Wer macht das?«
»Ouf. Es kostet. Noch haben wir keine Geld. Erst unsere lit!«
»Klar, erst das Bett. Kein Geld ist Quatsch. Warum kein Geld?«
»Er wird uns nicht sofort Geld geben, Monsieur Danziger.«
»Natürlich nicht. Aber ich bin ja auch noch da. Die drei Francs fünfzig habe ich nun wirklich.«
»Doch vieux grigou. Non. Junge schöne Geldsack. Grosse bise.«
»Danke. Zurück. – Andererseits muß er ab premier juin löhnen. – Was wird das kosten?«
»Das weiß ich nicht, Didier. Ich habe keine Ahnung davon. Vielleicht trois mille Francs? Was glaubst Du?«
»Ich weiß nicht, ob das reicht. Ruf doch mal Roland Barthes an.«
»Comment? Ich soll telephonieren. Du wandelst Dich. Was ist mit Dir geschehen?«
»Hier geht's um Fakten. Und Fakten kann man am Telephon erledigen. Ernsthaft. Meinst Du, Du kannst ihn fragen? Mir wäre das schon lieb. Die wollen doch morgen sowieso rein. Und wenn die schon Dreck machen, dann könnte man das doch in einem erledigen. Er soll jemanden aus l’Estaque fragen. Ich hätte schon gerne, daß das im Ort bleibt.«
»Aber Du weißt nicht, welche Ka – merde, welche aus diesem schrecklichen Wort. Carreau. Fin. Wir sind in France.«
»Rein weiß. Die Größe ist mir gleichgültig. Ich habe gerne die kleinen. Aber die großen sind besser zu reinigen. Was meinst Du?«
»Oui! Avec plaisir! Weiß gefällt mir gut. Auch die Wände. Doch ich habe ihm dieses schon gesagt. Er solle die Wände – peindre blanc! Toute.«
»Schön. Ja, willst Du ihn eben anrufen? Wegen des Bades.«
»Didier. Ich mache das!«
»Ja, dann mach halt!«
»Puh.«
»Was ist?«
»Ich weiß es nicht, ob die accus noch genug sind.«
»Dann nimm halt mein Telephon. Ist doch egal jetzt. Jetzt läuft ja alles gut. – Ach! Siehst Du!«
»Was ist nun?«
»Du mußt für mich auch bei France Télécom anfragen wegen eines Anschlusses für das Portable! Ich krieg das sprachlich nicht hin. Nicht vergessen! Wichtig! – Nun. Wir müssen sowieso irgendwann Pause zu machen. Dann versuche ich irgendwo mal meines ein paar Minuten nachzuladen. Irgendwer wird mich schonmal an seine Steckdose lassen. Also nimm. Du kannst ja den Ohrhörer nehmen. Du wirst sehen, es ist angenehm. Du wählst und steckst es dann wieder in die Halterung.«
Sie ruft direkt an. Es geht auch jemand dran. Es ist wohl unser Fischfilmer. Ich höre es am Tonfall, an der Sprachmelodie. So hat sie zuvor auch mit ihm gesprochen. Es klingt fast intim. Es muß ein Freund sein, mit dem sie so spricht. Ein Freund? Werde ich schon eifersüchtig? Aubertin, du Idiot! Du dämlicher.
»Didier.«
»Hier. Paul sagt, er will es gerne einleiten. Es gibt jemanden in l’Estaque, der es gut kann. Er wird vielleicht quinze cent Francs haben wollen. Nicht mehr. Eher weniger. Dazu les carreaus. Er meint ungefähr un mille Francs dafür.«
»Ja. Sofort. Gerne. Soll er machen. Aber die Kacheln weiß. Fußboden auch! So rein wie möglich. Wenn die überhaupt wissen, was das ist.«
»Paul weiß das Weiß.«
»Ja. Gut. Und ohne jedes Muster. Ohne irgendwelche Verzierungen! Quadratisch.«
Sie lacht. »Ich habe es bereits gesagt. Es wird keine problème geben.«
Ich höre dennoch – »Paul. Oubliez pas – toutes blanc. Pas de décoration! Conséquent! S'l te plaît. Nous vie est blanc. Didier est vierge.«
Jawohl. Ich Jungfrau. Wie bitte? Vielleicht hat sie recht. Ich fühle mich rein. Es kann aber auch leer heißen, unbeschrieben. Und das bin ich ja nun nicht gerade. Oder doch? Also darf ich auch Weiß tragen. Und in Weiß duschen. Mit meiner Schwarzen, der Bunten. Nein. Das geht nicht. Eine Schwarz-Bunte ist eine deutsche Kuh. Und diese meine Zauberfrau ist weder deutsch und schon gar keine Kuh. Sie ist weiß. Alabaster. Mit ein paar armenisch-afrikanischen Streifen. Die unter die Haut gehen. Vor allem unter meine. Jetzt gerade wieder, da die ihre die meine berührt. Ein wenig nur. Ein Hauch. Sofort möchte ich die Augen schließen und kein Ende haben. Doch ich darf jetzt nicht. Nicht einmal einen Sekundentraum. Ich muß traumlos chauffieren. Auf daß ich ruhig die Augen schließen darf.
»Es ist eigenartig.«
»Du unterbrichst mich mit Deiner Eigenart in meinem Traum.«
»Wovon träumst Du? Alleine. Ohne mich.«
»Von Dir. Vielleicht von einem schwarzen Tier in einer weißgefliesten Dusche.«
»Das ist es, was ich mit eigenartig meinte.«
»Wie? Ein Tier in einer Dusche. Das stimmt. Das ist tatsächlich eigenartig.«
»Du bist wieder einmal von eine leichte Unernst.«
»Gibt es denn Ernstes?«
»Das Weiß.«
»Oh ja! Es gibt Menschen, die das sehr ernstnehmen. Bestimmte Künstler vor allem. Sie sprechen immer von der Nichtfarbe Weiß.«
»Exactement. Davon spreche ich auch.«
»Jetzt verstehe ich die Welt nicht mehr.«
»Mich erstaunt, daß wir beide so sehr dieses Weiß lieben. Liegt es daran, daß unsere Leben so bunt ist?«
»Muß ich jetzt mit die Farbentheorien erörtern? Erst Weiß, dann Schwarz. Dann ein Kessel Buntes.«
»Du bist absolument impossible! Weshalb sprichst Du so mit mir, wenn ich Dir eine ernsthafte Frage stelle?«
»Ich bin froh, aus der farbentheoretischen Welt der Kunst heraus und in der bunten drinnen zu sein – und nun soll ich mit Dir darüber sprechen? Also gut. Wenn's der Wahrheitsfindung dient.«
Ich hatte eben schon lange keinen dieser schmollenden leichten Rempler mehr.
»Weshalb liebst Du dieses Weiß? Für mich ist es eine Farbe durchaus. Sie ist es, weil sie andere neutralisiert.«
»Deshalb wird sie ja wohl auch Nichtfarbe genannt.«
»Aber ich nehme es wahr – als Farbe. Weiß macht Räume groß. Par exemple. Es reflektiert das Licht. Weiß ist ein Raum. Unendlich.«
»Aber doch wohl immer nur, soweit es strahlen kann?«
»Für mein Denken strahlt es unendlich. Und ich erkenne davor alles noch einmal deutlicher.«
»Dabei fällt mir ein – eine nette Begebenheit vor vielen Jahren. Ich hatte meine fette Voiture für eine Hochzeit zur Verfügung gestellt. Eine Chauffeursmütze hatte ich mir auch aufgesetzt.«
»Du hattest also Würde?«
»Na ja. Ich weiß nicht so recht. Auf jeden Fall heiratete zur selben Zeit in diesem Standesamt ein asiatisches Paar. In Weiß. Weil sich das in unseren Breiten so gehört. Es war ja schließlich in München. In einem katholischen Land, einem schwarzen. Da trägt Braut nunmal Weiß. Und das, obwohl dort, wo sie herkamen, Schwarz das eigentliche Symbol der Freude ist.«
»Und nun. Ist das schlimm? Es ist Assimilation.«
»Sei doch nicht so ungeduldig. Der kleine Unterschied lag darin, daß ich nur zugesagt hatte, das Auto und mich zur Verfügung zu stellen für den Fall – alles in Schwarz. Weil das ja schließlich ein Trauerfall sei, so eine Hochzeit unter gestandenen Menschen. Beide waren damals so um die vierzig.
»Ich als Braut habe auch Weiß getragen! Es war kein Fall einer Trauer! Und Sie – Monsieur! –waren schon ein wenig sehr älter als vierzig.«
»Nun gut. Ein riesiges Gebinde, ein Trauerkranz auf der – Du kennst die Ausmaße –, Kühlerhaube. In Schwarz. Zwei Fleuristen habe einen halben Tag daran gearbeitet, mit irgendeinem Lack alles schwarz einzusprühen. Wir hatten denen erzählt, es sei für Filmaufnahmen. Fürs schwedische Fernsehen. Weil sie gefragt hatten, wann sie das sehen könnten. Nun, da steht also diese riesige Kiste in schwarz, na ja, die Kiste gedeckt anthrazit, wie der Chauffeur. Aber Zielrichtung schwarz. Und dann steht da dieses asiatische Brautpaar. Sie in Weiß. Die haben sich nicht mehr eingekriegt. Ich glaube, die hätten beinahe ihre Trauung vergessen. Wenn ich mich richtig erinnere, mußten sie sogar vom Standesbeamten gerufen werden.«
»Warum dieses?«
»Weil sie andauernd vor dem Auto posiert haben. Als Photomodelle. Die ganze Verwandtschaft hat fürchterlich hektisch nur noch photographiert. Von vorne, von hinten, von der Seite. Hauptsache, die beiden, vor allem sie in ihrem schlichten weißen Kostüm, standen vor diesem schwarzen Auto.«
»Mon Dieu! Das war sicherlich sehr komisch.«
»So ist es. Wir sind deshalb, glaube ich, eine halbe Stunde länger vor dem Standesamt geblieben. Bei der Hochzeit von Fremden. Und alles wegen Schwarz-Weiß. Während ich bei meiner eigenen, sehr bunten, gefehlt habe. Da siehst Du mal, welche Bedeutung Schwarz-Weiß haben kann.«
»Prémier – Du warest bei Deiner Hochzeit dabei. Secondaire – sie war auch noir et blanc. Troisièment – wir hatten auch ein fette, fast schwarze Voiture. Aber auf die Kühlerhaube saß keine schwarze Trauerkranz, sondern ein weiße Jungfrau. Es war ihr Thron, als die Carrosse auf die place de Lenche gefahren ist.«
»Eine weiße Jungfrau. Es gibt in der schwarzen Stadt Marseille eine Jungfrau? Und dann in Weiß?«
»Es gab. Zu diese Zeit ja. Ein paar Stunde später nicht mehr.«
»Ist sie von der Carrosse gefallen?«
»Non. Didier Aubertin hat ihr die Unschuld genommen.«
»Ich? Bist Du des Wahnsinns? Ich fasse doch keine Kinder an. Ich stoße sie jedenfalls nicht vor oder von Autos.«
»Die Jungfrau war ich. Als ich Didier Aubertin geheiratet habe, war auch meine Unschuld gegangen. Ein paar Stunden danach. Nachdem er mich getragen hat über die Schwelle von die Tür. Ah, was sage ich – geschleppt wie eine Sack pommes de terre. Ein Jungfrau! Aber dann es war sehr schön! Wir könnten das gerne noch einmal machen.«
»Meine Güte. Jetzt hast Du mir aber 'nen Schrecken eingejagt. Ich dachte schon, ich hätte mich als Kindermörder oder -schänder betätigt. Und jetzt – einfach nur lieb. Aber Liebes! Das wollen wir doch machen!«
»Was wollen wir machen? Du nimmst mich noch einmal meine Unschuld? Das ist gut. Wir müssen aber zuvor noch ein wenig üben. Daß es auch gut geht dann.«
»Gut geht oder gutgeht?«
»Wie? Was meinst Du?«
»Ach, das ist gerade so ein Beispiel, das mir einfällt – Getrennt- und Zusammenschreibung. Ob etwas gut geht, also angenehm vonstatten geht ...«
»Trennen?«
»Jawoll. Eins. Setzen. Und gutgeht – ob auch ja nichts Unangenehmes passiert. Wie – wenn das mal gutgeht. Wie bei uns. Doch das am Rande – Ich meine heiraten! Nochmal heiraten.«
»Es geht nicht gut!– So.«
»Ja. Ist mir ja klar. Schade. Sie werden das nicht machen auf der mairie.«
»Non. Es geht nicht gut so, weil wir keine dicke, fette schwarze voiture haben.«
»Sag mal – was ist mit Dir los.«
»Sehr viel. Es geht mir gut. Ich werde bald heiraten. Meine Mann. Das ist doch viel. Oder etwa nicht? Hat meine Mann Angst vor dem Wiederheiraten? Fürchtet er sich vor eine Jungfrau?«
»Doofnuß. Du bist vielleicht drauf. Schön. Es macht Spaß. Das muß ich wenigstens nicht über Nichtfarben mit Dir sprechen.«
»Das kommt! Doch Didier. Es interessiert mich sehr. Ich habe oft darüber gedacht. Mais – es muß nicht jetzt sein. Vielleicht sollten wir Lustiges machen. Par exemple, raten, wie oft man ein Jungfrau deflorieren kann. Wie oft man eine zarte Weiß über viele Schwellen tragen kann. In jede Zimmer einmal.«
»Uff. Was hast Du vor mit mir? Soll ich Sport treiben?«
»Nennst Du das Sport. Das mit mir?«
»Es kommt darauf an, was Du meinst?«
»Das mit Deine Frau – naturellement!«
»Ja. Aber was? Lieben oder tragen.«
»Mit Liebe tragen.«
»Oh je. Mit Liebe ertragen.«
»Du bist eine buffle. Eine buffle heirate ich nicht.«
»Zu spät. Du hast es bereits getan.«
»Oui. Nicht noch einmal. – Voilà. Wieviele Schwellen hat unsere Wohnung, unsere maison d'amour?«
»Mit oder ohne Bad?«
»Mon Dieu! Sei einmal ernst! Also – wieviele Zimmer?«
»Ich habe Dir doch gesagt, daß ich mich nur an eines erinnere.«
»An das Bad hast Du Dich auch erinnert. Was ist mit die Cuisine? Wie sieht sie aus? Wo ist sie?«
»Also das weiß ich, beim besten Willen, nicht.«
»Du kannst es auch nicht. Es war nur ein kleine. Aber maintenent – sie ist groß. Wir haben sie an die Terrace herangegeben.«
»Oh! Das ist schön. Eine große Küche? Mit großem Fenster?«
»Oui. Zu der Terrace. Hin zum Meer.«
»Tatsächlich? Wie im Kino?«
»Non – anders, schöner als bei Marius et Jeannette. Dort es gibt nur ein kleine Fenster. Wir haben aus zwei kleine ein großes gemacht. Vorne es ist noch größer. Hôtel de luxe. Es waren gerade die Arbeiter im Haus. Paul hat mich das gefragt, ob ich es will. Ich bin ganz schnell in die Pause hingefahren, wie formule une.«
»Fahren jetzt schon Busse Formel eins? Mit LKW gibt's das ja.«
»Malédiction! Mit eine petit bolide, ein Peugeot. Mit eine Kollegin. Sie war so freundlich. – Ich habe es mir angeschaut – und war sehr fröhlich über diese Idée von Paul. Wir haben gleich noch ein kleine Calanque davorgebaut ...«
»Und la Méditerranée in diese Bucht umgeleitet? Die Bucht, in der Du gezeugt worden bist?«
»Tonnerre du Dieu! Auch wir haben dort – mais, ein kleines Stück mit Erde. Für Blumen – oder besser, für Dich, für Herbes.«
»Soll das heißen, daß ich immer kochen soll? Du kannst das doch viel besser!«
»Oh! Ist das Erinnerung? Oder ist das Fainéantise?«
»Bitte was?«
»Ouf. Fauligkeit.«
»Nein. Nicht faulig. Ich stinke nicht vor Faulheit. Aber davon kann man auch stinken.«
»Alors – ich weiß, daß es Dir lieber ist als Blumen.«
»Ja. Das ist wohl richtig. Was Du alles weißt! Ja. Allenfalls mal einen Hibiskus. Oder ein, zwei Sonnenblumen. Ach – eigentlich alles, was blüht an Sträuchern und so'm Zeugs. Nur keine Zierpflanzen. Die kann ich nicht ausstehen. Die Kräuter blühen ja auch, wenn man sie lange genug stehenläßt.«
»Oui. Es ist also genügend Platz. Wir können es auch noch weitermachen. Die Nachbarn sind angenehme. Und sie haben auch solches vor die Fenster. Es wird sehr gut gehen.«
»Also gutgehen. Zusammengeschrieben.«
»Beides. Es wird gut gehen, und es wird gutgehen.«
»Donnerwetter. Würde ich doch auch so schnell lernen. – Und es ist gut Platz in der Küche?«
»Oui. Wir werden jedoch wohl eine große Tisch kaufen müssen.«
»Siehst Du. Aber ich sag doch – wir werden einiges kaufen müssen.«
»Was ist mit Deine Tisch in München.«
»Ach was. Das Ding. Quatsch. Ikea-Müll. Das lohnt den Transport nicht. Wir kaufen einen schönen großen Holztisch. Am liebsten einen älteren. Der schon Patina hat.«
»Ancien?! Du bist verrückt.«
»Nein, meine Süße. Verrückt würden wir mit Ikea oder beim Kauf eines neuen. Wir gehen zum Brocanteur.«
»Ah! Bei eine Trödler. Das ist gut. Oui. Das sollten wir tun. Es ist ein gute Idée. Es gibt viele dans Marseille.«
»Ja. Und unterm Strich wird er schöner sein als ein neuer. Wir müssen schauen.«
»Und für Cuisine das ...«
»Na. Geräte habe ich ja nun wahrlich genug. Da können wir ein Großrestaurant mit eröffnen. Ich hab doch jeden Scheiß gekauft.«
»Das ist kein Merde. Das sind wunderschöne Sachen, die Du hast! Du bist besser als dieser Ordures français. Jeder Franzose kauft immer alles, was es gibt an neuen Maschinen für die Cuisine. Es ist eine Wahn. Ich weiß nicht, woher das kommt. Aber Du hast wenigstens gute und schöne gekauft. Und nicht diese Merde française.«
»Ich nehme an, daß das Zeugs, was ich habe, sehr teuer ist in France.«
»Es ist correct. Deine Braun et cetera ist nicht zu bezahlen. Für normale Menschen. Mais – la Madame Française kauft trotzdem die größte Mist. Ich meine die, die es bezahlen könnten. Diese schöne, klare Linie will sie nicht.«
»Wenigstens in diesem Punkt sind Franzosen und Deutsche Brüder und Schwestern! Da können sie Händchen halten wie Kohl und Mitterand. Na ja – der eine hält nix mehr und der andere sein Maul.«
»Non. Ich glaube nicht, daß es ein Volk mit etwas, mit viel Geld gibt, das hat ein solch schlechten Geschmack wie die Franzosen.«
»Das erkannte bereits Tucholsky.«
»Comment? Tucholsky? Er?«
»Oui, Madame. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung ornamentloser Gegenstände, also Möbel und so weiter, meinte er – wer den Geschmack der breiten Massen in Frankreich kennt, der weiß, was das für ein Opfer, für ein Risiko, für ein Wagnis bedeutet. Er bedeutet nämlich: hier noch ein Kränzchen und da noch ein Sternchen und da ein Rändchen und hier ein Blümchen.«
»Es ist verrückt. Tucholsky! Wann hat er es geschrieben?«
»Ich glaube, so um 1925 rum. Womit wir wieder bei Glucksmann wären – die Italiener sind für die Ästhetik zuständig – er meint damit, arrrogant wie dieser Franzose nunmal ist, den Ästhetizismus, die Winckelmannsche Hohlheit – und die Franzosen fürs Denken.«
»Quelle Ironie! Du schimpfest auf Glucksmann! Merde alors! Mais. Oui. Vielleicht stimmt es doch. Vielleicht hat Glucksmann dort recht. Wenn er es auch nicht unbedingt in diesem concrete Zusammenhang gemeint hat. Aber es gibt sicher ein Association. Es ist schon schlimm, was bei uns alles gekauft wird. Und sogar bei italienische Design nehmen sie das, was noch ein paar Verzierungen hat. Wir lieben nicht das Reine.«
»Ich liebe das Reine. In weiß.«
»Ich hoffe, Du meinst damit la vierge Naziza!«
»Wie könnte ich angesichts Deiner auch nur einen Augenblick lang anderes denken als ans Jungfräuliche!«
»Nun sind wir doch bei Weiß. Bei der Reinheit.«
»Du hast mich nicht überrumpelt. Wie Du das ansonsten auch tust. Hintertrieben hast Du Dich an mich herangeschlichen und mich umgelegt. Aber das gehört ja auch zu Deinem Repertoire.«
»Bien. Ich will es erweitern. Sage mir, worin diese Angst der Franzosen vor einer klaren, reinen Form liegt. Ich habe nur Vermutungen.«
»Dann würden mich zuallererst mal Deine Vermutungen interessieren. Vielleicht kann ich meinem Angelernten ja noch etwas aus einer Perspektive des Unverbildeten hinzufügen.«
»Maudit soit – Deine eitle Sarcasmen sind manchesmal nicht auszuhalten.«
»Es tut mir leid, Naziza. Ich habe Jahrzehnte nur mit unsereins gesprochen, mit lauter eitlen Sarkasten. Und die letzten Jahre nur noch mit mir eitlem Sarkasten persönlich. Da kommt man nicht so schnell auf die Idee, es könnte auch noch andere Menschen geben, die ernsthaft etwas erörtern möchten ...«
»Tonnerre ...«
»Nein. Halt, Naziza. Laß gut sein. Das mag jetzt geklungen haben, als ob ich noch einen draufsetzen wollte. Aber es war nicht so gemeint. Es war ernst gemeint. Nein, es ist ernst. Es fällt mir nicht leicht, diesen Ton zu verlassen. Ich bitte Dich da schon um etwas Geduld mit mir. Ich bitte Dich auch durchaus, mich darauf aufmerksam zu machen. Aber bitte etwas sanfter. Denn das eher Herbe bewirkt bei mir allenfalls das Gegenteil. Dann befinde ich mich zwar in meinem Revier. Aber mit Friede, Freude, Eierkuchen geht das dann nicht weiter. – Also weiter. Woher, meinst Du, könnte die Lust der Franzosen am schlechten Geschmack kommen – zumindest das, was wir als solchen bezeichnen. Denn es ist ja auch schon wieder eine eher subjektive Wertung ...«
»Die wir versuchen, zu objektivieren! Es interessiert mich schon sehr lange Zeit. Und es gibt niemanden, der mir hat eine schlüssige Antwort darauf geben können. Niemand. In keinem Buch. In keinem Gespräch. Es ist ganz oft wie dieses wunderbare Wort im Deutschen – es kreist ein Berg und gebiert ein Mäuslein.«
»Und Du meinst, daß wir das jetzt lösen können, worum seit Urzeiten ganze gebärende Gebirge von Kunsthistorikern oder, wie sie sich ja bei uns seit unserer Okkupation der DDR so gerne nennen, Kunstwissenschaftlern – Kulturwissenschaftler, Journalisten, Publizisten und wer sonst noch alles kreist über uns, aber davon immerhin so gut lebt, daß sie sich einen mehr oder minder guten Geschmack leisten können?!«
»Das glaube ich nicht. Und Du weißt das auch. Ich ignoriere also Deine Sarcasmen. Doch es könnte sein, daß es mich ein wenig voranbringt. Denn ich weiß von Dir eben auch, daß Du keine Ideologie predigst von einem gutem Geschmack.«
»Puh! Du stufst mich aber hoch ein! Obwohl ich runter bin von der Kanzel. Ich predige nicht. Das ist wohl richtig. Aber in erster Linie nicht mehr.«
»Exactement. Deshalb möchte ich mit Dir darüber sprechen. Denn diese, mit denen ich spreche, sind alle Prêtre et Pêtresse.«
»Vermutlich eher weniger Priester und Priesterinnen, die in Sack und Asche gehen, sondern mehr aus dem Mittelbau, gewandet in feineres Tuch, von mir aus von mit dezent eingewobenem Markenzeichen. Abteilungsleiter der Kirchen des guten Geschmacks. Die sich einen – im wahrsten Sinn des gepredigten Wortes – Teufel darum scheren, woher der angelesene Argumentationsmüll kommt, den sie über die Gemeinde kippen.«
»Es mag sein. Und damit sprichst Du es an, das Problème. Du hast es in eine andere Zusammenhang angesprochen. Ich glaube, daß der Geschmack einer breite Masse aus ihre Sehnsucht kommt zu Verzierungen. Sie glauben, in eine Ciselure, in eine möglichst hohe Décoration hinaufzusteigen in eine Welt von Noblesse ...«
»Wieder Tucholsky! Er beruft sich auf seinen – französischen! – Vorgängerkollegen Daudet, der geschrieben hätte ...«
»Alphonse Daudet? Unsere Provençal?«
»Da gehe ich doch mal davon aus.«
»Mon Dieu – ich gehe wieder zur Schule. Es ist erschreckend, wie wenig ich weiß. Das ist eine herbe Niederlage. Du unterrichtest mich in einem Dichter von uns. Ich habe immer gedacht, ich wüßte ein wenig ...«
»Nun laß aber gut sein! Du lehrst mich, Girondoux, Oscar Wilde, la Motte Fouqué, den ich nur als deutschen Hugenotten-Schwülstling kenne, und andere zu lesen, die ich offenbar mit meinem rationalitätsverkleisterten Hirn in dreißig Jahren nicht gefaßt kriegte, lenkst des Romantik-Fachmanns Aubertin Blick in die hintersten Winkel einer, seiner scheinbar anderen Materie, erteilst mir Nachhilfeunterricht in Kundera, und ich erzähl Dir ein bißchen was von Euerm provençalischen Dichter Daudet und unserem spitzfindigen David, der Wortschleuder Kutte Tucholsky aus Berlin mit seiner Geliebten France. Wir sind eben ein Paar. Andere träumen von solchen Konstellationen. Aber wir sind ja auch ein Traum. Du weißt dieses, ich weiß jenes. Sogar was von Daudet. Ich. Ich, Didier le Barbare.«
»Ah! Du bist ein Dummkopf. Keine Barbare.«
»Was ist schlimmer? Vermutlich ein dummer Barbar. Also gut. Ich weiß was über Daudet. Dieses hier allerdings unter der gütigen Fittiche von Herrn Tucholsky. Und es dürfte sich bei Daudet ähnlich verhalten wie mit Tucholsky. Man kennt die netten Schnurren. Ähnlich gelagert ist's bei Christian Morgenstern. Doch der Schlenker würde jetzt wahrlich zu weit führen. Bleiben wir bei Tucho. Raddatz hat's mal geschrieben ...«
»Fritz Raddatz, der einmal in Paris ...«
»Ja, Fritz J. Raddatz, der Feuilletonist der Zeit. Daß Du diesen Namen jetzt ohne Zungenüberschlag rausgebracht hast, grenzt an ein Wunder.«
»Es ist sehr schwierig, es Dir recht zu machen. Nun hat sich meine Zunge einmal meiner Liebe zu Dir angepaßt und sich geglättet – und bereits gefällt es Dir nicht. Du hast es gerne, wenn sie durcheinanderfällt. Du möchtest lieber über mich lachen.«
»Oh, mon petit noir lapin. Bei Dir darf ich wenigstens lachen.«
»Sot!«
»Also, er hat geschrieben: Bei dem Schriftsteller hat man sich seit Jahrzehnten auf zwei Klischees festgelegt – der trällernde Bänkelsänger, der Charmchansonneur von Frau Inez Kaludrigkeit und Anna Luise. Peter Panther/Tiger also oder Wrobel. Von Hauser nahm man weniger Notiz, von Kurt Tucholsky am wenigsten. Die Abwehrmaßnahme der Pseudonyme wird hingenommen als lustiges Spiel auf einer vielfarbigen Klaviertastatur. Es sind aber Gräben, Burgwälle, hochgezogene Brücken. Wer weiß es schon – er schrieb nicht nur die munteren Entlarvungen der Seelen-Portemonnaies von Wendriner und Lottchen. Du kannst die Namen auch umwandeln in, von mir aus in, jetzt bin mal ein bißchen boshaft, vielleicht auch, weil mir nichts anderes einfällt, Marius et Jeannette ...«
»Es ist nicht sehr weit entfernt, Didier! Das glaube ich, obwohl ich diese Figuren von Tucholsky nicht kenne. Doch Marius, par exemple, ist ein Synonyme für diesen schlichten Marsaillais, der nicht sehr gut denken kann. Ich meine auch, daß Guédiguian bewußt diesen Namen gewählt hat, weil er ein Cliché ist.«
»Na gut. Da magst Du richtig liegen. Hätte er's in Marseille angesiedelt, hießen Wendriner und Lottchen vielleicht Marius und Jeannette. Na ja, nicht ganz. Unser beider Geistesgeschwister aus l'Estaque haben da schon ein bißchen anders gedacht. Wenn Herr Wendriner gesagt hat: So, mein Junge, nur stell dich mal auf eigene Füße und laß dir mal den Wind ein bißchen um die Nase wehn. Geh ein bißchen spielen. Und in einem Atemzug: Max, du machst dich schmutzig, oder Max, tu das nicht! dann meint unser Marius tatsächlich: Geh runter ans Meer. Geh Fische morden. Bring die Leichen mit. Und mach dich mal ordentlich dreckig. Da ist schon ein gewaltiger Unterschied.«
»Wir können auch diese andere Marius nehmen. Es war, meine ich, ein Bemühen von Guédiguian, diesen Namen ein wenig aus der Lächerlichkeit herauszunehmen. Diese Marius ist in Marseille so oft anzutreffen wie diese Herr Wendriner in Berlin. Er ist er, der gelesen hat in La Provence über einen Cycle de filme zu Marseille und dessen Auteur dieses Briefes sogleich ausgerufen hat: ›Ô jobastre! Pauvre mastre! Quel désastre ton César.‹ Diese Katastrophe César. Es ist zu vermuten, daß er nicht nur die Interpretation der Figure des Marseillais Marcel Pagnol gemeint, sondern in einer Erweiterung seiner Kritik sogleich das Monumente, diese Sculpture dieses anderen Marseillais César an die Corniche verdammt hat. In La Provence hat es die Überschrift ›Amis de la poésie‹. Es ist nicht deutlich, ob dieser Titel mit Ironie geschrieben ist! Und so weiter. Es ist alles très terrible. Und es ist lächerlich. Es ist diese petit-bourgeois. Er hat es gelesen und sehr laut Applause gegeben dazu. Das ist sicher der Bruder von Herrn Wendriner. Er verehrt das Simple. Und er liebt es, wenn andere das sprechen, was er gerne denken möchte.«
»Da wirst du wohl richtig liegen. Wobei ich die Pagnolsche Figur kaum kenne. Ich hab's nicht so mit diesem Bild von Frankreich, genauer: Südfrankreich. Es wird immer so schief, weil Menschen es sich nostalgisch-verzückt anschauen, die überhaupt keinen Bezug zu dieser Mentalität haben. Dann haben wir exakt die Situation, daß alles in einem Rahmen hängt und keiner hinter den Rahmen schaut oder zumindest über ihn hinaus. Dann hocken sie vor ihrem deutschen Fernsehapparat und stöhnen lustvoll: Ach, in diesem Frankreich muß es noch schön gewesen sein! Wie bei Sissi und der ganzen anderen geistigen Tieffliegerei, die auf jedes authentisch-historische Umfeld verzichtet.«
»Sie sitzen auch vor einem französische Fernsehgerät!«
»Ja. Es ist wohl so. Wie Du's eben geschildert hast. Dann kommt eben dieser Daudet dabei heraus: als Zeichner von Menschen, Daudet, das Tränentier. Wie hat eine Frau Brock-Soundso, ich glaube Sulzer, obwohl sie eigentlich hätte Sülzer heißen müssen, mal geschrieben hat: Er malt, was er sieht, malt bis in die flüchtigste, vergänglichste Schwebung hinaus. Aber sein Auge kennt auch die Träne. Tränen des Mitgefühls. Zärtlich melancholische Selbstironie. Sog sich voll an dem, was sein Wesen war. Und so weiter. Ein ziemlich wohliges Wortgeklingeling. Na, ich will’s nicht übertreiben. Sie hat ja auch ein paar durchaus erträgliche Sätze abgesondert. Ertragreich eher weniger. Fünfziger-Jahre-Töne eben. Eine früher Verweigerin der späteren Rechtschreibreform. Sie schrieb noch 1959 Hülfe statt Hilfe – Tucholsky würde bei sowas am liebsten sofort wiederauferstehen – und interpretierte in Daudet Angst vor der Masse hinein, jene Masse, die ihn später, während der Revolution von 1870 so erschüttern sollte. Alles klar? Über Tucholsky ist auch viel von diesem Brei angerührt worden. Kalendersprüche eines genialen Journalisten. Mehr Geduld beim Lesen wollten sie nicht aufbringen. Es hätte ja der deutschen Sache schaden können. In seinen Feuilletons steht mehr über Frankreich, als unsere Edelgazettenschreiber und Historiker bis heute herausgefunden haben, in differenzierendem Respekt und in einer unerschütterlichen, gewachsenen Liebe nach dem Verliebtsein. Liebe also. Völlig entsetzt hat mir mal eine französische Freundin – wie Du des Deutschen mächtig mächtig – geschrieben: Wo war dieser Mann zwölf Jahre lang in France?! Gemeint hat sie damit allerdings nicht Tucholsky und auch nicht Roth, sondern Ulrich Wickert, unser – von mir durchaus geschätzter – sogenannter Mister Tagesthemen, früher Korrespondent dans France. Er hatte ein neuerliches fürchterlich dickes Buch verfaßt, das auch noch in hoher Auflage unter die Menschen gebracht wurde. Doch unter denen, meinte die Freundin, kann der nicht gewesen sein. Der war ja nur auf irgendwelchen Veranstaltungen, die von irgendwelchen Ministerien oder anderen Käse- oder Weinverkäufern arrangiert wurden. Sie hat sich nicht ganz so undifferenziert geäußert, wie ich das jetzt eben gerade tue. – Ach, mir fällt gerade ein, greif doch mal hinter Dich, hinten auf die Bank. Ich hatte es neulich rausgesucht, weil mal wieder die Rede davon war und ich's verschicken wollte.«
»Didier. Es sieht aus aus wie früher in Deine fette Voiture, in Deine Camion. Es ist ein Transport des marchandises, von altem Papier. Mon Dieu! La Marseillaise!«
»Na und? Die fährt immer mit. Jetzt fährt sie eben wieder zurück nach Hause.«
»Doch diese stinkt! Es ist eine Leiche von 2000. La Marseillaise berichtet über La Marseillaise. Puh! Sie liegt unter anderen Toten. Der Midi ist – Mon Dieu! Mon Dieu! – aus dem Jahr 1999. Nun weiß ich, wo Du Dich hast herumgetrieben, anstatt zu Deine Frau zu gehen.«
»Ich liebe eben eher das Altpapier. Es soll ja gut warm sein darunter. Falls ich wegen Geldmangels umziehen muß in die Calanques.«
»Nun hast Du eine andere Decke ...«
»Ja, eine herrliche – oder soll ich sagen dämliche? meine Güte, bin ich dämlich! –, also wunderbare, wunderschöne federleichte Federdecke. Hast Du's endlich gefunden, meine geliebte Olivendaune?!«
»Puh! Monsieur le Troubadour. – Was soll ich denn suchen?«
»Eijeieiei! Dieses ...«
»Ah! Oui. Du meinst Dein Magenjournal. Ich habe es. Edition 14 von 1995?«
»Kann sein. Schau mal rein. Irgendwo gibt's 'ne Seite mit Buchbesprechungen. Wenn ich mich recht erinnere, heißt das Buch Und Gott schuf Paris. Ich hatte die Freundin gebeten, ein paar Zeilen über das Buch zu schreiben.«
»Sie ist eine française? Sie schreibt deutsch?«
»Ja. Sie kommt aus Lille, mit Haus in der Vendée, lebt aber schon ewig im Osten, wenn auch in Grenznähe, daß sie's nicht so weit hat, wenn sie mal wieder flüchten muß, im deutsch-romanischen. Im Rheinland. Erst in Aix-la-Chapelle, dann in Cologne. Hast Du's denn gefunden?«
»Oui. Ich lese bereits. Es beginnt intéressant, jedoch auch ein wenig confuse. ›Dieses Buch ist von einem Nicht-Franzosen für Nicht-Franzosen geschrieben.‹ Für wen soll es sonst geschrieben sein? Ein Franzose wird es nicht lesen.«
»Schon wieder Tucholsky. Ja. Logisch. Aber es ist doch wahrhaftig interessant, wie eine Französin das liest. Wenn's schon mal eine liest. Also lies endlich.«
»Ich soll es lesen? Laut? Für Dich? Du kennst es!«
»Schöne Sachen höre ich immer gerne. Ja doch, lies es mal vor. Es gehört ja zu unserem Gespräch über unsere Heimat. Und über die Dichter. Und die, die's sein möchten. Allez!«
»So soll es sein. ›Dieses Buch ist von einem Nicht-Franzosen für Nicht-Franzosen geschrieben. Es erwähnt Fakten und Phänomene, die uns Franzosen als selbstverständlich bzw. als nicht weiter erwähnenswert erscheinen. Und der Ärgernisse gibt es einige – gleich auf der ersten Seite: Die Übersetzung des französischen Satzes ›Dieu est il envie français?‹ (›Ist Gott noch Franzose?‹) klingt für mich so, als würden wir Gott zu unserem National-Eigentum zählen. Ich hätte übersetzt: ›Ist Gott noch immer französisch?‹, das heißt: Gehört Gott noch zu unserer Kultur? Die ›Garde Républiquaine‹ zum Beispiel ist eine ›Quantité négligable‹ gegenüber der ›police judicinaire‹ (P. J.), die ›Commissaire‹ Maigret berühmt gemacht hat, dagegengestellt die ›Police des polices‹, (eine Instanz, die es zur Aufgabe hat, die Polizei zu überwachen) – mal außer acht gelassen die Tatsache, daß es so viele Polizei-Arten gibt, daß man sie aus dem Kopf heraus nicht aufzählen kann. Die ›Compagné républiquaine de sécurité‹ genießt mehr Prestige in ganz Frankreich als die ›Garde Républiquaine‹.
Es ist ein Buch, das ein Deutscher geschrieben hat: in aller Gründlichkeit, hervorragend recherchiert. Und Herr Wickert ist raffiniert: Er läßt französische Zeitungen und Zeitschriften oder auch Ionescu für sich sprechen. Aber was einem Franzosen nicht entgeht, weil er die entsprechenden gedanklichen Verbindungen herstellen kann, ist dem deutschen Durchschnittsleser nicht bekannt. So bekommt er ein anderes Bild. Zum Beispiel: Wer nicht weiß, welches Ansehen die ›Levantin‹ in Frankreich hatten (und haben), als die Balladur-Familie nach Frankreich einwanderte, wird in dem von Wickert zitierten Portrait des Premierministers in der französischen Zeitung ›Canard Enchaîne‹ eine hämische Satire sehen; für Franzosen ist es arglos.
Genaugenommen ist es kein Buch, das uns vom Anfang bis zum Ende führt, sondern eine Reportage aus vielen Elementen und Gesichtspunkten, das, wie eine Collage, zu einem Bild zusammengefügt wird – aber kein Buch über Paris, wie der Titel es erwarten läßt. Um Paris geht es in diesem Buch am wenigsten. Und was an Paris göttlich sein soll, bleibt letztlich unklar.
Am Ende des Buches weiß der deutsche Leser vieles über Frankreichs Institutionen und Gesellschaft, vom Norden bis nach Monaco (das nicht französisch ist), aber er hat kein besseres Verständnis vom Nachbarn gewonnen. Bis zum 15. von 25 Kapiteln bleibt man in Paris, und der Leser nimmt die Portraits von Balladur, Gisèle Freund, César, Ionescu geduldig in Kauf, in der Erwartung, es diene der Erörterung, daß Paris tatsächlich aus göttlicher Hand stamme.
Ein ganzes Kapitel wird den Fassaden gewidmet, hinter denen sich das verbirgt, was hinter allen Fassaden der Welt steckt: Menschen mit ihren guten Seiten, ihren Schwächen und Grausamkeiten, ihren Widersprüchen und Geltungsbedürfnissen. Die Fassaden der Hauptstadt, das wird in diesem Buch nicht gesagt, sind zugleich auch Kulisse für das Leben auf der Straße: dem Theater aller Zeiten, dem Paradies von Prévert und Carné in dem berühmten Film ›Les Enfants du Paradis‹ (deutsch: ›Kinder des Olymp‹), ein Paradies mit Taschendieben, Lügnern, Intrigen, Mord und Lächerlichkeiten. Hier muß ich an Arletty denken, die Hauptdarstellerin in diesem Film, die von Azzedine Alaï zur Mutter der Pariserin erklärt wird. Hinter dem Mythos der Pariserin steckt eine moderne Frau in einem Frankreich, dessen Schul- und Verwaltungsstruktur die Gleichberechtigung beider Geschlechter und ein höheres Selbstbewußtsein der Frau begünstigt. Auch hier zeigt sich der Autor als ein sehr guter Journalist, der zu recherchieren weiß. – Ein fast poetisches Moment wird uns gegönnt mit Christo und der Verhüllung des ›Pont Neuf‹. Und man wähnt sich kurz im Garten Eden, als vom ›Jardin du Luxembourg‹ die Rede ist. Aber es ist ein verlorenes Paradies ...
Als dann im 15. Kapitel das Viertel ›La Gouette d'Or‹ mit der massiven Konzentration von Emigranten, hauptsächlich aus Afrika, beschrieben wird, erhofft man sich, mehr über die Randbezirke und das Leben der Ausländer zu erfahren. Aber, mal abgesehen davon, daß die Asiaten im Süden mit dem großen chinesischen Markt nicht erwähnt werden – es geht bei Wickert um Gesellschaftsphänomene, die man heute überall in den Großstädten vorfindet. Das Thema ›Großfamilie‹ hingegen wird viel positiver erörtert, als die Einleitung erwarten läßt – und das verdanken wir den von Ulrich Wickert verwendeten Analysen französischer Soziologen. Aber beim Kapitel ›Bizutage; Sex und Gewalt formen die Eliten‹ dreht sich der Magen eines jeden Franzosen um, wenn von einem seiner Aushängeschilder, ›les Grande Ecoles‹, nur die Kehrseite der Medaille gezeigt wird. Dadurch, daß der Autor nicht versucht, wie er schreibt, hinter das Tabu zu kommen, wirkt es eher polemisch und verstärkt den mythischen Charakter dieses Olymps.
Überhaupt läßt das letzte Drittel des Buches an der Sympathie Wickerts für Frankreich zweifeln! Zehn Jahre soll er dort gelebt haben? Seine zweite Heimat soll er dort gefunden haben? Er tut geradeso, als hätte er nie an einer französischen Hochzeit teilgenommen, als habe er nie den Alltag irgendeiner Familie geteilt, als habe er Paris und Frankreich immer nur in der Rolle des Auslandskorrespondenten erlebt, dessen Neutralität (gibt es denn eine solche?) und Objektivität darin besteht, die richtigen Leute, den richtigen Zeitungsartikel, die richtigen Schriften und Erhebungsergebnisse zu zitieren.
Meiner Ansicht nach trägt er nicht gerade zur Völkerverständigung bei, sondern nutzt die Tatsache, daß man ihn als Fernsehjournalist kennt, um ein Buch an den Mann zu bringen, das, von einem unbekannten Autor geschrieben, nur eine mürrische Reaktion hervorrufen würde – wäre es nicht so gut recherchiert. Zweifelsohne ist es eine Fundgrube wertvoller Informationen über Frankreich, hinterläßt jedoch einen bitteren Nachgeschmack von Fremdheit. So heißt es im vorletzten Kapitel: ›Hilfe, Europa wird deutsch!‹ Es ist jedoch lediglich ein Spiegel der französischen Presse nach der (Wieder-)Vereinigung Deutschlands. Heute, mit mehr Abstand, ist die französische Volksmeinung viel nuancierter.
Übrigens: Der deutsche Spruch ›Wie Gott in Frankreich‹ ist bei uns unbekannt. Da heißt es schon lange: ›Gott ist tot‹. Wenn man bedenkt, daß die heutige ›Gottheit‹ sich ›Geld‹ nennt, könnte man sich fragen, ob die Franzosen – und andere – nicht denken: ›Wie Gott in Deutschland‹?!‹ Es gefällt mir. Sie ist Journaliste? Non. Es ist nicht ein Style journaliste.«
»Du hast es erkannt. Martine Dallennes ist Künstlerin, Malerin.«
»Ah! Mon Didier et ses artistes.«
»Also, wenn wir von der Tatsache mal absehen, daß es ein Buch eines Deutschen für Deutsche ist, das aber eben ein falsches Bild schafft – sie fragen ja auch immer nur Wickert, den Ritter des Käseordens, Wickert, den sachgemäßen Weinlagermeister. Das erwarten sie alle von ihm. Ich weiß ja auch nicht, ob er was anderes kennt. Ich kenne jedenfalls auch ein gänzlich anderes Paris. Es ist das Paris, über das unsere Dreitagetouristen dann immer stöhnen: Mein Gott, ist das teuer! Die alte Geschichte: ein paar Schritte nur weg vom Trampelpfad. Wenn ich meine Nase mal richtig reinstecke in die Stadt, dann weiß ich eben, daß ich dort abgekocht werde, wo sie schon auf mich warten. Aber direkt neben dem Centre Pompidou kostet der Café oder der Pastis et cetera genauso sieben bis acht Francs wie oben in Butte-aux-Caille, wo ich auch noch ein angenehmes Gespräch haben kann. Oder im Zehnten, dem neuen Chinesenviertel. Oder eben am Alten Hafen in Marseille und Umgebung. Da kann ich für den Café problemlos sechzehn Francs hinlegen. In diesen Touristenauffangstationen. Ich muß eben da reingehen, wo keine dieser desinteressierten Kurzzeitreisenden sich niederlassen und auf die Filmstars warten. Die ohnehin da nicht reingehen. In Paris. In unserer Heimat gibt's davon ja glücklicherweise eher weniger. Und wenn ich auf der Terrasse ein Bier bestelle, dann kostet das eben mehr. Das Bier oder das Perrier dans France sowieso. Klar, bei Wickert erfahre ich nichts darüber. Ich muß schon selbst auf Entdeckungsreise gehen. Und das geht nicht, wenn ich mich nur im Rudel derer bewege, die sich genauso bewegen wie ich, nämlich gar nicht. Der ich immer nur neben Saint-Germain-de-Prés hocke, obwohl ich nur hundert Meter durch die Filmkulisse muß, um ein Stück abgefucktes Paris zu sehen – das aber lebt! Oder vor dem Louvre dümple oder vor der Comédie Française, während es direkt neben dem Palais du Royal die traumhafteste Kneipe gibt, mittendrin im alten, ersten Arrondissement von Paris: die Bar L'Entracte, genau schräg gegenüber dem Eingang vom Théatre du Palais-Royal, wo alles nur die Hälfte kostet und der Wein nicht nur deshalb besser schmeckt, sondern auch, weil dort richtige Menschen sitzen. Und ich keinen Eintritt zahlen muß dafür, daß ich mir das Publikum anschauen kann oder das Lustpiel ein paar Meter weiter vor dem Luxusedelrestaurant. Oder, wenn's denn sein muß, zwei Schritte nur in den Park hinein, dort kann ich die hübschen jungen Mütter der Mittelklasse begaffen, die ihre Kinder gelangweilt schaukeln. Oder im Marais. Da geh'n sie immer nur Juden kucken. Oder Schwule Schwule kucken. Da können sie auch in München bleiben und sonntags in die Glyptothek gehen. Die nehmen auch Pariser. Als ob's das alles anderswo, wie Martine es ja geschrieben hat, nicht auch gäbe! Aber: ach, war das aufregend! Klar. War ja teuer genug. Da muß ich ja applaudieren. Also ich, der ich immer nur dasitze und auf den Abklatsch dessen warte, was mir über alte Filme oder die immerselben Reportagen geliefert wird. Menschen, Mentalitäten, die kann ich nicht finden, wenn ich meine Nase nicht reinstecke in die Seitengassen. Wie ich ins Kopfkissen, in dem meine Französin die Nacht durchwühlt hat. Wenn ich meine Marseillaise riechen möchte, dann kann ich das nur, wenn ich selber mit meinem Trüffelzinken Witterung aufnehme ...«
»Offenbar war Deine Nase krank.«
»Au weh. Es ist mir wie Roth gegangen, der mit gesenktem Blick durchs Quartier du Panier gelatscht ist. Ja, Du hast recht. Die Nase war krank. Aber jetzt ist das Herz wieder gesund. Mein Herz riecht Naziza.«
»Es ist schön, wie Du es sagst. Ich wünsche mir, daß es bleibt.«
»Es ist auch durchaus einiges dran an dem, was Joseph Roth geschrieben hat. Auch. Wenn er auch immer wieder das Gegenteil von dem geliefert hat, was seine Forderung war. Aber in der Theorie stimmt's eben. Er hat geschrieben: Alle Reisebücher sind von einem stupiden Geist diktiert, der nicht an die Veränderlichkeit der Welt glaubt. Man spricht über ein fremdes Volk, das lebt, wie über eines, das in der Steinzeit gestorben ist. Wie viele falsche Berichte sogenannter ›guter Beobachter‹! Der ›gute Beobachter‹ ist der traurigste Berichterstatter. Alles Wandelbare begreift er mit offenem, aber starrem Auge. Er lauscht nicht in sich selbst. Aber: Der nicht so gute Beobachter Tucholsky – der nicht über zehn Jahre im Land gelebt hat! – hat wirklich in die anderen und in sich hineingelauscht. Nur eben feinsinniger, listig-unterhaltsamer als Roth. Diese Geschichtchenschreiber, die Autoren der allgemeinen Reiseführer wirbeln lediglich den abstrakten Informationsstaub ein bißchen auf. Tucholsky aber hat Martines Wunsch antizipiert gehabt und war hineingestiegen in diese von Menschen bewohnten Hinterhöfe beziehungsweise den Vorhof der Hölle. Den Deutschen gegenüber, auch nach oder gerade nach deren verlorenem Krieg, beschwört er die Verbrüderung – er hat dabei sicher auch die Schwestern in den Ganglien gehabt, hat er sie doch wahrlich nicht verachtet –, lobt dabei die Franzosen insofern, als er darauf hinweist, nie ein schlimmes Wort über die deutschen Nachbarn zu hören. Was man in der Gegenrichtung nun wahrlich nicht behaupten könne. Oder, um es mit unserem Freund etwas ziselierter zu formulieren, also mit Tucho über einen Herrn Hofmiller, der erklärte, die französische Literatur sei zweitrangig, auch sei die französische Sprache nasal getrübt. Dieser Professor, so Tucholsky, den man sich nicht ohne einen baumwollenen Regenschirm vorstellen kann, ist nicht nur nasal getrübt, und wir wollen ihn getrost seinen Lesern überblassen. Und was er von France gesehen hat, kannst Du auch heute noch in den Rahmen rahmen! In einem seiner Feuilletons über Ursache und Wirkung des französischen Nationalfeiertags, schreibt er, 1925, wenn ich es richtig in Erinneung habe, heute würden ›keine Bastillen mehr gestürmt‹. ›Und man muß schon ein bißchen künstlich nachhelfen, wenn man einer modernen revolutionären Bewegung zu Gedenktagen verhelfen will. Die Unterdrücker sitzen nicht mehr in einem einzigen Palast der Stadt, der zu stürmen wäre, Banken stehen an jeder Ecke, selten gerinnen Reaktion, Nutznießertum und die Pest der Unterdrückung zu einem Mann, zu einem Haus, zu einer Fahne. Das Leben spielt sich heute auf dem Papier ab, in Telephondrähten, an der Börse.‹«
»Mon Dieu! Er hat heute gelebt!«
»Er ist sozusagen mitten unter uns. Gerade unter uns beiden. Tucholsky war Europäer. So, wie wir ihn uns wünschen! Aber er war halt ein ätzender Zeitgenosse. Pazifist. Und Jude. Nun ja, protestantischer Kulturjude.«
»Auch er?«
»Oui, Madame. Wie das eben so ist mit den meisten Sensibelchen. Und mit Daudet war’s wohl nicht anders ...«
»Daudet war nicht Jude!«
»Nee, aber sicher sensibel. – Daudet also, der schon in Lyon heimatvertriebene Provençal und spätere Kriegsberichterstatter, der Journaliste provençale à Paris, dans Le Figaro, der da geschrieben hatte: Die französischen Könige hätten Frankreich geschaffen. Mag sein. Sie haben aber auch den Kunstgeschmack für Gebrauchsgegenstände auf Jahrhunderte verfälscht, weil diese Generation zu schwach ist, sich selbst etwas zu ersinnen. Sie leben gern in den Salons ihrer Vorfahren.«
»Merde alors! Tucholsky. Daudet.«
»Genau, der Tucholsky, der geschrieben hat, es gebe keinen Neuschnee. Wie recht er mal wieder hat. Und der mühlenbriefeschreibende Daudet, der Autor von La dernière classe oder Tartarin de Tarascon ...«
»Wir müssen diesen Tucholsky rapide nach Marseille holen ...«
»Meine Süße! Er war schon dort. Er hat bereits die Stadt beschrieben und vom Ferry Boat erzählt und daß das Hin- und Hertuckern drei Francs kostet, als es uns noch lange nicht geben sollte. Und seiner Beschreibung des Château d’If kannst Du auch heute noch mit verbundenen Augen folgen. Und dazu seine geschichts- und gesellschaftskritischen Äußerungen im inneren Hirnohr durchlaufen lassen. Ach was – alle seine Feuilletons über Frankreich kannst Du unters Kopfkissen legen, eine Nacht darüber schlafen und dann losgehen – wobei Du dann allerdings schlecht schlafen wirst ...«
»Sie sind derart erschreckend?«
»Nein, weil Du auf einem Turm liegst. Es ist meterhoch, was er über France geschrieben hat.«
»Es ist nicht zu glauben.«
»Was? Das Tucholsky so viel en France herumgeturnt ist oder das mit den den drei Francs, die seit 1925 die Jahrzehnte überdauert haben? Oder daß Tucholsky im Vieux Port mit unserem ganz persönlichen Fähr-Batöchen zwischen Quai du Port und Rive Neuve hin- und wieder zurückgeschwommen ist?«
»Daß ich sowenig weiß von diesem Mann, der alles weiß. Wußte. Und daß ich einen Mann habe, der mich so beschämt, weil er mir das alles erzählt mit Daudet. Ouf! Und dann – diese Welt der Noblesse – mir fehlen die Worte. Ich habe gedacht, es sind meine Gedanken ...«
»Nix Neuschnee.«
»Ich will zurück! Mit Herrn Tucholsky gehe ich dann später ins Bett.«
»Daß ich schlafen kann oder wie? Ich dachte ...«
»Du kannst solange zu Deine Zweitfrau gehen. Sie wird Dir etwas in Dein Ohr säuseln. Wie – wie heißt es noch einmal – weiland?«
»Jawoll. Eins plus. Schon wieder setzen! Donnerwetter!«
»Es heißt Tonnere du Dieu, Monsieur! Maintenent, wie weiland Deine Zeugin unserer Ehe, Deine persönliche Anne Brochet, Deine Roxane Dir weiland etwas hineingesäuselt hat in Dein Ohr. Enzo Enzo wird es sicher gerne tuen. Oder Du ihr gerne lauschen. Du mußt ja auch die neue CD hören. Du kannst sie auf eine dauernde Wiederholung schalten. Solange werde ich Tucholsky lesen. Wenn wir ihn haben. Denn er ist bei uns so leicht zu erhalten, ebenso wie in Deutschland Femmouzes T.«
»Wie bitte? Woher weißt Du denn das?«
»Ich wollte Sie für Dich kaufen, um Dir noch zwei Zweitfrauen zu schenken. Doch Du hast sie Dir bereits selbst geschenkt. Zu dieser einen, die mich bereits seit langer Zeit bedrängt. Ich hatte sie vergessen. So wollte ich sie hier kaufen. Es hätte etwa zwei Wochen gedauert. Bis die Bureaucratie française erledigt war, das vermute ich. Deine Geliebte Enzo Enzo ich hatte mitgenommen.«
»Dunnerlittchen. Du mußt mich ja lieben.«
»Con.«
»Was auch immer das wieder sein mag. Irgendwas Blödes wird’s schon sein.«
»Oui. Du. Mann und ...«
»Aha. Wußt‘ ich’s doch. Naziza – ich meine nicht die beiden herrlich kreischenden Weiber aus Montpellier. Ich meine Tucholsky aus Berlin! Woher weißt Du, daß ...«
»Ah! Merde. Ich habe damals – und vor ein paar Wochen erneut, da ich an Dich dachte – mich bemüht, ihn zu kaufen. Ich wollte ihn lesen. Es gab bei die FNAC kaum etwas, nur ein Buch en français. Dann habe ich geschaut im Internet. Bei Monsieur Geheimrat Goethe en Bordeaux stand auf dieser Liste auch ein Buch, vielleicht war es das, was ich bei die FNAC gesehen habe: Bonsoir, Révolution allemande! Jedoch keinen Neuschnee und keine Philosophie du Trou. Dann habe ich in meiner Verzweiflung an den deutschen Verlag geschrieben.«
»Du machst genau das, was Du mir vorwirfst.«
»Comment?«
»Jemanden zu lieben, den Du nicht kennst. In diesem Fall sogar 'ne Leiche. Ein Bild von einer Leiche.«
»Du bist ein complétement fou. Wie meinst Du es?«
»Na, Du liebst Tucholsky und kennst ihn nicht.«
»Du, mon amour, hast mir von ihm erzählt! Du trägst diese Schuld!«
»Ja und? Was war? Was hat man Dir bei Rowohlt erzählt?«
»Es hat gegeben einiges. Schloß Gripsholm als Un été en Suede, auch Un livre des Pyrenées. Es gab auch ein paar Texte in eine Croniques Allemandes. Und dieses Révolution allemande! Das meiste ist erschienen in den achtziger Jahren. 1988 noch etwas in Recits Allemands Contemporains. Jedoch es ist alles vegriffen. Zero.«
»Da siehst Du mal, wie groß das Interesse der Franzosen an dem Schriftsteller ist, der sie liebend bis über den grünen Klee gelobt hat.«
»Grüne Klee? Klee – Trèfle – ist grün. Ein Pléonasme. Was bedeutet dieses?«
»Irgendwie aus dem Mittelalter. Die Herkunft ist nicht genau geklärt. Wahrscheinlich heißt es irgendwo in der Dichtung über ›den grünen Rasen mit Kleeblumen‹, also jemanden darüber hinaus loben.«
»Porter les français aux nues.«
»Merci, Madame. Das hat Tucholsky mit den Franzosen getan. Meistens jedenfalls. Oder sage‘ ich mal, kritisch über den – porter des français aux nues. Hoffentlich behalte ich das auch, wenn’s das nächste Mal um Dich geht. Auf jeden Fall ist’s ein Trauerspiel. Nicht mal das Pyränenbuch gibt’s zu kaufen auf Französisch. Du hast es gerade gesagt. Es wirft kein gutes Licht auf meine Landsleute.«
»Didier, ich leide. Ich leide an uns, an uns Français. Ich möchte wieder zurück zu unsere Thème des Reinen. Vielleicht besser: zu dem Unreinen. Zu diesen, die ein wenig davon für sich einnehmen können. Diese, die schlechte Nachrichten lesen aus Tratsch, diesen dummen Mist der Courtisans.«
»Du meinst vor allem den Tratsch und Klatsch der Ersatzhöflinge, Film, Fernsehen und so weiter. Die Tucholsky alle aufgemischt hat.«
»Non. Ich meine schon die Noblesse.«
»Auch die haben reichlich ihr Fett abgekriegt.«
»Ich glaube es. Und es gibt sie. Er würde ihnen genauso begegnen heute. Hier wie in andere Länder. Besonders hier. Man sagt mit großem Stolz, wir haben sie alle kopflos gemacht. Mais – wir lieben sie. Wir sind alle Bourgeois! Wir brauchen – quelle horreur! – Führer. Wie heißt – Führer befehle ...«
»Führer befiel – wir folgen dir.«
»Ich meine, sie suchen diese Welt eines Scheines.«
»Die schöne Welt des Scheins. Da ist sicher was dran.«
»Sie wissen nicht – non, sie wollen es nicht wissen, daß es dieselbe sind, die sie früher kaputtgemacht haben. Heute haben sie eine andere Name. Es geht sehr schnell. Wie nach die Révolution alle sehr schnell wieder in Besitz und Adel gestrebt sind. Und unsere kleine Leute wollen dorthin, in die Bourgeoisie. Und sie glauben, daß alles, was klar ist und übersichtbar ...«
»Übersichtlich. Oder überschaubar. Du meinst jedoch vermutlich einsehbar. Transparent.«
»Es ist richtig. Sie glauben, was transparent ist, ist schlecht, ist billig.«
»Das ist wohl zu hundert Prozent richtig. Von daher dürfte auch die Sehnsucht nach dem Ornament kommen.«
»Und dieses ist ohne jeden Sinn. Es ist leer. Das Ornement hat kein Bedeutung mehr. Jedoch man liebt es.«
»Liebes – darin sind die Analysten des geldwerten Geschmacks sich aber längst einig.«
»D'accord. Weshalb lieben die Menschen trotzdem diese Ornementation?«
»Die Abschaffung des Ornaments könnte zu radikal erfolgt sein.«
»Du meinst in die Politik? Durch sie?«
»Ich glaube schon, daß die neue Werteordnung durch Bauhaus, korrekter, durch die Moderne zu ideologisch vorangetrieben wurde. Die breite Bevölkerung hat sie nicht verstanden. Es ging zu schnell. Und in der Politik hat man kein Interesse an dieser Art von Aufklärung durch Sehen.«
»Weil sie Angst hat vor Transparence?«
»Ja. Ich sehe das so. Transparenz ist tatsächliche Demokratie.«
»Merde – es sind diese Démocrates absolument, die diese schlechte Geschmack haben! Du siehst, was sie kaufen!«
»Die Politik hat weiterhin kein Interesse an Aufklärung. Deshalb gibt es auch keine wirkliche Ästhetiklehre in den Schulen, jedenfalls nicht in Deutschland. Das ist vermutlich hier genauso. Wie in anderen Ländern ähnlich. Du weißt doch, was gemeint ist, wenn von Ästhetik gesprochen wird.«
»Oui. Pitoyable. Wir haben ein Bild von der Ästhetik, das ist nur Décoration.«
»Das ist der sogenannte schöne Schein. Und er wird meiner Meinung nach auch weiterhin gelehrt. In Deutschland ist es nach wie vor die sogenannte Lehre von dem Schönen. Doch die ist eigentlich nach Baumgarten ...«
»1750. Schiller.«
»Genau. Da wandte man sich eigentlich den Inhalten zu. Ich mache jetzt einen Zeitsprung. Obwohl er wahrscheinlich nicht einmal einer ist. Denn nicht einmal die Professorenhüte sind erneuert worden.
»Pareillement à France!«
»Das ist wohl so. Schau – es geht doch in den Universitäten los. Ich kann jetzt nur von den deutschen sprechen. Wie das hier ist, weiß ich nicht. In den Universitäten werden diejenigen ausgebildet, die ihr Wissen dann später weitergeben. Manch einer endet als Kunst- und Kulturkritiker. – Genau: Kritik, Wissen und Sprache. Wie geben die ihr Wissen weiter? Hast Du Rabelais gelesen? Ich vermute doch mal sehr. So denn, dann kennst Du's, ich kann's nur in deutscher Übersetzung, deren Qualität ich nicht beurteilen kann, wiedergeben: ›Was‹, rief Pantagruel, ›ist dies für eine Teufelssprach? Du bist, so wahr mir Gott helf, ein Ketzer!‹ – ›Ei, nicht doch Senior‹, antwortet der Schüler: ›... Ich servier die dekalogischen Institut und descedier, nach Facultatul meiner Viren, um keines Unguiculs Lat davon. Zwar veriform ist, daß weil Mammon in meinen Loculn keiner Gutten supergurgitieret, ich denen Egenen die ihre Stip hostiatimisch quäritieren, Elemosyn zu supererogieren ein wenig rar und lent bin.‹– ›Ei Quark! Quark!‹ sprach Pantagruel. ›Was will der Narr? Ich glaub', er macht uns hier eine Sprach der Teufel für, und will uns mit Zauberei verhexen.‹ – Darauf sagt einer von seinen Leuten: ›Gnädigster Herr, ohn Zweifel will der Galan die parisische Sprach nachäffen; aber er radbrecht nur das Latein, und hälts für hohen pindarischen Schwung: meint Wunder was er für ein Meister in französischer Redkunst sei, wenn er die gemeine Sprechart verachtet.‹ – ›Nun‹, sprach Pantagruel, ›bei Gott! Ich werd euch reden lehren.‹ ... Du bist mit Supp und Salz nichts weiter als ein ehrlicher Limousiner und wilt allhie parisisch tun. Itzt komm, ich will dir die Kolb wohl lausen.‹ Darauf nahm er ihn bei der Gurgel und sprach: ›Radebrechst du das Latein? so will ich beim Sanct Johann dich würgen, bis du das Brechen kriegst unds wieder ausbrichst: denn ich will dir den Hals vom Rumpf brechen.‹ – Da fing der arme Limousiner zu schreien an und sprach: ›Jo Junkherr! so höre se do! helfa'n Sankt Marzel! au au, oeiz lossa goih um Gottes Genod! und komm mir net z'noh!‹«
»Mon dieu! Didier, in einer solchen Sprache habe ich das noch nie gehört. Ich vermute, es ist Gargantua et Pantagruel. Jedoch, was ist das? Deutsch? Woher hast Du das? Das ist verrückt!«
»Sozusagen Deutsch-Pariserisch. Das muß eine Irrsinnsarbeit gewesen sein, die Gottlob Regis etwa zwischen 1832 und 1841 da geleistet hat. Nun denn, genau genommen ist's die Sprach, die allhier gesprochen und geschriebet werd'. Ich hab's mal in einen Vortrag hineingearbeitet, um unseren Kauderwelsch zu verdeutlichen. Man sollt's machen wie Pantagruel – sie beim Sanct Johann würgen, diesen Limousinern ihre Sprache ins Hirn zurückstoßen, diesen Provinz-Dumpfbacken. Du weißt, ich habe lange genug damit zu tun. Kunstgeschichte! – würde Kunstgeschichte endlich mal als Geschichte der Kunst gelehrt. Oder: die Kunst und ihre Geschichte. Oder: Jede Kunst hat – auch – eine Geschichte. Ohne diesen postlutherischen Nominalismus würden die sogenannten kleinen Leute möglicherweise verstehen, was Kunst für eine Gesellschaft ausmacht. Oder sich sogar dafür interessieren. Durchaus jetzt auch mal im Sinne der Romantiker – L'art pour l'art. Also nicht, wie das Frau Lieschen Müller-Vorstandsgattin versteht – und wie's und weil's einige, ach was: viele! Professoren so lehren: L'art pour l'art als Kunst um der Kunst willen im Sinne von: Ich bin ja so romantisch! Ich liebe es ja so: Dinner at candle light. Sondern eben – Kunst ist Leben. Du hast es gesagt – und Leben ist Kunst. Ergo et vice versa. Hart. Da unterscheiden sich die bildenden Künstler, vor allem der Spätromantik, auch noch ein wenig von den Literaten und Philosophen. Ohne jede Hoffnung also – weil wir sie dann nämlich nicht mehr brauchen, diese verlogene, dämliche Hoffnung. Gut. Das hatten wir ja schon. Wir sind uns da einig. Und es gibt ja glücklicherweise auch ein paar andere, die anderes lehren. Aber zu wenige. Mir bringt dieses ständige formalistische Herumgeeire nichts, das meiner Meinung nach nichts anderes ist als die Angst des Tormanns vor der Wahrheit oder die Unfähigkeit, über Ursache und Wirkung nachzudenken. Sprache als Hülse der Leere. Sie interpretieren alle die Kunst, wie Luther die Bibel übersetzt hat – nach seiner Façon. Wie seinen Namen. Denn eigentlich hieß er ja Luder. Denn auch im sechzehnten Jahrhundert war sowas ein Lump. Vom alten, dreckigen Lappen. Sein Vorname Martin stammt vom Mars. Der Kriegsgott, der die Bauern an die Fürsten verrät. Also: Einer schreibt die (bewußten?!) Fehler des anderen ab und gibt noch ein paar hinzu, weil's unschicklich ist, zu sagen, wie's wirklich war – ›zu spekulativ‹. Wissenschaft? Der Form? Form follows function. Die Höhlenmalerei ist doch auch nicht entstanden, weil die schöne Tiere auf die Felsen malen wollten. Aber sie alle zeigen diese Bildchen so, daß die Welt sagt: Akrobat schööön! Seitenlange Bildbeschreibungen – ach, das habe ich ja alles schon gesagt. Es werden nur Formalismen gezeigt, gelehrt, geleert sozusagen, mit zwei e. Kurzum – übrig bleibt eine Elite, die weitaus dümmer ist als die breite Bevölkerung. Denn sie weiß ja auch nicht, was drinnen ist in dem Behälter, den sie für teures Geld kauft.«
»Es ist Kundera.«
»Wie? Kundera? Da ist Kundera drin?!«
»Kitsch. Merde. Verneinung von Scheiße.«
»Ja! Genau! Sie kaufen schön designte Scheiße. Schöndesignt. Zusammengeschrieben. Wie totgestaltet. Sie wissen nicht, was drinnen ist, genauer: wo's herkommt, aber sie kaufen es, weil es der Designer XY entwurfgestrichelt hat und weil es dann in der Edelboutique verkauft wird. Die von Herrn Kundera benannte Scheiße in schönen Kübeln. Später kommen dann die Kaufhäuser und der Versandhandel drauf und kupfern das ab, ein paar leichte Veränderungen noch für den Massengeschmack und um Gebrauchsmuster- und Urheberschutz nicht zu verletzen – und ab geht die Verkaufspost.«
»Wie mit den Mustern von Mondrian. Es waren keine Muster. Man hat aus wichtige Gedanken zu Farbe und ihre Komposition Muster gemacht.«
»Richtig! Naziza! Genau! Es ist zum Heulen. Da kommt so eine dumme Kuh daher und kauft sich 'nen Mondrian-Schirm. Sie hat vorher noch nie Mondrian gesehen. Eierbecher. Socken, Hemden. Blusen. Es gab drei Jahre voller Mondrians. Wenn ich diese Leute aber vor meine Muggenthaler-Zeichnung stelle, auf der lediglich ein Strichmännchen mit 'nem quadratischen Kopf zu sehen ist ...«
»Es hängt bei Dir auf die Toilette?«
»Ja.«
»Es ist zu komisch.«
»Also – versehen ist mit der Beschriftung ›Herr Mondrian geht unerkannt spazieren‹, dann verstehen sie Zero. Nein, das verstehen sie auch nicht. Denn das ist ja schon wieder Kunstgeschichte. Die Gruppe ›Zero‹ ist zeitgenössisch. Sie aber wurden über einen Feld-, Wald- und Wiesenmaler des neunzehnten Jahrhunderts promoviert. Ich meine also Null. Weil sie eben auch den Witz von Muggenthaler nicht verstehen, der sich aus seiner profunden Sachkenntnis heraus über alles mögliche lustig macht. Vor allem über den Purismus der Nichtwissenden. Und ich spreche jetzt nicht unbedingt von Menschen, die nicht Kunstgeschichte studiert haben. Die haben auch Angst zu fragen. Andere mit dem etwas wacheren Geist der Neugierde fragen wenigstens.«
»Und unsere neue kleine Bürgertum, das möchte ein bißchen la petite Noblesse sein, lebt mit den Zeichen von eine Zeit, die es nicht mehr gibt.«
»Wie Du siehst, haben wir die Fragen auch nicht erschöpfend beantworten können. Bitte, Naziza – mir reicht's erst mal. Ich muß mich übermorgen schon wieder damit beschäftigen. Ich wollte da erstmal raus. Laß uns doch mal von den wirklich schönen Dingen des Lebens sprechen.«
»Dann darfst Du mir weitererzählen von diese vielen schönen Dingen von Deine Wohnung für unsere Wohnung. – Wir werden nichts kaufen müssen?«
»Nein! Wo denkst Du hin? Überfluß! Ich habe eine Zeitlang bei Braun alles gekauft, was ich greifen konnte. Ich erhalte recht großen Rabatt dort.«
»Ça, alors?! Wie das?«
»Es gibt im Deutschen ein sogenanntes Sprichwort, das da lautet: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.«
»Das klingt nicht fein.«
»Ist es ja wohl auch nicht. Es besagt ja auch, daß dorthin, wo sich bereits viel befindet, immer noch etwas hinzukommt. – Ach, so schlimm ist es nicht. Wenn man im Medienbereich, in einem Verlag zum Beispiel, tätig ist, erhält man hier und dort Sonderkonditionen. In diesem Fall ist es eine Abteilung bei Braun, die speziell Braun-Produkte als Werbemittel vermarktet. Es ist eine angeblich begrenzte Anzahl des Angebots, das in etwa zum Einkaufspreis zu erstehen ist, was also den Gewinn des Handels ausmacht.«
»Puh! Das ist sicher viel.«
»Ja. Deshalb habe ich auch sämtliche Uhren von Braun, die es gibt.«
»Ich habe es gesehen.« Sie kichert wieder ein wenig mädchenhaft. »Ich habe gedacht, Du hast den Beruf gewechselt und bist eine Commerçant von Uhren geworden.«
»Ja. Es ist eine meiner Macken. Aber sie sind einfach auch zu schön. Doch ich habe ja auch früher schon sehr viel von Braun gekauft, vor dreißig Jahren schon. Ich habe auch mal einen Artikel über das Braun-Design geschrieben. Das hat sicherlich auch zur Bereitschaft beigetragen, mir alles etwas günstiger zu überlassen. Doch nun – es ist zu beklagen! – scheint auch dort die Geschäftsführung die Formensprache zu übernehmen. Man spürt es deutlich, daß die Amerikaner sagen – Ihr müßt mehr Umsatz machen! Aus ist's mit der Schönheit der Klarheit. Was zählt, ist Geld. Sagt Mister Moneymaker.«
»Amerikaner? Haben sie das gekauft?«
»Nein. Oder ja. Aber schon, wenn ich nicht irre, 1968.«
»Vrai?!«
»Ja. Aber sie haben die Deutschen immer in Frieden gelassen. Aber nun, habe ich den Eindruck, hat bei Gilettes die Geschäftsführung gewechselt. Und die hat bei diesen geschäftsuntüchtigen Deutschen mal ein bißchen die Daumenschrauben angezogen. Seitdem geht das Design ziemlich den Bach runter. Das meiste würde ich nicht mehr kaufen.«
»Das ist terrible. Wo sieht man es?«
»Ja, es sind Kleinigkeiten. Aber wenn man die Formensprache kennt, die Philosophie, wie das die Werbeleute nennen, dann sieht man die Veränderungen. So bekommen beispielsweise die früher klaren zylindrischen Formen immer mehr bauchige Ausbuchtungen. Die Farben werden nachgerade kitschig, dem Kunststoff angepaßt. Schlimmer als bei Massenprodukten. Wenn du einen fragst von denen, wird er antworten – jüngeres Publikum. Vielleicht hat er sogar recht damit. Aber der Klassiker Braun, die alte Ulmer Schule für Gestaltung und Dieter Rams ...«
»Es ist der Designer?«
»Ja. Wenn man so will, der Begründer des Braun-Designs. Das verschwindet so langsam von der Bildfläche. Und ich empfinde es insofern als hirnrissig, als die Hersteller anderer Geräte im Elektrobereich genau die Gegenrichtung fahren, also viel mehr hin zur klaren Linie gehen. Loewe zum Beispiel, ein deutscher Hersteller von Unterhaltungselektronik, muß da einen Markt entdeckt haben. Sie bauen wunderschöne Fernseher, Video- und DvD-Spieler.«
»Wie Deine TV? Und die Video? Und das DvD? Das ist Loewe? Sie sind traumhaft schön. Ich sehe sie bei uns in Magasins, in Boutiques mit Bestem. Es ist nur teuer. Inabordable.«
»Der DvD, mit dem man zugleich auch normale CD abspielen kann, ist Sony. Die einzigen Japaner, die ein klassisches Design haben. Im europäischen Sinn. Aber die haben sich damals, vor etwa fünfundzwanzig Jahren, vielleicht auch schon früher, ebenfalls einen Designer von hier geholt. Damit haben sie den hiesigen Markt erobert. Und sie sind im wesentlichen immer bei der klaren Linie geblieben. Wenn ich mich recht erinnere, auch einen von der Ulmer Schule. Doch – Du erinnerst mich schon wieder an etwas Wichtiges. Wir müssen kaufen.«
»Mon Dieu! Was müssen wir jetzt kaufen? Wir kaufen leer la France. Wir haben kein Geld mehr, bevor wir eines bekommen haben.«
»Es ist mir in Deutschland nicht gelungen, einen Videorecorder mit Multifunktion zu kaufen. Loewe baut sie für den französischen Markt, liefert aber in Deutschland keine aus. Das ist Europa! Ich habe mich grün und blau, sozusagen in Farbe geärgert.«
»Wozu benötigst Du es?«
»Ich wollte PAL und Secam sehen können, also französische Filme auch zuhause. Das geht bei uns nicht. In France haben fast alle Geräte PAL und Secam und noch ein paar andere Systeme drinnen, auch das amerikanische. Aber in Deutschland kriegst du zusätzlich nur Secam-Ost, also Rußland. Anne wollte mir einen schicken lassen. Sie hatte in Paris einen sehr günstigen aufgetrieben. Aber mir war das dann zu aufwendig geworden. Und da habe ich gesagt, ich kaufe ihn mir selber, wenn ich mit dem Döschwoh unterwegs bin – auf der Rückreise. Doch die gibt es nun nicht mehr.«
»Ich will es hoffen! Du kaufst es für unsere Palace. Was kostet diese Bagatelle? Vielleicht ich falle jetzt in Ohnmacht?«
»Anne hat, wenn ich mich recht erinnere, einen für dreieinhalb Mille aufgetan.«
»Mon Dieu! Trois et demi! Ich falle in dreieinhalbtausend Ohnmachte. Du bist wahnsinnig! Das haben wir doch nicht! Non Didier. Wir brauchen das nicht.«
»Doch. Ich muß Video auch auf Französisch sehen, auch hören können. Jetzt erst recht. Zwar wird es bald kein Video mehr geben, doch viele Filme wird man nur so kriegen. Mit DvD hat man ja alle Sprachen. Die produzieren ja häufig für den gesamten europäischen Markt. Und – meine Güte – das sind gerademal runde tausend Mark. Also nach neuer Zeitrechnung fünfhundert Ecu.«
»Ah! Ich habe verstanden trois et demi Mark.«
»Ich habe nur getan, wie mir befohlen – ich habe in Francs gedacht.«
»Sage enfant. Pardon – sage Mari.«
»Solange ich an Deine entzückende Brust darf, bin ich auch ein braves Kind.«
»Und nicht als Mann?!«
»Darf ich auch?«
»Ich möchte das bitten!«
»Also gut – als Mann und als Kind. Ganz nach Belieben.«
»Es ist gut. Ich nehme beide. Es ist doppelt. Es verzückt mir die Zeit mehrfach. – Und was willst Du noch alles kaufen? Können wir auch noch etwas essen kaufen und ein kleines Gläschen Wein trinken?«
»Richtig. Geschirr und Gläser müssen wir kaufen. Blödsinn. Mit feinen Gläsern kann ich auch einen Handel eröffnen. Die stehen nur oben im Schrank. Ich habe sie ewig nicht benutzt. Die will auch haben.«
»Ich habe nichts gesehen.«
»Ich habe doch gesagt – oben im Schrank. Wenngleich ich mir nur schwer vorstellen kann, daß Du die nicht entdeckt hast.«
»Didier. Du bist impertinent. Sind sie wenigstens schön? Wenn ich mir das schon muß sagen lassen.«
»Ja. Teilweise sehr schöne alte Rotweingläser. Achtzig, neunzig Jahre alt. Schöne Champagnerflöten. Was ich so alles zusammengekauft habe im Laufe der Zeit. Das meiste habe ich von Flohmärkten.«
»Du gehst dorthin?!«
»Nein. Du hast recht. Es ist nicht meine Welt. Selten, daß ich das mal gemacht habe. Aber ich hatte einen Bekannten, der auf Flohmärkten alte Bücher verkauft hat. Da der meinen Geschmack genau kannte, hat er als Fachmann immer bis zum Schluß des Marktes gewartet und dann für mich zugeschlagen. So hat er mir diese Rotweingläser, von denen ich gesprochen habe, für unglaubliche – ich weiß es nicht mehr so genau. Ich glaube alle vier für hundert Mark. Oder weniger. ich weiß es nicht mehr genau. Für ein Glas dieser Qualität mußt du neu alleine siebzig bis achtzig Mark zahlen. Wenn's reicht. Allerfeinstes Kristallglas. Da kannst Du in der Philharmonie drauf spielen. Na ja – ob Du, das weiß ich nicht ...«
»Ich spiele besser Piano als Du!«
»Da kannste recht haben.«
»Ich habe. Und Du weißt es.«
»Woher weiß ich ...«
»Merdemerdemerde. Pardon. Ich weiß es. Du kannst es nicht. Weil Deine Frau Maman ...«
»Naziza! Ich habe Dir verboten, von dieser Frau als einer Maman zu sprechen. Ich meine das ernst!«
»Excusez-moi. Ich habe es vergessen. Bon. Deine Mutter – Du hast es mir erzählt – wollte Dich zwingen, Piano zu lernen.«
»So ist es. Wie Französisch. Beides kann ich deshalb nicht. Fin.«
»Alors. Piano wirst Du nicht mehr lernen. Aber français kannst Du sehr bald. Ich kann es ganz ordentlich.«
»Das stimmt.«
»Du erinnerst Dich!? In Pérpignan?«
»Nein. Hier. Eben gerade.«
»Ah! Fou! Ich meine Piano!«
»Ach nee?«
»Merde alors!«
»Also. Gläser keine. Es gibt genug. Dafür aber noch ein Piano.«
»Nun höre auf mit Deine Narretei. – Ich freue mich sehr auf diese schönen Dinge. Sehr. Ich konnte das alles nie kaufen. Und jetzt darf ich es haben.«
»Geschirr müssen wir kaufen. Da habe ich nichts besonderes. Das zu transportieren, lohnt sich nicht.«
»Wir können auch schauen bei die Brocanteur.«
»Nee. Ich will eine klare Linie. Und die gibt's dort nicht.«
»Oh! Oui. Porcellaine blanche. Wir haben zwei oder drei Magasins à Marseille. Unten in die Centre Bourse es gibt noch Habitat«
»Die gibt in Deutschland auch. Beide, glaub‘ ich jedenfalls«
»Ah? Oui.«
»Ja. Aber nicht eben billig.«
»Ich glaube, es ist hier nicht so schlimm. Trente Francs par assiette.«
»Siehst Du. Auch schon wieder tausend bis fünfzehnhundert Francs. So geht das Geld dahin. Dafür müssen wir kein Besteck kaufen.«
»Ich habe es gesehen. Auch dieses ist sehr schön! Auch diese wunderbare klare Design. Welche Firma ist das?«
»WMF.«
»Ich kenne es nicht. Deutsch?«
»Ja. Württembergische Metallwaren-Fabrik. Ein renommierter Hersteller. Sehr alteingesessen. Es ist, glaube ich, aus dem sogenannten Jugend-Programm. Für mich also. Es ist keine absolute Spitzenware. Aber zehn bis zwanzig Jahre dürfte es leicht halten. Es war auch nicht so wahnsinnig teuer. Etwa fünfzehn Mark pro Stück.«
»Pah! Das ist auch immer noch sehr viel Geld.«
»Naziza. In Frankreich zahlt man für den allerschlimmsten Schrott ja schon dreißig Francs – für ein allerschlimmstes, billigstes Messer oder eine Gabel. Ich weiß das, weil ich immer vergesse, was einzupacken. Und dann kaufe ich diesen Mist, weil ich nicht jedesmal ein Besteckkasten kaufen will für dreitausend Francs.«
»Ist es so? Ich habe darauf nicht geachtet. – Mais, sage bitte, willst Du das alles kaufen. Etwas habe ich doch auch. Für uns ist es genug.«
»Naziza – ich mache es immer so. Solange Geld da ist, kaufe ich. Wenn nachher keines da ist, ärgere ich mich immer fürchterlich. Und ich habe nunmal dieses ganze Zeugs gekauft im Lauf der letzten Jahre, weil ich es kaufen konnte. Ich habe ja für sonst nichts und nirgend Geld ausgegeben. Mein Bücher, meine Platten – die hätte ich ohnehin gekauft. Aber alles andere – Kaufrausch. Und jetzt haben wir's. Noch ein paar schöne Teller dazu. Und dann haben wir alles – und sind froh, daß wir's haben. Wer weiß, wie's in zwei, drei Jahren aussieht? Ob wir da noch Geld haben. Außerdem müssen wir, da wir mit Sicherheit des öfteren mal Gäste dahaben werden. Und wenn Peter seine Repräsentanz will, dann soll er sie haben. Dann muß er auch bezahlen. Aber ein bißchen müssen wir auch schon bieten. Wir können also nicht alles beim Brocanteur kaufen. Bon?«
»Oui, Monsieur. Sie haben recht. Und ich freue mich. Wir werden also viel zu tun haben in die nächste Zeit. Mon Dieu! Und ich muß arbeiten.«
»Naziza. Wenn morgen der Vertrag im Fax ist ...«
»Contrat? Monsieur Danziger? Er kommt?«
»Ja. Wir haben das vereinbart. Ein Vorvertrag. Aber der ist rechtsgültig. Es stehen der Zweck, also die Leistung und die Summe drinnen. Sowie das Ding da ist, kündigst Du. Wie lange hast Du Kündigungsfrist?«
»Ich glaube es fast nicht. Es wird zu schön sein. – Wenn ich kündige zu Ende des Monats, ich bin frei zu premier juillet.«
»Und Urlaub?«
»Wie ich sagte – circa quatre semaines.«
»Du wirst also direkt morgen da anrufen und sagen, Du brauchst unbedingt Urlaub im Juni. Für Recherche und Dreharbeiten. Nein! Um Himmels willen. Das darfst Du dem natürlich nichts sagen, Ich habe sozusagen intern gesprochen. – Und erst dann, wenn der zugesagt ist, kündigst Du. Hörst Du. Nicht erst kündigen und dann Urlaub beantragen.«
»Du bist zum Fürchten. Aber Du bist sehr gut. Man spürt, daß Du immer mit Malfateures hast zu tun. Ich hätte daran nicht gedacht.«
»Na ja, gut. Es sind nicht alle Ganoven. Aber ich kenne eben beide Seiten. Und ich als Arbeitgeber würde möglicherweise auch anders handeln müssen. Wenn das aber so ein mieser Typ ist, wie Du ihn geschildert hat, dieser Patron, dann reagiert der so – wenn Du erst kündigst, kriegst Du Deinen Urlaub auf keinen Fall wie gewünscht. Dann sagt der Dir – am Ende. Nehmen kann er ihn Dir nicht. Aber er kann sagen, geht nicht. Wenn er aber zugesagt ist – Du solltest das irgendwie schriftlich haben –, dann kann er nach der Kündigung nichts mehr machen. – Meine Güte! Da sitze ich nun in der sich zusehends friedlicher gebärdenden Dunkelheit der Autoroute und spreche über Kündigungsfristen. Da lachen ja die Bresse-Hühner um mich herum, die auf der Stange sitzen und vermutlich darüber grübeln, was das für ein seltsamer Vogel ist, der da so seltsame Dinge sagt, anstatt über den Geschmack ihres Fleisches oder wenigstens über den dazu passenden Wein zu philosophieren, wie das jeder anständige Franzose mit verzücktem Gesicht tut, wenn er an ihnen vorbeifährt.«
»Didier – wollen wir ein wenig schweigen? Ich möchte ein bißchen hineinschauen in mich, etwas ruhen. Es ist so sehr viel, das über mich kommt. Vor ein paar Stunden noch war ich in ein dunkles Loch hineingefahren ...«
»Das tun wir jetzt auch gerade. Und ich soll das alleine tun?«
»Non. Ich bin ein wenig erschöpft ...«
»Und willst ohne mich träumen. Während ich so etwas nicht tun ...«
»Non! Merde alors! Du bist unmöglich.«
»Ach. Du bist so lustig, meine Süße. Da dachte ich immer, ich alleine sei derjenige, der so schnell raufzuschaukeln wäre. Und nun habe ich ein müdes Hühnchen, das schnell nochmal gackert, bevor es ein Traumei legt. Ist ja gut. Eine Frage mußt Du als meine persönliche Beraterin allerdings noch beantworten, bevor Du alleine Dich aufmachst in Helios Garage.«
Ich greife nach hinten, wo auf der Rückbank ein kleines Kissen liegt.
»Oh! Merci. Mein müdes Ohr wird Dir noch einmal geliehen, bevor ich es daranlege.«
»Noch einmal? Bis wann? Bis Marseille?«
»Non, Didier. Ein paar Minuten in mich hineingehen. – Was soll ich antworten?«
»Schwerwiegende Frage.«
»Ouf. Raconte!«
»Soll ich abkürzen?«
»Was kürzen?«
»Den Weg. Wir sind vor Bourg-en-Bresse. Die Autoroute macht jetzt eine Biegung nach Osten, Richtung Annecy. Die Route Nationale, die N 83 führt aber kerzengerade südlich nach Lyon.«
»Ist es eine so große Unterschied?«
»Nun, ich nehme an, daß es doppelt so weit ist über die Autoroute. Der Nachteil ist der, daß wir über die Dörfer müssen. Aber es sind von Bourg-en-Bresse aus nur rund sechzig Kilometer. Also eine Stunde inclusive Dörfer. Und ein bißchen Symbolik drängt sich auch aus mir ...«
»Welche?«
»Ich will nicht mehr in Richtung Osten fahren. Ich will nicht in die Berge. Die habe ich gerade verlassen. Nach bald dreißig Jahren. Ich will an meine Badewanne. Oder, von mir aus, mit Tucholsky etwas prosaischer, zu dieser beängstigenden Fülle der Häuser, die sich um ein breites Wasserbecken türmen. Und das liegt nunmal nicht in den Alpen.«
Sie lacht wieder mit ihrer aufmunternden, natürlichen Fröhlichkeit. »Mon Dieu! Dann sage dem Döschwoh, er soll fliegen. Er ist ein Ente. Für unsere Badewanne.«
»Nein. Jetzt darf er wieder nur er sein – Döschwoh. Also, ich fahre geradeaus. Und Du fährst Deinen Wagen in des Sonnengotts Garage. Irgendwo bei Lyon machen wir Pause. Am besten Lyon-Nord. Faites de beaux rêves! Madame.«
Mein Traum wird also schöne Träume haben – und ich werde an Lyon-Nord denken. Da kennen wir uns nämlich aus, die Ente und ich. Ich weiß, wo der Café-Automat ist, und die Ente, aus welcher Richtung der Dépanneur kommt.
Wir waren noch nicht lange ein Paar, wir beiden. Deshalb waren wir wohl noch nicht so mit unseren Eigenarten vertraut. Oder ich hatte zu sehr darauf vertraut, daß Enten grundsätzlich eigenartige Geräusche von sich geben. Ich hatte sie nicht ernstgenommen. Sie hatte sich dafür gerächt. Sie hatte einfach das Licht gelöscht. Nachts. Nicht das der Straßenlaternen. Sie hat das eigene Kraftwerk abgeschaltet. Mit einem ziemlich lauten Kreischen. Entenkreischen. Es klingt, als ob man ihr das noch ungelegte Ei aus dem Hinterteil raubt. Na ja. Ein bißchen hatte ich ja schon nach diesen seltsamen Lauten gelauscht auf dem Weg in den Süden. Aber es ist einigermaßen unsinnig, im tiefen französischen Süden um die Mittagszeit einen Mechaniker auf ein ungutes Geräusch aufmerksam machen zu wollen. Ein Döschwoh, meinte er da unten in seinem verschnarchten Cassis und kurz vor dem Wegnicken, mache immer irgendwelche komischen Geräusche. Man müsse das nicht ernstnehmen. So stand sie denn eine Weile unbewegt in einer Garage. Aber später sollten wir dann eben gemeinsam in Lyon-Nord stehen. Sie war ja immerhin so freundlich, sich wenigstens erst zu einem Zeitpunkt teilweise selbst zu zerstören, daß uns der Batteriestrom noch bis zur Raststätte vorantreiben konnte. Wo wir dann standen. Der Tankwart rief den Dépanneur. Und ich trank einen dieser köstlichen Sechs-Francs-Automaten-Espressi – die ja korrekterweise express genannt müssen, denn als solcher ist er ja im neunzehnten Jahrhundert von Frankreich nach Italien ausgewandert, um sich dort kultivieren zu lassen – nach dem anderen. Ende Juli. Sämtliche Wohnmobile Nord-Europas sowie ein paar bis unters Dach mit Kleidungsstücken und Kindern gepolsterte Kleinwagen befanden sich auf dem Rastplatz – in dieser Richtung quasi das Tor zum Norden. Und wir wartend mittendrin.
Als er dann kam, hatte ich das vielzitierte Schlüsselerlebnis. Stockdunkel war es auf dem Parkplatz. Doch Monsieur le dépanneur faßte hierhin, faßte dorthin – und kam innerhalb kürzester Zeit zur be- und gefürchteten Diagnose: Lichtmaschine. Das wäre nicht weiter tragisch gewesen. Denn da ich nicht so viele Cigales, diese Zikaden aus Holz, Stein oder sonstigen kunstgewerblichen Materialien, gekauft hatte wie die Resttouristen, befanden sich noch ein paar Francs in der Börse. Aber es war – wie anders? – Freitag abend. Garage? Demain? Week-end? Non, Monsieur. Lundi. Nun denn. Am Montag. Ich war ja wenigstens in der Nähe von Lyon.
Lyon ist eine ungemein attraktive, eine fast schon atemberaubend schöne Stadt. Nirgendwo dürfte sich eine Stadtentwicklung besser an der Architektur ablesen lassen wie in diesem Tor zum Süden, hinter dem tatsächlich die Zikaden ihren eintönigen, wahrlich klangvollen Lärm zu machen beginnen. Doch man gewöhnt sich rasch an die Musik des sich hier andeutenden mediterranen Klimas. Im heutigen Zentrum, im zweiten Arrondissement, etwa zwischen der architektonisch berückenden, neben Paris zweiten französischen Nationaloper und und dem typisch französisch-futuristischen Bahnhof Gare de Perrache, wird sie vor der Kopulation von Saône und Rhône zur Presqu'île geteilt. Auf der stilleren, in Lyon jedoch bereits mehr als trägen Saône kann man, sozusagen je nach Geschmack, gegen den Strom, nach einer leichten Ost-Biegung, in Richtung Norden zur Edelherberge von Paul Bocuse nach Collonges-au-Mont-d'Or schwimmen – jedoch auch bereits vorher in einem der vielen, zwar unbesternten, aber deshalb weitaus angenehmeren und nichtsdestoweniger guten Landrestaurants anhalten – oder sich auf der nach der Vereinigung hochschwangeren Rhône hinunter zu den Mittelmeerfischen treiben lassen. Das einzig wirklich Häßliche an dieser mit 1,2 Millionen Einwohnern wohl zweitgrößten Stadt Frankreichs ist die Tatsache, daß man das am Rathaus, also an der place des Terraux beginnende und am Berg klebende Weberviertel Croix-Rousse, dem ältesten, auf die Gallier beziehungsweise Römer zurückgehenden Quartier der Stadt, zum UNESCO-Weltkulturerbe ausgerufen hat. Wie die Aasgeier sind die Spekulanten – so sehe nicht nur ich das – daraufhin über die alten Häuser mit den fünf bis sechs Meter hohen Wohnungsdecken hergefallen, in denen die Jacquard-Webstühle standen, von wo aus die Seidenstoffe in alle Länder geliefert wurden. Das Zweithäßlichste dürfte die Basilika Notre-Dame de Fourvière sein, die sich, wie die Cathedrale de la Major in Marseille, byzantinisch, aber auch ein wenig mittelalterlich geriert. Schimpfe mir keiner mehr auf den Stilmischmasch der Postmoderne! Auch hätte diese auf alt gemacht alte Dame gut und gern von Las Vagasianern erbaut worden sein können! Die seriöseren, eben nicht so am triefenden Touristenpathos orientierten Reiseführer verlieren gerademal die eine Zeile, die sie der Vollständigkeit halber erwähnen müssen. Mehr nicht. Es wäre auch grotesk angesichts der tatsächlich vorhandenen Baukunst, beispielsweise der beindruckenden, unterhalb gelegenen, zwischen dem zwölften und fünfzehnten Jahrhundert erbauten Cathedrale Saint-Jean-Baptiste. Die manisch marienseligen Lyonnais, allen voran Erzbischof Ginoulhiac, haben dieses Unikum 1872 errichten lassen, als Dank dafür, von der preußischen Invasion verschont geblieben zu sein. Napoleon III. war geschlagen, und dennoch machten die preußischen Truppen bei Dijon eine für das germanische Wesen ungewohnte Dauerpause. Doch für enorm viele Busladungen an Fliegen, die ja bekanntlich nicht irren können, ist dieses unsäglich kitschige Bauwerk – im besten Wortsinn – wunder-schön. Lourdes ist ja noch weit! Sei's drum. Allein der Blick von dort oben über die Stadt lohnt den Weg hinauf zum rechten Ufer der Saône. Vielleicht nach dem phantastisch reichhaltigen Marché Quai des Célestins am linken Saône-Ufer über die Passerelle zum altehrwürdigen Palais du Justice. An dem Markt, ein paar Schritte nur von der place de Jacobins oder der place de la République, geht man besser ein kleines Stück flußabwärts, weil die Händler dort allesamt fünfzig Centimes – ja, die Franzosen bleiben bei Centimes! – weniger nehmen für das Schälchen Himbeeren oder den kleinen Schafskäse aus der nahegelegenen Ardèche als die vermutlich alteingesessenen auf der anderen Seite. Doch zu Fuß? Es fahren auch Busse hinauf. Aber besser am Abend. Denn dann kann man von dort oben aus die vielen roten Lämpchen auf dem Tonnendach der 1997 von Jean Nouvel neu gestalteten, aus dem Jahr 1756 stammenden Oper blinken sehen. Doch das sind nicht etwa die Signale der Bordsteinschwalben, die ihre Freier umschwirren. Mit diesen blinkenden Rotlichtern wird angezeigt, daß es die Töne sind, die sehr hoch fliegen, etwa bis zum zweigestrichenen c oder gar einem e, etwa wenn die mozarteische Königin der Nacht im ersten Akt ihre sirenale Zauberflöte angeworfen hat. Wenn in der deutschen (Geld-)Partnerstadt Frankfurt am Main der Taxifahrer über Funk verkündet, die Oper brenne, weil nach Ende einer Aufführung die Lichter im Foyer angehen und also das Fahrgeschäft beginnt, dann ist das ein dünnes Witzchen angesichts dieses Lyoneser Flimmermeers. Hier verkünden die Lichterflammen nämlich die laufende Vorstellung. Und es läuft einiges mehr in dieser flirrenden Stadt. Dennoch behaupten geradezu unglaublich viele Menschen, Lyon sei schrecklich häßlich. Sie sehen wohl von der Ostumgehung der Autoroute aus immer nur die typisch französischen Plattenbauten auf den westlichen Hügeln und haben vermutlich auch (unerfindliche) Ängste vor einer Ortsdurchfahrt entlang der Rhône, die einen auch oder gerade zur Hauptreisezeit allemale flotter voranbringt. Solche einmal gefällten Urteile werden dann weitergegeben und von anderen allzu gerne ungeprüft übernommen. Es ist gut so, denn in der – immerhin 43 vor Beginn unserer vorwärtsgerichteten Zeitrechnung durch den cäsarischen Statthalter Munatius Plancus als Lugdunum (vom keltischen Gott Lugus) gegründeten – nach Marseille ältesten Handelsstadt Frankreichs lebt es sich wunderbar ohne solche Transporteure des Kleingeists. Schließlich mußten das auch die deutschen Besatzer erfahren, die hier von der Résistance geradezu der Lächerlichkeit preisgegeben wurden. Wenn eine solche Verniedlichung überhaupt statthaft ist. Die Nazi hatten in den unendlich verwinkelten und verzweigten Häusern, den verbindenden Traboules, versucht, den Widerstand zu erhaschen. Wäre es nicht auch nach so langer Zeit immer noch so traurig, es gäbe viel zu lachen angesichts solcher Bilder. Durch diese Labyrinthe haben mich mehrfach ein paar kundige und fröhliche Lyonnais geführt. Die gibt es tatsächlich. Entgegen der landläufigen Meinung, die Einheimischen gingen zum Lachen in den Keller. Vermutlich stammt diese Parole von den Parisern. Und diese liebenswürdigen Menschen würde ich letztlich besuchen können, also ein vergnügliches Wochenende haben. Auch wenn mir dafür überhaupt keine Zeit bleibt.
Ob er mich denn mitsamt dem Döschwoh bitteschön nach Lyon transportieren würde, wegen Garage und so? Puh, Monsieur, quinze kilometre! Ich weiß nicht mehr, ob es an den fünfzehn Kilometern lag oder an seinem Mitleid oder an seiner Sympathie für Enten-Piloten. Er schlug vor, es am nächsten Morgen dann doch selbst zu erledigen. Er würde zu seinem Kumpel gegenüber auf den Schrottplatz gehen und eine Lichtmaschine holen. Wir machten dann noch einen nächtlichen Ausflug. Ein paar Kilometer Autoroute, dann durch ein nur mit Hilfe eines wohl eigens für Dépanneurs angefertigten Schlüssels zu öffnendes Tor im Zaun raus und über die Dörfer. Etwa dieselbe Entfernung wie nach Lyon. Vermutlich mehr. Aber er lieferte mich in einem Mercure ab. Das natürlich belegt war. Hauptreisezeit und unweit der Autobahn. Aber der freundliche Mensch der Rezeption fand im benachbarten Novotel, das ja auch zu meinem Club der Reisenden gehört, noch eine Bleibe für mich. Und am nächsten Morgen um zehn klingelte der Mann, der die ganze Nacht dépanniert hatte, mich an. Wo ich denn bliebe?! Der Döschwoh sei fahr- und er schlafbereit. Es kostete etwa die Hälfte des Preises, den ich für die Übernachtung bezahlen mußte. Und dann mußte ich schließlich doch gen Norden. Aber seither hat meine Partnerin Ente mich nie wieder im Stich gelassen. Auch nicht in nördlicher Richtung. Ich höre ihr aber auch längst genau zu, wenn sie über ihre polyphonische Kakaophonie hinaus ungewohnte Töne von sich gibt. Euphemistisch ausgedrückt, ließe sich daraus auch eine Schulung des Gehörs formulieren. Aber gänzlich anders geartete Töne gibt sie nun ja nicht mehr ab, weil's endgültig nach Hause geht. Ich könnte jetzt auch ein Nickerchen machen. Sie würde den Weg auch alleine finden. Wir benötigen keine elektronischen Bordsuchhilfsmittel. Ein 2 CV lenkt immer in Richtung Süden. Wenn man sie woanders hinstellt, rostet sie wie ein trotziges Kind. Da hilft auch kein noch so teurer, eigentlich für eine Hundertfünfzigtausend-Mark-Limousine konzipierter, nachträglich südlich durchklimatisierter Laufstall. Sie rostet solange, bis man sie wieder nach Hause läßt. Dann hört das Bockigsein schlagartig auf, und sie streift schnurrend durch um die Bäume wie eine achtzylindrige Katze.
Sie als jederzeit führende Reisesänfte durch Frankreich hatte eine Vorgängerin. Die sprang im Winter grundsätzlich nie an. Aber wenn sie dann in Richtung Südwesten durfte! Dann ging’s auf einmal. Mit der wurde das Schaukeln quer durch dieses Land zu einem wesentlichen Bestandteil meines Bewußtseins. Und sollte ich ohnehin begonnen haben, leicht sonderbare Begebenheiten nicht mehr so grundsätzlich in die Lade Zufälle abzulegen, dann war eben dieser 2 CV Charleston ein Stück Schicksal.
Sie stand spätnächtens oder auch frühmorgens auf der Türkenstraße im alten Münchner Universitätsviertel. Bestimmt zwei Stunden hatten wir Begießer eines dreißigsten Geburtstages debattiert, wie denn für die Delinquentin ein kleines Gefährt auszusehen hätte und günstig zu beschaffen wäre, mit dem sie durch die Stadt zischen konnte. Das Ergebnis lautete einstimmig: Fiat Panda. Es gab keinen Zweifel. Sowas nettes kleines Italienisches mußte her. Und das in den Räumen eines Cafés, das eindeutig französisch beatmet war. Der Besitzer hatte fünfundzwanzig Jahre zuvor bei einem Wochenendaufenthalt in Paris eine Wienerin kennengelernt. Das ist ja nun wahrlich ein Anlaß, etwas Pariserisches in ein Viertel zu setzen – das sich auch damals schon ein bißchen heftig italienisch gerierte. Die spätere Ehefrau war er bald los, aber das Café hatte er noch. Und dieses Café schloß. Es war halb zwei. Feierabend. Aber der Lust, weiterzufeiern, war noch nicht nach Abend. Die kleine Feiertruppe zog ein paar Meter weiter, wo es eine Ausnahme gab in dieser dörflichen Stadt, in der die Fensterläden früher geschlossen werden als in der anderen Provinz.
Er bog um die Ecke, der Rest der Feiergesellschaft. Und da stand sie. Diese Ente nahm schlagartig jeden Denkraum in mir ein. Denn von weitem hatte ich in allen Fenstern dieses fahrbaren Stuhls mit Rasenmähermotor die Beschilderungen wahrgenommen, aus denen bereits ungelesen deutlich war – ›zu verkaufen‹. Als meine Vermutung sich als richtig herausgestellt hatte, war sie nicht mehr zu verkaufen. Man mußte nur noch den Verkäufer finden. In den frühen Morgendstunden. Und die Freundin überzeugen, daß dies der ultimative Fiat Panda war. Bis heute weiß ich nicht, was mich so überzeugend gemacht hat. Schließlich galten meine Erinnerungen an die Studentenzeit allenfalls der Fraktion der R 4-Fahrer. Doch die Liebe hatte keine Chance. Da konnte sie noch so herzzerreißend herumweinen, sie wolle keine Ente. Es war beschlossen. Der Verkäufer ward gefunden, der Preis dramatisch heruntergehandelt. Einmal mehr zeigte sich die Widerwärtigkeit des kapitalistischen Prinzips von Angebot und Nachfrage. Und daß es immer die Falschen trifft. Der arbeitslose Schauspieler brauchte sehr, sehr dringend Geld. Und ich wollte – Proteste hin, Proteste her – die Ente kaufen. Die ansonsten niemanden interessierte. Hier hießen Kleinformate eben Fiat Panda. Es kann wieder nur der Alkohol gewesen sein, der alle Blockaden aufgehoben hatte. Was in nüchternem Zustand absolut unmöglich gewesen wäre, fand nun statt. Wie beim fließenden Sprechen aller Sprachen dieser Welt sprach ich auch die des Handelns. Mit über tausend Mark hatte ich ihm ein enormes Loch in seine Kasse gerissen. Aber er wollte dann auch die zweitausend Mark nehmen. Die Hilfeschreie der zu Beschenkenden wurden geflissentlich ignoriert. Die anwesende Bekannte aus der Versicherungsbranche formulierte auch morgends um drei und nach etwa fünfzehn Weißbieren, lediglich unterbrochen von einigen Gläschen Prosecco, noch gewandt den Kaufvertrag. Routine ist alles. Und der Geldautomat gab den Kaufpreis auch her.
Die Protestantin aus dem Norden Deutschlands ging eine glückliche Beziehung mit der Katholikin aus Frankreich ein. Nein – es wurde eine Liebe. Und ich durfte teilhaben. Im Sommer schaukelten wir in dieser Laube unsere Liebe zu uns und zu Frankreich durch Frankreich. Die gute deutsche Wertarbeit aus dem Schwäbischen hatte dann Urlaub. Sie durfte in der Garage bleiben.
Sie wollte ohnehin nicht sonderlich gerne ins Nachbarland. Jahrelang wurde sie dort naserümpfend zur Kenntnis genommen. Bis auf den Clochard, der mir auf der Brücke über den Doubs, am Pont de Battand in Besançon, wo die Afrikaner seit Jahr und Tag ihren Fabriknippes verkaufen und auch das Zahlungsmittel Kreditkarten entgegennehmen, mal verzückt vors Auto gehüpft war – ich halte also auch für Penner – und wild mit den Armen rudernd noch Luft und Zeit fand, in ständiger Wiederholung und vor Aufregung quietschend zu fragen, ob das denn tatsächlich ein Mercedes sei. Aber im allgemeinen verhieß ein Mercedes in dieser Länge und Breite das Gegenteil der Bescheidenheit des immerwährenden französischen Klassenkampfes. Es war übelste deutsche Kapitalistenprunksucht. In France ist es so: Wer etwas hat, der zeigt es nicht her. Und Schlösser und Landgüter fahren schließlich nicht auf den Straßen herum. Man versteckt sie dezent in Parks. An der Loire, an der Saône, der Rhône oder sonstwo. Und vorne ist immer alles so neuökologisch durcheinander zugewachsen, daß man die Pracht dahinter nicht sehen kann. Wie hinter den gammeligen Häuserfassaden, die in ihrem Verfall konserviert werden, auf daß der Steuereintreiber nicht auf die Idee komme, dahinter könnte sich ein restauriertes Kleinod befinden. Das sind die Rudimente einer revolutionären Gesetzgebung, die von denen nimmt, die etwas mehr haben. Nun, wer mit einem solchen Fahrzeug unterwegs ist, an dessen Integrität wird gezweifelt. An der Grenze der Zoll: Führen Sie Rauschgift oder Waffen mit? Bei Verkehrskontrollen die in der Regel sanftere Gendarmerie oder die häufig martialisch-rüde Police Nationale: Haben Sie Prostituierte im Kofferraum? Kurz vor der Hochzeit: Maman – kann man einen Mann lieben, der ein solche Carrosse sein eigen nennt? Heute sehen die Franzosen das nicht mehr ganz so eng. Sie haben mittlerweile sogar ein engmaschiges Netz geflochten: Mercedes in jeder Stadt über dreißigtausend Einwohner. Aber sie polieren ja mittlerweile auch unsere anderen Fahrzeuge. Ob Golf oder Audi oder BMW. Und zeigen ihren ausnehmend guten Geschmack durch den Kauf von Nummernschildern mit eleganter Schnörkelschrift. Seit ein paar Jahren sind wir wieder wer. Wir haben es diesen Geldsäcken aus dem Osten gezeigt.
Mit einem 2 CV hatte man Geduld. Und bisweilen ein Lächeln. Auch wenn er ein deutsches Kennzeichen trug. Es soll ja auch nette Boches geben. Es wird zwar sicher der Zweitwagen eines Spinners für den Urlaub à la Tour de France sein. Aber immerhin ein sympathischer Spinner. So ganz ohne Lebensart sind ja dann offensichtlich doch nicht alle Deutschen. Und wo die überall herumfahren! Sogar in der Bretagne. In der Normandie. Massif Central. Auvergne. Dordogne, in Cyranos Gascogne! Die nächtens erstandene Ente flog über der Franzosen Nest. Es war eine Wonne. Das Dach bis zum Anschlag geöffnet, konnte kein Cabriolet für hunderttausend Mark damit konkurrieren. Schon gar kein vollklimatisierter, einen aus der schönen französischen Welt ausschließender Lorinser-Daimler. Meistens machte sie am Atlantik länger Station – Auxerre, Orleans, Tours, Angers. Immer die unglaubliche Loire entlang. Da hat Monsieur Desbarolles wahrlich recht – die Ufer der Loire tragen ihre Fluten auf majestätische und authentische Weise zum Meer. Na ja. Authentisch ja, aber majestätisch doch eher weniger. Aber auch authentisch ist ja wohl ein sehr unpoetischer Begriff für einen solchen langen Minnesang, der seinen Lebenssaft bei Saint Nazaire in den Atlantik ergießt. Authentisch ist die Loire vielleicht, wenn man die Rennstrecke N 25 nimmt. Aber auf der linken Seite entlangrollend läßt sich die sanfte Wasserwalze immer mit den Augen besingen. Fast bis nach Nantes kann man die kleinen Straßen fahren. Ab Saumur sieht man auf ihnen dann zwar fast nur noch englische und irische Autokennzeichen auf Rover und Jaguar. Doch auf die historisch fundierte Liebe der Briten zu diesem Landstrich muß man ja nun wirklich nicht achten. Und warum sollen sie nicht auch ein bißchen was von dieser unendlichen Rebenlandschaft haben? Seit dem achtzehnten Jahrhundert haben sie schließlich keinen eigenen Wein mehr auf ihrer Insel. Und halb Frankreich gehört ihnen auch nicht mehr. Und in Nantes sieht man dann ohnehin wieder richtig viele Franzosen. Wo man hinschaut. Überall ist alles durch und durch französisch. Maritimfranzösisch. Überall kribbelt es. Das nahe Meer bemächtigt sich der Grundstimmung. Sie wird zum Gefühl. Dieses Herumsitzen. Nichts anderes möchte man mehr tun. Im Sommer. Aber schließlich tut man es dann doch. Doch bei sehr viel tiefem und ruhigem Atem. Je nachdem, wohin man möchte. Bei Bouaye bereits flirrt das Licht so seltsam. Wüßte man es nicht, es wäre eine Ahnung – la mer. Dann auf den Michelin die N 758 entlangschlurfen, und nach etwa sechzig Kilometern hat man es endlich erreicht, eines dieser vielen Denkmale französischer technophiler Gigantomanie – Brücken, die in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren gebaut wurden. Von Fromentine aus gelangt man zur Île de Noirmoutier – via Péage natürlich.
Rund zweihundert Kilometer weiter südlich habe ich mal stundenlang verzweifelt versucht, den Hafen zur Île de Ré wiederzufinden. Ich wollte dorthin. Aber wen auch immer ich in der uralten Protestantenstadt La Rochelle gefragt hatte – niemand wußte mir den Weg dorthin zu nennen. Oftmals war die Reaktion sogar ein Kopfschütteln, das besagte, ich müsse nicht ganz dicht sein. Ich war jedoch mindestens zehnmal mit der Fähre zur Insel und wieder zurück gefahren. Doch ich hatte wohl nicht bedacht, daß es lange her war. Also suchte ich mir einen an Jahren etwas fortgeschritteneren Menschen. Und vielleicht auch noch jemanden, der über ein paar Ortskenntnisse verfügen mußte. Der Taxifahrer lachte beinahe lauthals und meinte, ich sei wohl lange nicht hier gewesen. Er hatte recht. Gut zwanzig Jahre war es zu diesem Zeitpunkt her. In der Zwischenzeit hatten sie die bis dahin längste Brücke überhaupt gebaut. Knapp vier Kilometer schlängelt sie sich hinüber vom Pont Viaduc bis nach La Pallice. Damals, etwa 1970, war die Insel mal ausnahmsweise nicht von Engländern, dafür aber von Deutschen besetzt. Glücklicherweise verloren sie sich ein wenig, da sie doch recht groß ist. Doch dann, 1993, habe ich verschwindend wenige deutsche Autokennzeichen gesehen. Die in dieser Gegend besonders kriegsgeübten Franzosen hatten ihre Insel zurückerobert. Ein paar Unentwegte, denen es dort immer noch gefiel, waren übriggeblieben. Sie scheuten auch die doch nicht ganz unerhebliche Brückenbenutzungsgebühr von hundertzwanzig Francs nicht. Man benötigt schließlich auf einer Insel ein Auto. Der Bus fuhr einen von der Grosse Horloge am Alten Hafen von La Rochelle für fünfunddreißig Francs bis ans Ende der dreißig Kilometer langen Insel, nach Ars-en-Ré oder nach Saint Clément. Für rund zwanzig Francs kam man bis nach Saint Martin-de-Ré mit der imposanten, von Sébastien de Vauban Ende des siebzehnten Jahrhunderts erbauten Festung. Nicht nur Mirabeau hatte hier sozusagen eine feste Burg, sondern auch Dreyfuß durfte darin auf seine Deportation warten. Und die vielen deutschen Urlauber der sechziger bis in die siebziger Jahre hatten hier wohl Opas Vergangenheit besucht, der als Gefangener des ersten Weltkrieges in diesem Gefängnis schmachtete. Er bekam vermutlich eine andere Suppe als die schräg gegenüber im Zentrum des Hauptstädtchens angebotene. In dieser Fischsuppe des kleinen Hotel-Restaurants möchte ich am liebsten heute noch schwimmen.
Besonders gerne waren die Engländer die Insel und die dahinterliegende Stadt angeschwommen. Sie nahmen 1154 La Rochelle in Schutzhaft. Die Hafenstädter hatten diese frühmafiotischen Methoden in Kauf genommen, um den Wohlstand nicht zu gefährden. Siebzig Jahre später ruderten die Engländer wegen des Drucks des siebten Ludwigs von Frankreich wieder auf ihre Insel zurück. Um zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts wiederzukommen. Es ist spürbar. Das Protestantische – das als das Hugenottische allerdings auch in Frankreich mal ein Schwergewicht war – hat deutlich seine Spuren hinterlassen in den überall sichtbaren achthundert und mehr Jahren aller Arten von Bauwerken. Daß diese geballte Architekturgeschichte noch zu sehen ist, obwohl vor noch nicht allzu langer Zeit die Deutschen auch hier ihre Neuformierung der Welt probten, ist zwei kunstsinnigen Hauptabteilungsleitern der beiden sich gegenüberstehenden Armeen zu verdanken. Der Gründer und Besitzer des kleinen Gestapo-Museums hat es mir im Keller seines Hauses erzählt. Es ist seines, und er wollte es nicht versäumt haben zu zeigen, was auch hier am Atlantik des Größten Feldherrns aller Zeiten Geheime Staatspolizei trieb. Auch beim Erhalt der ohne diesen heutigen Massenandrang nachgerade märchenhaft schönen Stadt sollte Sprache eine wesentliche Rolle spielen. Der französische Kommandeur war nämlich ein Landsmann von mir. Als Elsässer etwas zurückliegender Generationen spricht man Deutsch. Und da die beiden nicht nur Deutsch sprachen, sondern sich auch noch über einen kulturerhaltenden Dialekt verständigten, hieß es: Kein deutscher Häuserverteidigungskampf gegen die Alliierten. Royan wird freigegeben für die Kriegssüchtigen. Royan darf erschossen werden, La Rochelle dafür am Leben bleiben. Nur der U-Boot-Bunker wird gesprengt. Ach, wenn die beiden das gewußt hätten ...
So dürfen sich also Myriaden von Touristen durch die historische Einkaufsmeile der wohl bereits im zehnten Jahrhundert gegründeten Stadt drängeln. Es ist mittlerweile so eine Art französisches Rothenburg ob der Tauber geworden. Und die rattern dann unter anderem auch in Massen hinüber zum Fort Boyard. Diese Festungsinsel, auf der die vermutlich dämlichste Serie dauergedreht wird, die das französische Fernsehen wohl je produziert hat. Und die sich selbstverständlich hervorragend ins Nachbarland verkaufen ließ und läßt. Die privaten Unterhalter führen sie seit einiger Zeit wiederholt vor. Es ist in der Charakteristik aber auch so eine Art Vorläufer von Big Brother. Womit nicht das Buch von Orwell gemeint ist. In dieser Fernsehunterhaltung in historischer Kulisse spielen Teilnehmer ein bißchen Überlebenstraining nach Punkten. So etwas ähnliches wie mittelalterliches Handwerken bei fließend Warm- und Kaltwasser sowie Kanalisation.
Viel hätte nicht gefehlt, und ich würde heute an diesem dringenden Bedürfnis vieler Menschen, sich möglichst zugleich an einem Ort einzufinden, vollends verzweifelt sein. Oder längst wieder die Flucht ergriffen haben. Unter großer Schuldenlast. Wie es offenbar mit dem Pariser der Fall war, der im beschaulichen, von Reiseführern gern als Bohéme-Quartier angepriesenen Saint Nicolas sozusagen seine ewige Ruhe finden wollte. Gegenüber der beiden Türme aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, die die Einfahrt des Alten Hafens bewachen. Dieses Hafens, in dem nicht nur ein bißchen Modder, sondern auch viel Gezeiten zu sehen sind. Alle sechs Stunden einige Atlantik-Meter. Alle sechs Stunden ein völlig neues Bild vom immerselben auf die Seite gekippten Kutter. Alle sechs Stunden Atlantikwasser, das in den Kanal hineindrückt. Dort, wo das zu Recht sagenumwobene Chansonfest Francophilie begründet wurde. Der Pariser hat das Café und das dazugehörende Haus wieder verkauft. Genau gegenüber stand und steht das Haus mit der Bäckerei. Es war offeriert worden. Es gab bereits drei Bekannte, die mit mir meine Vorstellung von einem Hort der Gemeinsamkeit in unterschiedlichen Altersgruppen verwirklichen wollten. Zu fünft oder zu sechst wollten wir es kaufen. Es hat sich zerschlagen. Der eine konnte dann doch nicht so, wie er wollte. Und der andere wollte nicht, wie er gekonnt hätte. Die anfängliche Euphorie war bald umgekippt. Vermutlich haben sie dann doch ein bißchen die Fremde gefürchtet. Aber heute bin ich heilfroh, daß es nicht dazu kam. Denn als ich nach vielen Jahren vergangenes Jahr wieder dort war in der Metropole des Charente-Maritime, überkam mich doch ein gewaltiger Schrecken über diesen Nebenzweig der Umweltverschmutzung. Der vor ein paar Jahren neu gewählte Monsieur le Maire ließ die Stadt von diesem sommerlichen Ruck- und Schlafsackgesindel säubern, dem die Stadt die Francophilie zu verdanken hat. Jetzt hat er sein La Rochelle ob der Tauber. Und zum Chansonfest reisen sie in Edelkarossen an. Diese hinzukommende Volksseuche Massentourismus dürfte sich allenfalls noch in den Ameisenburgen aus Beton solcher eigens dafür hochgezogenen Städte wie Martigues derart drastisch zeigen. Oder in dem abstoßend monokulturellen Gewusel solcher Strand-Trabanten wie Pérpigan- oder Narbonne-Plage. Doch da können sie sich wenigstens gegenseitig tottreten. Während sie in La Rochelle über Jahrhunderte Gewachsenes erledigen. Bis zur Markthalle aus der Gründerzeit besteht die Rue des Merciers nahezu ausnahmslos aus Touristenfallen in Form von Edelboutiquen. Und einmal mehr haben nur ein paar wenige etwas davon – Francs. Von mir aus Euro. Und die anderen werden immer mehr zurückgedrängt in die letzten Winkel. Aber dort kann man wenigstens noch atmen.
Lyon-Nord. Das zarte Gesicht schmurgelt noch sanft im Saft eines schönen Traumes. Ich werde die jüngste Geschichte ignorieren. Die Ente macht auch keinerlei Anstalten, hier von der Autoroute abzuweichen, um auf einem Rastplatz haltzumachen, auf dem ihr in die Eingeweide gegriffen wurden. Also weiter. Aber bloß nicht diese weiträumige Ostumgehung. Obwohl – es ist nicht Hauptreisezeit. Dennoch – man ist ja viel schneller durch, wenn man den Weg durch die Stadt, über die Péripherique sud nimmt. Um diese Uhrzeit allemale. Kerzengerade durch. Und wenn es dann wegen der Zu- und Abfahrten ein bißchen kurviger wird, ist es wohl kaum zu vermeiden, daß es den zarten Körper ein wenig zu mir hinbiegt. Ich hatte schließlich lange keinen direkten Kontakt mehr. Denn es treten erste Entzugserscheinungen auf. Ich werde dann das Stück Landstraße nach Vienne fahren und in der Stadt in ein Café gehen. Dann sind wir ganz schnell wieder auf der Autoroute. Und wir sind durch das Tor zum Süden! Es läuft viel besser, als ich gedacht habe. Bis sechs Uhr werden wir auf jeden Fall in Marseille sein.
Mein Traum ist aus seinem Traum erwacht.
»Cheri – wo sind wir? Ist das bald Lyon?«
»Schade. Ich wollte Dich mit Vienne überraschen.«
»Du wolltest eine Halt machen in Lyon-Nord!«
»Vorbei. Ich will durch das Tor zur Heimat.«
»Fou! Wir müssen ein Pause machen!«
»Machen wir. In Vienne. Dann trinken wir etwas. Und Du darfst die Machine volante übernehmen. Ich möchte auch ein bißchen von Dir träumen.«
»Ich mache das. Fahren. Du darfst von mir träumen. Sag – es geht unglaublich gut! Ich hätte es nicht gedacht mit ein 2 CV.«
»Dafür, daß wir so lange gesessen haben, ist es ordentlich. Ich bin mal in fünfzehn Stunden von Narbonne bis nach München durchgefahren. Das ist ja noch um einiges weiter als von Marseille aus.«
»Mon Dieu! Es ging?«
»Na ja. Ich hatte schon ein paarmal meine Sekundenschläfchen. Eigentlich war es unverantwortlich. Aber ich schaffe es einfach nicht, im Elsaß Station zu machen. Nicht mehr. Nach den vom Fachwerk entrückten Deutschen. Was soll’s. Ende. Doch nun werden es, meine Süße, wohl zwanzig Stunden werden. Und ein paar mehr.«
»Puh! Wir lange ist es noch?«
»Von Lyon nach Marseille – gut dreihundert Kilometer. Wahrscheinlich ein paar mehr.«
»Wir werden früh zuhause sein.«
»Es ist schön, Naziza – wie Du sagst: Zuhause.«
»Es ist das Zuhause! Unser Zuhause.«
»Ja. Richtig. Aber es hat für mich eine völlig andere Bedeutung dieses Mal. Quasi eine völlig andere Richtung.«
»Eine schöne?«
»Aber wie! Doch wir müssen erstmal eine Pause machen. Ich muß dann auch tanken. Und dann nochmal hinter Avignon, bei Cavaillon vielleicht. Und dann ist es hell. Und wir fahren über l’Estaque rein!«
»Das ist ein gute Idée!«
»Wirklich? Ich kenn uns doch. Dann wollen wir in die Wohnung.«
»Mais, Didier – es ist niemand dort. Wir können nicht hinein. Und ich glaube auch nicht, daß es ist ein gut Idée. Wir müssen schlafen. Und wenn wir dorthin fahren, gehen wir auch aus dem Auto. Und dann schlafen wir nicht.«
»Aber ich muß es sehen.«
»Wir werden sehen. D'accord?«
»Meine Güte! Meine Träumerin ist von einer geradezu brutalen Vernunft.«
»Ich habe vielleicht geträumt. Jedoch der Träumer bist Du.«
»Nun gut. Wovon hast Du geträumt? Lohnt es sich, Deinen Traum aufzunehmen und weiterzuträumen?«
»Ich glaube schon. Ich habe geflogen.«
»Ui! Mein lieber Herr Gevatter Freud.«
»Genau. Deshalb möchte ich auch nicht, daß Du es weiterträumst.«
»Und Du behauptest, mich zu lieben?! Du gönnst mir keinen Flug im Traum?!«
»Du brauchst es nicht. Ich möchte, daß Du mit mir fliegst. In einen Traum des Tages. Non. Des Wachens.«
»Des Wachseins, meinst Du?«
»Oui. Non. Was ist es, wenn man wach ist und trotzdem träumt?«
»Man spricht vom Tagtraum. Aber Du meinst doch aller Wahrscheinlichkeit nach ein bißchen was anderes.«
»Certain – alles erleben.«
»Also gut – sprechen wir vom traumhaften Erleben. – Und was ist mit meinem Schlaf – den Du mir verordnet hast?!«
»Den darfst Du haben, wenn ich führe die Ente. Deshalb sollst Du nicht träumen. Ein Traum nimmt etwas von Schlaf.«
»Du bist vielleicht uneigennützig.«
»Es ist gut für Dich. Du hast dann mehr Naziza.«
»Du meinst – ich habe mehr Kraft für Naziza.«
»Ist es nicht gut? Es stärkt Dich nicht auch?«
»Du bist eine Matz!«
»Was ist das? Bestimmt etwas Böses.«
»Eigentlich ist es ja etwas Liebes. Es heißt soviel wie niedlich. Aber die Bayern verstärken es etwas. Es ist durchaus auch lieb gemeint. Aber es schwingt auch etwas von Durchtriebenheit mit, wenn auch kindlicher Art.«
»Es ist mir égal, wenn ich bin durchtrieben. Es ist wichtig, daß es ist gut für uns beide.«
»Doppelmatz.«
Ab in Richtung Lyon-Centre. Da getrauen sie sich nahezu alle nie hinein, die Auswärtigen aus Deutschland. Wenn sie nach Spanien fahren. Weshalb sie auch jedesmal in einem Stau von etwa dreißig Kilometer stecken. Es ist mir einmal passiert. Und dann nie wieder. Seitdem fahre ich, egal um welche Jahres- oder Tageszeit lieber hinein. Außerdem schaue ich mir lieber ein paar alte Häuser mit jungen Anwohnerinnen an, als englische oder schwedische LKW-Aufschriften zu lesen. Der Verkehr geht selbst während der Woche flüssiger durch Lyon. Dann die Stadtautobahn. Wer langsamer als achtzig fährt, gilt als Verkehrshindernis. Während er auf der Ostumgehung mit Tempo zehn schon sehr schnell vorankommt. Und dann immer an der Rhône entlang. Es ist kaum was los. Es geht mehr als hurtig. Kurz denke ich darüber nach, doch in Lyon anzuhalten. Doch ich verwerfe den Gedanken sofort wieder, weil wir uns dann verhocken würden. Lieber irgendwo kurz. Eben dort, wo es nicht so attraktiv ist wie in dieser großartigen alten Handelsstadt.
»Du denkst wieder ohne mich.«
»Zum einen möchte ich auch in Zukunft ganz gerne den einen oder anderen eigenen Gedanken haben. Zum anderen muß ich mich auf die Lyoneser Formel-eins-Piloten konzentrieren. Die rammen dich gnadenlos ins Kiesbett, wenn du ihr Tempo nicht mithältst. Das Lyoneser Tempo erfordert Konzentration. Lyon ist die einzige Stadt in ganz Frankreich, in der ich mal angehupt wurde, weil ich die Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten hatte.«
»Kann es sein, daß es auch ein wenig an Deine fette Voiture lag?«
»Es ist gut möglich. Aber ich fahre seither auch nicht mehr so langsam. Siehst Du, ich bin assimilationsbereit.«
»Ist es wahrhaftig so?«
»Daß ich anpassungswillig bin?«
»Non! Daß Du nur einmal behupt worden bist. Alle Franzosen glauben doch, sie seien die beste Autofahrer von die Welt.«
»Und die Italiener! Und die Deutschen selbstverständlich auch. Nein. Oder besser ja. Ich erinnere mich tatsächlich nur an Lyon. Von diesen Jung-Idioten in ihren schnellen Mercedes und BMW an einer Autobahnsteigung mal abgesehen. Du weißt schon, wo ein Döschwoh sowieso nicht schneller vorankommt als mit etwa vierzig Sachen. Aber sonst nie. Alle warten immer gesittet, bis die Ente auf Touren ist. Ich habe wirklich nur gute Erfahrungen. Und in Lyon war es tatsächlich mit dem Mercedes. Das war allerdings reine Unerfahrenheit meinerseits. Ich wußte damals noch nicht, daß die französische Polizei auf solchen Strecken eher weniger Radarfallen aufstellt, sondern froh ist, wenn der Verkehr fließt. Also kippe ich nur Lob über meine Landsleute. Fast. Na ja. Diese Idioten gibt's wirklich überall.«
»Du bereitest Dich vor für eine Orden Deines Landes?«
»Ach. Weißt Du, Liebes, mir gefällt das. Dieses Durcheinander. Wenn ich in Paris bin – ach, was hat die in Paris lebende Freundin aus Israel – selber ‘ne Wahnsinnschaotin – geschimpft auf diese Franzosen. Die können alle nicht Autofahren! Schau mal, wie die da stehen. Alle kreuz und quer! Es geht nicht voran! Doch ich finde das gerade angenehm. Mir gefällt’s. Alles steht kreuz und quer. Wie in Marseille. Und es geht, meiner Meinung nach, dennoch wunderbar voran. Keiner regt sich auf. Die Deutschen brauchen immer Linien. Und kommen trotzdem nicht voran. Wenn du ihnen keine Linien auf die Straße malst, machen sie ganz schnell aus drei zur Verfügung stehenden Spuren eine. Franzosen halten sich sowieso nicht daran. Alle Linien sind runter-, abgefahren. Also gibt es für die Deutschen überall, aber wirklich überall Fahrbahnmarkierungen. Wo auch immer du hinschaust. Alles ist zugeschmiert mit diesen weißen Strichen. Es gibt keinen Winkel mehr, in den nicht ein Fahrbahnmarkierungskommando geschickt würde. Wenn keine vorhanden sind, bei einer neuen Asphaltierung beispielsweise, darfst du nur noch Schrittempo fahren, weil die Deutschen sich sonst verfahren. Neue Fahrbahndecke – Dauerstau. Weil sie keine Hilfslinien haben, diese Befehlsempfänger. Ich krieg‘ jedesmal Zustände, wenn ich zurückmuß nach München. Die denken auch nie mit. Deshalb kracht’s auch dauernd. Weil sie nur in ihrem sozial reduzierten Kastendenken leben und nicht miteinbeziehen, daß es noch andere Verkehrsteilnehmer gibt. Wenn sie Ferien haben oder Sonntag, dann fahren sie entsprechend – ich hab‘ ja Zeit. Ist mir doch wurscht, ob die anderen irgendwohin müssen. Und wenn du Dein Auto nicht innerhalb einer solchen Markierung parkst, also das Heck ein bißchen über eine dieser Linien steht, kleben sie dir einen Strafzettel an die Windschutzscheibe. Hier machen sie das zwar auch ohne Markierungen. Aber es gibt ja ohnehin keine Parkplätze. Zumindest keine freien. Also, wie auch immer – ich empfinde es ohne diese zugemalten Straßen angenehmer. Ob der Verkehr nun steht oder rollt. Und mir macht es Spaß, an der place d’Italie oder Castellane herumzuzischen und daß es meistens bei Handzeichen bleibt, wenn's mal ein bißchen schabt am Kotflügel. Wie meinte bereits 1926 unser beider Freund über sein geliebtes Paris, von dem aus er seit zwei Jahren nach Berlin korrespondierend telegraphierte: Hier fahren die Autos glatt und schnell. Und geraten sie wirklich mal aneinander mit leichtem Buff, dann sagt keiner: Dir hol ick jleich runter vom Bock, du oller Mistkutschenfahrer, pass mal uff ...!‹«
»Didier! Ici!! À droit!!!«
»Was ist denn? Ha' ick een von sein Benne à ordures jepustet?««
»Du bist vorbeigefahren. Merde.«
»Woran vorbeigefahren? An seiner Leiche? Det rehcht uns Franzosen doch nich uff! Da stehn wa drüber.«
»Didier! Mon cher petit idiot de Berlin. Autoroute du sud. Mon Dieu! Wir kommen nicht nach Hause. Ich muß weinen.«
»Du weinst so schön, meine Geliebte. Am liebsten möchte ich nochmal zurück- und wieder vorbeifahren.«
»Ich möchte nicht nach Berlin. Ich – wir wollen nach Marseille. Und wir müssen fahren die Autoroute du sud! Aber Du bist das nicht gefahren. Was habe ich für einen Mann geheiratet?! Er kann nicht einmal seine Frau nach Hause bringen.«
»Entzückende! Wir fahren über Vienne. Und dahinter erst auf die Autoroute du soleil. Nach Hause. Compris?«
»Dann sage es gleich. Und jage mir nicht solche Schrecken ein.«
»Ich habe Dir doch gesagt, daß wir in Vienne haltmachen.«
»Das stimmt. Was wünschst Du für ein Art von Entschuldigung?«
Ich deute auf die rechte Halsbeuge. Die Entschuldigung wird mehr als sachgemäß ausgeführt. Ich strecke mich ein wenig zu ihr hin. Die Wiederholung kommt nicht nur prompt, sie dauert auch länger an.
»Allez! Es ist wieder alle Tage. Geradeaus.«
»Nochmal zurück ...«
»Ich meine zu diesem Punkt – es sei nicht mehr so. Wie Du gesagt hast. Mit des Franzosen neuer Liebe, dem Auto. Ich beobachte es seit langem. Aber ich kann es nicht richtig begründen. Woran liegst es Deiner Meinung nach?«
»Puh! Genau ich weiß es auch nicht. Probable – das neue Geld.«
»Der Euro.«
»Sei nicht dumm. Es ist schrecklich mit Dir. Man kann nicht einen ernsten Satz sagen. Sofort machst Du einen Witz, eine dummen. – Ich meine das Geld, das es mehr ist seit einigen Jahre. Wir haben eine ordentliche Aufschwung unserer Économie. Ich habe eine Statistique gelesen, daß in France mittlerweile man mehr verdient als dans Allemagne. Revenu net. Wie heißt es ...«
»Nettoeinkommen. Aber auch nur der obere Mittelstand ...«
»Oui. Cadre dirigeant.«
»Aha. Also die Top-Manager.«
»Etwa von achtzigtausend Euros.«
»Na bitte. Und der überwiegende Teil wird zusehends arbeitsloser.«
»Non. Es geht uns etwas besser seit einige Zeit. – Mais, Du hast sicherlich recht. Dort, wo ist die Mondalisation, die Arbeitsplätze werden weniger. Sie schließen die Fabriken und gehen nach Osteuropa.«
»Wie Moulinex.«
»Oui. Aber nicht nur Moulinex. Viele. Es ist eine Épidémie. Der Capitalisme wird brutale. Doch es gibt insgesamt anscheinend mehr Geld bei uns.«
»Das wird es wohl sein. Ich lese und höre es ja seit einiger Zeit. Aber ich hätte meinen neuen Landsleuten das nie zugetraut – daß die mal so autogeil würden. Und nur noch eine halbe Stunde Mittagspause machen.«
»Das ist die diese Globalisierung. Die große Groupe multinationale geben ein Beispiel. Und sie verlangen das von andere auch. Aber es ist nur in die große Städte. Ein Stunde ist normal. Aber viele machen auch noch un et demi. Ou bien deux.«
»Na ja. Es wird aber auch länger gearbeitet als in Deutschland.«
»Bis welche Zeit?«
»In der Regel bis halb fünf. Und in Frankreich bis sechs.«
»Nicht immer. Aber manchmal schon.«
»Also, ich sehe selten vor halb sechs, sechs die Menschen aus den Büros kommen. Wenn ich am Quai des Belges sitze und Deinen Kolleginnen von der Schönheitsfraktion die Parade abnehmen will, kann ich warten bis sechs. Und ...«
»Nun mußt Du nicht mehr warten. Oder ich sage – lasse Dich nicht noch einmal erwischen. Nun komme immer ich!«
»Das wären dann die etwas geringeren zukunftsweisenden Aussichten sozusagen.«
»Non, Didier. Ich mache Spaß. Ich weiß es, daß Deine Augen immer sind auf Reisen. Und ich sehe wirklich nicht irgendeine Sinn darin, daß nicht zu wollen. Es wäre dumm. Außerdem schaue ich auch.«
»Aber eher weniger nach Deinen Fraktionskolleginnen.«
»Jetzt sprichst Du dumm. Es macht große Freude, andere schöne Menschen zu sehen. Ich bin doch in kein Concours de beauté! Ich bin Jury! Mit Dir! Wir haben doch so oft zusammen gesessen und unsere Meinungen verglichen? Mon Dieu! Du erinnerst es nicht. Es hat immer viel Freude gemacht mit Dir. Hommes et femmes. Dieser war nicht schön, aber gutaussehend. Diese war elegant gekleidet, aber sie konnte es nicht tragen. Ein andere hat ein Gesicht wie ein Cornichon, aber zum Beißen lieb. Wir haben auch überall la belle Arlésienne gesucht. Es war amusant!«
»Verfluchte Scheiße aber auch, daß ich mich daran nicht erinnere ...«
»Sag nicht Scheiße. Sag besser merde. Scheiße klingt so deutsch. So hart ...«
»Harte deutsche Scheiße – Du hast recht. Merde! Weich. Französisch. – Demnach habe ich auch mit Dir vor dem Tabac am Quai des Belges gesessen?«
»Du hast immer auf mich gewartet, bis ich aus dem Office gekommen bin!«
»Und dann haben wir die schöne Arlesierin von Marseille gekürt?«
»Oui. Manchmal hast Du mir gesagt, Du habest Deine Wahl bereits mehrfach treffen müssen heute. J'ai l'esprit confus! hast Du manchmal schon gerufen. Diese Stadt ist ja schrecklich, hast Du gesagt. Man weiß nicht, wohin man zuerst schauen soll! Und dann hast Du gesagt – maintenant es ist gut. Denn die erste Wahl ist da, die Ruhe. Quelle amusement.«
»Es ist aber ein zu schöner Ort – durch die Bushaltestelle. Zum einen steht da immer alles. Und zum anderen rennen die anderen vor zur Metro. Oder umgekehrt. Ich habe ja sehr oft und gerne bereits am frühen Morgen dort gesessen. Und da sieht man dann auch den Unterschied zwischen den Menschen am frühen Morgen, wenn sie – sag ich mal, mehr oder minder – ausgeruht sind ...«
»Diese Menschen, die Du immer anschaust und bewertest, sind alle müde um diese Zeit.«
»Weshalb denn das? Bitteschön?«
»Weil sie alle sehr jung sind und deshalb spät zu Bett gehen und immer zu früh aufstehen müssen aus dem Bett.«
»Jetzt bist Du aber doof!«
»Ich habe eine sehr gute Lehrer darin.«
»Faire contenance, Madame! Sonst verliere ich die Haltung, kippe um, fahre uns an die Wand, statt nach Marseille. Dann kannst Du mich nicht mehr erledigen mit Deiner Frotzelei. Dann bist Du nämlich auch erledigt. Und wir können nicht mehr gemeinsam über die anderen herziehen. Dann ziehen wir nämlich in ein Elysium, das wir uns fürs erste anders vorgestellt haben.«
»Oh – ma poulette. Du willst doch wieder nur ein Belohnung für Entschuldigung. So machst Du es. Ich kenne Dich. Mich ein wenig ärgern. Daß ich zurückärgere. Und dann muß ich mich ein bißchen entschuldigen bei Dir. Andere Männer sagen einfach und gerade – küsse mich, meine Frau! Zeige mir Deine Liebe, indem Du mich küßt. Du machst das mit Dialectique. Über sehr viele Wege und Umwege. Immer kommst Du von eine andere Seite – zu Deinem Ziel. Mais – das bist Du. Diesen Mann liebe ich. Es ist manchmal ein wenig compliqué. Doch es ist auch lustig. Manchmal.«
»Uff. Lange Analyse. Aber nach ihr habe ich gesiegt. – Also. Es ist außerordentlich interessant, da zu sitzen. Morgens sind die Gesichter – Disco hin oder her ...«
»Didier – Du weißt, daß man bei uns fast nur am Week-end tanzen geht. Während der Woche gehen wir etwas früher zu Bett. Oder sehen uns schlechte Séries im tv an.«
» Schon wieder Brudervolk. – Dann meine ich eben möglicherweise diejenigen, die auch am Dienstag oder Mittwochen schwofen gehen. Würden. Du hast mal wieder das Gegenteil vorweggenommen. Also – die Gesichter noch offener, durchaus erwartungsvoller. Vielleicht wegen der schlechten Fernsehserien. Aber wenn sie dann abends stehen und auf den Bus warten, sind viele Blicke doch eher nach innen gekehrt bis abwesend. Möglicherweise auch wegen der grauenvollen Fernsehunterhaltung, die sie über sich ergehen lassen müssen.«
»Es ist normal, wenn man hatte ein solche Tag mit eine solche parfait Idiot von eine Patron.«
»Ich spreche doch nicht von Dir. Außerdem kommst Du trotzdem fröhlich an.«
»Oh! Du weißt?«
»Nein. Ich erinnere mich jetzt nicht so daran. Wenn auch an das eine oder andere gemeinsame Sitzen. Ich weiß nicht genau wo. Aber ich gehe nunmal grundsätzlich davon aus, daß die Frohnatur in Deinem Gesicht spazieren geht.«
»Zum einen spreche ich nicht von mir. Und zum andere setzt Du viel voraus. Meinst Du, ich bin nicht oft auch am Ende nach eine solche Tag? Es ist terrible, eine ganze Tag, beinahe keine richtige Pause, lang immer dasselbe Dumme zu arbeiten.«
»Also, so eintönig ist Deine Arbeit ja wohl sicherlich nicht.«
»Was weißt Du? Cheri. Eine ganze Tag immer gegen die Logik von einem Mann arbeiten, der nicht weiß, was Logik ist. Der sich nichts kann merken. Und er immer gibt trotzdem dieselbe Befehle. Die falschen. Er kann sich nicht erinnern, wenn etwas nicht gut war. Ich oder eine Kollegin weiß es. Wir machen es anders. Wir gehen Problèmes anders an – für ein Congrès oder ähnlich. Wir erneuern eine System. Die Organisation für zwanzig oder hundert Teilnehmer. Aber er will das nicht. Er sagt, wir haben das immer so gemacht. Deshalb machen wir das so. Er ist ein Versager absolu! Er hat diese position, weil sein Famille hat eine Position. Es ist das Dauerparking für ein untaugliches Glied von eine gute Famille von Marseille. C'est clair? Doch es geht nicht nur mir, nicht nur uns so. Die Welt der Arbeit ist voll mit solche Menschen. Complet. Und das macht sehr müde. Es ist wie arbeiten an eine Fließband der Ignorance. Non. Dummheit. Und er wird bleiben noch zwanzig Jahre. Wie andere.«
»Aber Du wirst gehen.«
»Si Dieu le veut. Mais – ich meine auch die vielen anderen Menschen, die gezwungen sind, unter ihre Würde zu arbeiten. Bestimmt von eine Mechanismus, der gegen ihr Inneres arbeitet.«
»Du meinst die Fremdbestimmung?«
»Oui. Das ist wohl das Wort.«
»Aber der größte Teil der Menschen, zumindest in den industrialisierten Ländern, arbeitet fremdbestimmt.«
»Du hast damit recht. Und Du hast auch gut reden! Du hast das nie müssen, so arbeiten. Viele Menschen, die ich kenne, sehr viele, möchten aber anders arbeiten als vierzig Stunden das, fünfunddreißig Stunden, quant à moi, was sie nicht möchten. Du weißt, wie es ist mit mir. Ich habe studiert Geisteswissenschaft – für ein Office de Tourisme ? Le Romantisme für dicke Männer der falschen Romantique in einem dicken Hôtel with Dinner at candle light – wo Du hingehst –, die glauben, wir sind Hôtesses für ihre Dummheit. Die nur haben Geld – sonst nichts. Wirklich anders nicht. Ich habe einmal Glück gehabt in diese Office de Tourisme. Mit Dir. Jetzt ganz großes Glück, weil ich Dich wieder gefunden habe. Bon. Ich bin nicht alleine. Es gibt Menschen, sie fahren Taxi als eine Docteur. Sie wollen es so. Sie sagen, es ist besser, als jeden Morgen in ein Bureau zu gehen. Aber diese meine ich nicht. Sondern diese wie ich. Und noch viel schlimmer sind diese, die spüren, sie könnten etwas anderes arbeiten. Aber wie man früher die jungen Frauen auch in Europe central hat verheiratet, gibt man sehr junge – vielleicht zwanzig Jahre oder noch jünger – Menschen in eine Arbeit, an der sie leiden vierzig Jahre. Es ist sehr schlimm.
»Ich stimme Dir zu hundert Prozent zu. Aber wie willst Du das ändern?«
»Die Menschen müssen sich ändern! Enfin! Wir haben eine so gute Stimmung intellectuel et mental in unserem schönen Land. Es ist immer noch etwas geblieben von diese Ésprit de révolution. Es ist vorhanden! Ich sehe es so. Es ist mir égal, ob andere mich auslachen deshalb. Sie lachen oft, obwohl sie nicht wissen, was sie mit ihren dummen Witzen kritisieren. Du sagst es ebenfalls oft. Und Du beobachtest es seit langer Zeit von außen. In sich ist man sehr oft blind, sieht nicht, was sich in einem befindet. Es ist eine Substance vorhanden! Wir müssen es nutzen! Wir müssen wieder zusammengehen – gegen diese Entwicklung. Es ist etwas, das es hat nie gegeben in Deutschland. Der Deutsche ist ein Dégonflé ...«
»Was ist denn das?«
»Er ist – schlapp, schlaff. Er hat Angst ...«
»Schlappschwanz. Waschlappen.«
»Oui! D'accord! Wir haben es. Wir haben alle ein bißchen den Combat in uns. Wir gehen auf die Straße. Auch wenn wir sind sehr gerne bourgeois.«
»Es stimmt. Die Deutschen bleiben zuhause und schauen es sich dann kopfschüttelnd im Fernsehen an. – Bettina! Stell Dir vor, seit zwei Wochen kommen keine frischen Austern hierher. Diese Franzosen! Ist das nicht ein schreckliches Volk?! Oder schimpfen, weil sie seit zwei Wochen kein BIC-Feuerzeug kaufen können, weil die französischen LKW-Fahrer alles dichtgemacht haben. Das sie dann in eine Hülle stopfen. Schon wieder Kundera: Kitsch. Die Scheiße verstecken.«
»BIC. Oui. Concern multinationale. Sie machen alles kaputt. Toutes! Et maintenant – sie fangen deshalb auch hier an und wollen Geld. Geld. Geld. La peste! Sie sollen sagen – wir brauchen es nicht. Wir machen unsere eigene Sache. Und wenn es alle tun, dann können sie sagen – démerde-toi tout seul! Wir brauchen unser Essen und unseren Wein und ein Haus und diese Plätze, wo wir uns treffen können mit Essen und Wein. Behaltet eure Dreck. Macht ihn für euch. Mais non – sie haben die Pest.«
»Jetzt übertreibst Du aber gewaltig! Außerdem hast Du ja wahrlich nichts gegen diese schönen Dinge. Bei uns wirbt ein Händler von Edelprodukten sogar mit diesem Slogan: ›Die schönen Dinge des Lebens.‹ Vorhin hast Du noch davon geschwärmt.«
»Oh! Merde. Ich mag sie. Doch ich brauche sie nicht. Ich werde sie genießen. Denn nun sind sie vorhanden. Mais – ich lebe gut auch ohne sie. Zudem ich meine vor allem diese Mist, diese terrible Müll. Und Übertreiben? Ich tue das? Wie meinst Du es? Was siehst Du von Deutschland aus?«
»Naziza. Du weißt, daß ich sehr viel in Frankreich unterwegs bin. Seit sehr langer Zeit. Und daß ich nicht mit verklebten Augen durchs Land fahre. Durch dieses oder durch andere. Aber hier schaue ich schon aus Liebe und Tradition noch genauer hin. – Aber jetzt muß ich erst mal nach einem Parkplatz schauen.«
Es paßt gut. Direkt gegenüber ist eine kleine Bar. Und es gibt es auch Platz für den Döschwoh. Klar. Es ist Abend. Und es ist Montag in Frankreich. Ich kurve direkt neben die Tür.
»Doch laß mich das eben noch zuende sprechen. – Ich gebe Dir völlig recht in dem Punkt, der da lautet: Sie kaufen zuviel Dreck. Die Einkaufswagen der Supermärkte sind prall gefüllt – und das ist die andere schlimme Tendenz – mit Plastikmüll nach amerikanischem Vorbild ...«
»Didier! Wir sind halb Amerika! Diese Unterwerfung ist Horreur! Wir üben das seit dreißig Jahre und länger! Wir waren die ersten! Vor allen anderen.«
»Dennoch. Der von Dir erwähnte gute Ansatz ist vorhanden – im Gegensatz zu den Deutschen. Die Franzosen wünschen ein Europa mit mehr Inhalten. Sie wollen eine Harmonisierung der sozialen Komponenten. Sie wollen ein Europa, daß gegen die Globalisierung ist ...«
»Puh. Aus welche Gründe? Die petit Fermiers, weil sie Angst haben. Zu recht. Ich auch. Die kleinen Commerçants, weil sie auch Angst haben, doch aus ihrem Nichtwissen heraus. Deshalb sie wollen Le Pen. Horrible. Die gesellschaftliche Schicht oben – ah, es ist vielleicht die Hälfte dans France.«
»Das ist doch eine Menge! Aber die Deutschen?! Ebenfalls puh! Vielleicht zwanzig Prozent. Und die Deutschen wollen gleich wieder staatspolitische Formalismen festgeklopft haben. Von wegen europäische Präsidentschaft. Europäische Verfassung. Erst ...«
»Was ist schlecht daran, Didier? Es ist Kant! Eurer – pardon! – der deutsche Ministre des Affaires étrangers, dieser mir wohl sympathische Monsieur Fischer hat es nicht erfunden. Auch nicht diese schreckliche Kohl oder unsere Roi de bourgeois, François Mitterand. Kant! Nun muß ich ihn in Schutz nehmen. Es kommt nicht so sehr, hat er geschrieben, darauf an, wie es innen in einem Staat aussieht, sondern daß die Völker verfaßt sind. Ich habe nichts gegen eine europäische Verfassung, die eine Gemeinschaft festigt. Gemeinschaft! Europe ist gut! Jedoch ich will keine Version européenne einer Mondalisation! Das stört mich daran.«
»Ich meine ja auch in erster Linie: erst die Form – und dann der Inhalt. Das macht den Unterschied aus. Und schließlich kommt die Idee einer Einigung aus France. Es ist als erstes über den Schatten des Nationalstaates gesprungen. Das will östlich des Rheins keiner wahrhaben. Monsieur le Ministre des Affaires étrangers Schumann hat es schließlich am ehesten vorangetrieben. Nicht nur die Wirtschaft, durchaus auch die Versöhnung wurde betrieben. Schon deshalb werde ich gerne Franzose. «
»Du bist Français!«
»Ach ja. Es dauert ein Weilchen, bis ich mich daran gewöhnt habe. Es solange gedauert. Nun sei bitte gnädig. Kurzum: Deshalb hat es mich immer hierhergezogen. Deshalb habe ich sogar noch einmal geheiratet. Eine Französin natürlich. Eine armenisch-afrikanische natürlich. Es lebe die Globalisierung. Im Sinne einer Hybridisierung mondiale. Globalisierung der Gefühle. Voilà. Ich brauche jetzt einen Pastis.«
»Oui? Non. Du mußt – non. Ich fahre nun. Es ist gut. Und nur eine. D'accord.«
»Bevor wir jetzt dort hineingehen und einen oder zwei Pastis trinken, Liebes, noch eine herzliche Bitte! Sag nicht – nur einen. Sag nicht – tue dies oder tue das. Wie auch immer Du es sagen wirst – es würde unserer Liebe nicht guttun. Und daß die erhalten wird, daran ist mir sehr gelegen. Möglichst lange, am liebsten auf ewig. Aber das wird sie nicht, wenn Du mir Verhaltensmaßregeln aufzuerlegen versuchst. Unsere Liebe würde das nicht aushalten. Das möchte ich nicht. Deshalb wird es besser sein, Du versuchst nicht, mich Uraltgewächs umzutopfen. Von meinen zwei noch erhaltenen Wurzeln würde eine absterben.«
»Du bist sehr empfindlich.«
»Ich bin es. Ich dachte, Du wüßtest es. Jedenfalls hast Du Dich mehrfach so geäußert. Dann sollst Du es wissen. Ich bin schwer resozialisierbar. Wenn ich überhaupt je sozialisiert war! Der Gesellschaft war es immer scheißegal, ob ich existiere oder nicht. Sie hat sich immer einen Teufel darum geschert, ob es diesen Aubertin gibt oder nicht. Einer unter vielen. Unter vielen Menschen. Und als ich dann beschlossen hatte, dieses auch zu sein – in aller Konsequenz für mich und diese Gesellschaft –, dann erst ging's mir einigermaßen gut. Jetzt geht es mir – mit Dir – recht gut. Und diesen Zustand, den wir Liebe nennen, möchte ich erhalten wissen. Es wird der letzte Rausch meines Lebens sein. Aber in selbst minimaler Abweichung ist er es nicht mehr. Also – laisser faire.«
»Didier – Du bist sehr ein Egoïste! Non. Pardon. Es ist falsch. Du bist bitter.«
»Ja. Ich bin gerade dabei, etwas von dieser Bitterkeit zu verlieren, indem mir das Leben unverhofft ein bißchen süßen Dünger hineingibt in den Topf – Naturdünger sozusagen. Nach Jahrzehnten kriege ich endlich ein bißchen was. Ach was – es ist viel. Sehr viel. Aber bleib bitte Natur – Geliebte. Bleib das Gewächs, das in friedlicher Koexistenz mit mir noch ein bißchen rankt. Sogar Blüten könnte ich dann nochmal tragen. Ich bitte Dich inständig, es so zu belassen, es nicht ändern zu wollen. Mach es mit Deiner Maman oder mit Deinem Bruder oder meinem Leibgardisten. Ich gehe dann solange spazieren. Oder mach’s mit diesen niedlichen, noch verbiegbaren Pflänzchen. Die kannst Du noch an einen Pfahl binden, an dem sich sie hinaufhangeln – oder aufhängen – können. Nein. Ich werde es nicht zulassen, denn ...«
»Komm, Didier. Laß uns hineingehen. Wir können dort sprechen. Es ist hier nicht viel Comfort.«
»Also auf. Gehen wir.«
Es ist wieder ein Treffer. Immer wieder bestätigt sich mein Instinkt. Ich habe ein untrügliches Gespür für mir genehme Gastronomie. Es ist schon geschehen, daß ich eine Stunde herumgegangen bin und überall herumgeschnüffelt habe. Und das war's dann auch in der Regel. Aber häufig weiß ich es auf Anhieb. Wie auch jetzt wieder – eine kleine Bar. Keine Musik. Fünf, sechs Menschen sitzen an den kleinen Tischen und sprechen ruhig miteinander. Der Tresen ist frei. Der Wirt macht nicht eben ein freundliches Gesicht. Aber das hat nichts zu sagen, sagt mir die französische Erfahrung. Außerdem sind mir mürrische Menschen lieber als aufgedreht heitere. Clown bin ich selber. Deshalb weiß ich, was hinter einem solchen Gegrinse steckt. In spröder Erde steckt tief unten meistens der eigentliche Lebenssaft.
»Deux café et deux eau minerale, gazeuse, s'il vous plaît, Monsieur.«
Er quittiert meine Bestellung mit einem Nicken und dem leichten Öffnen seines Gesichts. Sehr rasch stellt er das Gewünschte vor uns auf den Tresen.
»Bitteschön, mein Herr und meine Dame.«
Naziza und ich schauen uns verdutzt an und lächeln ihn an. Sein Gesicht ist auf einmal geöffnet wie das Tor zum Süden.
»Ich habe ein paar Jahr in Deutschland gelebt. Es gefällt mir zuhause besser. Ich bin wieder gegangen. Und Sie fahren auch in die Sud! Ich glaube es. Und nicht in die Sommer, wie alle. Es ist erstaunlich.«
»Nous rentrer à la maison, Monsieur«, gibt Naziza ihm in ihrem vermutlich breitesten Marsaillaise zu verstehen und zeigt ihm dabei ihr so wundervoll heiter-offenes Gesicht.
Ruckartig verschließt er sein Gesicht.
»Oh! Pardon, Madame. Qui aurait cru cela!«
»Mein Frau macht gerne Witzchen. Aber es ist ein guter Witz. Wir fahren tatsächlich nach Hause. Doch Sie haben schon richtig gehört. Ich bin Deutscher. La France est ma seconde patrie.«
»Non! Il est français!« Wenigstens lacht sie dabei.
»Auch hier hat meine Frau recht. Doch ich bin es noch nicht so lange. Aber ich bin es gerne. Und unsere Sprache muß ich noch lernen. – Wo haben sie gelebt?«
Die leichte Verdunkelung um seine Augen ist verschwunden.
»Soyez le bienvenu, compatriote! – ich war bei die militaire à Spire.«
»Aha. In Speyer.«
»Sie kennen das? Bon. Pourtant terrible. Aber ein bißchen Frankreich. Und es kamen manchmal Menschen zu uns, die gerne gekommen sind nach eine kleine Stück Frankreich.«
»Wie darf ich das verstehen? Waren Sie im Casino beschäftigt?«
»Sie combiner schnell, Monsieur. Es ist richtig. Aber Sie kennen es scheinbar?«
»Ja. Ich war ein paarmal dort. Ich habe einen Freund dort, der fast ausnahmslos für Essen und Trinken lebt. Na ja, nebenher noch ein bißchen Kunst. Aber am liebsten in Verbindung mit Kost. Also – wohin sollte er wohl gehen!? Und ich bin auch sehr gerne mit ihm ins Casino gegangen. Er fährt auch immer nach Frankreich zum Einkaufen. Es ist ja auch nicht weit. Pour poisson et fruit de mer. – Aber Sie haben doch wohl nicht allein im Casino so gut Deutsch gelernt!?«
Naziza hört freudig erregt mit leichtem Kopfschütteln zu.
»Nein. Ich bin noch ein Weile geblieben und habe in die Gastronomie gearbeit. Ich habe gespart. Und mir dieses hier gekauft.«
»Und – sind Sie jetzt glücklich?«
»Es geht ein bißchen. Ich will noch weiter in die Sud. Ganz nach Hause. Ich komme aus Cassis.«
»Ach du meine Güte. Das ist wahrhaftig ein Unterschied. Aber weshalb sind Sie hier gelandet?«
»Es ist angeboten worden von ein Camerad von der Militaire. Sein Eltern haben es verkauft. Ich hätte es nicht machen sollen. Es geht nicht gut. Es liegt an ein Circuit vers sud. Aber ich wollte ein wenig – direction dans mon pays.«
»Und jetzt? Jetzt müssen Sie bleiben?«
»Ich werde es versuchen, wieder zu gehen. Es ist schwer, das zu verkaufen. Ich werde verlieren. Aber ich werde es irgendwie versuchen. Und dann beginne ich neu.«
»Ein Café? Es gibt schon so viele dort, in Cassis.«
»Sie kennen das auch? Es ist énorme.«
»Ich fahre seit langer Zeit und gerne durch das – durch unser Land. Ich liebe es. Also war ich auch schon in Cassis. Das hatte mir ein camerad de jeu – de pétanque – empfohlen. Er lebt in Deutschland, aber er kommt auch von dort. Nicht aus Cassis direkt. Aus La Ciotat. Aber er hatte in Cassis gelebt. Er hatte mir so sehr davon vorgeschwärmt, als ich mal beiläufig erzählt hatte, ich wisse nicht, wohin fahren dieses Jahr. Er hat mir sogar alle möglichen Hinweise gegeben. Bars, sogar das Hotel direkt am Hafen. Ich habe alles genutzt. Es hat mir sehr gut gefallen. Alles hat auf den Punkt genau gestimmt. Und nun werde ich es wiedersehen. Denn ab sofort lebe ich in Marseille.«
»Sie sind eine glückliche Mensch. So eine schöne Stadt. Und so eine schöne Frau.«
Er verbeugt sich leicht zu Naziza hin. Die kriegt es tatsächlich hin, leicht zu erröten. Am Tisch wird gerufen. Er entschuldigt sich und geht hin.
»Es ist wirklich exceptionelle, wo Du überall warst. Und wie ist diese Welt klein.«
»Du weißt doch, Naziza, daß ich viel gereist bin. Und daß ich überall Menschen kenne. Aber diese Geschichte mit Speyer ist wirklich komisch. Ich bin sicher, daß er diesen Freund auch kennt.«
»Du glaubst es?«
»Der ist nicht zu übersehen. Seine Liebe zu Speis und Trank hat ihm die entsprechende Form verliehen.«
»Er ist ...«
»Ja. Masse. Masse ohne Ende. In die Breite. Aber auch in die Höhe. Er frißt aber auch nur. Überall. Wenn ihm nach etwas Besonderem ist, scheut er keine Strecke.«
»Er fährt weit?«
»Wenn er einen ganz besonderen Goût im Mund hat, ist ihm keine Entfernung zu weit. Das geht mit einem schlichten Schnitzel los.«
»J'ai de la peine à le croire! Wegen eine Escalope?!«
»Ja. Er kennt alle Geschmacksrichtungen aller Schnitzel in Europa. Ein Beispiel nur – ich komme jetzt drauf, weil es passiert ist. Es gibt irgendwo in der Pfalz ...«
»Es ist le Palitinat?«
»So heißt es wohl auf Französisch. – Also, irgendwo in der Pfalz, in seiner Heimat, steht ein Gasthof, in dem sie das Schnitzel, sag ich mal: in einem ganz bestimmten langschenkligen Dreieck hochkant in eben einer besonderen Panade braten ...«
»Du meinst panure.«
»Tatsächlich? Ich dachte, Panade kommt aus dem Französischen.«
»Es ist wohl, wie vieles, leicht verändert.«
»Also gut. Wenn diese besondere geometrische Form, umhüllt von besagter Panure, in einer Pfanne unvermittelt durch sein Hirnkino rast, dann erhalten seine Geschmacksnerven ein Signal, das einer Sirene kurz vor Weltende gleichkommt. Dann muß er los. Egal um welche Nachtzeit. Also, noch zu Öffnungszeiten. Und alle anderen müssen mit. Hundert Kilometer. Gnadenlos. Aber es lohnt sich.«
»Er ist ein Phénomene!«
»Ich kenne keinen anderen, der nicht professioneller Koch oder Freßkritiker ist, mit einem solchen Wissen. Ach was – auch die meisten Profis können alle einpacken. Davon bin ich überzeugt. Was ich mit dem schon erlebt habe!«
»Erzähle etwas. Es klingt spannend.«
»Du willst nur von unserer Spannung ablenken.«
»Oh! Didier. Müssen wir diese Spannung haben? Wir können das doch wieder locker machen. Meinst Du das nicht? Ich habe Dich auch verstanden. Ich werde mir Mühe geben mit laisser-faire. Ich bin ja auch nicht wirklich so. Vielleicht ist es ein wenig von Maman, was ich habe. Sie will auch immer geben diese Kommando. Sie ist die Général bei uns, bei Al Arfaoui. Doch wir sind alle nicht da. Papa schweigt. Und er lächelt. Sei nicht böse. Bitte. Ich werde mich auf die Mund hauen beim nächsten Mal. Aber ich meine es nicht wirklich. Ich will Dich haben, so, wie Du bist. Ich liebe diese cabochard avec charme résérvé, Dich Nie-Ja-Sager. Gewiß, so habe ich Dich kennengelernt. Ich will keine andere. Tu peux me croire! Es geht manchmal aus mir hinaus. Bon?«
»Ja. Es ist gut. Aber vergiß bitte nicht, was Du eben gesagt hast. Und sag Deiner Frau Maman, daß ich für militärische Übungen, für militärische Kommandos aller Art absolut ungeeignet bin. Oder anders – mein Blut ist voll mit den Viren eines Deserteurs. Wer mir befehlen möchte, verliert alle meine Sympathien – und mich. Daß das ein für allemal klar ist!«
»Ich werde es tun. Ein wenig habe ich es ihr bereits gesagt. Sie soll ein wenig zurückhalten ihre Lust auf Befehlen. Sie steht immer etwas auf den Hügeln im Kaukasus und ruft. Gerne tut sie das laut. Wir ignorieren das alle schon sehr lange. Aber es ist in ihr. Und wenn es aus mir kommt, dann – Du wirst es mir sagen! Und nicht weglaufen! Ich glaube, Du hast es deshalb getan damals. Ich würde es nicht noch einmal ertragen. Ich habe Angst, Didier. Bitte sage etwas. Ich werde einen Schirm machen um Dich. Ich werde Dich schützen vor alle diese Versuche, Dir Platz zu nehmen. Unsere Tempel von Philemon und Baucis ist nur für uns. Und ich werde in Dich dringen nur mit meine Liebe. Compris?«
»Ja. Dann laß es jetzt gut sein. Ich spreche auch nicht so sonderlich gerne darüber. Aber es muß gesagt werden. Denn es würde viel zerstören.«
»Bien. Dann erzähle mir von Deine Freund, diese Miracle de cuisine. Es muß sein ein Unique en son genre.«
»Fürwahr. Er ist ein Unikum. Aber er kocht auch phantastisch. So mal eben, ganz locker. Ohne viel Aufhebens. Er könnte sicherlich problemlos eine Équipe von zwanzig Köchen befehligen. Den Eindruck habe ich zumindest.«
»Aber er ist es nicht? Ein Koch?«
»Nein. Er ist Bildhauer.«
»Ah! Unsere Artistes!«
»Ja. Das ist wohl richtig. Und ich kenne auch sehr viele Künstler, die gerne und gut kochen. Aber er nimmt eine Sonderstellung ein in dieser Landschaft. Ich glaube, er hat noch nie irgendein Kochbuch in die Hand genommen – Ich mag das übrigens auch nicht. Ich lese ja auch keine Computerbücher. – Er besteht nur aus Instinkt. Und was er macht, macht er richtig. Er sitzt auf dem Stuhl und gibt seinem Besuch Kommandos. Und alle machen es brav – und alles richtig. So habe sogar ich innerhalb von fünf Minuten eine Mayonnaise hingekriegt, für die ich alleine neununddreißig Versuche benötigt hätte. Um dann alles wegzuschmeißen. Aber das war eine Schnell-Mayonnaise, so mal eben locker, quasi aus französischer Hausfrauenhand, für die andere einen vierwöchigen Kochkurs machen müssen. Ich zum Beispiel.«
»Wir müssen ihn engagieren.«
»Den kann man nicht engagieren. Ein bißchen seelenverwandt sind wir da. Wir wollen etwas nur tun, solange es Spaß macht. Sobald sich auch nur ein Fitzelchen Muß einstellt, ist es aus mit der Kreativität. Dann ist alle Lust dahin. Dann wird's öde. – Na ja. Bei mir ging das nicht immer so. Auch wenn ich es gerne so gehabt hätte.«
»Bei wem geht es?! Wir haben darüber gesprochen vor ein paar Minuten.«
»Ja. Klar. Aber man sich auch viel erschwimmen. Ich habe es auch getan. Gut, es war auch Glück dabei.«
»Das glaube ich nun nicht! Glück. Es ist Bestimmung. Du bist kein Mensch, der sich verläßt auf ein Glück. Du hast Beharren. Das weiß ich.«
»Das klingt zwar sehr schön, was Du da sagst – aber ich habe viele Dinge über lange Zeit getan, die ich schon lange nicht mehr tun wollte. Aber ich habe an ihnen festgehalten, weil ich mich an einen gewissen Komfort gewöhnt hatte. Ich bin mir oft genug untreu geworden. Ich bin also alles andere als ein Held. – Jetzt vielleicht – da ich wirklich alle Zelte abbreche. Aber ich habe ja nun wahrlich einen Grund.«
»Ich bin es?«
»So ist es, schöne Frau. Sie sind der Grund meines Abbruchs eines alten, seit langem baufälligen Hauses. Sie sind der Grund, daß ich an einen neuen Ort ziehe. In ein neues Leben. Und hätte ich einen Gott, ich würde zu ihm beten, es möge so bleiben.«
»Ich werde es tun für Dich.«
»Du hast einen Gott?! Ja, Du hast das ja mehrfach geäußert.«
»Ich habe einen. Ich weiß nicht, wo er wohnt. Vielleicht in mir. Wie bei den Aleviten? Ich weiß es ...«
»Alewiten? Wer ist denn das?«
»Die Aleviten sind ein Gruppe, das aus dem Islam hervorgegangen ist. Nach Ali, dem Schwiegersohn von Mohammed. Die meisten gibt es in la Syrie und in Libanon. Non. Die meisten leben in der Türkei. Das vermute ich. Denn es sind über zehn Millions. Dort sind sind sie jedoch verboten.«
»Und was, bitte, hast Du damit zu tun?!«
»Nichts. Ich habe lediglich gesagt, daß es vielleicht bei mir ist wie bei den Aleviten. Daß Gott in mir ist. Ich gehöre keine communion an. Jedoch ist mir das mehr sympathisch, wenn man so denkt wie diese. Frauen sind eher an der Gleichheit. Es gibt keine heilige Bücher. Ein paar wenige Directives. Die Gemeinschaft ist sehr wichtig. Sie haben keine Gefängnisse, es gibt keine Ketten. Es gibt keine Auferstehung oder Wiedergeburt ...«
»Das ist wohl so eine Art islamische Variante der Anthropologie. Auch ‘n bißchen Giordano Bruno mit dabei. Der Mensch als Mikrokosmos. Die subjektiv-individuell erfahrene Gegenwart Gottes.«
»Es mag so sein. Non. Bruno ist mehr difficile. Anthropologie eher. Genau ich weiß es nicht. Ich habe es nicht studiert. Es sind nur wenige Informationen, die ich habe. Doch es ist mir auch égal. Es ist mir soeben in den Kopf hineingezogen. Schön ist, daß sie sagen, das Paradis ist hier auf der Erde. Es ist correct. Es ist bei uns, bei meine Didier und bei mir. Mais, es gibt einen Gott. In mir. Und ich werde ihn bitten für uns beide.«
»Dann sag ihm einen schönen Gruß von mir – er soll nicht immer so'n Scheiß bauen.«
»Meine Gott hat damit nichts zu tun. Er hat genug zu tun mit mir – mit uns beide. Er muß viel arbeiten! – Bien. Erzähle mir weiter von Deine Gott ...«
»Aber ich habe keinen ...«
»Gott von die Garten Eden, la cuisine.«
Unser Gastronom hält sich dezent im Hintergrund. Er hört zu. Das ist ersichtlich. Aber er ist diskret.
»Ach so. Ja, was soll ich sagen ...«
»Du hast gesprochen davon, daß er viel reist, nur wegen eine Genuß – jouissance des sens.«
»Ach ja. Richtig. Nun, es ist nicht nur wegen des Essens. Er reist überhaupt sehr gerne und viel. Aber wenn es irgend geht, orientiert er sich an den Speisekarten dieser Welt. Sie sind seine Landkarten. So hat er beispielsweise einen riesigen Schrank voller Keramikteller ...«
»Um darauf zu essen?«
»Nein. Es sind Trophäen. Ach nein. Das wäre jetzt zu billig. Es gibt einen losen Zusammenschluß – ich weiß nicht, ob es ihn noch gibt –, italienischer Restaurants in ganz Europa. Es sind alle schlichte Restaurants. Schlicht im besten Sinne. Nicht diese Edelfreßtempel für die Geldsäcke. Sondern für Menschen, die gerne gut essen. Und wenn man in eines dieser Restaurants geht – ob in München oder Stockholm oder London oder sonstwo –, und man nimmt eines der Tagesmenüs, die sie grundsätzlich anbieten, dann erhält man einen dieser Keramikteller. Er hat, wie gesagt, einen gigantischen Schrank voll damit. Ich habe auch zwei.«
Sie lacht hell auf.
»Du bist weit gereist. Mit ihm?«
»Ja. Beide Male. Einmal in Heidelberg. Das vergesse ich nie. Ich hatte eine Ausstellung von ihm eröffnet.«
»Eröffnet?«
»Na. Man sagt das so. Ich habe die Eröffnungsrede gehalten. Inauguration. Am nächsten Tag sind wir in dieses Restaurant gefahren. Wenn ich mich nicht irre, war es im Stadtteil Handschuhsheim.«
»Ich kenne es nicht.«
»Is ja wurscht. Es ist abgelegen. Nicht im Zentrum. Früher nicht weit vom europäischen US-Hauptquartier der Streitkräfte. An einer absolut langweiligen Straße. Ich glaube, diese Restaurants liegen alle nicht in den Zentren. Sie zahlen lieber weniger Miete und stecken das Geld in ihre Ware. Und den Service. Kurzum. Er hatte reserviert. Er war wohl auch nicht zum ersten Mal dort. Er wurde begrüßt wie ein uralter Bekannter. Es war gegen halb eins am Mittag. Raus sind wir gegen sechs Uhr abends.«
»Mon Dieu! Ihr habt nur gegessen? Es schafft kein Franzose.«
»Na ja. Ich habe das oft genug erlebt. Aber es ist ja auch etwas Besonderes. Das Restaurant schließt normalerweise über den Nachmittag und öffnet erst wieder um siebzehn Uhr. Als die neuen Gäste kamen, saßen wir eben immer noch. Und es ist niemand vom Personal nach Hause gegangen! Das klingt jetzt wie eine Performance. Aber das ist bei ihm normal. Du kannst alles essen, was er bestellt. Und er ist ein phänomenaler Vorkoster. Er probiert alles aus, aber auch wirklich alles. Er geht auf jede Empfehlung ein. Selbstverständlich erhält er immer sehr kleine Portionen. Auf seinen Wunsch. Das ginge ja sonst auch gar nicht. Ich mache ja meistens schon nach dem dritten Gang schlapp. – Na gut. Seit ich nicht mehr viel Alkohol trinke, geht es besser. – Monsieur!«
Er kommt an den Tresen.
»Naziza. Noch etwas zu trinken?«
»Oui. Café et eau minerale.«
»Für mich bitte einen Pastis. Cinquante une, s'il vous plaît.«
Es geht wieder sehr rasch. Ich werde diesen Pastis besonders genießen. Es ist der erste richtige in der richtigen Heimat. Unterhalb des Tors zum Süden. Nur der kommende in Marseille wird noch besser schmecken.
»Pardon. Monsieur. Es war nicht mein Absicht. Doch ich habe gehört Sie erzählen von eine Mann. Ich glaube, ihn zu kennen. Er ist aus Spire?«
Ich wende mich kurz Naziza zu: »Habe ich es Dir nicht gesagt?«
Dann zu ihm: »Ja. Es ist mir klar, daß Sie ihn kennen müssen. Ganz Speyer kennt ihn. Kennt ihn und seine Genußfreudigkeit. Er ist auch ungemein kommunikativ. Und daß Sie ihn im Casino kennen, das war klar.«
»Ja. Er war sehr oft bei uns. Und er hat immer andere Menschen mitgebracht.«
»Klar. Er ist ein überaus geselliger Mensch. Wie alle einsamen Menschen.«
Der leicht zweifelnde Blick kommt von meinem Gegenüber. Meine Nachbarin zur Rechten ist von dieser Aussage weniger überrascht.
»Sie glauben, er ist einsam? Ich glaube es nicht. Er ist immer sehr lustig.«
»Das sollten Sie als Gastronom aber doch wissen – wo die Einsamkeit sich laut lachend trifft.«
»Vielleicht haben Sie richtig. Ich habe noch nicht nachgedacht darüber.«
»Bon. Cheri. Erzähle weiter.«
»Darf ich auch zuhören? Es sind, glaube ich, gute Erinnerungen an Deutschland.«
Ich verkneife mir, daß er das ja ohnehin die ganze Zeit tut. »Aber selbstverständlich. Wo war ich stehengeblieben?«
»Er – goûter toute.«
»Ah ja. Also er läßt keinen Krümel aus – wenn er empfohlen wird. Der Patron wich ihm damals nicht von der Seite. Wenn er davon sprach, es stünde gerade ein neuer Fond auf dem Herd – her damit. Irgendein Teig befindet sich in Vorbereitung – der Koch wird in Küche gejagt, zum Herausbacken. So ging das stundenlang. Und es geht. Man hockt ewig, nimmt hier bißchen, dort ein bißchen. Zwischendrin gibt's auch mal einen kompletten Gang. Und es geht aber auch jeder hinein mit seiner Gabel. Étiquette? So ein Schwachsinn. Alles mit Lust. Lust braucht keine Benimmregel. Du wirst in solchen Restaurant auch nie diese hochgedrechselten Servietten sehen, mit denen man sich ohnehin den Mund nicht abwischen kann, weil sie steif sind wie die Bretter, auf denen sie gebügelt wurden. Oder sie werden für solche Gäste vorher entfernt. Der große runde Tisch ist schön und sauber gedeckt. Bis er voller Flecken ist. Aber wie. Weil jeder darauf herumaast. So ist das eben bei einer solchen dauersensuellen Gruppenkopulation. Quatsch. Weshalb versuche ich mich denn zu strangulieren? Und auch noch mit dem falschen Wort! Dauergruppensex!«
»Didier! Ne te laisse pas aller!«
»Was ist los? Das ist doch Chichi. Aber wenigstens lacht Dein zierliches Gesicht bei dieser Geziertheit.« Nun wird sie rot. Das wollte ich nicht. Aber mir ist nach Schwelgen. »Es ist doch wie ein wunderschönes Herumgevögle, so ein Essen.«
Aus einem leichten Glucksen meines Gegenübers wird nun ein freies, ja befreites Lachen. Meine Geliebte zeigt tief innen nicht nur Erkenntnis, sondern auch Verständnis. Die Füßchen ihrer Krähen haben Auslauf.
»Wir können ja unser Wort dafür hernehmen, weil Vögeln nun wahrlich nicht der passende Begriff dafür ist. Und es ist ja auch alles andere als Pornographie. Also – alle zusammen Liebe machen auf dem Tisch. Ich empfinde das so. Und es ist ja auch so – wenn mir das mit Dir passiert, kann ich anschließend direkt ins Bettchen mit Dir. Es ist ungeheuer anregend, stimulierend. Nix mit Völlegefühl. Von wegen dicker Bauch. Sechs Stunden essen auf eine solch freie, befreiende Weise! Das ist – meine Güte –, wem ich erzähle ich das? Ich erzähle das einer Araberin!«
»Arabe? Madame? Ich sehe es nicht. Oh, pardon. Excusez-moi, Madame.«
»Ach. In Madame sind alle herrlichen Gewürze dieser Erde vereint. Madame ist eine multikulturelle Oase, Monsieur.«
Ich erhalte dafür eine dieser köstlichen saftigen Oasenfrüchtchen aufs linke Auge. Ich werde es lange geschlossen halten. Nichts möge verlorengehen.
»Didier. Du kannst Dich wieder öffnen.«
»Mich? Oder mein Auge?«
»Du bist – absolument impossible!«
»Du weißt es doch. Also nimm es hin.«
Unser Wirt wird zusehends fröhlicher.
»Ich kann es nur – wie heißt es? Ich meine confirmer.«
Mein Übersetzerin schaltet sich ein.
»Bestätigen?«
»Ja. Bestätigen. Er ist immer voller Genuß gewesen. Und es hat auch niemande von uns etwas ausgemacht, wenn es ein wenig durcheinander, oui, wild ausgesehen hat danach. Bei andere hat uns es schon gestört. Bei ihm nie. Es war vrai, eh ...«
»Ich habe schon verstanden. Echt. Wirklich. Wahr. Richtigerweise gilt im Französischen vrai für alle diese Bedeutungen.– Aber auch rein, pure! Madame! Das ist auch eine Art von, nein, es ist keine Art, es ist Reinheit. In der Reinheit liegt die Wahrheit. Oder die Wahrheit liegt in der Reinheit. Oder wie? Jetzt weiß ich selber nicht, was ich meine. Doch vermutlich stimmt mal wieder alles.«
»Vielleicht, Cheri, ist die Reinheit die Form der Wahrheit? Wahrheit ist die Inhalt.«
»Meine Güte! Habe ich eine kluge Frau!«
Die kluge Frau erteilt meiner rechten Wange einen kleinen Streich. Unser Wirt schaut ganz entgeistert.
»So etwas wird hier nie gesprochen! Das ist sehr interessant. Es ist zum Nachdenken.«
»Dann müssen Sie sich eine solche Frau suchen. Dann lernten Sie eine Menge. Aber die kriegen sie nicht. Die ist für die nächsten zweitausend Jahre vergeben. Nein, zweitausendsechshundert Jahre. Bis wir Marseille wieder an die Griechen zurückgeben. Ach, was sage ich: Mit jeder Wiedergeburt wird sie wieder zu mir gehören.«
»Und was ist nach diese zweitausend Jahre. Gibst Du mich dann ab? Non! Vielleicht ich habe auch noch etwas mitzureden. Nach diese zweitausend Jahre bestimme ich nämlich! Ich sage dann für die weitere zweitausend Jahre – Du gehörst zu mir. Und so geht es immer weiter.«
»Wäre ich jetzt nicht in meine eigene Café, ich würde glauben zu sein im Kino. Sie sprechen wie im Kino.«
Naziza schaut ihm leicht herausfordernd in die Augen. »Chez Rohmer? Chez Sautet? Guédiguian? Ou autres da la manière?« Wohl mit Rücksicht auf mich begibt sie sich wieder ins Deutsche. »Sie sehen diese Filme?«
»Ja. Ich sehe sie gerne. Sie helfen mir, wenn ich traurig bin. Aber ich habe immer gedacht, das ist zwar schön, aber alles Papier. Et maintenant – hier sitzen zwei Menschen, die sprechen so wie dort in diese Filme.«
»Da sehen Sie mal«, ergreife ich das Wort, »Kunst ist Leben. Diese Regisseure saugen sich das nicht aus ihren Hirnen. Sie beobachten. Das ist alles. Das Leben ist ein Roman.«
Eine leichte Milde durchzieht das Gesicht meiner Liebe.
»Retour, Monsieur Aubertin! Mon Dieu! Wir müssen fahren. Wir sind spät.«
»C'est bien dommage! Wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben. Es ist gut, anderes zu hören. Nicht immer nur Football und Politique. Es gibt hier ein schön klein Hôtel. Ich rufe gerne für Sie an dort.«
»Es ist lieb von Ihnen. Gut gemeint. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Aber meine Frau und ich werden erwartet. Zunächst von unserem Bett – wir sind seit heute früh um sechs Uhr auf den Beinen –, und dann am Nachmittag von einem Besuch. Es geht nicht anders. Wir müssen weiter. Aber einen Pastis nehme ich tatsächlich noch.«
»Didier! Est-ce nécessaire? Oh! Non! S'il le faut.«
»Wie sagte schon unser weiser Philosoph Léo Ferré? Muß es sein? Es muß sein!«
Ich höre Bekanntes. Blitzartig hat unser neuer Betrachter französischer Kultur eine CD aufgelegt. Ich lausche ganz verzückt. Und meine Entzückende mit mir – avec le temps. Er hat Léo Ferré aufgelegt. Ich könnte ihn knutschen. Überall ist es schön.
»Sie wissen schon, was Ihre Gäste wünschen!«
Er zuckt leicht mit den Schultern. »Wer so spricht wie Sie, dieser muß diese Musik lieben. Es ist richtig?«
»Fürwahr, mein Herr! Ich glaube allerdings, ich bin der einzige Deutsche ...«
»Du bist keine Deutsche! Merde!«
Unser Gesprächspartner bekommt einen ganz verklärten Blick. Ich weiß allerdings nicht, ob es daran liegt, daß auch eine Schönheit derb fluchen kann oder weil ich kein Deutscher sein soll. Dann erschrickt er, entschuldigt sich und dreht sich flugs um, um meinen Pastis einzuschenken.
»Pardon, Monsieur. – Ich habe noch eine Frage.«
»Bitteschön.«
»Dieser Freund – en provenance de Spire. Er exi ...«
»Ja. meines Wissens nach existiert er noch. Wenn Sie das meinen. Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm. Na ja. Mal ein Fax. Alle zwei Jahre mal. Mehr aber auch nicht. Es liegt nicht an ihm. Es liegt an mir.«
»Sie haben sich gestritten?«
»Nein. Es ist, wie wir im Deutschen sagen, auseinandergelaufen. Meine Interessen haben sich verlagert. Oder auch – ich habe das Bedürfnis nicht mehr. Das heißt aber nicht, daß wir uns böse sind. Es ist manchmal so, daß man sich aus den Augen verliert. Ich finde es nicht schlimm. Ich habe zwei, drei Freunde, die ich nur alle paar Jahre mal sehe. Ich bin da nicht sehr französisch.«
Er lacht. Irgendwie wissend. Meine Frau aber hebt und senkt die Stirn ein wenig traurig.
»Er hat ein paarmal bei mir auf den Anrufbeantworter gesprochen. Aber ich bin ein sehr bockiger Mensch. Wenn ich keine Lust habe, dann will ich nicht. Bis ich ihm dann mal einen Brief geschrieben habe, mit dem ich mich erklärt habe. Es kam eine Antwort des Bedauerns, aber verständnisvoll. Ich bin sicher, daß wir uns sehr freuen, wenn wir uns wieder einmal begegnen sollten.«
Ich mache einen festen Zug. Ein Schluck noch, und der Pastis ist getrunken. Ich bitte um die Rechnung.
»Kommen Sie uns besuchen«, sagt Naziza zu ihm. »Wenn Sie es möchten.«
»Mais – oui! Avec plasir! Est-ce que je peux?«
»Sie sind ein sympathischer Mensch. Sie schauen Filme von unseren Lieblingen an. Sie können nicht schlecht sein. Lassen Sie sich die Telephonnummer meiner Frau geben. Ich habe so etwas nicht.«
»Idiot! – Gib mir Deine Visitenkarte.«
»Weshalb denn das? Da steht die Münchner Adresse drauf.«
»Aber er kann Deine Name lesen. Und ich schreibe das andere dazu.«
Ich greife in meine Hosentasche. Aus dem kleinen Etui für die Kredit- und sonstige Karten, die einem das Leben so abfordern, ziehe ich eine heraus und gebe sie ihr. Sie notiert – et Naziza Aubertin. Sie schreibt in ihrer typisch französischen, leicht geschwungenen, bewegungsfreudigen Handschrift die Telephonnummer und die Adresse dazu. Sie reicht sie ihm. Er liest.
»Aubertin. C'est français! Nicht deutsch.«
»Das ist wohl richtig. Meine Familie stammt aus dem Elsaß. Ich vermute, daß es ein hugenottischer Name ist, und weil der Namensforscher mir erzählt hat, daß das irgendwie alle Orgelbauer oder sowas ähnliches waren. In evangelischen Kirchen, wohlgemerkt. Genau weiß ich es nicht.«
»Ah! Die Protestante dürfen zurück!« Ein bißchen unsicher lächelt er dazu.
Ich nehme ihm seine Unsicherheit, indem ich nickend lache. »Aber ich bin keiner. Der einzige Mensch, gegen den ich protestiere, ist meine Frau. Denn die ist nicht so langweilig wie Luther oder die Calvinisten.«
Nun lacht er herzlich und frei heraus. »Ich hätte Sie gerne oft hier als Gast. Es ist sehr schade.«
Naziza stellt den Kopf leicht schräg. »Sie gründen eine Réstaurant dans Cassis. Und wir kommen oft. Sind Sie Cuisinier?«
»Oui. Cuisinier et garçon. Ich habe es gelernt vor die Militaire.«
»Meine Güte. Und dann stehen Sie hier! Jetzt verstehe ich Sie. Möchten Sie denn gerne? Ein Restaurant, meine ich?«
»Ja. Sehr gerne. Aber ich habe das Geld nicht. Es ist schwierig.«
»Und in Cassis, das sagte ich ja vorhin schon, dürfte es auch wenig sinnvoll sein. Im Sommer nur Touristen – wenn auch relativ angenehme, und im Winter tote Hose. Und das einzig wirklich angenehme, in dem ich war, liegt völlig versteckt in einer Seitengasse. Ich glaube, es waren auch nur Einheimische dort. Sie haben alle diesen phantastischen Fischtopf gegessen. Vermutlich Bouillabaise.«
»Ich muß nicht nach Cassis. Aber ich muß an die Mer. Zu die Bouillabaise.«
»Das verstehe ich sehr gut.« Ich sehe aus den Augenwinkeln den flehentlichen Blick meiner nach Hause Drängenden.
»Mais – Monsieur. Wir müssen. Rufen sie an, wenn Sie nach Marseille kommen. – Naziza, ist ja gut. Wir fahren ja gleich. Hast Du ihm die Portablenummer aufgeschrieben? Nicht, daß wir weg sind, und er ruft auf der alten Nummer an. Dann hätten wir sie ihm nicht geben müssen.«
»Oui. Monsieur Aubertin. Das habe ich getan.«
»Also, mein Herr. Wenn Sie uns unter dieser Nummer nicht mehr erreichen, dann wählen Sie bitte die Nummer des Portable meiner Frau. Wir ziehen nämlich in Kürze nach l’Estaque.«
»Mon Dieu! Sie sind nur glücklich.«
»Das ist wohl zutreffend gesagt. Also ...«
Er unterbricht mich, indem er mir seine Karte vors Gesicht hält. Ich lese. Henri de Luminy.
»Ach du meine Güte. Alter Adel. Weinadel. Ich meine mich zu erinnern – Marseille?«
»Oui. Sehr alt. Und sehr arm. Ich. Ich bin eine – wie heißt es? – Zweig neben ...«
»Nebenzweig. Nun denn, Monsieur de Luminy, wir sind auch alle möglichen Nebenzweige. Doch es ist angenehmer, ein saftstrotzender Trieb zu sein als so ein ausgetrockneter, völlig verhärteteter, unverrückbarer alter Stamm. Treiben Sie. Lassen Sie sich nach Cassis treiben. Wir werden unsere Wurzeln in Ihre Bouillabaise eintauchen. Und so Saft tanken.«
»Sie sind sehr freundlich.«
Wir verabschieden uns, indem wir uns die Hände geben. »À bientôt.« Wir gehen hinaus. Wie gewohnt gehe ich zur Fahrerseite.
»Didier.«
»Was ist, meine Süße?«
»Du wolltest schlafen. Und ich sollte fliegen Deine Ente.«
»Es ist nicht meine Ente. Es ist jetzt unsere Ente. Quatsch. Sie gehört auch nicht uns, sondern ihrem Besitzer. Aber wir sind sogenannte Wirtschaftseigentümer ...«
»Was ist das?! Wirtschafts ...«
»Es ist ein Begriff aus dem deutschen Steuerrecht. Es besagt, daß etwas zwar nicht tatsächliches Eigentum ist, aber man es unterhält, also dafür aufkommt. Es gibt also einen Unterschied zwischen Besitz und Eigentum. Das können die meisten ebensowenig unterscheiden wie Gleiches und Dasselbe. Also – Leasing zum Beispiel ist Wirtschaftseigentum. Das ist dann steuerlich absetzbar. Wenn man es geschäftlich nutzt.« Ich gehe um das Auto herum. »Also, hier ist der Schlüssel zum Wirtschaftseigentum. Pilotiere es gut.«
»Ich werde mich bemühen, meinen Geliebten gut zu transportieren. Ich muß ihn ja gut in mein Bett bringen. Sonst fehlt mir meine Bär darin.«
»Na. Solange ich kein Ochse bin.«
»Du bist nicht ein Ochse. Du bist wirklich nicht kastriert. Deshalb geht auch nicht einmal ein Kuh mit eine Ochse ins Bett. Und Du – Du gehst sowieso nicht mit eine Kuh ins Bett. Hast Du gesagt.«
»Sollte ich das denn tun? Dich mit einer Kuh eintauschen. Mit einer deutschen noch dazu vielleicht? – Aber sprich: Hast Du denn schonmal ein Döschwoh gefahren?«
»Mon Dieu! Oft. Paul hat eine alte.«
Schon wieder Paul Barthes, der Fischfilmer. Er geht mir auf die Nerven. Hoffentlich ist er mir sympathisch. Obwohl – vielleicht macht's dann noch schlimmer. Schrecklich, diese Eifersuchtsanflüge.
»Mit ihm bin ich gefahren. Aber schon auch mit andere.«
»Dann ist's ja gut. – Aber ich dachte, alle 2 CV befinden sich auf dem Terrain der Bundesrepublik Deutschland. Das hat mir ein Franzose gesagt. Obwohl – auch das habe ich Dir, glaube ich, bereits gesagt – Frankreich sie ja mittlerweile zu reimportieren beginnt. Wir hingegen fahren das Entchen in den Stall. À propos – hat es denn einen?«
Ich steige ein und setze mich auf den ungewohnten Platz.
»Eine Stall für die Ente. Warum? Wozu? Hast Du Angst, es wird gestohlen. Eine 2 CV können sie in Afrique nicht gebrauchen. Sie nehmen Mercedes und VauWeh Golf. Wie in Osteuropa.«
»Da ist’s auch kalt. Eine Ente braucht's warm.«
Sie fährt, als ob sie nie etwas anderes chauffiert hätte als dieses Tier.
»Didier! Es ist nicht la Sibérie – wo Du herkommst! Marseille ist noch einen Schritt nach Afrique!«
»Aber in diesen schrecklichen Mistral-Wintern friert ein Entchen. Was ich bei Vanderbeke darüber gelesen habe, klingt fürchterlich.«
»Vanderbeke? Ist es diese Deutsche, die hier im Süden lebt?«
»Ja. Birgit Vanderbeke. Sie lebt, so habe ich es herausgelesen, irgendwo am Rand der Cervennes. Vermute ich mal. Sie hat jedenfalls ein köstliches Buch geschrieben – Ich sehe was, was Du nicht siehst. Du kennst nichts von ihr?«
»Ich habe in dieser schönen Buchhandlung L’odeur du temps in der Rue Pavillon – Du kennst sie?«
»Ist das die mit der Holzfassade, kurz vor der Ecke Rue Paradis?«
»Was frage ich solches?! Vermutlich hätte ich Dich dort suchen müssen, ein paar Schritte nur, à deux pas d’office du tourisme, und nicht am Ende der Welt, in Deutschland. In L’odeur du temps habe ich etwas von ihr gesehen, also daß man von ihr auch etwas übersetzt hat. Gelesen habe ich nichts von ihr. Jedoch ein paarmale davon gehört. Es ist lohnenswert?«
»Ich meine schon. Sie hat einen wirklich eigenen Stil, sehr knapp und trocken. Lakonisch. Doch sehr gut, meine ich. Man kann es durchaus als Einführung für Frankreich-Anfänger lesen. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil es so fortgeschritten ist und eben keinerlei Zierrat dran ist, was zum nebensächlichen Nachdenken auffordert. Vielleicht allenfalls zum Selberdenken. An Reillane, wo ich zweimal war, in die Haute-Provence also, mußte ich neulich denken, als ich das Buch wiederlas. Ich hatte was über den besagten Mistral gesucht und wußte, daß sie was ziemlich Komisches über fürchterliche Stürme geschrieben hat.«
»Mon amour – in die Haute-Provence gibt es keinen Mistral! Sie haben auch Wind. Vermutlich genug. Doch keinen Mistral. Die Haute-Provence liegt im Osten. Der Mistral jedoch kommt von Westen, zu uns an den Quai des Belges, wo er unsere Garçons oder andere Flaschen umwirft. Und er fährt die Rhône hinunter, wo er uns hineinpustet in Deine Badewanne.«
»Na, klar, logisch, ich Doofkopp! Es muß sich wohl mehr um die andere Seite der Rhône handeln – ich vermute, wie gesagt, es geht bei ihr um die Ausläufer der Cervennes, wo sie wohl seit vielen Jahren lebt; auf jeden Fall in Südfrankreich. Sie läßt sehr vieles offen – was die Phantasie nur beflügelt. Du solltest es unbedingt lesen – nicht nur wegen ihrer teilweise bezaubernden, sehr respektvollen, aber auch amüsanten, eigenwilligen, im besten Sinn eigenartigen, stilistisch lakonischen Charakterisierungen von Menschen in France – aber auch der deutscher Urlauber: ›Der Mann sagte, was sag ich immer: Urlaub ist verschärfter Existenzkampf.‹ Oder: ›Es gab wieder meinen Wein, obwohl er auch heute kein St. Emilion war, und später stellte sich heraus, daß die Bohnensuppe, die ich gekocht hatte, während sie duschten, kein Lammfilet war, nicht einmal Loup de mer, sondern tatsächlich Bohnensuppe mit weißen Bohnen. Paßt irgendwie nicht hierher, sagte der Mann.‹ Ich könnte mich beömmeln. Weil du das ständig erlebst hier. Nicht nur hier. Überall, wo diese gut und noch besser verdienenden und besserwissenden Deutschen auftauchen, meistens mit Fahrrädern für je achttausend Mark aufm Dach ihres Saab oder Volvo für achtzigtausend. Leute aus Werbung oder Journaille. Sowas fährt nicht Mercedes. Bei Vanderbeke heißen diese futuristischen Mountainbesteigungsmaschinen Fluggeräte. Die Österreicher nennen sie Piefkes, diese neonhelmgeschützten Besitzer der Fluggeräte. – Ja, und dann: nicht nur der Landschaft wegen, sondern auch wegen der Beschäftigung der Hauptfrau des Romans – eigentlich ist’s ‘ne längere Erzählung – mit den Farben dieser Gegend, die sie daran hindern, nach den Hörfunksendungen Cézanne für Kinder, Miro für Kinder et cetera auch van Gogh für Kinder zu schreiben, ›weil das Licht gegen Ende des Sommers so grau wurde, ganz durchsichtig leuchtend grau, daß ich Cézanne plötzlich besser verstand als früher‹ und der Gedanke an ›van Gogh für Kinder‹ ihr Unbehagen bereitete, das jedoch ›so undeutlich‹ war, ›daß ich nicht weiter darüber nachdenken mochte – nicht, solange wir noch im Niemandsland lebten und uns jeden Tag erzählten, was wir sahen, und jeden Tag war es etwas Neues, und jeden Tag war es schön und wurde immer noch schöner von Tag zu Tag‹. Und mit Paul Klee für Kinder hatte sie dann auf einmal Schwierigkeiten, weil er ihr so fremd geworden war. Überhaupt geht es um Farben, und es geht dabei sehr bunt zu. Sie malt die Vielfalt der Farben und läßt die Konturen weg. Und ich – vermutlich auch andere – bin dennoch ganz begierig, möchte die Einfassung der Farben sehen, möchte wissen, wo der Landstrich liegt, den sie da mit viel Liebe festhält. Ich komme nicht darauf. Doch es muß der Südwesten sein, denn sie schreibt von einer Fiesta, einer Stadt, durch die junge Stiere getrieben werden, und Schafe und Meeresgetier kommen auch sehr häufig darin vor. Es dürfte sich also um die südlichen Cervennes handeln, also anzunehmenderweise westlich der Rhône, also mehr in Richtung Arles, also nördlich davon wohl, da sie auch von Bergen erzählt, in denen es schrecklich stürmen kann im Herbst und im Winter – das war der Anlaß meiner Suche: ich wollte den Mistral als Zitat zu fassen bekommen.«
»Didier! Vanderbeke hat wenn, dann über den Mistral in den Bergen geschrieben. Ich glaube, er ist sehr schlimm dort. Wenn sie den Mistral hat gemeint! Es gibt noch den Lagarde, le vent d’est. Er ist auch sehr kraftvoll. Mais – stark er ist primaire auf den Île de Frioul. Jedoch Berge und nicht in Marseille! Es ist – ihr seid beide total verkommen! Du und Dein Ente. Oui, es wird sehr kalt. Zwölf Grad, im janvier. Warst Du überhaupt einmal im Winter in Deine Heimat?«
»Ich muß kleinlaut zugeben – einmal.«
Ich spüre, es wird keine meiner gewohnten Beifahrerängste geben.
»Wann war es?«
»Jetzt werde ich noch kleinlauter. Ich sag es auch ganz leise.«
»Wird es schlimm für mich?«
»Ich weiß es nicht. – Aber fahr uns bitte trotzdem nicht an den Baum.«
»Es gibt keine Baum hier. Aber dort eine Tankstelle. Das wolltest Du doch – ou?«
»Meine Güte. Das hätte ich beinahe vergessen. Hab ich ein Glück, daß ich ab sofort nicht mehr selber denken muß. Ja. Fahr hin. Sofort. Sonst krieg ich am Ende Probleme mit der Ente. Die mit Dir reichen mir.«
»Diese bekommst Du jetzt!«
»Weshalb, Du meine gute Güte?«
»Wann warst Du im Winter in Marseille? Vielleicht letzten?«
»Bitte nicht hauen. Ja.«
»Sacré nom de Dieu! Tonnere de Dieu! Malédiction. Bordel!«
»Hast Du mal im Hafen von Marseille Säcke geschleppt? Sag. Du fluchst ja wie eine ganze Hafenarbeitergewerkschaft.«
»Ich fluche auf Dich!«
»Oh je. Jetzt ist es soweit. Komm, laß uns erstmal tanken. Daß wenigstens Du noch nach Hause kommst.«
»Warum ich?! Wir beide. Und dann – recevoir une bonne fessée.«
»Das klingt arg. Was ist es?«
»Deine Hintern voll!«
»Oh je. Aber warum? Nur, weil ich in Marseille war. Es ist nicht das erste Mal.«
»Meine geliebter Mann. Weil es war wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt, an dem ich mich getroffen habe mit anderen, um Dich zu suchen.«
Ich fülle den Ententank. Und fürchte meine Ehegattin. Das ist mir nun wirklich unangenehm.
»Ich habe keine Lust, allen möglichen Leuten zu erzählen, wann und wo ich hinfahre. Außerdem hättest Du mich ja anrufen können. Wir hätten uns auf einen Café treffen können.«
»Nom de Dieu! Was bist Du für eine Mensch?! Du bist horrible! – Wann warst Du?«
»Ich muß Dir recht geben. Es war nicht lustig. Ich wollte in den Süden. Angetroffen habe ich Frau Holle. Aber so habe ich wenigstens was gearbeitet.«
»Tiens tiens. Doch Du weichst mir aus. Wann?«
»Oui, Madame. Wahrscheinlich genau zu dem Zeitpunkt, an dem Du ausnahmsweise mal nicht hinter der Börse gejobbt hast dort. Ich vermute sehr stark, daß mein Instinkt das genau hingekriegt hat. Sonst hätten wir ja in der Hotelbar einen trinken können.«
»Sot! Ich war in mieux décembre à Paris. Sage es jetzt nicht, daß ...«
»Doch, ich wage es, zu sagen. Am 14. Dezember hat es doch tatsächlich geschneit in Marseille.«
»Vermutlich wirst Du – als ein guter Marseillais, der Du bereits bist, oder Du hast ein Buch mit schlechte Witzen gelesen – mir jetzt sagen, daß es einen Meter Schnee gegeben hat.«
»Ich verstehe nur Bahnhof. Von mir aus Flughafen. Von dem war ich nämlich gekommen. Ich hab wirklich ...«
»Didier. Die Marseillais sind überall in France bekannt für ihr – exagérer. Merde, wie heißt es, exagérer. Sie sind Fanfarons.«
»Prahler? Aufschneider?«
»Oui. Du bist ein Fanfaron. Und Du hast einen Meter Schnee gesehen. Und nun fragt der Parisien: Einen Meter? Breit? Von mir aus so breit wie die Canebière. Schnee in Marseille. Du warst im Kino.«
»In Marseille, ja. Auch. Im Lieblingskino Varieté. Sozusagen in der Provence. Geschneit hat’s da nicht. Da war‘s Juli. Im Film. Balzac. Jacques Rivette. La Belle noiseuse, deutsch Die schöne Querulantin. Darin wurd’s warm, war’s warm. Also regnete es. Und zwar meine enttäuschten Blicke auf Emannuelle Béart ...«
»Didier. Was redest Du? Très diffuse. Regen? Im Kino? Enttäuscht?«
»Ja, wegen der Figur der Hauptdarstellerin. Ich hätte unterhalb des elfenartigen Gesichtes dieser Violinistin Camille aus Claude Saudets Un cœur en hiver – siehst Du, auch im Winter will Ein Herz im Winter nicht weichen – doch eher einen ebenmäßigeren, sehr viel zarteren, sanfter proportionierten Körper vermutet. Die Béart hat ja ein Hinterteil wie – na ja, vielleicht nicht so sehr wie der von Madame Boubou ...«
»Didier, Du bist eine male chauvinist – non, un phallocrate. Un saulaud!«
»Naziza. Ich versuche Dir in leicht schlingernder, also ‘n bißchen ausweichender Erzählform ablenkend was beizubiegen! Ich war am 14. Dezember in Marseille. Und ich bin ins Kino. Nicht nur wegen Madame Béart. Gut. Auch. Weil sie sich’s gerade ergab, die Hingabe. Nicht mir, sondern Herrn Piccolis Pinsel. Aber in erster Linie, weil’s geschneit ...«
»Willst Du damit zu mir sagen, daß Du warst in ...«
»Das versuche ich Dir die ganze Zeit zu erklären. Aber Du willst mich als einen ...«
Sie haut ziemlich heftig auf die linke Ententür. Und ich verstecke mich hinter der Malträtierten. Sie hat es wenigstens unterlassen, den Kotflügel zu nehmen. Der wäre jetzt abgefallen. Und die anderen drei gleich mit. Wie ich’s mal in einem Film bei einer Déesse gesehen habe, der Göttin, wie der Citroën DS in diesem schönen französischen Wortspiel auch genannt wurde. Wahrscheinlich bei Jacques Tati. Wer könnte sonst derart komisch-ironische Bilder herstellen, die französische Göttinen doch sehr despektierlich zeigen, quasi ohne Unterrock? Französische Galionsdamen, Heiligtümer, über die sogar dieser rasierklingenscharfen Analytiker Roland Barthes – verständlicherweise – in elogenhafte Verzückung geriet: »Ich glaube, daß das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist. Ich meine die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet. Der neue Citroën fällt ganz offenkundig insofern vom Himmel [...] Die Déesse hat alle Wesenszüge [...] eines jener Objekte, die aus einer anderen Welt herabgestiegen sind [...]. La Déesse, la Voiture et la Cathédrale. Alles weiblich. Vive la France!
»Das ist alles nicht wahr! Ich sitze in Paris, um eine Plan de bataille zu entwerfen, um Dich einzufangen. Und Du gehst spazieren dans Marseille!«
»Na ja. Ich sagte es bereits – mit Spazieren war es nicht so. Ich sagte es: Kino. Und draußen: Schnee. Regen. Aber da mich jetzt der Winterhafer sticht und ich sowieso umgebracht werde, nenne ich Dir außer dem Schnee in Marseille noch einen Grund, der mich in die minder schöne, weil winterlich verregnet-verschneite Stadt geführt hat.«
»Jetzt sag nicht ein Frau!«
»»Ach, Naziza. Für wen hältst Du mich? Und glaubst Du allen Ernstes, daß ich Dir das sagen würde. Ich bin doch nicht bekloppt.«
»Also es war so?! Doch?!«
»Nein. Ich versuche jetzt mal, ein ernsthafter Mensch zu sein. – Es ist etwas in mir, auch zu diesem Zeitpunkt und in all den anderen zuvor, das mich abgehalten hätte davon. Denn insofern funktionierte meine Erinnerung ja immer – daß da nämlich einmal etwas Schönes war. Vermutlich war es das ja, was ich immer gesucht habe. Wir haben ja darüber gesprochen.«
»Was hast Du dann gesucht? Wenn nicht mich. Im décembre?«
»Jetzt wirst Du gleich wieder auf die völlig schuldlose Ente eindreschen – bitte nicht auf den Kotflügel. Der ist nicht so stabil wie ich. – Ich habe nach Wohnung geschaut.«
»Du hast was?!«
Aus einem zunächst schauerlichen Lachen wird nach einer Weile ein etwas befreienderes, das es dann auch mir wieder etwas erleichtert, sie anzuschauen.
»Allez. Laß uns fahren. Dann kannst Du mir unterwegs noch ein paar von Deine Verrücktheiten erzählen – complètement fou.«
»Ich wollte und sollte schlafen. Daß ich zuhause wieder wach bin.«
Sie biegt lachend in die Straße ein. Es ist vielleicht dann doch nicht so schlimm. Allerdings tut sie wieder der Ente weh. Sie dreht die Gänge sehr hoch.
»Bitte. Naziza. Der Zustand dieses Entenmotors ist – nach Aussage seines tatsächlichen Eigentümers – wohl deshalb so außergewöhnlich gut, weil mit ihm nicht versucht wird, zehntausend Umdrehungen zu erreichen. Wenn Du jemanden quälen willst, dann tu's mit mir. Nicht mit so einem unschuldigen Tier.«
»Pardon. Es ist gut. Ich muß es auch nicht tun. Mais – ich bin etwas désordre. Es ist zu sehr verrückt. Ich fahre nach Paris, um zu suchen meine Mann. Und was macht er? Er sucht in Marseille ein Wohnung. Du hast diese Gedanken schon länger?«
»Puh. Jein. Also, mit dem Gedanken spiele ich schon länger. Dann habe ich überlegt, ob ich in Paris eine Wohnung suchen soll. Was in erster Linie auch berufliche Gründe hat, da dort die Möglichkeiten doch besser sind. Aber ich habe es relativ rasch wieder verworfen. Meine Sehnsucht war doch immer – Du weißt ja, Joseph Roth: ›Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.‹ Der Dichter hat es gewußt: Es gibt kein Entkommen. Aber jetzt brauche ich ja nicht mehr zu suchen. Jetzt darf ich ja einziehen.«
»Maintenant – wolltest Du etwas kaufen?«
»Nein. Früher mal. Ja. Aber jetzt nicht mehr. Erstens habe ich das Geld nicht, und zweitens täte ich es auch nicht. Ich kaufe doch keine Wohnung für meine Enkel. Das sollen von mir aus deren Alten tun. Mir hat auch niemand eine Wohnung gekauft.«
»Du hast es nicht wollen.«
»Natürlich. Ich hätte ein Haus auf dem Land haben können und noch eine riesige Wohnung in der Stadt und noch drei bis vier Antiquitäten dazu. Vielleicht auch noch ein paar Mark, um das Ganze unterhalten zu können. Aber zum Preis des Wohlverhaltens. Das ging damals, als ich zwanzig war, schon nicht bei mir. Und Du bist ja mittlerweile ausreichend informiert über die Fakten. Und wenn ich mir so vorstelle, was hinter diesem Geld möglicherweise steckt, wo es herkommt – ach, ich darf gar nicht daran denken. Sonst muß ich wieder kotzen.«
»Es hat alles gehabt Deine Mutter?«
»Ja. Wahrscheinlich noch viel mehr. Aber dann hat sie ja alles glücklicherweise diesem Pfaffen in den fetten Arsch geschmiert. Diese Hugenottenkuh.«
»Warum sagst Du jetzt das?! Mon Dieu!«
»Weil sie mich doch da mit Sicherheit auch belogen hat. Wie bei allem. Nach Auskunft des Namensforschers sind das dort alles Protestanten gewesen. Ich hab’s ja angedeutet. Ich, ein Abkömmling Luthers und Calvins! Unvorstellbar. Das ist der echte Horror.«
»Doch sie ist Jüdin?«
»Ja. Aus dem Geldzählerviertel von Metz. Ich habe das Haus, die Wohnung ja gesehen. Na ja. Von der Wohnung kenne ich nur Photographien. Vielleicht waren es aber auch welche von der Wohnung in Krakau. Oder beides. Ach. Weiß der Geier – ich weiß ja überhaupt nichts mehr. Wahrscheinlich ist sie schonmal konvertiert. Oder ihre Eltern. Oder ihre Großeltern. Verbrieft altjüdisch ist – nach meinem Wissen – nur meines Vaters Familie. Vielleicht ist sie ja konvertiert, um leichter an arisiertes Kapital zu kommen. Und weshalb, frage ich mich immer wieder, war die nicht mit diesem Mann verheiratet?! Zu dieser Zeit! Da hat sich doch niemand sowas getraut mit – zwei Kindern. Na ja, eins. Mein Bruder wurde ja rasch ins Reich verschifft. Das stinkt doch von allen Seiten. Meine Güte – für diese Frau lege ich keine Hand mehr ins Feuer. Aber was soll's – das habe ich ja vorher schon nicht getan. Laß uns über was anderes sprechen. Ich will von dieser Scheiße nichts wissen.«
»Du willst nicht nachforschen?«
»Nein. Ich will nicht. Aber ich werde vermutlich einigem nicht ausweichen können.«
»Wenn Du es nicht willst. Wer wird Dich zwingen?«
»Ich weiß es ja nicht. Ich muß doch zur Préfecture. Wegen der Urkunde. Wegen des Passes. Und überhaupt weiß ich ja nicht, was da alles noch kommt. Sprachprüfung und so.«
»Didier! Isabelle hat es Dir vorgelesen. Sie hat gelesen, was auch in diese Brief steht, der gekommen ist in die rue de l’Évêché. Du bist Franzose! Du warst es zuvor schon. Es steht darinnen, in diese Brief von Isabelle. Also wirst Du es nicht mehr machen müssen. Das vermute ich. Genau ich weiß es jedoch nicht.«
»Naziza! Ich getrau mich doch gar nicht da hin! Soll ich da hingehen und sagen – ich will meinen französischen Paß abholen, weil ich Franzose bin. Aber Sie müssen mit mir deutsch sprechen, denn bonjour ist das einzige, was ich sagen kann auf französisch. Der ruft doch in der Klapsmühle oder beim Geheimdienst an. Irgendeiner wird mich dann schon abholen.«
»Bien. Ich werde anrufen. Ich bin schließlich Deine Frau. Und ich werde sagen, daß Du bist krank. Ich werde fragen, was ist zu tun. Dann sehen wir weiter. Wahrscheinlich wird er sagen – pas de problèmes, Madame. Wenn Ihr Mann ist wieder gesund, er soll kommen und seine Paß abholen. Er liegt hier. Er geht nicht verloren. Mais – Du sollst auf jeden Fall französisch sprechen. Viel. Parfaitement pareil, wie Du es sprichst. Nur immer sprechen. Es wird kommen. Und wir lernen etwas. Un peu conjuger, un peu grammaire. Es wird gehen.«
»Oh je. Du machst mir Mut. Ich und lernen. Nun denn. Warten wir's ab.«
»Nun sage mir – was hast Du für Wohnung gesucht. Denn es wird immer mehr grotesque.«
»Ach, was heißt gesucht. Nicht richtig. Ich habe halt da und dort gefragt. Und mal wieder die Zeitungen studiert. Allerdings habe ich fast ausnahmslos im Zweiten, im Quartier du Panier – das ist es doch, um die place de Lenche?«
»Oui. Es ist richtig.«
»Ja. Und in l’Estaque hab ich geschaut. Es ist wirklich schon sehr komisch. Aber vielleicht ist es ja tatsächlich Erinnerung. Vermutlich steckt es tief in mir. Denn wenn ich so sinniere, dann werden die Bilder schon immer deutlicher.«
»Es ist so?«
»Durchaus. Ich bin jetzt schon sicher, daß ich überhaupt nicht überrascht sein werde, wenn ich in Deine Wohnung komme.«
»Es wäre sehr schön! Mais, Didier. Es ist unsere Wohnung! Wir haben 1998 meine contrat de location geändert in unsere gemeinsame. Wir haben das gemacht wegen und gegen die Besitzer des Hauses. Er hat einmal geschimpft, gefragt – wer ist denn das, der da hinein– und hinausgeht immer?! Ich habe gesagt, Monsieur, es ist meine Ehemann! Er war beruhigt. Es war ihm dann auch angenehm, diese contrat zu ändern. Es ist – eh bien! – nicht nur sentiment, wenn ich es sage. C'est un fait! Diese Wohnung ist von – pardon – Dietrich und Naziza Aubertin.«
»Dieser Scheiß-Dietrich. Kann man den eigentlich nicht mit wegnaturalisieren? Es gibt doch die französische Schreibweise Thierry.«
»Wir werden fragen, ob es geht. Ich glaube, daß es geht. So viele Menschen haben in Frankreich ihre Namen in eine französische geändert. Es ist, glaube ich, dem französische Staat sogar recht. Vielleicht geht sogar Didier? Wer werden fragen. Vielleicht können wir sagen, es ist un nom de plume.«
»Ein Pseudonym, meinst Du?«
»Oui.«
»Mir wäre es angenehm.«
»Es gibt diese Name ja bei uns – Didier. Doch sage: Ist es so wichtig für Dich?«
»Genaugenommen durchaus. Da ist zum einen der – auch wenn es ein wenig zwanghaft klingen mag – symbolische Charakter. Ich will diesen Namen loswerden. Ich habe ihn nie gemocht. Allein dafür habe ich meine Mutter gehaßt. Nun, das ist vielleicht etwas übertrieben. Früher war mir das eher egal. Aber seit einigen Jahren ist es eben so. Seit meine Liebe zu Frankreich über die Ufer getreten ist. Doch nun, durchaus in diesem Zusammenhang, kommt ein weiterer Aspekt hinzu. Und der kann sich als zwingend erweisen. Seit ich vermehrt mit dem Ausland zu tun habe, insbesondere mit Frankreich, gibt es mit diesem Namen Probleme.«
»Wegen die Aussprache? Du hast einmal davon erzählt. Ist es nicht so zu Didier gekommen? Doch weshalb dann nicht Thierry? Es wäre das Französische für ...«
»Das kommt doch nicht von mir! Didier kommt von anderen. Los ging's vor bald zwölf oder noch mehr Jahren, als ein Künstler – witzigerweise noch ein Lateinamerikaner, der allerdings seit vierzig Jahren in Paris lebt – statt Dietrich Didier schrieb. Wahrscheinlich hat er den Namen auch nicht gemocht. – Das Problem ist: Niemand kann ihn schreiben. In erster Linie die aus den romanischen Ländern. Sogar die US-Amerikaner haben ihre liebe Müh' damit. Aber bei den Franzosen ist es ganz aus. Nicht mal abschreiben können sie ihn. Sie schreiben ihn entweder völlig falsch oder lassen irgendwas weg. Meistens das t. Dierich geht gerade noch. Aber vom Sprechen ganz zu schweigen. Dieses Diet-rich. Diese beiden Konsonanten t und r hintereinander ...«
»Es stimmt. Es klingt wie Kachcheln. Nein. Es ist viel mehr. Kein normale Mensch kann das sprechen. Es klingt wie das militaire.«
»Wie meinst Du jetzt das?«
»Puh! Es ist ein association d'idées. Ich habe sie aus schlechte Filme. Wenn ein deutsche Offizier die Füße zusammenschlägt nach einem Befehl.«
»Du meinst – wenn er die Hacken zusammenschlägt. Jawoll! Herr General! Klack. Zu Befehl! Herr General! Zack. Ganz, wie Herr Major wünschen. Rums. Befehl wird ausgeführt. Knall. Dittt-rich.«
»Es ist gut, daß Du es sagst. Wenn diese chliché von mir kommt, es wäre nicht so weise.«
»Weshalb denn?! Es ist Dein gutes Recht, Deine Klischeesüchte an mir auszutoben. Wenn's sonst nichts ist. Ich bin doch sowieso ‘ne Klischeeverpackung.«
»Das ist wieder eine, Monsieur! eitele – ich sage es nun gesondert nicht in der von uns nicht geliebten Sprache ...«
»Ui. Was kommt denn jetzt? Jetzt kriege ich wohl wieder einen übergebraten.«
»Aller pêcher pour compliments.«
»Du hast völlig recht ...«
»Dann es ist richtig?«
»Na ja. Wohl beides. Wenn ich auch die Eitelkeit ein bißchen einstreichen muß. Das ist eher Gealbere. Na ja. Eitel schon. Aber nur ein bißchen. Ich meine in erster Linie die französische Übersetzung dieses häßlichen Vorwurfs.«
»Du weißt, wie wir das nennen?«
»Bitte was? Habe ich schon wieder was verbrochen?«
»Se sortir habilement d'affaire.«
»Aus der Affäre ziehen?«
»Oui. Monsieur. So ist es.«
»Aber was meint habilement in diesem Zusammenhang.«
»Was zu diesem Wort gehört. Sich geschickt aus die affaire ziehen.«
»Na. Dann habe ich ja doch noch ein kleines Lob erhalten – wenigstens die Geschicktheit wird mir attestiert.«
»Ich sage es doch immer. Und es ist nur correct, daß Du sofort eine passport bekommen hast – Didier Aubertin ist eine idéal von le coq gaulois.«
»Au weh. Aber wenigstens ein gallischer Hahn. Ein gallischer Hahn und eine armenische Gazelle mit afrikanischen Streifen. Es lebe die Bastardisierung. Was da wohl rauskäme?«
»Aus was? – Ah. Du meinst, was geschieht, wenn Du Dich hineingibst in mich, was an turbulence – dans ma chair. Und was danach kräht ...«
»Natürlich nach der Maman. Nach‘m Papa kräht ja keine Gazelle mit einem knallroten Kamm auf'm Kopp statt süßen kleinen Hörnern.«
»Non! Das verbiete ich Dir! Nicht in mich hinein gibst Du so etwas!«
»Ich dachte immer, Du liebst ebenfalls die absolute Vermischung?«
»Ich meine diese Kamm von eine gallische Hahn. Das sind diese, die immer die Tricolore am Bauch tragen. Das will ich nicht.«
»Ach, das bißchen Hahn. Ist doch harmlos. Hähne können doch niemandem was anhaben. Die kräh'n doch nur.«
»Harmlos, sagst Du. Du mußt noch ein wenig lernen in der Histoire Deines Landes France!«
»Wie darf ich das nun wieder verstehen?«
»Le coq ist eine alte französische Symbol von Macht! Ich habe gedacht, Du bist ein Nachgeburt von ...«
»Was bin ich?! Eine Nachgeburt?«
»Oh! Ist es falsch?« Nun prustet es aus ihr heraus. »Mon Dieu! Pardon, Didier. Nachgeburt. Es ist arrière-faix. Ich habe gemeint ein Nachkomme. Pardon. Du bist keine tote Stück, das kommt hinten nach. Excuse-moi, mon amour.«
»Na gut. Als Mutterkuchen hat dieses tote Stück immerhin für Leben gesorgt. Also, was bin ich für eine Nachgeburt?«
»Du wurdest ja so bezeichnet – als der persönliche Rostand von unsere persönliche Cyrano und Roxanne!«
»Es mag ja sein, daß ich dieser Schmeichelei nicht widersprochen habe. Aber offenbar habe ich damit einen Fehler begangen.«
»Du kennst nicht das Pièce de théâtre von Rostand, une comédie, es heißt Chantecler? Es war seine letzte Erfolg, ich glaube 1910.«
»Nein, ich kenn's nicht. Gehört hab ich davon. Aber ich kenne es nicht.«
»Er, diese coq, glaubt nicht, daß wird die Sonne aufgehen auch ohne seine Weckerruf.«
»Weckerruf ist zwar ähnlich lästig beziehungsweise hat eine gleichartige fiese Funktion. Doch Du dürftest den Weckruf meinen.«
»Bonté divine. Was ist mit mir los. Ich mache mich zu Deine Gespött.«
»Quatsch. Und lustig ist's überdies. Aber ab sofort sag ich nichts mehr. Sonst muß ich noch zu Dir in die Französischprüfung. – Also, was ist mit diesem Hahn mit Tricolore-Bauchbinde?.«
»Nicht viel. Doch, sehr viel. Er wird überzeugt, daß die Sonne macht, was sie will. Auch ohne seine Lärm. Er hat keine Einfluß. Eh bien, er ist diese typische gallische Hahn eben, der will haben Macht. Und ich will kein Macht und Kampf darum dans ma chair! Wir müssen noch ein wenig üben.«
»Cherie – ich übe sowieso nur für Mädchen. Du weißt doch, daß ich Euch Frauen liebe.«
»Wir nehmen alles, was kommt. Nur eben keine gallische Hahn mit diese Bauch einer Tricolore. – Du mit Deine Frauen immer. Es ist wirklich sehr seltsam mit Dir.«
»Ich weiß ja mittlerweile, daß ich ein seltsamer Mensch bin. Du sagst es mir ja andauernd. Ich muß es alleine deshalb sein. Aber was zeichnet mich denn jetzt schon wieder aus? Daß ich Euch Mädels alle so liebe. Na ja. Nicht alle. Aber fast. Sag ich mal so – diese Spezies.«
»Non. Ich bin sehr oft verblüfft. Du müßtest doch Frauen vielleicht nicht so lieben. Wegen Deine Mutter.«
»Ich habe bisweilen auch daran ein paar Gedanken verloren. Aber zu einem schlüssigen Ergebnis bin ich nicht gekommen. Vielleicht reicht ja die Erkenntnis aus, daß es sich hierbei um ein Versehen der Natur handelt. Denn als Frau hat sie nicht funktioniert – na ja, biologisch offenbar schon. Und irgendwas muß ja noch gewesen sein. Mein Vater hat's ja einige Zeit mit ihr ausgehalten. Aber auch das stimmt schon wieder nicht mehr. Denn die letzten seiner Jahre hat er mich ja öfters gesehen als sie. – Du meinst, das ließe sich nur psychologisieren?«
»Non. Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre es naheliegend? Denn auffallend ist doch, daß Du Männer insgesamt kaum Beachtung gibst. Sie ...«
»Du hast völlig recht. Sie gehn mir am Arsch vorbei. Aber möglichst weit weg von meinem Arsch! À propos Arsch. Ich mag Männerärsche einfach nicht. Ich mag überhaupt keine Männerkörper. Ihr habt schöne Körper! Ihr seid eine Wonne! Alles fließt bei Euch. Von oben bis unten, von unten nach oben und wieder seitlich herum umschlingt Euch mein Wohlgefallen, umfaßt Ihr mein Herz, das Euch immerfort nur anschauen möchte. Deshalb mag ich wohl auch Tanz. Aber ohne Männer. Wobei die ja meistens ansehnlich sind. Nein. Quatsch. Es gibt auch sehr schöne Männer. Bei Pina Bausch sehe ich sogar manchmal welche, die sich so bewegen, ohne daß ich gleich an Hochleistungsturnen denken muß. Aber das sind dann auch diejenigen, die aussehen wie ihr. Und das heißt nicht, daß sie schwul sind. Aber Tänzerinnen. Keine Ecken und Kanten, schon gar nicht im Gesicht und am Arsch. Es sei denn, Ihr betreibt Body Building. Dann kommt ihr in meine persönliche Müllschredderei. Wie auch immer – ich liebe Euch. Aber meine schönste Tänzerin bist Du. Du bist meine Primaballerina.«
»Didier! Ich bin doch keine Tänzerin«
»Doch! Das bist Du. Ich denke bei Dir immer nur an das Schönste. Doch wirklich, Liebes! Du hast etwas von einer Tänzerin. Allerdings nicht von einer professionellen. Du hast nicht diesen Hochleistungskörper. Du bestehst eben nicht nur aus Muskeln und Sehnen. Bei Dir darf ich noch be-greifen. Und Du stakst nicht so, so – ohne Musik. Die können sich nur beim Tanz schön bewegen. Sobald sie aufhören zu tanzen, bewegen sie sich unnatürlich. Man sieht es ihnen sofort an. Wie Models. Wahrscheinlich ist es Manière, Manierismus. Aber Du bist von oben bis unten und fünfmal rum und wieder zurück Natur. Natürlichkeit. Ich hab‘s Dir schonmal gesagt – Dein Rhythmus wird von der Harmonie bestimmt. Du bist mein Orchester ohne Schlagwerk. Du machst nie Krach. Du bist als Schönheit das Non plus ultra! Basta!«
»Puh! Das ist wirklich so? Es ist sehr viel, was Du da sagst!«
»Es ist so. Ich könnte Dich immer anschauen. Ob Du sitzt, liegst, gehst oder schläfst. Ich muß allerdings sagen, daß Du in der Bewegung ausnahmsweise mal keine Marseillaise bist. Zumindest in aufrechter Position und auf dem Fußboden, im Vorwärtsgang.«
»Das verstehe ich nicht. Ich bin eine Marseillaise!«
»Ich meine Deine Bewegungsabläufe. Na ja, hier stimmt’s noch. Aber Dein Gang, der ist anders als der einer Marseillaise. Die schlurfen oder schleichen immer so. Die meisten jedenfalls. Die schweben nicht so wie Du. Nein, anders. Deshalb komme ich bei Dir ja immer auf Tanz. Du gehst wie eine Tänzerin. Nur eben nicht so artfiziell. Natürlicher. Eben nicht antrainiert. Ich weiß ja auch nicht, woran es liegt. Wie auch immer, Du bist – und das ist entscheidend, dabei kommen wir uns zumindest auf diesem Gebiet entgegen, bei dem ich allerdings nicht mithalten kann –, Du bist exakt die Frau, nach der ich mich immer gesehnt habe. Es ist so. Und Du wirst mit Sicherheit auch in fünfzig Jahren noch so aussehen. Du bist zeitlos schön. Nichts Modisches trübt Deine Erscheinung. Und irgendjemand hat mich auch noch mit sowas verheiratet. Erstaunlich.«
»War es immer so?«
»Ich weiß es nicht. Aber wenn ich tief in mich hineinblicke, muß es so gewesen sein. Du bist mir jedenfalls zuvor nie begegnet. Doch, bei meiner Hochzeit könntest Du mit dabeigewesen sein.«
»Ich muß ein anderes Thema haben. Nicht wegen Deine Hochzeit, bei der ich wahrscheinlich mit dabeigewesen bin. Sondern weil ich sonst in die Boden sinke vor Scham. Mais – ein bißchen gehe ich auch wieder nach oben. Vor Freude über das Schöne, das Du von mir sagst.«
»Also Wechsel. Zu einem Widerspruch! Meinen Vater habe ich sehr geliebt! Im Gegensatz zu meiner Mutter. Jedenfalls später. Früher, als Kind wußte ich davon ja noch nichts. Ich wollte immer ihre Liebe. Vom Papa habe ich sie dann bekommen. – Wie auch immer, meine Entzückende. Es gibt nichts an Männern, das ich in irgendeiner Form interessant finden könnte. Ich brauche ja nur mal mich anschauen ...«
»Didier! Schon wieder ...«
»Non! Madame – jetzt bin ich dran. Nix aller pêcher pour compliments! Hier wird jetzt ernsthafte Analyse betrieben. Hochwissenschaftlich. – Liebes, ernsthaft. Ich finde Männer todsterbenslangweilig. Und sie mich sicherlich ebenso. Ich tue mein mangelndes Interesse an Ihnen ja häufig genug kund. In letzter Zeit merken sie es nicht mehr so, da ich kaum noch hinausgehe. Genau. Sie merken nix. Mit Euch Mädels kann ich fast immer über fast alles sprechen. Ihr hört zu. Ich lerne von euch, zuzuhören. Manchmal merkt ihr Euch auch was. Nein. Sogar viel. Ich weiß schon, weshalb ich nicht nur an Frauen denke, sondern mit Vorliebe auch mit Frauen arbeite. Eure Intelligenz ist offensichtlich. Aber ihr tragt sie nicht vor euch her wie eine Standarte der Intellektualität. Wenn ich mich – mal wieder – wegen meiner miesen Laune schlecht benommen habe, kann ich mich entschuldigen, und es geht wieder. Männer empfinden alleine meine häufige Abwesenheit bei Veranstaltungen als persönliche Beleidigung. Frauen fragen mich nach den Gründen meiner Absenz. Ich kann ihnen sagen, daß mich nicht nach der schnöden Welt gelüstet. Sie verstehen es. Manche erkunden sogar vorsichtig, ob mich nach einem Gespräch dürstet. Wenn ich Autorinnen vermittle, was mir an ihrem Text nicht so gut gefallen hat, liest sich der Text in der Regel beim nächsten Mal weitaus besser. Männer rühren denselben Quark wieder an. Und kicken sich – jedenfalls bei mir – so selber raus. Anderswo dürfen sie meistens denselben Sermon wieder abgeben. Seit fünfundzwanzig Jahren ein einziges Selbstzitat. Und es wird gedruckt. Während Ihr zunehmend das Terrain erobert. Mit Recht. Und dann seid ihr nämlich auch noch zuverlässig. Weitaus mehr als Männer. Die können zwar einen Plan entwerfen, ihn aber nicht einhalten. Frauen fragen sich vermutlich – weitaus vernünftiger –, wozu brauche ich einen Plan, wenn ich ihn ohnehin nicht einhalten kann? Dann stelle ich fest, daß dies die wahre, die richtige, die einzige Logik ist, muß herzerfrischend lachen, nenne einen neuen, letzten Termin. Das funktioniert dann meistens. Meistens. Und: In einem Punkt bewundere ich Euch nachgerade, weil ein Mann das nie hinbrächte: Kinder in die Welt setzen und aufziehen und dabei auch noch lieb sein zu ihnen – und trotzdem beruflich alles auf die Reihe kriegen. Ich frage mich so oft: Wie schafft ihr das eigentlich alles? Nun gut. Manchmal schafft ihr es eben nicht. Wie meine Tochter. Die baut dann die Scheiße, die meine Mutter fabriziert hat: Kinderfräulein. Obwohl sie mir hoch und heilig versichert hat, sie würde das nicht tun. Sie hat sich für den Beruf entschieden und gegen die Kinder. Und sie hat sich damit auch gegen mich entschieden. Was soll's. Die meisten Frauen, die ich kenne, schaffen das. Und ich erstarre in Ehrfurcht dabei.«
»Didier – es gibt inzwischen viele Männer, die helfen.«
»»Ach – hör doch auf! Daß sie jetzt mit dem Kinderwagen auf die Straße gehen und sich nicht mehr schämen müssen – und es oft genug dennoch tun? Das bißchen Windelnwickeln. Wir haben das – vor und nach der sogenannten Revolution – längst getan. Also vor weit über dreißig Jahren. Was ist denn schlimm an Kinderscheiße? Wir haben sie doch allesamt mal selber produziert. Und ich sehe doch, wie sie ihre Kinder auf dem Arm halten. Den Unterschied muß ich Dir Obergenauhinkuckerin doch wohl nicht erklären! Sicherlich liegt es in der Natur der Sache, daß eine Mutter ihr Kind näher an sich dran hat, als ein Mann das spüren und somit zeigen kann. Aber meistens sieht es aus, als ob man ihm ein Stück Gummi in die Hand gedrückt hat, mit dem er nicht weiß, was er im Heimwerkerstall damit anfangen soll. Und wenn es mal anders ist, macht er gleich wieder ‘ne Riesen-Performance draus. In München lebt ein Schauspieler – so ein Dauerlutschergesicht, das aus einer einzigen Einstellung besteht: schöner männlicher Mann sein. Der ungern an seine Vergangenheit als der Pimpf erinnert wird, der mir mal beim Münchner Theaterfestival aus einem Zelt entgegengekrochen kam. Der also immer so tut, als ob er bereits als Filmstar der dreißiger Jahre auf die Welt gekommen wäre. Ständig so‘n cooles Kameragesicht. Dieser Mann wurde Vater. Das sah aus, als ob das Kind aus ihm, aus seinem Waschbrettbauch herausgekrochen gewesen wäre. Er hat es quasi ständig in die Kamera gehalten – auf daß man sein Gesicht sehe. Das Gesicht des Vaters! Und wenn du ihn genau beobachtet hast, dann hast du's gesehen: Sobald das Interesse an dem schönen Mann als Vater erlahmt war, hat er das Kind der Maman in den Arm gedrückt – hier nimm. Hab keinen Bock mehr. Alles Schau, kein wirkliches Interesse am Kind. Und die andere Version: ab und zu mal sonntags auf die Wiese und in den Zoo mit den Kleinen. Sonst ist ja keine Zeit, weil sie bis in die Nachtstunden Karriere machen müssen und am Abend die auch noch mit nach Hause bringen. Ich seh's ja meinem Schwiegersohn.«
»Du bist sehr hart in Deinem Urteil. Viele Frauen sind sehr froh darüber, daß sie das Kind einmal ihm geben können. Das ist noch nicht so lange!«
»Es nutzt doch nichts, wenn sie mit dem Bündel nichts anfangen können. Später Auto- und Fußballspielen und was sonst noch alles, was Männer unter sich so tun. Das hat's früher auch gegeben. Immer Jungs.«
»Didier – Du weißt doch, daß vieles sich gewandelt hat.«
»Was hat sich denn wirklich geändert?«
»Sehr viele Männer haben eine andere, eine bessere Beziehung zu einer Familie und zu Kindern. Sie nehmen andere Aufgaben als zu frühere Zeiten. Und so haben Frauen etwas mehr Möglichkeiten für andere Aufgaben, etwa in eine Arbeit. Oui, ein Profession!«
»Zweifelsohne. Doch wer seiner Frau Entfaltung gegönnt hat, dem hat es auch früher nichts ausgemacht. Es gibt genügend Beispiele. Ich will jetzt mal gar nicht von meinem Vater sprechen. Auch aus anderen Ecken kenne ich viele. Und ältere! Wirklich ältere. Nicht nur jüngere. Das hat es immer gegeben. Es ist alles eine Frage der Gesinnung. Und Windeln gewickelt haben Männer früher eben auch. Sehr viel früher, als gemeinhin angenommen wird. Es wird nur nicht darüber gesprochen. Mir ist das nie klar gewesen, weshalb so etwas überhaupt diskutiert werden muß.«
»Man muß es, um damit eine Wirkung zu erzielen. Es muß zirkulieren. Wem es nicht mitgeteilt wird, dem ist nicht die Möglichkeit gegeben, darüber zu denken. Es gibt nicht so sehr viele Menschen, die über eigenes Denken verfügen. Deine Worte. Ein neuer Vater muß quasi erzogen werden durch eine Anregung von außen.«
»Was meinst Du mit dem neuen Vater? Der ach so sensible?«
»Das ist ein Beispiel. Viele Männer haben es nicht gelernt, Zärtlichkeit zu geben. In ihrer Eltern Haus wurde es wenig oder nicht geleistet.«
»Ach, Naziza. Du hast sicherlich nicht ganz unrecht. Ich hab sowas ja auch schon gesehen. Einmal war es sogar ein Erlebnis. Am Cours Saint-Louis, neben Toinou. Ich hab am Pastis genuckelt und das Kleine an Papas Finger. Ein junger Araber mit einem winzigen süßen kleinen Mädchen. Glaub ich jedenfalls, das es eins war. Man hat ihm angesehen, wie wohl es sich fühlt. Ach was, beiden hat man’s angesehen. Das war schon wohltuend, die beiden zu beobachten. Das war wirkliche Zärtlichkeit. Aber manchen muß man die erstmal einbleuen ...«
»Zärtlichkeit einbleuen?«
»Einbleuen heißt ...«
»Ich weiß, was es heißt. Doch es ist eine elementare Widerspruch! Zärtlichkeit jemanden mit Gewalt – wie soll es gehen?«
»Ja ja. Is‘ ja richtig. Es ist ja auch mehr sinnbildlich gemeint. Also – Zärtlichkeit beibringen. Aber Zärtlichkeit – ich meine, da muß doch ein Grundbedürfnis vorhanden sein. Wenn das nicht da ist – ich weiß nicht. Ich meine, es verhält sich wie mit dem Tanzen. Wir haben ja darüber gesprochen. Man kann Grundschritte, man kann Figuren et cetera lernen. Aber deshalb kann man doch nicht tanzen. Wer keine Zärtlichkeit in sich trägt, kann es nicht wirklich. Das meine ich.«
»Du übertreibst, Didier. Es ist eine Procès von eine Socialisation! Didier, in Deine Talmud ...«
»Herrgott nochmal! Fängst Du schon wieder damit an!«
»Es ist sehr lustig mit Dir. Du kannst Dich herrlich aufregen. Laß es doch sein. Wen stört es? Es ist mir égal, ob Du Dich und andere Kulturjude nennst. Es ist in Dir. Zum Teil sagst Du es selbst. Es ist sogar in Maman. Und dieses, obwohl sie ist dreimal konvertiert – Judaïsme, Christianisme, Islamisme, freiwillig oder unfreiwillig. Vielleicht hat sie Nathan le Sage ...«
»Bitte was?!«
»Lessing, Nathan ...«
»Ach, Nathan der Weise.«
»Oui. Vielleicht hat auch sie versucht, Nathan zu sein, der alles vereinen möchte. Non, der möchte, daß alle in Frieden leben miteinander. Sie hat ihn in sich vereint. Pareil. Sie sagt immer wieder, es ist le judaïsme, le l'Ancien Testament, auf das auch Mohammed sich im Coran immer wieder beruft. Es ist verwandt. Und von Maman habe ich auch, was ich Dir sagen möchte, Du es mir jedoch nicht gestattest.«
»Gut. Du hast mal wieder gewonnen. Also – ich höre.«
»Ich sage Dir noch einmal, daß ich nicht gewinnen will gegen Dich. Ich kämpfe nicht gegen Dich. Ich liebe Dich! – Ècoute – doch Du wirst es natürlich kennen, Du Juif athée. Kaiser Antonius fragt den rabbin: Von wann an herrscht das Böse im Menschen? Von der Stunde an, da er gezeugt wird? Oder von der Zeit an, an der er herauskommt aus der Mutter? Du weißt es? Sicher.«
»Klar. Die Thematik ist bis ins Frühchristentum debattiert worden. Quatsch, sie ist ja auch nicht ausgestanden, wird nach wie vor diskutiert – womit wir wieder bei unserer Diskussion um die Erbfaktoren oder den sozialen Prozeß wären. Und Du hättest natürlich damit den Weisen Kaiser Antonius auf Deiner Seite.«
»Richtig, Monsieur. Der vielleicht nicht so weise Rabbiner sagt, von diese Zeitpunkt an, an dem Didier gezeugt wurde. Der mehr auf der Erde stehende Staatsmann jedoch entgegnet: Wäre Didier böse gewesen, als er gezeugt wurde, hätte er im Leib seiner Mutter gewütet und getobt und wäre einfach hinausgegangen.«
»Ach ja. Ihr Mädels. In euch tobt jene Vernunft, die wir ja eigentlich dann draußen als die unsrige deklarieren. Aber da ich als Mann das letzte Wort haben muß, sage ich – der Rabbiner hat wenigstens zugegeben, daß Antonius ihn das gelehrt habe. Und den Spruch dazu hatte er auch gleich parat.«
»Wie lautet er?«
»Vor der Tür lagert die Sünde. Mose 4,7.«
»Ensuite, mon cheri. Unsere Kinder dürfen kommen, wie sie wollen. Wenn wir geben ihnen diese Sanftmut, sie werden es geben weiter.«
»Dein Idealismus in Ehren. Doch ich weiß nicht, ob das in jedem Fall funktioniert. Was nicht heißen soll, daß man's deshalb lassen soll. Im Gegenteil. Ich glaube, daß diese ganze neue Sensibilität der neuen Väter – ach, es ist siewieso wieder nur Bruchteil der Gesellschaft.«
»Warum sagst Du das? Es muß eine Anfang geben!«
»Ich meine jetzt nichtmal diejenigen, die etwas in die Welt setzen. In die Welt setzen – Herr Freud läßt grüßen. Ich denke in erster Linie an eine – ja, Selbstsucht, Selbst-, Ichbezogenheit, die als neue – in diesem Fall – väterliche Sensibilität maskiert daherkommt.«
»Puh! Du bist sehr hart. Doch vielleicht ist etwas daran? Ich muß denken an eine reportage auf unsere beide canal particulier arte. Es war eine über diese neue Väter, über die wir hier sprechen offenbar. Sie waren ganz anders als diese Acteur, von dem Du erzählt hast. Sehr, sehr liebevoll und zärtlich waren sie. Doch sie waren es – das kommt an Deine Meinung, glaube ich – extrême. Sie waren es so, daß ich manchmal habe gedacht – oh! Non! Terrible! Es gab einen Mann, er hat seiner Frau ihren dicken Bauch mit einem Kind darin gestreichelt – es war außergewöhnlich. Doch ich habe nicht gesehen, daß er bei seine Frau war in Gedanken oder bei diesem Kind im Bauch. Er erweckte in mir den Eindruck, er ist zärtlich zu sich selbst. Meinst Du dieses?«
»Ja, Naziza. Das ist es. Diese Selbstliebe. Das ist – ein Stück davon zumindest – dessen, was Zizak möglicherweise mit seiner Hegel-Paraphrase meint: Wir lieben den anderen dafür, daß er uns liebt. Wenn das dann auch der Extremfall wäre – Narzißmus am Hochschwangerenbauch der deshalb geliebten Frau, weil sie mich liebt. Ich glaub, das genau ist es. Terrible. Fürwahr.«
»Ich gestehe es – es fällt mir nicht ganz leicht, da ich die Zärtlichkeit liebe ...«
»Die ich Dir gerne geben möchte – obwohl ich zugestandenermaßen nicht ganz sicher bin, ob ich mich damit nicht auch selbst meine damit, also immer ein bißchen auch an die Quittung denkend, die ich dafür bekommen kann.«
»Das ist nicht so sehr von Übel, meine ich. Wir werden es schon alle machen so. Ein wenig. Es ist schön, etwas zu bekommen dafür, daß man gegeben hat. Doch es darf nicht enden in diese Narcissme, von dem Du sprichst. Das ist Masturbation neben eine Frau.«
»Deutlicher kann man es wohl kaum sagen! Also – was ist das dann für eine Zärtlichkeit? Was ist sie wert? Was sind diese Väter wert? Dabei spielt es meiner Meinung nach überhaupt keine Rolle, ob er eine Rolle spielt wie unsere eitler Fernsehmöchtegernstar, der alleine sich ausstellt – oder meinetwegen das bébé als eine seiner herausragenden Rollen. Oder ob er – das ist jetzt reine Mutmaßung! – die Rolle der Mutter übernehmen will, weil er in sich selbst nichts anderes findet.«
»Wie meinst Du das? Nicht findet in sich? Du meinst, er keine eigene Werte hat, keine amour-propre – wie heißt es deutsch? Merde – ich habe es vergessen.«
»»Keine Ahnung. Ich kann nur vermuten. Selbst-, Eigenliebe. Aber das kann's ja nicht sein.«
»Selbst ist richtig! Et – wert. Selbstwert.«
»Selbstwertgefühl. Selbstbewußtsein.«
»Oui. Das ist es. Daß diese Männer haben kein wirkliches Selbstwertgefühl. Deshalb suchen sie einen Ausweg in eine neue Rolle.«
»Die sie dann der Mutter wegnehmen? Eben. Oder wie?«
»Oui. Es war eine Frau, eine Autorin in diese Discussion, sie hat sich ähnlich geäußert. Es hat mir Problèmes bereitet. Alleine diese Gedanke war nicht angenehm. Meine Bauch gehört mir!«
»Und das Kind darin auch? Oder wie?«
»Ballot! Du weißt, wie ich darüber denke. Solche Männer benötigen wir nicht. Doch ich möchte auch, daß es sich verändert zum Guten. In alle Bereiche. Es muß diese Anfänge geben. Nun, es gibt sie. Bei alle nicht angenehmen parallèle exemples.«
»Ja. Ich seh's ja ein. Ach was, es ist notwendig, daß auch dieser Bereich gesellschaftlichen Lebens woandershin steuert. Aber wohin? Bitte? Werde ich deshalb ein umweltbewußterer Mensch, weil ich den ganzen Tag mit Parolen beschossen werde? Was mit dieser Art von Gehirnwäsche bewirkt wird, ist doch, daß sie Weltmeister im Mülltrennen werden. Wie die Deutschen. Weil sie nunmal gerne Weltmeister sind. Die Besten eben. So, wie sie die Besten waren im Umbringen unwerten Lebens. Dessen, was sie dafür gehalten haben.«
»Ah! Didier. Das ist – maintenent polémique pur. Zudem – wir wollen auch immer Weltmeister werden. Du kommst mit dumme Vergleiche.«
»Weshalb denn bitte? Was war denn mit diesen Massenaufmärschen? Du glaubst doch nicht etwa, daß diese Millionen Menschen, diese, wahrlich, Irrsinnsmassen alle nur deshalb zu den Aufmärschen gegangen sind, weil sie gezwungen wurden! Und sie haben von den Deportationen gewußt! Das ist nachgewiesen. Vielleicht nicht alle. Aber doch sehr, sehr viele. Zu viele. Sie wurden gefragt – wollt ihr Butter oder Kanonen. Und sie haben gebrüllt – Krieg! Weshalb sind die denn nicht desertiert? Ausgewandert? Abgehauen? Wie die Juden. Das nämlich ist die deutsche Variante von Revolution. Und die anderen? Eure Paula Jacques ...«
»Maintenent – es ist auch Deine Paula Jacques!«
»Also gut. Meine Paula Jacques – was ist die eigentlich? Historikerin?«
»Du gibst ein Zitat von ihr und weißt nicht, wer sie ist?«
»Ich weiß nur, daß sie zu den France-Intellektuellen gehört.«
»Eh bien – sie ist eine Schwester von Dir. Française. Non. Double sœur! Française et ...«
»Wie bitte? Was?! Wie soll ich das verstehen?«
»Sie in Kairo in einer jüdischen Familie geboren, die wie andere achtzigtausend Juden 1957 aus ihre Land gejagt wird. Ihre Kindheit sie verbringt in Israel in eine Kibbuz, bevor sie nach Frankreich geht. In Paris hat sie allmögliche Jobs getätigt, bis sie 1971 an der von Comédie de Saint-Etienne Erfolg hat. Seit 1975 ist sie Journalistin. Sie schreibt und produziert bei Radio France. 1999 hat sie eine kulturelle magazine gegründet, Cosmopolitaine. Assez de information? Arrête! Sie hat, von einigen, ein Buch geschrieben, das heißt – non, viele Bücher. Eines heißt La descente au paradis, und die andere hat die Titel Les femmes avec leur amour. Und zuletzt Gilda Stambouli souffre et se plaint. Ich glaube, es ist das letzte Buch. C'est ça, Monsieur.«
»Mein Güte. Habe ich eine gebildete Frau.«
»Und ich eine dumme Mann – wenn er solches sagt. Doch nun sage mir, was unsere arabisch-jüdische Schwester Paula Jacques hat gesagt.«
»Also gut. Du bringst mich ganz durcheinander. Ich will Dir imponieren, indem ich Franzosenintellektuelle auf meinen Schild hebe, und Du drehst den Teller einfach um. Nun bin ich sozusagen platt. Runtergefallen. Das ist mein Schicksal. Du bist mein Schicksal – fürwahr!«
»Mon pauvre bougre. Du hast ein schwere Schicksal zu erleiden durch eine solche schlimme Frau, die auch noch etwas weiß. Ein wenig. Avance! Les paroles de Paula Jacques!«
»Sie meinte zu den Ereignissen davor – die – und damit zurück zum Thema – jedoch auch schon von Parolen gekennzeichnet waren: Wenn Hitler mit dreiunddreißig Prozent an die Macht gekommen ist, dann deshalb, weil sensible Geister es abgelehnt haben, sich mit anderen empfindsamen Köpfen zusammenzuschließen, um ihm die Straße zu versperren.«
»Weshalb sagst Du solches zu mir? Bin ich eine solche sensible Geist, der sich ergibt in seine Schicksal? Sperre ich für oder gegen Le Pen die Straße?«
»Nein. Natürlich nicht. Verflucht, ja – ich pfeife mal wieder die Falsche an. Ich rede eben manchmal etwas unsortiert. Du darfst das nicht persönlich nehmen. Also, trotzdem. Polemik. Meinetwegen. Doch Du weißt auch, daß ich immer auch die Ausnahmen kenne. Was ich jedoch konkret damit sagen will, ist – solange es keine Reflexion gibt über das Tun, kommt nicht wirklich eine Überzeugung dabei heraus. Damit meine ich durchaus auch mich selbst. Ich muß also davon überzeugt sein, um es wirklich gerne zu tun. Möchte ich mich aus Überzeugung um eine saubere Umwelt bemühen, oder will ich es, weil der Nachbar es auch tut? Und werde ich – in Folge dieses sogenannten Umdenkens oder dieser Umerziehungsmaßnahme – deshalb zum Denunzianten des wieder anderen Nachbarn, den ich dabei beobachtet habe, wie er seine Zigarettenkippe auf die Straße geschmissen hat? Ergo: Will ich ein besserer Vater, will ich ein besserer Partner meiner Frau sein, weil ich es will? Oder weil es alle tun? Vielleicht ja, weil es Mode ist. Ist doch schick, ein guter Vater zu sein. Besser als garnix.«
»Weshalb bist Du eine solche Pessimiste? Ihr Männer müßt euch ändern! Wir wollen euch. Doch wir wollen euch an unserem Bauch nicht nur für das Hinein und Hinaus. Das müßt ihr lernen.«
»Davon spreche ich doch. Müssen wir anders sein, weil der Stammvater als Ernährer der Familie aus der Mode gekommen ist? Das Namensrecht beispielsweise sieht es ja auch längst nicht mehr zwingend vor. Aber hör Dich doch mal rum – Papa will ‘nen Sohn. Wenn der Vater mit dem Sohne. Das ist doch die Wirklichkeit. Die fünf Männchen, die nur Mädels wollen! Das sind diejenigen, die kein gesellschaftliches Umdenken brauchen. Diese Männer wollten schon immer Hausfrau und Mutter sein ...«
»Das möchtest Du sein? Didier, eine Hausfrau und Mutter?«
»Merde alors!«
»Du hast es gesagt. Weil Du willst immer nur süße kleine Mädchen.«
»Uff. Schon wieder. Ja. Himmelherrgottssakrament nochmal! Hau's mir nur um die Ohren. Aber – bist Du ein zuckersüßes kleines Mädchen?!«
»Bin ich es nicht? Sonst Du sagst ähnliches zu mir. Nun nicht mehr. Nun bin ich Deine vielle toupie?«
»Also gut – meine zuckersüße junge Schachtel. Weiter. Derweil die Maman die Kohle ranschafft. Von mir aus mit heranschafft. Manche müssen es ja sowieso, weil's sonst nicht reicht. Das ist Wirklichkeit! Tragisch. Aber oft genug tun sie's ja auch, weil sie sich so ein verschissenes Haus von der Fabrikstange nehmen. Mit dem sie die Landschaft verschandeln. In letzter Zeit verstärkt diese schöne französische Landschaft. Eigener Herd und so. Oder sie wollen einen neuen BMW. Besser noch ein Cabriolet. Von mir aus auch’n Peugeot-Cabriolet, so eines dieser unsäglich ausschauenden, pseudofuturistischen, nach oben zusammengedrückten Flundern. Euro-Auto. Wurscht. Oder – wie gesagt – sie will auch Karriere machen. Was ich noch am ehestens verstehe. Denn ein bißchen Selbstverwirklichung möchte schon auch sein. Aber wichtig ist der Sohnemann. Noch so‘n Langweiler.«
»Er wird dazu gemacht! Von dieser Gesellschaft. Das ist doch das Problème. Es muß nicht sein. Ein Sohn kann auch ein anderer werden. Du bist ein anderer geworden. Aus welche Gründe auch immer.«
»Wenn dem so sein sollte, dann lag's nicht an der Gesellschaft. Ebendrum.«
»Es ist auch ein Cliché, das diese Gesellschaft formt. Et vice versa.«
»Gut. Klischee. Aber im Prinzip bin ich vermutlich keinen Deut besser. Mittlerweile vielleicht ein bißchen. Weil ich im Gegensatz zu früheren Zeiten in der Lage bin, einmal Theoretisiertes umzusetzen. Darin enthalten ist, daß ich zur Erkenntnis gelangt bin, daß ein höherer Bekanntheitsgrad nicht einhergeht mit einer höheren Stufe des Glücks. Also. Es gibt ein paar Ausnahmen. Klar. Wie in allen Bereichen. Aber wenige. Ich kenne ein paar. Aber die haben wahrscheinlich eine relativ hohe Prozentzahl X-Chromosomen erwischt, um es mal ein wenig sehr salopp zu formulieren. Wenn die sich allerdings in dieser Komposition auch als höchst diffizil erweisen kann. Denn ein sensibler Mann ist die Hölle. Er verliert meistens jeden Bezug zur Umwelt. Ich kenne da einen. Du kennst ihn auch. Aber ich kenne auch einen, den Du nicht kennst. Der hat sich mit seiner inneren und äußeren Therapie in Zielrichtung Selbstfindung selbst so kaputtgemacht, daß der sich so herauskristallierte feine Charakter vor keiner Schlechtigkeit haltmacht. Ach, er ist ja so sensibel. Deshalb läßt man ihn alles durchgehen. Frau Isabella hatte mich vor ihm gewarnt. Sie hatte mal wieder den Durchblick. Ich hatte ihn nur verteidigt. Bis ich das gewaltige Nachsehen hatte. Was soll's – ein Beispiel.«
»Was ist geschehen? Du hast vielleicht einen Freund gesucht?! Vielleicht hättest Du das nicht tun sollen. Du weißt, daß man sie nicht suchen soll. Sie kommen von alleine – wie Kinder. Oder Katzen. Und sie gehen wieder, wenn es ihnen beliebt. Aber sie bleiben Freunde.«
»Sehr weise – halt! Ohne jede Ironie! Es ist richtig. Es trifft zu hundert Prozent zu. Wahrscheinlich habe ich ihn benutzt wie einen Prostituierten.«
»Wie meinst Du das – pour la amour du ciel!«
»Indem ich mir Zuwendung erkaufen wollte. Ich habe ihm gegeben, was ich geben konnte. Vermutlich in der Hoffnung, was zurückzubekommen. Ich hätte wissen müssen, daß man das nichtmal im Puff bekommt. Und Liebe – ach, Du hast es gerade gesagt. Die sollte man nicht suchen. Sie kommt. Dann ist sie da. Wenn sie nicht kommt, dann hat man Pech gehabt und sollte sich damit abfinden. Wie ich es getan habe ...«
»Und was ist mir?!«
»Du hast mich einfach mal wieder nicht ausreden lassen. Der Schluß des Satzes lautet – bis vor ein paar Stunden.«
»Ouf! Ich mache es wie Du. Doch ich war nun ein wenig unangenehm angerührt.«
»Das muß aber nun wirklich nicht sein. Das solltest Du doch nun wirklich gemerkt haben, wen ich meine!«
»Vor über drei Jahren habe ich das auch geglaubt. Doch ich will das nicht vertiefen. Ich habe es nicht wirklich so gemeint. Pardon, Didier. Ich habe keine wirkliche Zweifel. – Zurück zu diese Mann. Du warest sehr enttäuscht?«
»Übel. Er hat mich ganz schlimm hintergangen. Allerdings habe ich es wohl mir selbst zuzuschreiben. Ich war einfach zu eigennützig. Womit wir wieder bei Hegel beziehungsweise Zizak wären. Ich liebe Dich dafür, daß Du mich liebst. So etwas paßt nicht zur Liebe. Es ist keine Liebe. Wie auch immer – es hat meine Bande zu sensibleren Männern, zu Männern insgesamt nicht eben gefestigt. Aber es ist vorbei. Ein Schwein ist er trotzdem. Er hat aus seinem Leid – wenn es das denn überhaupt gibt und er nicht Theater spielt – eben nicht die Konsequenz gezogen, die daraus zu ziehen wäre.«
»Einsam bleiben?«
»Die Erkenntnis, es zu sein, möglicherweise gar dafür bestimmt zu sein, kann die Einsamkeit auflösen helfen. Zumindest lindern helfen. Im Idealfall weicht die Einsamkeit dem Willen nach dem Alleinsein. Es gibt ein Beispiel der konsequenten Umsetzung dieser Erkenntnis. Du kennst ihn. Wir haben vorhin über ihn gesprochen. Offenbar waren wir ja auch gemeinsam dort.«
»Ich weiß nicht – ah, diese Mann au Massif central? Diese Mönch ohne réligion?«
»Ja. Gérard. Er hat irgendwann festgestellt, daß er für Gemeinsamkeit nicht geschaffen ist. Daraufhin hat er sich zurückgezogen – und lebt seine Schrullen alleine aus. Ob er glücklich ist? Ich wage es zu bezweifeln. Aber auf jeden Fall nervt und betrügt er niemanden. Und er hat Kontakt zur Außenwelt! Er geht täglich ins Städtchen, und zweimal im Jahr fährt er seine alte Mutter besuchen. Dafür spart er. Von dem Wenigen, das er hat! Ab und zu fährt er auch in die Nähe des Meeres, wo ihm das Haus einer ehemaligen Gefährtin zur Verfügung steht. Aber er hat immer und jederzeit die Möglichkeit, sich in sich selbst zurückzuziehen. Ohne andere in Mitleidenschaft zu ziehen. Ich habe große Achtung vor ihm. Oft muß ich an ihn denken, wenn es darum geht, wie angenehm das Dasein ohne die Rennerei nach Glück sein kann. Vor allem nach Substitution, nach Kompensation im Materiellen. Früher habe ich häufig den Kopf geschüttelt über ihn. Doch seit einiger Zeit weiß ich, daß er den vermutlich einzig richtigen Weg gegangen ist.«
»Du sprichst tatsächlich in hoher Achtung von ihm.«
»Er hat sie verdient. Schließlich habe ich mich auch bei ihm zu entschuldigen für das dämliche Denken, das ich ihm früher habe angedeihen lassen. Dieses Allerweltsdenken. Auch hier waren es wieder die Frauen, die ihn am besten verstanden haben. Ich habe mit einigen darüber gesprochen. Die ihn aus vergangenen Jahren kannten und ihn besucht haben. Daß es bei ihm mit ihnen meistens ungünstig gelaufen ist, lag natürlich an seiner Komplexität. Sehr schwierig. Aber verständlich. Er ist ein sehr grüblerischer Mensch. Und vermutlich hat er das Pech gehabt, wie so oft in jungen Jahren, wenn die Säfte sprießen – eben auch oder gerade bei Euch Mädels –, aber Männer sehr lange brauchen mit dem Nachdenken über die Vor- beziehungsweise Nachdenkeeile der postoperativen Phase des Kinderzeugens. Ihr seid da manchmal arg drängend in Eurer vitalen Natur. Alles will – im besten Wortsinn – aus Euch hinaus. Da wird nicht länger nachgedacht. Was sich im nachhinein meistens auch als richtig erweist. Aber Ihr kriegt es eben auch in den Griff. Während wir uns nochmal und nochmal in uns zur Beratung zurückziehen müssen. Wir sind Weltmeister im Zerdenken. Wenn wir's denn überhaupt tun. Da haben wir ein gewaltiges Defizit.«
»Doch Du bist sehr jung Papa geworden! Hast Du dabei gedacht? Was hast Du gedacht?«
»Tja. Ich habe dem nachgegeben. Aber ich war ein Kind. Ein Kind gibt eher seinen Gelüsten nach. So ist ein Wunschkind entstanden. Mit dem Ergebnis, daß ich keinen Kontakt zu ihm habe. Oder kaum. Meine Interessen tobten sich in andere Richtungen aus. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was da geschehen ist. Ich habe auch ein unbändig schlechtes Gewissen.«
»Mais – Dein Tochter? Les petit-enfants? Du hast gute Kontakt?!«
»Na ja. Es geht. Er war mal besser. Aber auch dieser bessere Kontakt kam spät. Wohl erst dann, als ich begriffen hatte, daß ich dabei war, dieselben Fehler wieder zu machen. Dann habe ich mich zusammengerissen und bin tatsächlich auf sie zugegangen. Doch nun ist's auch schon wieder dahin. Ich hab Dir ja gesagt, daß ich Krach mit ihr habe, weil sie so karrieregeil ist. Sie will berühmt werden. Mindestens so wichtig wie ihr Mann, der angesehene Rechtsanwalt. Dieser dröge Paragraphenzähler. Und ein Opa ist kein Vater. Das kommt hinzu. Er ist allenfalls Aufpasser. Kindergärtner. Ein Mann im Opa-Alter kann Vater sein. Wie mein Vater. Das ist aber was völlig anderes. Da ist der Opa Vater. Nicht nur Erzeuger. Es ergibt einen völlig anderen Bezug zum Objekt sozusagen. Hier wirkt der alte Vater mit. Er kann seine Lebenserfahrung einbringen. Als Pépé wirst du nur gebeten, wenn's ein Loch in der Zeitplanung gibt. Und dafür bin ich nicht geeignet.«
»Ist es auch neue Erkenntnis?«
»Eindeutig. Es ist wirklich sehr viel passiert in letzter Zeit. Ich bin nicht unglücklich darüber. Es relativiert vieles. Aber es schmerzt auch. Ich denke oft darüber nach, wieviel besser – nicht nur für mich! – es doch wohl gewesen wäre, hätte dieses Denken ein bißchen früher eingesetzt.«
»Cheri! Du hast es jetzt! Es ist auch sehr schön. Und andere profitieren davon.«
»Aber gerade in der Phase des Jungseins ist es wichtig. Wenn du so wesentliche Entscheidungen triffst wie das Produzieren neuen Lebens. Dann ist das neue Leben da, aber du hast ein Stück Gummi in der Hand. Wohin damit? Es ist aber so – als jüngerer Mensch, als jüngerer Mann bist du doch ausschließlich an dem interessiert, was du gerade machst. Immer im Hier und im Heute, wie es so schön heißt. Das war bei mir in jungen Jahren auch nicht anders. Bloß keinen Jota weiterblicken. So habe ich unglaublich viel Mist gebaut. Euphemistisch ausgedrückt, hieße das: Erfahrung gesammelt. Aber an der männlichen Sammelwut eigener Erfahrungen können andere sehr leiden. Es hat sich geändert bei mir. Zumindest habe ich den Eindruck. Deshalb regt mich das auch so auf bei den Männern, die ebenfalls ein paar Tage mehr auf dem Buckel haben, aber offenbar nie in die Phase der Autoreflexion kommen werden. Wollen. Denken ist so anstrengend. Denen ist es völlig gleichgültig, was sie tun. Hauptsache tun. Egal was. Autoschrauben, Waschmittelherstellung, Kunst verkaufen oder Sterne kucken. Oder Professor werden. Ach – überhaupt reflektieren. Die lachen Dich aus, wenn Du abwägst. Es spielt überhaupt keine Rolle, welcher Altersgruppe sie angehören. Fünfzigjährige Männer werden Väter und schauen dabei aus, als ob man ihnen ein neues Blechauto geschenkt hätte. Und ich sitze da, kann überhaupt nicht lachen und schüttle den Kopf. Im günstigsten Fall, wenn ein wenig Sympathie mitspielt, heißt es: Nimm's leicht, grüble doch nicht so viel. Nun, schon als Kind – das fällt mir tatsächlich eben gerade ein, siehst Du, die Kindheit holt mich langsam ein, sogar mit einer bestimmten Situation ...«
»Was war es?«
»Wir waren gerade mal wieder irgendwo neu eingezogen. Wo genau, daran erinnere ich mich nicht. Aber daran, daß so ein Möbelpacker zur mir sagte, ich solle doch nicht so ein faltiges Gesicht machen. Meine Stirn sei ja schon völlig verrunzelt. Bei einer solch schönen Mutter müsse man doch immer nur lächeln, anstatt so finster dreinzuschauen.«
»Das mit Deine Mutter kann ich nicht beurteilen. Doch mit diesen Falten hat er sich sicher nicht geirrt.«
»Jetzt pflüge Du noch dieselben Furchen, geliebtes Miststück. Ja, es ist seltsam und vielleicht auch irgendwo komisch – ohne jeden Zweifel habe ich schon als Kind die Stirn in Denkerfalten gelegt. Da siehst Du mal, was Du an mir hast. Doch wirklich komisch ist vor allem, daß ich mich jetzt, in diesem Augenblick so genau daran erinnere ...«
»Es gibt nun auch einen Zusammenhang, eine Verbindung, daß es dieses abruft. Deine Kopfmaschine beginnt wieder correct zu arbeiten.«
»Ich meine ja nicht nur diese Szenerie. Sondern vor allem, daß ich tatsächlich schon als Junge die Stirn in Falten gelegt hatte.«
»Es ist anzunehmen, daß Deine Stirne bereits zu diese Zeit eine Bild von Deine spezefische Situation gegeben hat, die erste äußere Ergebnisse eines procés sociale kurz nach Deine erste Flucht – aus Deine Mutter.«
»Wenn Du meinst. Aber es war doch vermutlich eher beides, eine Mischung aus den Erbfaktoren, die aus einem sehr nachdenklichen Vater kamen, und jener Sünde, die auch hinter der Pforte zur Welt liegt und den Namen meiner Mutter trägt.«
»Du übertreibst wieder einmal ohne Maß.«
»Weshalb denn? Ist das keine Sünde – eine solche Erziehung, ein solches Nomadenleben?!«
»Darin war, folge ich Deinen Worten, wohl primaire Deine Papa der Moteur.«
»Das ist wohl richtig. Doch das heißt doch noch lange nicht, daß man seine Kinder quälen muß, nur weil man dauernd unterwegs ist. Es gibt wahrhaftig genügend Beispiele, daß es auch anders geht. Ich habe es teilweise, wenn auch schemenhaft, in meiner Umgebung mitbekommen. Und erst kürzlich hat ein Gespräch mit Dietlinde Turban ...«
»Wer ist das?«
»Eine deutsche Schauspielerin, die kurz vor einer vermutlichen Weltkarriere stand, die aber hat saußen lassen zugunsten einer Familie – die sie sich, wie sie sagte, immer gewünscht hat, die ihr mehr bedeutete als die Berühmtheit.«
»Doch ich weiß immer noch nicht ...«
»Ach so, ja. Es ist die Frau von Lorin Maazel.«
»Ah! Oui! Sie ist sehr viel jünger als er. Doch dieses scheint ein Phénomène primaire von jüdische Männer zu sein. Man sieht es an Deine Eltern. Oui – an uns. Non. Es ist doch auch möglich, es hat tiefe Wurzeln in diese civilisation de proche orient. Und auch wir Frauen der Arabes, ich – une partie de peuple de montagnards ...«
»Du meinst jetzt Dich zum einen Teil als Bergziege vom Atlas und den anderen als diejenige, die ständig zwischen Persien und Armenien hin- und herhüpft?«
»Mon salaud! Eigentlich wollte ich sagen, daß wir sind noch nicht angekommen in die moderne. Doch ich sage das nun nicht! Compris?! Du darfst machen Witze über Juden, doch nicht über Arabes ou Arménien. Unsere Witze gehören uns. Doch nun ohne Spaß. Ich glaube es tatsächlich. Bei uns gehen viele Frauen mit ältere Männer.«
»Ach, Naziza. Das ist doch ein alter Hut. Das ist nun wirklich Deine vielzitierte Éducation. Viele kommen so aus den Familien – das Motto lautet dabei wohl, ein älterer Mann ist der bessere Versorger. Einen anderen Grund dürfte das ja wohl kaum haben. Du sagst es ja selbst – noch nicht angekommen in der Moderne. Wenn ihr darin angekommen seid, legt sich das. Wie auch immer. Die Maazels haben drei Kinder, glaub ich. Die sind auch dauernd unterwegs. Tourneen, Gastspiele. Jetzt wandern sie wohl gerade mal wieder nach New York, wo er Chef der Philharmoniker geworden ist. Und die Kinder sind immer dabei. Ich komme auch nur deshalb darauf, weil diese Familie ein positives Beispiel dafür zu sein scheint, daß es nicht nur funktionieren kann, sondern daß die trotz aller Herumzieherei eine intakte Familie zu sein scheinen. Ich sage das selbst auf die Gefahr hin, mir zu widersprechen. Doch in erster Linie meine ich damit ja auch die Fähigkeit, mit Kindern umzugehen. Das scheint mir eben im Fall dieser Mutter zuzutreffen. Bei meiner Mutter habe ich ja bis heute Zweifel, daß sie überhaupt Mutter werden wollte. Verhalten hat sie sich jedenfalls nicht so. Sie wollte, anders als Frau Maazel, nur schön sein. Die hat sich vom früheren Schönheitsideal völlig verabschiedet. Man muß schon sehr genau hinschauen, bis man sieht, wo ihre Schönheit hin ist – ja, quasi in die Verborgenheit hin entschwunden ist. Aus einem Elfengesicht wurde das einer Frau, in dem die Schönheit fröhlicher Milde strahlt. Im Gegensatz zu meiner Mutter. Bei allem Streß, den sie hatte, war für die Pflege vor allem äußerer Schönheit immer irgendwie Zeit. Die war wichtiger als das Kind.«
»Was ist das wieder, maintenent?«
»Banal. Sie rannte in jeder freier Minute zum Friseur oder zur Kosmetikerin oder in die Parfümerie und gab Unsummen aus. Das weiß ich noch sehr genau. Chanel Nummer fünf zum Beispiel.
»Vrai – à cette époque? Es gab es bereits?«
»Ja. Ich glaube, Choco Chanel hat in den zwanziger Jahren nicht nur das Korsett abgeschafft, sondern auch dieses Riechgift herausgebracht. Das war die Blütezeit meiner Mutter. Sie hat diesen ersten – typisch! – synthetischen Duftstoff überall auf der Welt gekauft. Es muß ein Wahnsinnsgeld gekostet haben, zu den Reichen und den Schönen zu gehören. Nun, sie ist überall hin und zu jeder Zeit, wo man erstehen konnte, was die Fassade bügeln half. Vor allem, wenn man am Verblühen war. Das hat sie nämlich nicht gepackt. Deshalb habe ich wohl auch so eine Abneigung gegen diese abgetakelten Fregatten, bei denen überall der mühsam aufgelegte Putz abfällt und man die ungeliebten Spuren eines biologischen Prozesses darunter sieht. Denn sie war mal eine sehr schöne Frau, auch in ihren Vierzigern noch. War. Ein oder zwei Photos habe ich noch von ihr ...«
»Du hast sie?! Mir hast Du einmal erzählt, es gibt sie nicht mehr.«
»Donnerwetter. Was ich Dir so alles erzählt haben muß. Es wundert mich doch sehr.«
»Ah! Sei nicht so dumm, Didier. Du weißt es nicht mehr. Doch hast solche noch? Wo sind diese Photographies?«
»In meiner Wohnung. Ich habe irgendwann mal in meinen Kisten irgendwas gesucht. Und dabei sind sie mir entgegengekommen. Es war ein verschlossener Umschlag. Ich wollte wohl meine Vergangenheit versiegeln, aber offenbar nicht ganz wegwerfen. Zwei sind's, glaube ich, oder drei, die meine Exgattin wohl beim Vernichten übersehen hatte ...«
»Dieses hattest Du mir einmal erzählt. Daß sie alles hatte weggeworfen, alle Photographies zerschnitten. Auch Deine persönliche Bilder. Deshalb muß ich staunen, was Du sagst.«
»Na ja, wie gesagt. Ich habe sie entdeckt. Zufällig. Vor zwei Jahren, wenn ich mich recht erinnere. Die alten, vernichteten, habe ich lediglich noch in Erinnerung. Darüber haben wir ja gesprochen – die Photographien aus der Wohnung in Metz und-oder aus Krakau, die aus Zakopane, beim Skilaufen. Davon habe ich sogar noch einen Talismann – einen Ullr, den Schutzpatron der Skiläufer. Unter den entdeckten ist ein Photo dabei, das uns auf den sommerlichen Schären im Süden von Helsinki zeigt ...«
»Was ist Schären?«
»Kleine Felseninseln, hier in der Ostsee.«
»Ah! Îlot rocheux. Dans mer Baltique.«
»Da war ich so um die drei oder vier Jahre alt. Sie immer das Gesicht in Blickrichtung Kamera. Genauso bei dem anderen, das ich noch gefunden habe. Es ist ist wirklich zum Piepen. Darauf bin ich um einiges älter, kurz nach dem Abitur. Mit Onkel und Tante aus Amerika. Aber ohne Papa, der wie immer unterwegs war ...«
»Oncle et tante? Von Deiner Mutter?«
»Nein. Der Bruder meines Vaters. Aus den USA. Die wollten mich ja sozusagen adoptieren. Sogar mein Vater hatte sein Ja-Wort dazu gegeben. Aber ich habe laut nein gerufen. Denn ich war ja ein halbes Jahr in diesem schrecklichen Kaff Miami Beach. Nur Rentner. Damals. Heute hat es die Jeunesse ja entdeckt. Surfing and riding waves and life. Bei den Amis sollte ich studieren. Alles hätte ich gekriegt – was ein US-Amerikaner eben so braucht. Auto, zwei Garagen, dreimal Stars and Stripes et cetera. Die Staatsbürgerschaft hätten sie mir dann wohl auch noch untergejubelt. Sie wollten ein Kind, das ich sein sollte. Ein etwas größeres, bei dem man keine Windeln mehr wechseln mußte, keine Scheiße putzen, ein wohlerzogenes. Sie selber hatten keine Kinder. Das war wohl irgendein Deal zwischen meinem Vater und denen. Wahrscheinlich hatte mein Vater es gut gemeint. Aber ich wollte das eben nicht. Meine Tante war genau so eine alte, eben aufgetakelte Fregatte wie meine Mutter zu dieser Zeit. Die waren sich sehr ähnlich. Tante Charlotte. Auch aus dem Elsaß. Na gut, auch das wußte ich damals noch nicht. Da hielt ich meine Mutter ja noch für eine Lorraine. Also, Charlotte, meine Mutter auf amerikanisch, was erschwerend hinzukommt. Fürchterlich. Genau dieselbe Scheiße. Nicht Merde. Ich glaube, die Wurzeln meines Antiamerikanismus liegen in dieser Zeit. Als äußerst schwerwiegend empfand ich dabei, daß mein Onkel so ein herausgeputzter Uniformierter war.
»Comment?«
»Ein Soldat. Seit dem Krieg. Ein bißchen ziemlich das Gegenteil seines Bruders. Er ist, wenn ich mich recht erinnere, 1939 in die USA ausgewandert. Wenn man das so sagen kann. Aus Palästina nämlich. Die sind mit der ganzen Familie dorthin damals. Von Rußland aus. Sowjetunion darf ich ja nicht sagen.«
»Idiot – nom d'une pipe!«
»Und es waren ja bereits vierhundertfünzigtausend Juden dort. Er ist also vorsichtshalber abgehauen ...«
»Wie meinst Du das? Abgehauen.«
»Na ja. Der Konflikt, die Kriegsgefahr. Mit den Arabern eben. Auch damals waren die Juden dort schon eben gelitten. Mein Vater ist ja auch weg. Oder Henry Kissinger ...«
»Kissinger? Der ancien minstre des Affaires étrangères? Von den Americains? Er war Jude.«
»Ist! Geliebte. Aber ist nicht nur Jude, sondern er ist auch dasselbe wie die, die es mit den anderen Juden oder anderen Menschen gemacht haben, die nicht im freiheitlichen Westen überlebt haben wie Henry Kissinger.«
»Nun ist mir die deutsche Sprache doch sehr compliqué. Vielleicht es ist besser zu sagen, so schwierig, wie Du sie sprichst. Douteux – wie heißt es? Doppelbedeutig?«
»Doppeldeutig. Verschwiemelt. Ja. Dabei fehlen mir sozusagen die richtigen Worte. Obwohl man hierbei nun wirklich Klartext sprechen müßte. Eine höchst zweifelhafte Figur, dieser Kissinger. Jude. 1938 mit den Eltern von Deutschland aus in die USA emigriert.«
»Ist das etwa schlimm? Viele Menschen, viele juif waren froh, daß sie es konnten!«
»Aber die haben nicht so viele Menschen auf dem Gewissen wie Kissinger.«
»Du sprichst sehr rätselhaft! Bitte werde concret! Was hat er gemacht?«
»Er war wesentlicher Betreiber des Vietnam-Krieges. Er hat ...«
»Kissinger? Was hat er damit ...«
»Viele wissen es nicht. Wenn sie im Lexikon nachschauen, müssen sie ja glauben, er sei ein Friedensengel gewesen. Und als solcher hat er ja auch grinsend den Friedensnobelpreis entgegengenommen für den Frieden in Vietnam. Aber er hat diesen Krieg der US-Amerikaner maßgeblich mit entfacht. Nein, er hat dafür gesorgt, daß die Flammen nicht ausgehen. Er war der Kriegstreiber schlechthin. Er hat sich über die Militärs hinweggesetzt. Wohl mit allen Vollmachten ausgestattet. Er hat die Außenpolitik entscheidend – ach was, er hat sie bestimmt. Sonst hätte das ja vermutlich nicht funktioniert. Er hat, gegen die Ratschläge seiner engsten Berater – die er Freunde nannte und sie wohl deshalb abhören ließ –, den Rolling Thunder befohlen.«
»Rolling Thunder? Es klingt sehr grollend.«
»Ja. Das war's wohl auch. Weihnachten 1972, dreitausend vollgeladene Bomber gegen die Zivilbevölkerung. Alles killen, was zappelt, was sich bewegt, war wohl der Tagesbefehl. Kleinkindern haben allein die Druckwellen der Bomben die Eingeweide detonieren lassen. Innerlich verblutet. Rolling Thunder nennen die Vietnam-Veteranen auch ihre – wenn ich richtig informiert bin – immer noch stattfindenden Motorrad-Demonstrationen gegen diesen Krieg, in dem von drei Millionen getöteten Vietnamesen zwei Millionen Zivilisten waren. Gezielt. Wie gesagt.«
»Mon Dieu!«
»Das kannste aber laut sagen. Mehrmals hintereinander. Aber gegen solche Bomben, auch Weihnachtsbäume genannt, helfen keine hundertfachen Rosenkränze oder Varianten aus anderen Religionen als der katholischen. Dem gegenüber standen achtundfünfzigtausend US-Soldaten, die in diesem Krieg umkamen, in dem es um nichts anderes ging als um Macht. Und Kissinger ging es um nichts anderes. Irgendein Ami, von dem ich jetzt nicht mehr weiß, welche Funktion er innehatte damals, meinte, eine Begründung für solches Handeln sei einzig und allein bei Machiavelli nachzulesen. Er wollte immer ganz nahe an der Macht sein, unser deutscher Jude aus dem fränkischen Fürth, der mit seinen Eltern vor den Häschern geflohen ist. Unser Harvard-Professor für politische Wissenschaften.«
»Woher weiß Du dieses alles?«
»Ich habe es aus einer WDR-Dokumentation. Ein Film. Ein Fernsehfilm.«
»Von wann ist dieser Film?«
»Ich glaube von 1999. Also nicht so neu, daß Mister Kissinger noch nicht hätte dagegen klagen können. Vor allem gegen die Bemerkung eines andere Befragten, der meinte, nach den heutigen Kriterien – also beispiels-, nein, auszugsweise wie bei dem serbischen Henker Milosewicz – würde unser Friedensnobelpreisträger wohl als Kriegsverbrecher angeklagt. Und Herr Kissinger war zu dieser Oberbefehlszeit nicht mal beim Militär. Wie mein Onkel, der US-amerikanische Hochglanzsoldat. Der war beim CIC.«
»Was ist das nun? Es klingt auch nicht freundlich.«
»Counter Intelligence Corps. Haben sie nach dem zweiten Weltkrieg gegründet. Wie das vorher hieß, weiß ich nicht. Beim deutschen Militär heißt das militärischer Abschirmdienst. Gegenspionage. Den Nachkriegskommunismus bekämpfen. Vor dem zweiten Weltkrieg hielten die Amis sowas ja noch für eine von durchgeknallten Künstlern gegründete Sekte. Wie der Sänger, der nicht zum Wagnerianern auf Bayreuths grünem Hügel wollte, weil dort geschossen würde. Beirut und Bayreuth liegen aber auch sehr nahe zusammen – in US-amerikanischer Geographiekenntnis. Na gut, es könnte ein phonetischer Übermittlungsfehler gewesen sein. Aber ein Spitzenopernsänger sollte eigentlich schon wissen, daß in Beirut eher weniger Wagner gespielt wird. À propos. Kennst Du den schon?«
»Ob ich kenne wen?«
»Das ist so eine Art geflügelte deutsche Frage, wenn der Humor emphatisch abhebt – ob man einen Witz schon kennt. Um einen solchen geht’s hier.«
»Wie soll ich kennen, von dem ich nicht weiß, was ich kennen soll?«
»Dann werde ich ihn Dir erzählen. Er hat mit einem meiner Lieblingthemen zu tun. Also: Als das Gespräch auf Bücher kommt, erwähnt der eingeladene Gast aus den USA, er habe viele Jahre lang eine alte Bibel im Haus gehabt. Sie habe aber so gestunken, daß er sie einer Tante geschenkt habe. Der Gastgeber stutzt: ›Wie alt war das Buch?‹ – ›Weiß nicht, gedruckt von einem gewissen Gurkenberg oder Guggenheim in Mainz.‹ Der Gastgeber läßt die Gabel fallen: ›Gutenberg?‹ – ›Ja, das könnte er sein. Ja, so hieß er!‹ Der Gastgeber springt auf: »Los, wir chartern ein Flugzeug. Wo wohnt Ihre Tante?‹ Der Amerikaner winkt ab. ›Lassen Sie nur! Der Schinken ist völlig verdorben. Er muß ursprünglich einem gewissen Mack Lutter gehört haben – und der hat ihn total verkritzelt!‹«
»Mon Dieu! Das ist diese histoire von George Bush, der die Taliban für eine orchestre de folklore gehalten hat. Bevor er sie hat erschießen lassen.«
»Richtig. Nun, heute haben unsere Freunde ja wieder ein neuerliches Feindbild. Endlich. Es war ja auch schrecklich, so gänzlich ohne. Ich meine, nachdem der Schurkenstaat Sowjetunion in den Mülleimer der Geschichte gekippt worden war. Jetzt darf der neue, frisch- und immer sauber gewaschene Oberkaugummiboy die Knarre auf Sadam Hussein und noch ein paar andere halten. Und wir sollen ihm beim Abdrücken helfen. Die Engländer. Die Deutschen vor allem. Unglaublich. Die Deutschen als Flakhelfer der Amis. Und es gibt einige, die laut Hurra! rufen dabei.«
»Du bist Franzose. Du tust es nicht. Wir Franzosen tuen das nicht.«
»Na. Wenn Du meinst. Aber wenn's ihm dabei mal nicht den Lauf verbiegt und daraus der Inhalt einer Tüte auf die USA – und vermutlich auf uns, uns alle ebenso! – zurückgeflogen kommt, in der sich alles andere als Milchpulver befindet. Wie schrieb Robert Menasse kürzlich so treffend: Im Grunde bewundern alle diejenigen die Vereinigten Staaten, die noch Reste von archaischen Reaktionsweisen in sich verspüren. Er meinte damit den Grad der militärischen Aufrüstung, die militärische Gewalt. Die Anzahl der Keulen sei aber ein Steinzeitargument. Und er verweist mal eben auf einen anderen 11. September, nämlich den des Jahres 1973, als ›die Amerikaner‹ – völlig richtig in Anführungszeichen gesetzt, weil's ja in unserem Sprachgebrauch keine anderen Amerikaner gibt –, einen demokratisch gewählten Präsidenten niederputschten. Den eines anderen Amerika eben, den von Chile. Da hatten sie Allende sozusagen ge-, na, sag ich mal, gekippt. Da war Heinrich Alfred, später Henry Kissinger übrigens auch federführend beteiligt. Als Allende gewählt worden war, wollte Nixon ihn gleich abschießen. In seinem Revolvergürtel befand sich die großkalibrige Knarre Kissinger, seinerzeit Sicherheitsberater Nixons. Denn nach den Friedenabsichten für Vietnam von Nixons Vorgänger Lyndon B. Johnson kippte die Stimmung des US-amerikanischen Wahlvolkes hin zu Humphrey, Johnsons Vize. Das machte Nixon so kirre, daß er erst einen liberalen, zu Allende stehenden General – Schneider hieß der, glaub ich – ermorden ließ – und dann, an besagtem 11. September 1973 eben auch Allende. Tod dem Kommunismus. Während der 11. September ohne Jahreszahl, also auf ewig, meint Manesse, als Synonym für einen Angriff auf unsere Zivilisation festgeschrieben stünde. Mir kocht der Blut! Wenn ich nur daran denke, meine Süße, daß Du, Deine Mutter, Dein Vater, ihr alle, bei einem Wochenendtrip zum Shopping in die USA gut hättet verhaftet worden sein können und jetzt in irgendeinem Ami-Knast vor euch hinschmurgeln würdet. Ohne Anklage, ohne Grund. Weil ihr arabische Namen tragt ...«
»Par bonheur wir haben kein Geld für eine week-end at american supermarkets. In les États-Unis d'Amerique. Wir tragen unsere paar sous in amerikanische supermarché dans France. Mais, Didier, – ich trage keinen arabischen Namen, mon cher mari! Je m'appelle Aubertin.«
»Aber es steht Dein Geburts-, Dein Mädchenname im Paß! Den allein halten die Amis vermutlich schon für eine hochgefährliche Waffe. Wer soll denn sowas aussprechen? Al Arfaoui. Da bricht man sich ja die Zunge. Also, ab in den Knast. Terrorismus-Prophylaxe. Und außerdem sieht man Dir an, daß Du sehr wahrscheinlich nicht aus dem elsässischen mittleren Westen kommst.«
»Dieses ist wohl richtig. Vielleicht doch mehr aus dem Nordosten von die Alsace? Wo mein geliebter Mann immer so sehr gerne Grenzen überschreitet.«
»Doofe Nuß. Also, heute wie damals – die Freiheit erhalten. Alles sauberhalten. Wie bei mir zuhause. Alles glatt. Alles schnieke, frisch gewaschen. Wie die Straßenkreuzer vor der Tür. Kein Krümel durfte herumliegen. Alles Fassade. Wie bei meiner Mutter. Wie's innerhalb des familiaren Gemäuers aussah, war gleichgültig. Wie unsere Bourgeoisie eben – innen alles morsch, nein – faul, verfault. Lauter schreckliche Bakterien. Aber schön anzuschauen. Und bei meiner Mutter habe ich nicht unbedingt den Eindruck, daß sie mit ihrem Äußeren meinem Vater gefallen wollte. Vermutlich eher anderen oder anderem.«
»Du bist voll mit Haß, Didier. Doch ich verstehe Dich immer mehr. Was meinst Du, wem sie gefallen wollte?«
»Allen, die etwas zu sagen hatten. Mein Vater hat ja offenbar nur Nichtsagendes zu sagen. Das Gefühl für Macht kannte er nicht. Er war halt kein Mann. Er war ein Männchen. In den Augen meiner Mutter. Männer sprechen über Regierungsbildung. Zumindest über Koalitionen, über die man irgendwann doch ans Ruder kommt. Ob als Politiker oder als Leiter einer Sparkassenfiliale auf dem Dorf. Darüber sprechen sie. Das ist ihr Verständnis von Vernunft. Aber bloß nicht abweichen. Nicht hineinschauen ins Gefüge. Das kostet zuviel Zeit, weil man auch Nebengeleise abfahren muß. Es erfordert die Fähigkeit, das eine oder andere in Erwägung zu ziehen. Das Abstraktionsvermögen des Mannes ist eben reduziert auf materialistische Wesentlichkeit – die für mich eben die Unwesentlichkeit schlechthin bedeutet. Weil sie immer zweckgebunden agieren. Das ist doch nur fade. Und irgendwann kommen sie dann unweigerlich auf das einzige Thema, das sie vielleicht noch interessiert – und das ja unseren eigentlichen Kernpunkt bildet, Männer nämlich –, aber als Nebensache, nach Fußball – Frauen.«
»Mais – Didier! Es ist Deine Thema! Du sprichst auch mit mir darüber. Und es ist manchesmal lustig.«
»Nein. Protest. Wie das Thema in der Regel abgehandelt wird von Männern – das ist nicht mein Thema. Ich spreche auch nicht über Frauen. Mit Männern jedenfalls nicht. Mit Dir ist es tatsächlich angenehm, weil wir fröhlich Erfahrungen austauschen. Doch mit Männern – wenn es losgeht, gehe ich los. Ich kann da nicht zuhören. Ich mag es schon nicht, wenn so ein Gockel – ein gallischer oder preußischer oder sonstwoher stammender Hahn, da sind sie alle gleich –, wenn so ein geifernder, sabbernder Typ seine Banalsprüche abläßt. Wenn ich es schon höre – hat die aber‘n Vorbau. Oder so ähnlich. Ewig an Jungmamans milchquelligen Silikonluftballons. Sehr unangenehm. Naziza, ich ertrage das nicht.«
»Du siehst es auch. Ich sehe es. An Dir.«
»Klar. Ich sehe es. Selbstverständlich. Ich könnte mich gar nicht sattsehen. Nur nicht an Silikon. Da bin ich vorher satt. Das Feine, das ist es, was Du siehst. Ich mache ja keinen Hehl daraus. Ich könnte den ganzen Tag – ach, Du weißt es. Nein, was ich meine, sind diese abgrundtief dämlichen Bemerkungen, diese nichtmal auch nur im winzigsten dieser Schönheit angeglichenen Verbalinjurien. Und immer bricht irgendwie der Sexualprotz durch. Selbst bei Männern, denen ich das absolut nie und nimmer zugetraut hätte – hochgebildete, intelligent aussehende Männer. Ich hasse es. Wenn einer mir gegenüber davon anfängt, schneide ich ihm sofort das Wort ab.«
»Woher kommt nur diese Abneigung? Ich mag es auch nicht. Doch Frauen sprechen auch sehr oft so vulgaire.«
»Füüüürchterlich, ja, Naziza. Es gibt in der deutschen Kabarettszene zwei Frauen. Misfits nennen sie sich. Die haben früher mal ganz ordentliches Kabarett, also Satire gemacht. Bis die irgendwann wohl auf den Trichter gekommen sind, daß ein Gespräch übers Ficken noch mehr Menschen interessiert. Seitdem machen die nix anderes mehr. In allen Variationen. Würden sie lediglich über die Männer herziehen – von mir aus. Das ficht mich nicht an. Es ficht mich allerdings an, auf welchem Niveau die sich damit befassen. Diese beiden Frauen haben sich völlig auf fünf unter Toastbrot begeben, also ganz weit nach unten. Und je zotiger das wird, um so mehr Menschen rennen hin. Ich sehe es manchmal im WDR-Fernsehen ...«
»Was ist WDR? Du hast es zuvor bereits einmal genannt.«
»Westdeutscher Rundfunk. Also öffentlich-rechtlich. Staatsfunk. Also nix Privatfernsehen! Sondern Fernsehen für Gebührenzahler! Mit Bildungsauftrag! Ich nenne es gerne Kanalarbeiter-Programm oder auch Malocher-Fernsehen. Völlig angepaßt an diesen Ruhrgebiets-Massen-Geschmack. Immer noch weiter runter. Wie die Rechtschreibreform. Bloß nicht nach oben orientieren! Sich im Dreck der Dummheit suhlen. Dort, im Ruhrgebiet, sind diese beiden Weiber auch bekannt. Anderswo eher weniger. – Also: Absolut unter aller Sau. Unter jeder Würde. Meine Güte – die Würde kann mir manchmal auch gestohlen bleiben. Allem voran die sogenannte. Aber bitte auf anderem Niveau. Und damit eben ohne diese widerlichen Zoten. Man könnte meinen, die Menschen haben nichts anderes im Kopf.«
»Es wird so sein. Sie haben nichts anderes.«
»Fußball und Ficken. Das meinst Du?«
»Es wird so sein. Es ist in andere Länder auch so. Glaubst Du, in Deine neue Heimat es ist besser? Mon Dieu, was rede ich! Du weißt es genau. Das Niveau ist dans France nicht besser. Und diese Männer! Wie sie sprechen! Und immer heißt es: Ist sie nicht geil, diese Négresse ...«
»Du meinst das Niggerweib.
Na ja. Das ist richtig. Mir wurde das so erzählt. Ob’s stimmt, weiß ich nicht. Es wird schon eine Menge daran sein. Aber vielleicht will sie ja nur in seinen Filmen spielen? Das wäre mir auch recht. Nur muß er dann mehr produzieren. Sonst geht in meinem Kino das Licht aus. Es gibt nicht so viele, die solche Filme drehen. Wie auch immer – ich gebe Dir absolu recht. Ich wundere mich auch immer, wo diese ganzen dunkler Pigmentierten des Landes sind. Nein. Es ärgert mich sehr oft. Sie gibt es schließlich nicht nur in Marseille. Das Land ist voll mit allen Hautfarben. Ich nehme mal an, daß es alleine in Paris zwei Millionen leben. Doch du siehst ab und zu lediglich mal so’n Alibidunkleren. Halt. Doch eine wenigstens! Im Kino. Eine Algerierin. Vermute ich mal.«
»Puh! Welche?«
»Béatrice Romand.«
»Ah! Conte d'automne. Bei Rohmer. Er ist ein Mensch. Er war. Mais, diese Filme wollen diese sogenannte Menschen nicht sehen, die bei Gedanken an eine Araberin oder eine Négresse onanieren. Oder schlimme, sehr dumme Worte verlieren. Um dann an ihre – wie hast Du es genannt? – Milchquelle aus Silikon, nach Hause zu ihrer eheblonden Frau zu gehen. Uns wollen sie nur ficken! Wenn wir jung sind. Und sie sitzen den ganzen Abend an einem Platz, trinken Bier aus einer Flasche und reden darüber. Sie sprechen ja nicht miteinander. Das können sie nicht. Sie sind nur dégoûtant ...«
»Naziza! Du schäumst ja. Wo ist er hin, Dein von Dir immer wieder herbeizitierter sozialer Prozeß? Sie haben es nicht gelernt.«
»Es gibt einen Unterschied zwischen Menschen und Menschen. Du hast von Zärtlichkeit gesprochen, die man herbeisehnt – wenn man sie in sich trägt. Es muß eine Verlangen danach sein. Wenn es nicht vorhanden ist, kann ich diese nicht integrieren in eine communauté, wenn sie das nicht wollen. Nur wenn es um ihre voiture geht, dann werden sie zärtlich in ihren paroles.«
»Ach? Nun muß ich Dich aber verstärkt bei Deiner eigenen Argumentation packen! Sie wachsen nicht im entsprechenden Umfeld auf. Sie wissen gar nicht, was das ist, zum Beispiel Liebe. Ich weiß ja gar nicht mal, ob ich das weiß. Éducation hin oder her. Wenn sie keine Zärtlichkeit bekommen in der familiaren Umgebung – Deine Worte! Woher sollen sie also wissen, was das ist? Der Vater hockt mit anderen Erzeugern den ganzen Spätnachmittag – wenn er keine Arbeit hat, dann schon früher – bis in den späten Abend hinein auf dem Parkplatz an der Rue Longue Capucins Ecke Rue Thubaneau oder oben hinterm Tour d’Aix oder in Lyon an der place de la République am Brunnen – wobei hier sogar schonmal Weibliches zu sehen ist – und quatscht über die steigenden Billigtelephonkosten nach Algier oder Rabat, während Maman zuhause Taboulé oder mal Hammel zubereitet. Gut, das wäre noch in Ordnung. Aber zuhause kümmert er sich um seine wertlosen Töchter nur dann, wenn es darum geht, sie mit irgendwelchen frommen Jungböcken aus der Heimat zu verheiraten, um einen Hammel mehr in die Familie zu kriegen. Oder ihr klarzumachen, daß eine Frau nicht Autofahren muß. Nein, nicht darf. Und der Junge haut ab, weil er den Alten nicht mehr aushält. Denn der ist ihm entweder zu mittelalterlich allahgläubig orientiert oder das Gegenteil, quasi vom Glauben abgefallen. Dann brettert der mit dem Vélo die Canebière rauf und runter oder sitzt auf einem anderen Parkplatz oder aufm Cours Belsunce und denkt mit anderen darüber nach, wie man die Alten und damit die Geschwister endlich auf Allahs Pfad der Tugend zurückführen kann. Also ...«
»Didier! Du sprichst von arabes! Ich spreche von euch. Von euch blondäugige Français. Pardon. Nicht von Dir.«
»Das ist im Prinzip nicht anders. Nur hockt hier der Alte vorm Fernseher, säuft Bier oder Wein aus dem Tankwagen und glotzt Autorennen und Fußball und nicht Allah. Und Maman bereitet nicht Taboulé zu, sondern ein kiloschweres Entrecôte. Wenn’s Geld dafür reicht. Und der Junior macht mit seinem Vélo auf der Canebière genausoviel Krach. Oder rast oder schleicht in München mit dem aufgemotzten und hochpolierten Alt-Golf die Leopoldstraße oder in Köln den Hohenzollernring oder in Berlin den Kudamm auf und ab. Wie wir früher. Zum Aufreißen. Nur gab’s damals keine von euch Schönheiten. Die Andershäutigen lebten seinerzeit, jedenfalls vereinzelt, drüben in Ostberlin. Wo ich als Berliner nicht hindurfte. Wir kannten das nur aus dem Kino. Wenn überhaupt. Oder, wie ich, wenn sie mal woanders waren, wo’s dunklere Häute gibt. Wo es sowieso nichts anderes gibt, es also Alltag ist, also normal war. Allerdings hatte ich zu dieser Zeit noch keine Augen dafür. Ich bohrte die meinen immer in die von Frau Maman, um wenigstens einen zärtlichen Blick zu erhaschen. Also – Éducation, gehobener Mittelstand ja, dennoch: Liebe, Zärtlichkeit nein. Wurscht. Der Unterschied besteht vielleicht darin, daß diese Töchter im knappen Röckchen in die Disco gehen. Es gibt keinen weißen Keuschheitgürtel. Keinen mehr. Und das ist gut so. Vielleicht träumt die ja noch von Liebe und geht ins Kino, statt in die Disco. Oder erst ins Kino und dann in die Disco, um sich wieder desillusionisieren zu lassen, weil dort kein Johnny Depp, nicht mal ein junger Gérard Dépardieu herumhüpft, sondern nur triste Realität. Diese heiratet sie dann später, so einen auto- und fußballverrückten Schlappsack, wie ihr Vater einer ist. Sie kriegt halt keine vier oder fünf Kinder, sondern nur eins, höchstens zwei. Aber die wiederum kriegen ebensowenig oder soviel Zärtlichkeit ab, wie sie von ihren Eltern an Zuwendung bekommen hat. Und der Junge geht ab und zu in den Puff. Wenn das Geld reicht. Oder er versucht, ‘ne Araberin zu vernaschen. Wofür dieser Blondäugige wiederum Prügel bezieht von euch. Dafür gehen die anderen dann in der Truppe los, um Araber aufzuklatschen. In Deutschland heißen die Araber Türken. Also, alles eine Frage des gesamtgesellschaftlichen Gefüges. Und hier besteht – wir sprachen darüber – offenbar kein Bedarf. Zuviel Nachdenklichkeit, zuviel Sinnlichkeit könnte eine vorhandene Intelligenz in Bahnen lenken, die das Bruttosozialprodukt minimieren. Minimierende Globalisierung hin oder her. Daß Großunternehmen keine Gewerbesteuern zahlen und so Sozialleistungen gekappt werden, darüber wird nicht weiter gesprochen. Ein Circulus vitiosus. Schlimm. Der Mensch soll immer nur produzieren, daß Geld für Ersatzbefriedigungen reinkommt.«
»Oui. Hier liegt der entscheidende Faktor! Eine englische Sozialforscherin, die beschäftigt ist mit den Problèmes der Integration von islamischen Pakistanais in Bradford, hat einmal gesagt, man denke zu sehr darüber nach, was uns unterscheidet. Man müsse jedoch endlich einmal über die Gemeinsamkeiten nachdenken.«
»Siehst Du! Es seid immer ihr Mädels, die solche intelligente Sätze von sich geben. Von einem Mann hört man sowas eher selten.«
»Didier. Weshalb mußt Du immer so insolent ...«
»Bitte, ich muß was?«
»Insolent. Puh! Mir fehlt das deutsche Wort. Ohne Respect. Non. Es gibt ein sehr gutes Wort dafür. Etwas wie schno ...«
»Schnoddrig?«
»Oui. Das ist es. Du bist zu oft schnoddrig. Auch manchesmal impertinent. Mon Dieu – simple, zu wenig ernst.«
»Was würde mehr Ernsthaftigkeit an der Situation ändern? Ich war fünfeinhalb Jahrzehnte das, was man mich gelehrt hatte: ernsthaft. Und habe dabei nur Mist fabriziert. Wahrscheinlich wegen der Ernsthaftigkeit. Die dann in Melancholie umschlägt. Oder Wut. Ernsthaftigkeit? Das ist es ja, was sie dauernd predigen – mehr Ernst. Es ist lächerlich. Laß uns doch darüber lachen. Na ja, lächeln. Die Frau, von der Du eben erzählt hast, hat bei ihren Worten aller Wahrscheinlichkeit gelächelt.«
»Oh! Didier! Du hast recht. Sie hat es. Jedoch, ich weiß noch von einer anderen Frau, die sehr ernst war bei dem, was sie geäußert hat zu einem fortschrittlichen Islam, zur Rolle der Frau im Islam. Non, soeben erinnere ich mich, daß sie hatte auch ein sanftes, wenn auch ein etwas nachdenkliches, sanftes Lächeln in ihrem Gesicht. Wenn ich das richtig erinnere, sie kommt aus Somalia. Sie hat gemeint, wir Frauen in unserem Land, non, im Islam, wollen Freiheit. Das ist richtig. Doch wir wollen vieles von dem, was man im Westen – womit sie gemeint haben dürfte den Norden. Oder vielleicht die USA? Genau ich weiß es nicht. Maintenent ...«
»Vermutlich einfach die industrialisierten Länder.«
»Oui. D’accord. Daß wir diese Freiheiten nicht wollen haben. Wir wollen die Familie behalten. Und diese gibt es nicht mehr in Europa, par excellence. Das ist es, was ich meine, das wir suchen sollten, das wir vielleicht ein wenig mischen müssen. Eine Freiheit eben auch für die Frau. Also nicht umgebracht werden, wenn wir nach einem Mann schauen. Nicht von unserem Bruder ermordet werden, von so eine parfait idiot, was sage ich, von so einem Mörder, weil wir unsere Hymen einem Mann gegeben haben, in den wir verliebt sind, aber der nicht mit uns verheiratet ist. Wir wollen den Mann lieben dürfen, den wir lieben. Und nicht für den Kinder gebären, den unser Vater für uns bestimmt hat. Ich habe das – darüber bin ich sehr glücklich – nicht erleben müssen. Doch ich weiß von vielen, bei denen es bis heute so praktiziert wird. Terrible! Eh bien. Wir möchten die Freiheit des Einzelnen, die Égalité und die Gemeinschaft.
»Dann müssen wir das Matriarchat einführen. Aber das werden wir Männer nicht zulassen.«
»Und ich weiß nicht, ob ein Matriarcat unsere problèmes wird lösen. Vielleicht wir unterdrücken dann euch. Wir müssen es gemeinsam tun. Männer und Frauen. Wir sind füreinander geschaffen. Jedoch füreinander! Wir müssen einander ergänzen! So, wie wir gemeinsam in allen réligions, in allem Glauben – mon Dieu, es sind immer dieselben Worte! –, auch die Athetisten, leben müssen. Wir wollen auch einen Beruf haben und ihn ausüben. Nicht wie in la Turquie – oder in einem anderen Land –, wo sie Mädchen in einem Alter von elf oder zwölf Jahren wegnehmen von der Schule, um sie zu verheiraten. Das sind Kinder, die dann nie wieder etwas lernen dürfen und niemanden sehen dürfen als ihren Mann, der ihnen zum Teil bereits bei der Geburt zubefohlen wurde. Für ein paar Ziegen. Oder vielleicht jetzt für Geld. Es ist unglaublich. Sie dürfen nach dem Gesetz der Türkei erst dann heiraten, wenn sie siebzehn Jahre alt sind. Doch dem Imam sagt, sie dürfen es, wenn das Blut kommt. Alle Welt ist darüber informiert, daß die Menstruation zunehmend früher einsetzt. Doch der Imam sagt es, so wird es denn getan. Was interessieren Gesetze, die Menschen – Kinder! – schützen sollen. Ah! Die Politiker, die diese Gesetze schaffen, gehen sogar hin zu diesen Hochzeiten, zu diesen Hineinheiraten in Gefängnisse für den Rest eines Lebens. Lebenslänglich. Wie für Mord. Wir wollen hinausgehen, ohne Schleier. Und wenn meine Schwester einen anderen Mann liebt, dann soll sie es tun dürfen. Jedoch: Wir bleiben bei den Kindern, wir geben sie nicht ab. Wir halten unsere Eltern und deren Eltern und unsere Geschwister zusammen. Doch ihr dürft auch nicht weggehen. Und wenn ihr eine andere Frau genommen habt, dann ist das sehr traurig. Oder wir einen anderen Mann. Jedoch ihr müßt dennoch bleiben, wir müssen zusammenbleiben. Bei unseren Kindern. Mit der neuen Frau! Oder dem anderen Mann. Jahrtausende war es möglich, wenigstens in einzelnen Völkern. Weshalb nicht jetzt? In Afrika geschieht das partiel heute noch. Vielleicht auch an anderen Orten. Ich weiß es nicht genau. Wir alle zusammen. Das Individu in der Gemeinschaft. Ihr müßt das akzeptieren, wenn wir einen Schleier tragen. Wenn wir das möchten! Freiwillig. Überall! Und wir müssen diese – frivole oder mit reinen Gedanken – Nacktheit respektieren. Auch, daß ihr wollt in unser Fleisch. Jedoch ihr müßt es annehmen, wenn wir nein sagen. Lust, sie ist wunderbar. Auch muß man es überliefern dürfen, daß es sie gibt. Sie ist ein Wunder, das man niemandem nehmen darf. Es spielt dabei keine Rolle, in welche Art dieses geschieht, ob durch la Bible oder le Coran oder durch eine excision – wie heißt es?«
»Du meinst wahrscheinlich Beschneidung.«
»Oui. Also durch eine Beschneidung, also Ermordung unserer Lust nur dafür, daß ihr Männer über uns Herr seid wie über eine Kuh oder ein Kamel oder eine Automobile, in dessen Auspuffloch ihr eure sogenannte Manneskraft hineinsteckt und -spritzt. Oder durch ein Buch, in dem angeblich geschrieben steht, daß wir Frauen Lust nicht haben dürfen. Jedoch wir müssen unsere Lust haben dürfen. Und wenn sie nicht vorhanden ist oder wir sie einem anderen geben wollen, dann ist es zu respecter. Ich will nicht, daß ihr schlecht sprecht über uns. Und wir dürfen es nicht tun über euch. Ich will solche schlimmen Worte nicht hören. Pareil, wo das ist und welche Frau. Nicht einmal über eine Prostituée. Sie ist auch eine Frau. Und doch ich höre immer solche Gespräche über Frauen. Ebenso in France! Es wird mir übel dabei.«
»Siehst Du. D’accord. Absolut. Womit wir wieder beim Thema wären. Und da mache ich eben nicht mit. Das ist ja meine Rede! Ich kann das nicht. Ich mache es gerne, wie Du weißt. Es ist eine Lust mit der Lust. Aber ich spreche nicht darüber. Ich will das nicht. Es ödet mich an. Nein – es verursacht mir Erbrechen. Und daher kommt es auch, daß ich keine Bemerkungen über das Äußere von Frauen hören will. Weil es immer darauf hinausläuft. Wenn mal – was selten genug vorkommt – jemand eine angenehme Bemerkung fallen läßt. Gut. Schön. Dann nicke ich dazu. Aber ich führe das Gespräch nicht fort.«
»Es ist Dir heilig?«
»Das kann sein. Ja. Irgendwie ist die Frau mir heilig. Ich habe allerhöchste Achtung vor ihr. Im allgemeinen. Selbstverständlich gibt es auch dumme, widerliche und allein schon deshalb häßliche Weiber. Die ignoriere ich einfach und gehe zur Tagesordnung über. Die sehe ich einfach nicht.«
»Es ist jedoch sehr oft schwierig für eine Frau, geheiligt zu werden. Wir Frauen wollen auch als Frauen gesehen und genommen werden.«
»Genommen?«
»Was ist falsch daran?«
»Genommen klingt ein bißchen arg nach hartem Tun.«
»Das meine ich nicht. Pardon. Vielleicht möchte ich auch einmal das – quelquefois. Wenn Du mich machst ein wenig verrückt. Doch ich meine mit meine – wohl etwas ungeschickte – Rede, eine contact, der über diesen der Seele hinausgeht ...«
»Ach, Naziza! Meine Heiligsprechung geht ja nicht soweit, daß ich sie nicht anfasse. Daß ich mich nicht mit ihnen befasse. Befassen! Siehst Du. Das ist das deutsche Wort dafür. Saisir. Berühren ist angenehmer. Toucher ...«
»Es gilt für beide Bedeutungen.«
»Na. Siehste mal. Französisch. Nun. Befassen. Anfassen. Berühren. Es gibt ein paar, mit denen ich sehr angenehme, tiefreichende, anrührende, berührende Gespräche führe. Das ist das eine. Und mit denen kann ich genausogut blödeln. Manchmal bin ich vielleicht etwas zu linkisch. Also, im Gegenteil. Und das andere – ich habe nie Berührungsängste gehabt. Ich berühre sehr gerne.«
»Davon möchte ich jetzt nicht so exacte Auskünfte hören. Berührt werde ich! C'est tout! Und es berührt mich, wenn Du mich berührst. Deine Lust für meine Lust! Und es berührt mich auch, wenn Du über Vergangenheit sprichst. Doch solche Vergangenheit. Nicht eine andere. Ich weiß, es ist schlimm. Aber ich kann nichts daran ändern. Es kommt etwas nach oben in mir, das ich Dir sagen muß. Ich bin impossible – jaloux comme un tigre.«
»Ach Gottchen, Liebes. Da geht's mir ja nicht anders. Aber was ist das eigentlich, diese seltsame Eifersucht?!«
»Es ist nicht, wenn Du nach andere Frauen schaust. Du weißt es. Es macht mir gar nichts aus.
»Nein! Ich meine die nach hinten, die rückwärts gerichtete Eifersucht. Eigentlich dürfte es sowas ja nun wirklich nicht geben. Es ist ja wahrlich schrecklich.«
»Das ist es, was ich meine. Ecaxt! Was einmal war, das ich ertrage nur sehr schwer. Ich bin sehr froh, daß es ist zwischen Dir und Isabelle schon solange vorbei. Es würde mir sonst große Problèmes machen. Ich spüre es sehr deutlich, daß es sehr intensif war!«
»Na gut. Aber das ist ja nun wirklich lange vorbei! Weit über zehn Jahre, mittlerweile zwölf Jahre.«
»Ich weiß es. Ich sagte es auch bereits. Doch es ist manchesmal etwas schwierig für mich. Es war immer sehr angenehm für mich, daß Du früher nicht soviel gesprochen hast über andere Frauen von Deiner Vergangenheit. Ah! Was sage ich. Du hast nie davon erzählt. Und manchesmal es hat mich doch wiederum sehr interessiert. Ich bin oft zerrissen gewesen in meinem Inneren deshalb.«
»Dann sollten wir uns auch nicht belasten damit.«
»Non. Didier. Verzeihe mir bitte meine prise de puberté. Es gibt viele interessante histoires in Dein Leben. Und es sind – es macht mich nun lachen – primaire Frauen, die eine interessante Mann aus meinem Ehemann gemacht haben. Bereits diese beide, diese drei, die ich habe kennengelernt ...«
»Wie? Drei Frauen aus meinem Leben? Das versteh ich nich'. Wen denn noch außer Isaac?«
»Anne et Julia.«
»Liebes – das sind zwar Freundinnen. Richtige. Du weißt, wie ich Freunde definiere.«
»Es ist mir bekannt. Es muß sein profonde.«
»Als denn. Die beiden anderen sind mir ebenfalls sehr wertvoll. Sie sind großartige Frauen. Aber sie waren nie meine Frauen. Oder ich ihr Mann. Es gab zwischen mir und diesen beiden nie eine körperliche Beziehung. Und Anne kenne ich überdies noch nicht sonderlich lange.«
»Non? Es überrascht mich jedoch. Sie haben von Dir sehr intim gesprochen. Das macht Erstaunen. Ich hätte immer diesen Eindruck, daß sie Dich sehr gut kennen.«
»Geht das nicht auch ohne den Austausch von Körperflüssigkeit?«
»Oui. Du belehrst mich. Du hast recht. Ich habe gesagt, daß ich bin pubertaire.«
»Ich weiß nicht, was das mit pubertär zu tun haben soll. Weshalb?«
»Du kannst es auch nennen naïf.«
»Aber das ist doch nicht schlimm. Ich bin ja froh, daß es so etwas noch gibt. Naiv. Das ist auch ein Schimpfwort geworden mittlerweile.«
»Es ist mir dennoch unangenehm. Ich bin eine Frau von über vierzig Jahre!«
»Jetzt hör aber auf, Naziza! Jetzt muß ich Dich aber wirklich korrigieren! Das hat doch mit dem Alter nichts zu tun. Du kennst es nur nicht. Das ist doch nun wirklich was anderes. Du kommst aus diesem extremen Familienverbund. In dem man sich diese Intimitäten sagt, sie austauscht. Ich habe so etwas nicht. Also habe ich ein, zwei, drei, vielleicht auch vier Freunde. Geistesverwandte ...«
»Verwandt in der Seele auch. Ich nehme es an. Nicht nur Denken. Auch Fühlen.«
»Ach, Naziza. Daß Du so etwas sagst! Zu mir! Du solltest doch nun wirklich wissen, daß ich das Denken nicht vom Fühlen trenne. Es ist ohnehin nicht voneinander zu trennen! Wenn wir denken, dann fühlen wir. Auch beim Rechnen. Oder bei naturwissenschaftlichen Versuchsanordungen. Bei beiden fühle ich nicht. Aber nur, weil ich es nicht kann. Dann nehme ich einen Taschenrechner. Also einen gefühllosen Computer. Und dem muß ich – immer noch – sagen, was er tun soll. Ich bin also kein Roboter, der ...«
»Es wäre auch das Letzte, mit das ich verheiratet sein möchte. Das ich könnte lieben.«
»Ach! Was soll das?! Das ist doch Mumpitz. Ich meine so, im geistigen Sinne: Die Vernunft leistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt. Vollstrecken muß es der mutige Wille und das lebendige Gefühl. – Also Freundinnen ...«
»Schiller. Über die Grenzen der Vernunft.«
»Ja. Klar. Du weißt es. Deshalb solltest Du mir auch nicht mit solchen Erbsenzählereien oder Haarspaltereien kommen.«
»Pardon. Du siehst, ich bin eine uralte Frau mit dem Denken ohne Nuance eines Teenager.«
»Ach! Was ist denn auf einmal in Dich gefahren? Bist Du jetzt am Komplimente fischen? Hast Du das nötig? Mir gegenüber?«
»Manchesmal bin ich auch dieses. Laisse tomber!«
»Kurz nochmal zu Schiller. Allein der Titel seines Aufsatzes – Über die Grenzen der Vernunft. Wunderschön! Es meint zunächst ja nichts anderes an als die Themenstellung, nämlich daß es die Enge der Vernunft aufzeigt. Doch es ließe sich damit ebenso sagen, daß Grenzen damit aufgehoben werden. Aber vermutlich hat Schiller das auch im Hinterkopf gehabt. Die Vernunft verflüssigt sich, geht über in eine andere Definition von Vernunft. Durchrassung des Geistigen.«
»Status des Androgynen? Die Seele beginnt zu denken. Et vice versa.«
»Aha. Die Denke beginnt zu seelen.«
»Cinglé. Es ist jedoch schön. Es gefällt mir gut. Es ist ein schöner Gedanke, wenn ich mit meiner Seele von meinem Körper – complet! – in Deinen Kopf fahre. Nicht diese Trennung, diese terrible deutsche Définition der Romantique von eine beseelte Körper. Es gibt es, ich glaube es, nur in der deutschen Sprache. Es gibt es bestimmt in der deutschen Romantique.«
»So ist es wohl. Vermutlich. Genau. Ihr Mädels penetriert flatterhaft, wie ihr nunmal seid, meinen selbst-mörderischen Denkapparat und bringt ihn endgültig aus der für mich von anderen Männern über Jahrhunderte mühsam erarbeiteten Ordnung. Und deshalb steht ihr Mädels mir nunmal sehr nahe. Ihr zerstreut mich und meinen Ordnungswahn. Es hat lange gedauert, bis ich das begriffen habe. Siehst Du – begriffen. Nicht verstanden. Ja, es ist so. Du hast also völlig recht, wenn Du sagst, daß ihr es wart, die – wenn überhaupt – einen einigermaßen interessanten Mann aus mir gemacht habt. Einschließlich meiner Mutter, der das zweifelhafte Verdienst zukommt, das ganze Chaos immerhin ausgelöst zu haben. Sie hat damit quasi und vermutlich eher sehr unfreiwillig keinen Mann aus mir gemacht. Wie auch immer. Und, ganz wesentlich – auch das habe ich schonmal gesagt –, im Gegensatz zur landläufigen Meinung seid ihr Frauen weitaus weniger vertratscht als Männer. Euch kann man etwas anvertrauen. Das ist meine Erfahrung.«
»Tratsch? Es ist ragots?«
»Das ist wohl richtig. Es gibt aber, glaub ich, einen besseren Begriff dafür. In diesem Zusammenhang. Wenn es um Vertraulichkeiten geht.«
»Ah! Oui. Commérages?«
»Das ist es wohl. Also eher Redereien und weniger Tratsch. Ich weiß es jetzt nicht genau. Wie auch immer – es hat sich eben so ergeben, daß wir einander relativ viel von uns erzählt haben. Anne vielleicht eher weniger. Aber Julia schon. Da spielt dann, neben der Sympathie, dem aufrichtigen Gefühl füreinander, die gemeinsame Geschichte allerdings mit eine Rolle. Bei Isaac kommt das noch hinzu.«
»Gemeinsame Geschichte? Bei Isabelle ich vermute – non, ich weiß etwas. Das Jüdische. Mais – bei Julia?«
»Dasselbe. Aber eben nicht nur das.«
»Puh! Ich hätte es nicht gedacht. Wir haben jedoch auch nicht so sehr viel gesprochen. Doch. Sehr viel. Jedoch immer nur über diese kopflose Didier. – Sie sieht vielmehr aus wie aus Espagne. Wie ein stolze Espagnole emancipé. Und sie hat ein Nase wie eine noble.«
»Ach Gottchen. Ja. Das feine Näschen. Aber Du scheinst es Dir nicht sehr genau angeschaut zu haben, das Näschen. Ich kenne nämlich so ein Näschen, das stammt aus Tunesien ...«
»Didier! Soeben haben wir wir über Eifersucht – ich habe Dich darum gebeten! Ich will ...«
»Ach Naziza. Es handelt sich um eines der Opfer meines ...«
»Deiner was?«
»Meines Voyeurismus. Die Süße hängt bei mir an der Wand. Ich habe sie in Aix photographiert. Wanita heißt sie. Sie war reizend. Nur ihrem Freund hat das nicht gepaßt.«
»Das ist mir vollkommen égal! Ich will Deine Geschichten – oh! Es ist ist diese im Eingang von ...«
»Genau. Im Flur meiner Wohnung. Hat die nicht etwa auch so ein entzückendes Näschen?«
»Non. Sie ist eine hübsche junge Frau mit einem schönen Gesicht und eine schöne Nase. Doch es ist eine arabische Nase und nicht das einer spanische noble, wie bei Julia.«
»Also gut! Du hast Oberwasser. Und ich schwimme. Es stimmt. Aber! Gibt's da keine Juden? Ich hab Dir das doch erzählt.«
»Welches hast Du erzählt?«
»Die spanischen Juden und die Ostjuden.«
»Ah! Oui. Sie ist ein Sepharde?«
»Nicht ganz. Väterlicherseits wohl. Wenn ich richtig zugehört habe. Aber sie erzählt manchmal voller Begeisterung von ihrer sephardischen Großmutter. Von der hat sie wohl auch den sehr feinen Haken in der Nase. Im Gegensatz zu dem Ashkenazi-Adlerhaken von ...«
»Didier! Inouï! Du solltest Dich schämen!«
»Warum? Es stimmt doch. Allein daran kannst Du den Südwesten vom Nordosten unterscheiden. Auch wenn sie schon hunderte von Jahren hier leben. Und am Mund erkennt man die Ashkenazim noch sehr gut. Da paßt der ganze Bouches-du-Rhône rein.«
»Du bist inconvenant. Mais – Du sagst auch Eierkohle zu meine Augen. Du bist doch nicht Cyrano de Bergerac. Ich muß mir eine andere Troubadour suchen.«
»Mein Güte. Jetzt muß ich aber aufpassen.«
»Ich habe gesagt, eine andere Troubadour! Nicht eine andere Mann.«
»Na. Dann kann ich ja getrost weiterhin unflätig sein.«
»Du solltest vorsichtig sein! Eh bien – woher kommt Julia?«
»So genau weiß ich's auch nicht, woher ihr sephardisches Blut abkommt. Wenn wir über das Thema sprechen, sprechen wir immer nur über das eine. Über die eine Hälfte also.«
»Demnach nicht über oben oder unten. Wie bei diesem Thema, das immer nur ist das eine.«
»Doch, Naziza, meine Süße. Immer nur über oben oder unten. In diesem Fall über unten.«
»Nun mache mich nicht verrückt! Wie?«
»Na ja. Unten ist eben Spanien. Die Sepharden. Der stolze feurige Teil eben. Nein. Das stimmt so auch nicht. Es geht schon übers Judentum. Wir Kulturjuden. Aber in erster Linie über die Probleme, die damit historisch, also auch politisch verbunden sind. Und Julia mischt mir immer noch ein paar jüdische Philosophen unter. Genauer muß es heißen – was heute noch an Nachwirkungen da ist. Vergangenheit. Und das ist nicht wenig.«
»Nachwirkungen? Oder neue Wirkungen? Nazi? Fascistes? Le Pen et consorts?«
»Nein. Ich meine schon Nachwirkungen. Nachwirkungen aus der Zeit der Nazi und der Zeit danach. Julia ist Betroffene. Getroffen. Schwer. Sie hat mir mal geschrieben: Ich glaube, Du rührst an ein Problem unserer Generation – die Nazis haben unsere Geschichte gefressen, so ist es doch, und wir wagen's kaum, sie zu rekonstruieren, weil wir auf der falschen Seite bleiben, oder? Also haben wir gar keine Seite. Wohin wir fassen, können wir die Identität nicht fassen, wo immer wir etwas formulieren, müssen wir einschränken. Oder so ähnlich. Das ist die andere Seite des heutigen Israel. Die Kehrseite einer Medaille, die von anderen geprägt wurde. Die sich aber in Umlauf befindet. Worüber kaum jemand spricht, der auf die Juden schimpft. Und dabei Israel meint. Oder vielleicht auch das Judenpack insgesamt. Egal. Es wird sehr oft vergessen. Es gibt allerdings ein paar Modell- oder auch Salonjuden, die dauernd damit hausieren gehen und sich auf allen möglichen Veranstaltungen herumreichen lassen. Es sind vermutlich jene, von denen Finkielkraut geschrieben hat, ›ach, wenn das Morgen doch dem Gestern gliche, jener fernen und köstlichen Epoche, da Langeweile ein Fremdwort war‹.«
»In diesem Zusammenhang?«
»Ja. Es steht in seinem Buch von 1982, Der eingebildete Jude.«
»Le Juif imaginaire. Mon Dieu! Das ist zwanzig Jahre zurück. Ich habe es vor zehn Jahre gelesen. Maman hat es befohlen. Ich habe mich ihrem Befehl gebeugt. Es war dennoch interessant. Doch das meiste ich habe wieder vergessen. Ich weiß es nicht, weshalb. Ich glaube, weil ich seine Eitelkeit nicht mag. Und nicht nur seine intellektuelle.«
»Ja ja. Er war damals dreiunddreißig. Und doch ist er hochaktuell. Er meint damit den jungen Bourgeois, den die Geschichte verschont hat und den die Neugier zwickt, die eigene Genealogie, deren Sinn zu entdecken, der seinem jetzigen Dasein so grausam fehlt. Es gibt einige von dieser Sorte. Allen voran dieser Unangenehmling Broder ...«
»Hendrik?«
»Ja.«
»Weshalb er ist unangenehm? Manchesmal man liest auch hier etwas von ihm. Ich kenne das aus der Zeit in Berlin. Er lebt in Israel.«
»Ach! Naziza! Schon lange nicht mehr. Dieses Großmaul. Mit einem Riesengeschrei ist der damals abgezogen. Ich kehre diesem Land den Rücken, hat er gebrüllt. Nie wieder käme er zurück. Lange hat er's nicht ausgehalten. Ich habe den Herrn mal sehr geschätzt. Vermutlich auch deshalb, weil stammesgeschichtlich dasselbe Blut in mir tost. Ich Idiot. Als ob das von Bedeutung wäre. Damals, als es noch kritisch in ihm rumorte, da fand ich seine Gedanken interessant. Doch als er, offenbar nach seinem Gehirnumstrukturierungstraining in Israel, wieder zurückkehrte in das Land, das er eigentlich in – verständlicher – Väter Begründung nie wieder betreten wollte – wenn ich mich da recht erinnere –, da sonderte er zunehmend Gedanken ab, die ihn in den Permananz-Kotau vor einem mehr als seltsamen Politik- und Kulturverständnis der Selbsterhöhung trieb. Die nennen ihn immer einen Intellektuellen. Ich frage mich allerdings, woher sie das wohl haben. Ein Intellektueller hat über ein Unterscheidungsvermögen zu verfügen. Das kann man aber von Herrn Broder nun wirklich nicht behaupten. Dieser Unflat. Vermutlich trägt er das selber ein in die Rubrik Berufsbezeichnung. Der macht's wie die früheren China-Korrespondenten. Weil sie nicht reindurften ins Land, saßen sie immer auf Taiwan und haben mit dem Fernglas die Bewegungen beobachtet und sie dann nach hierher durchgefunkt. Jetzt hockt Broder eben hier und kommentiert israelische Politik. Es ist ihm dort wohl zu ungemütlich. Erst kürzlich hat er Susan Sontag denselben Vorwurf gemacht, der seinerzeit an Hannah Arendt ging – sie säße in ihrem US-amerikanischen Uralt-Elfenbeinjudenturm und könne gar nicht beurteilen, was in Israel geschehe. Weil sie die israelische Palästina-Politik kritisiert hatte. Sagt er, dieser Neuberliner Sesselfurzer, wie ein Spätpubertierender – ach was, nicht wie, er ist ja einer – in einem Sessel sitzend, den man ihm im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hingerückt hatte. Damals, als der der linksradikalen Araber-Liebe nicht eben verdächtige Günther Rühle als Chef des Frankfurter Schauspiels Faßbinders ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ aufführen wollte, tobte ein Medienkrieg, an dem – so genau weiß ich es allerdings nicht mehr – auch Herr Broder gegen so ein judenfeindliches Stück schoß. Isaac und ich sahen uns – expressis verbis als Juden! – genötigt, Herrn Rühle ein ermunterndes Grußtelegramm zukommen zu lassen.«
»Ich kenne dieses Theaterstück. Ich habe es gelesen. Es ist nicht gut. Es ist plein de chlichés, stéréotypé. Ich kann auch nicht diese hymne française mitsingen auf Faßbinder. Er ist meiner Meinung nach nicht so gut, wie man es sagt. Jedoch es geht nicht nicht um dieses. Ich will es nicht vertiefen. Es geht – auch – um Broder. Er ist so dumm geworden? Ich hätte es nicht gedacht. Hier ist er durchaus angesehen.«
»Bei wem denn? Bei den anderen Salonjuden aus dem Mittelbau? Ich kann's ja nicht so recht beurteilen, weil ich nicht dasitze und mit dem Fernglas die französischen Zeitungen lese. Was heißt lesen – zu entziffern versuche. Aber ist der wirklich ...«
»Non. Manchesmal man kann etwas lesen. Etwas.«
»Vermutlich, wenn er mal vom Vorstandsvorsitzenden einer jüdischen Gemeinde in den Pyränäen eingeladen wird. Wer will denn den lesen? Ach was. Es ist Unsinn, was ich sage. In der Bundesrepublik darf er immer wieder seinen Müll abladen. Ich hab's ja eben selber gerade erzählt. Als ich mein kleines Feuilleton noch hatte, ist ihm einer unserer Redakteure mal dahintergekommen, daß er bewußt gefälscht hat.«
»Vrai?! Incroyable. Was war es?«
»Incroyable, mais vrai! Madame. Er hat – ich muß lachen, weil mir in etwa der Wortlaut wieder einfällt. Hans Gimringer – so heißt der Autor, der Broder auf die Schliche gekommen ist – hat mir ungefähr geschrieben – wir haben's allerdings auch gedruckt. In etwa hat er geschrieben: Vor einigen Monaten dachtest Du – und ich wohl auch –, daß man dem alten Peinsack Broder mal beipflichten sollte in der Diskussion um Biermann/Hrdlicka. – Es ging dabei um den Chansonnier Wolf Biermann und den Bildhauer Alfred Hrdlicka. – Inzwischen weiß ich mehr, nämlich auch dieses: Die Kerle sind ja frech genug, Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen, um den eigenen Senf nicht honorarlos dahin zu kippen, wo er hingehörte: in den Ausguß. Hrdlickas inkriminierter Satz lautete: Ich wünsche Dir (gemeint war Biermann) die Nürnberger Rassengesetze an den Hals, Du angepaßter Trottel! Aufjaul im Blätterwald, es schäumt der Broder. So ein Satz ist zu schön, um nicht verheuchelt zu werden. Doch was sagte Hrdlicka im Zusammenhang, aus dem den Satz wohlfeil zu reißen Herr Broder nicht widerstehen konnte? Hrdlickas vorhergehender Satz lautete: ›Du (Biermann) willst mit keinen Gesetzen leben, die Gysi beschließt?! Ich wünsche Dir die Nürnberger Rassengesetze an den Hals, Du angepaßter Trottel! Broder meinte nun, meinen zu müssen, daß das Mahnmal für die verfolgten Juden Wiens – gestaltet von eben diesem Hrdlicka – jetzt ›sofort abgeräumt‹ gehört.‹ Und dann hat er noch dazugeschrieben, Hans Gimringer eben: ›Verbrennen geht ja auch schlecht ... Was ich damit sagen will: Es bleibt einem nichts anderes übrig, als den eigenen Kopf zum Denken zu benutzen, da hilft kein Tango und kein Focus. Tango war ein bald eingegangenes, sehr buntes Magazin, und Focus – na, den deutschen Schnellese-Spiegel, das Informationszentralorgan der Klappentextgebildeten wirst Du ja wohl kennen.«
»Oui. Ich kenne es. Es liegt sporadique in Mercure Bourse. Et pourtant – quelle horreur! Broder macht solche Sachen?!«
»Genau, junge Frau. Von der Sorte gibt es einige. Hauptsache an der Front – aber an der, wo nicht geschossen wird. Diese Dumpfbacken dürfen alles. Nur weil sie Juden sind. Einen anderen Fähigkeitsnachweis haben sie nicht. Ich halte es da mehr mit Rafael Seligmann, der vor ein paar Monaten im New Yorker Aufbau schrieb: ›Wir Juden sollten uns nicht zu viel einbilden. Für uns gelten die gleichen Gesetze wie für die anderen.‹«
»Aufbau ist diese jüdische journal in deutscher Sprache?«
»So ist es. Allerdings immer mehr in englischer. Die Alten sterben weg.«
»Et, pardon, Didier – mais, wer ist Rafael Seligmann?«
»Eben ein aufrichtiger deutscher Publizist, der sein Judentum nicht wie eine Standarte vor sich herträgt. Ein écrivain. Ich vermute mal, daß er zur Seligmann-Sippe gehört, aus der unter anderem Peggy Guggenheim hervorgegangen ist. Die Seligmanns aus der Nähe von Erlangen ...«
»Diese Stadt bei Nuremberg?«
»Jawoll. Eins plus. Setzen. Nee. Wie ist das im Französischen?«
»Dix-sept.«
»Also, die Seligmanns und die Guggenheims aus dem grauenvoll judenverachtenden schweizerischen Kanton Aargau ...«
»Was ist dieses wieder – maintenent?! Grauenvoll judenverachtenden! La Suisse war auch ...«
»Oh je, Naziza. Aber wie! Damals wie heute. Meinst Du, die sind besser?! Im Kanton Aargau durften Juden bis auf das eigene Haus keine Immobilien besitzen. Im Kanton Aargau durften Juden nur heiraten, wenn sie eine sehr hohe Mitgift einbrachten. Kurzum, es wurde ihnen, so gut es nur ging, das Leben zur Hölle gemacht. Daraufhin zogen die Guggenheims es um 1850 vor – oder früher, genau weiß ich's jetzt nicht – vor, in die USA zu ziehen. Und dort hat dann eine Guggenheim eine Seligmann geheiratet, aus der unsere spätere Venezianerin Peggy hervorkam. Deren die Frauen arg liebender Vater ja mit dem Luxuskahn Titanic absoff. Bevor er schnell noch ein paar Frauen – allerdings auch Kinder – rettete. Wobei man vielleicht nicht vergessen sollte, daß dieses Riesenvermögen, vor allem das der Seligmanns, zu großen Teilen aus Kriegsgewinnlerei hervorging. Uniformen, Kanonen, Staatsanleihen der damals finanziell darniederliegenden USA. Sie haben die Seligmanns dauernd angepumpt. Und die haben das angehäufte Vermögen in die europäischen Börsen umgeleitet. Na, wie wir Juden das eben so machen – aus Geld Geld machen.«
»Nur Du bist eine schlechte Jude.«
»So kann man das auch sehen. Das einzige, was ich mir Geld anfangen kann, ist, es auszugeben. Nun denn, jetzt werde ich ja offensichtlich doch noch Immobilienbesitzer. Aber auch nur, weil ich eine arabische Frau habe.«
»Arrête! Mit etwas jüdische Blut! – Mais, mon pauvre Didier – vielleicht liegt es daran, daß Du keine glaubende Jude bist?«
»Ich wage nicht daran zu denken, wie interpretierbar diese Aussage ist. Vor allem, wenn sie von einer Araberin kommt. Nun gut, Du darfst es sagen. Schließlich schwimmen jüdische Partikel in Dir herum. Ich wiederspreche also nicht. Der da oben wird schon wissen, was er mit dem Satz anfängt. Hoffentlich bricht jetzt hier unten in Frankreich kein islamisch-jüdischer Krieg aus. Deswegen, meine ich.«
»Man darf zu Dir nichts sagen! Es kommt immer eine Gefahr auf, daß eine sarcasme hervorquillt.«
»Daran solltest Du Dich doch gewöhnt haben. Oder soll ich das ernstnehmen?«
»Grand Dieu!«
»Also. Über solches und solches spreche ich eben von Fall zu Fall mit Julia. Dann regen wir uns gemeinsam ziemlich auf. Und ab und an erzählt sie mir ein bißchen was über ihre mühsam zusammengesuchte Vergangenheit.«
»Wie meinst Du das?«
»Also, soweit ich informiert bin, hat man Julia es lange Zeit nicht gesagt, daß sie jüdisch ist. Nicht einmal die Hälfte wollten sie ihr zugestehen. Und dann eben Isabella. Na. Das ist 'ne Geschichte für sich!«
»Nun bin ich doch bei Deiner weiblichen Vergangenheit.«
»Wir sprechen seit ewigen Zeiten darüber!«
»Doch nicht über Isabelle.«
»Über meine Mutter.«
»Ah! Du dumme Kerl. Das meine ich nicht. Auf diese bin ich nicht eifersüchtig. Ich würde es nicht sein wollen.«
»Das war jetzt mal ein schöner Konjunktiv. Perfekt. Besser als jeder deutsche Politiker. Oder jungdynamischer, nachplappernder Journalist.«
»Sot! Was ist mit Isabelle? Nun besiegt meine Neugierde die Furcht vor der Eifersucht.«
»Wenn ich mich recht erinnere, weiß Isaac erst seit dem fortgeschrittenen Alter von siebenundzwanzig Jahren, daß sie eine, sag ich mal, fast reinrassige Ashkenazim ist. Und ich hatte das leicht zweifelhafte Vergnügen, es herauszufinden und ihrem Vater auf den Kopf zuzusagen. Am Telephon. Damals. Es herrschte minutenlanges Schweigen in der Leitung zwischen München und Bern.«
»Vrai?! Wie ist das möglich? Weshalb war es so? Du hast es gewußt?«
»Nun, ich habe immer so meinen Verdacht gehabt. In erster Linie natürlich wegen des Aussehens. Das ist ja nun wahrlich nicht zu verheimlichen.«
»Es ließe sich so sagen.«
»Ach, Naziza. Logisch. Anfänglich erzählte sie immer das, was man ihr erzählt hatte. Irgendwas von 'ner marokkanischen Großmutter. Aber diese marokkanische Großmutter kam wohl aus dem hintersten Teil Polens. Und als ich Isaacs Vater zum ersten Mal sah, war alles klar. Er hätte ein sehr naher Verwandter meines Grigorije sein können. Ebenfalls aus dem Stürmer. Wobei witzigerweise es Isaacs Mutter ist, die von dort stammt. Der Papa von Isabella stammt aus Deutschland, aus dem Badischen. Doch ihr sieht man es nicht an – nicht so extrem jedenfalls. Daß sie so heißt, mit Mädchennamen, wußte ich ja zu dieser Zeit noch nicht.«
»Wie lautet diese Name?«
»Bollag.«
»Es sagt mir nichts.«
»Bollag heißt nichts anderes als Pole. Die Polen werden – herablassend – im Deutschen Polacken genannt.«
»Mon Dieu! Und sie sind beide Juifs?«
»Ja. Und das Verrückte ist, daß die beiden immer brav in die Synagoge gegangen sind und Isaacs Mutter sogar seit langer Zeit im Vorstand der jüdischen Gemeinde von Bern saß.«
»Es wird immer mehr schlimm. Weshalb hat man es Isabelle nicht gesagt?«
»Ach, weißt Du – sie ist ja kein Einzelfall. Es ließe sich auch sagen – sie ist lediglich, jetzt hier, in unserem Gespräch, ein exemplarischer Fall. Es gibt sehr viele davon. Bei ihr war es so wie bei den meisten anderen – es war die Angst. Bei wieder anderen ist es Haß.«
»Haß? Das verstehe ich nicht. Vielleicht nicht richtig. Haß auf wen?«
»Naziza! Auf wen wohl?! Verspürst Du keinen Haß, wenn man Deine Familie umgebracht hat?!«
»Ich bin in der glücklichen situation, meine Famille zu haben. Inclusivement Dich. Weshalb soll ich hassen? Es ist zu sehr abstrait für mich.«
»Klar. Es hat, zum Beispiel und glücklicherweise, auch keiner dieser Fundamentalwahnsinnigen aus Algerien jemanden aus der Familie der Al Arfaoui gemeuchelt. Oder kein türkischer Armenier-Schlächter jemanden aus der Familie der Malakian. Ich habe jedenfalls nichts Gegenteiliges von Dir gehört. Glück gehabt. Du sagst es ja gerade selber. In etwa. Aber es gibt einfach zu viele Juden, deren gesamten Familien ins Gas geschickt wurden. Sehr viele Juden aus der ganzen Welt sagen bis heute, daß sie deutschen Boden nie wieder betreten.«
»Ich kann es verstehen. Doch es sind die Alten, die nahe sind an diesen Geschehen. Die Jungen sind zu sehr weit davon entfernt, als daß sie es wohl auch denken.«
»Denken? Viele jüngere Juden sind allein durch die Überlieferung davon betroffen. Wenn es dabei überhaupt eine Überlieferung gibt. In vielen Familien wird ja grundsätzlich nicht darüber gesprochen. Bis heute. Schauerlich. Es wird einfach ein innerfamiliäres Einreiseverbot ausgesprochen. Nach Deutschland.«
»Wie meinst Du es – nicht darüber gesprochen. Was meint innerfamiliäres Einreiseverbot? Bin ich dumm? Ich verstehe es nicht.«
»Sie können nicht darüber sprechen. Es versagt ihnen die Sprache bei diesem Thema. Du kennst Adornos Äußerung ...«
»Man könne nach diesen Vorkommnissen nicht mehr ...«
»Genau. Also dürfen die jüngeren Familienmitglieder es auch nicht an-, geschweige denn aussprechen. Es ist ein Tabu. Mir fällt eben ein weiteres, ein signifikantes Beispiel ein. Es ist der helle Wahnsinn!«
»Was ist Wahnsinn – ah, alles dieses ist Wahnsinn.«
»Dieser Wahnsinn hier bedeutet, daß eine junge Frau, ach was, ein hyperhochsensibles Mädchen von zweiundzwanzig Jahren sich von ihrem feinen, lieben, wunderbaren Freund trennen muß, weil er Jude ist. Aber nicht in Palästina, sondern mitten in Europa.«
»Ah! Didier! Du bist nur verrückt. Das war vielleicht mit den nazi ...«
»Nein! Naziza. Geschehen erst vor ein paar Wochen, meinetwegen Monaten. Es ist zum Heulen!«
»Jemand hat gesagt, Du darfst nicht zusammensein mit eine Jude?«
»Nein. Anders. Ein Vater hat zu seinem Sohn gesagt, du kannst machen, was du willst, du kannst alles haben, du darfst überall hin in der Welt. Mein Sohn darf alles, das Beste ist mir gerade gut genug, ich zahle alles. Aber du darfst die Grenze zu Deutschland nicht überschreiten, keinen Schritt hinein in dieses Land. Die junge Frau lebt aber in diesem anderen Land. In der Bundesrepublik Deutschland.«
»Wie ist solches möglich? Und woher sie kennen sich?«
»Sie haben sich in Basel kennengelernt. Wo er zuhause ...«
»Basel? Es ist Bâle?«
»Ja. Sie war dort am Theater. Sie hat dort eine Ausbildung – ich glaube, es war ein Praktikum – gemacht. Sie haben sich verliebt. Junges Glück eben. Herrlich. Wunderbar. Liebe. Verliebtsein. Egal. Er war dann einmal, ohne das Wissen seines Vaters, also heimlich, in Deutschland, wohin sie zurückgekehrt war. Dann hat sie es wohl nicht mehr ausgehalten. Und er aller Wahrscheinlichkeit nach eben auch nicht. So kam es zur Trennung. Sie hat bei der jungen Frau ein grauenvolle Neurodermitis ausgelöst. Gut, die war bereits vorhanden. Aber sie war eigentlich geheilt. Doch die kranke Seele hat die Krankheit wieder ausbrechen, nur noch ihr Gesicht aus einer Ausschlagswüste hervorschauen lassen. Das Herz hat sich ausgekotzt und aus einer schönen jungen Frau eine Eiterbeule gemacht.«
»Woher hast Du – mon Dieu! – alle diese schrecklichen Geschichten?!«
»Wenn du einmal von einer Seuche befallen bist ...«
»Welche Seuche?«
»Jude zu sein.«
»Didier! Ne te laisse pas aller!«
»Wobei soll ich mich zusammenreißen? Und warum?! Es entspricht der Tatsache. Aber es klingt so, wie ich es gesagt habe, vielleicht doch ein bißchen extrem. Ich habe damit gemeint, daß man ständig in dieser Geisterbahn herumfährt, wenn man mal in sie hineingeraten ist. Immer hin und her. Man kommt nicht mehr aus ihr heraus, wenn man einmal damit beschäftigt ist, wenn man sich beschäftigt mit dieser Thematik. Es ist eine Art Automatismus. Oder Magnetismus. Ständig wird dir was zugetragen. Ich spreche mit irgendjemandem über irgendetwas, und schon kommt irgendwas aus dieser Ecke, irgendwas in diesem Zusammenhang. Hier war es eine Freundin. Wir haben, glaub ich, über die Liebe gesprochen. Über was sonst. Ich hab, wenn ich mich recht erinnere, eine Andeutung gemacht, irgendwas über Identitätsschwierigkeiten. Und dann kam's. Diese Geschichte, die ich Dir eben gerade erzählt habe. Und der diese schreckliche Geschichte passiert ist, ist die Tochter der Freundin, die zwei Minuten vorher noch mit leuchtenden Augen vor mir gesessen hatte, weil wir über die schönen Dinge des Lebens gesprochen hatten. Ich kenne sie etwa seit zehn Jahren. Die Mutter. Ungefähr. Und die Tochter eben auch, seit sie zwölf ist. In etwa. Und sie hatte nur Probleme. Das arme Mädchen. Und damit ihre Maman auch. Und dann sowas! Diese stinkende Seuche zieht eben die Schicksalsfliegen an.«
»Jetzt verstehe ich, wie Du es meinst. Es ist wie in eine falsche Film. Non. In eine schlechte. Sehr schlechte. Non, es ist nicht correct. In eine sehr, sehr traurige Film. Und diese Angst, von der Du gesprochen hast? Damals, bei Isabelle. Wovor? Die Nazi waren nicht mehr vorhanden. Eh bien – man hat sie nicht mehr gesehen. Die Juden befreit. Nun – diese, die noch lebten.«
»Die Angst saß tief. Sehr tief. Man wußte nicht, ob es nicht bald wieder losgeht. Ich hab Dir ja erzählt, wie tief das in allen sitzt. Bis heute. Wie gesagt. Außerdem, Du hast es gerade gesagt, waren die Nazi wahrhaftig nicht weg. Die waren nur untergetaucht. In Deutschland zum Teil in höchsten politischen Ämtern, an Hochschulen und so weiter. Die gesamte Justiz – die Rechtsprechung! – war von Nazi besetzt. Deshalb sind wohl auch so viele Prozesse verschleppt, teilweise sogar eingestellt worden. Der ärgste Fall ist wohl Hans Globke, der an den Rassegesetzen mitgearbeitet hat und unter Adenauer zehn Jahre Staatssekretär sein durfte. Acht Jahre nach dem sogenannten Ende dieses Mörderregims. Kaum eine Nachkriegselite, die keine ehemaligen NS-Funktionäre in ihren Reihen hatte. Und es geschieht immer wieder, daß sie mal wieder einen entdecken. Häufig nach der Pensionierung. Gerade jetzt erst wieder, wie ich der Süddeutschen Zeitung entnommen habe. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer Hans Rößner, so der Spiegel aus einem Buch des Historikers Michael Wildt, sei nach dem Krieg Verlagsleiter des Piper-Verlages geworden, wo er ausgerechnet Hannah Arendt betreute. Rößner, der in seiner Dissertation die ›Verjudung‹ des George-Kreises kritisierte, 1940 zum Reichssicherheitshauptamt kam, im Terroramt Karriere machte und für die ›tiefe Durchdringung der nationalsozialistischen Weltanschauung‹ gelobt wurde, stieg 1958 bei Piper ein und umwarb die Philosophin fast devot: ›Was Sie über Menschlichkeit und Wahrheit sagen, gehört für mich zum Erhellendsten, was darüber seit langer Zeit gesagt worden ist.‹ Und in der Süddeutschen heißt es, in etwa, weiter: ›Man trifft sich. Die Chefanklägerin der deutschen Verdrängung und der einstige SS-Funktionär finden, so merkwürdig es klingt, eine gemeinsame Sprache, und dies vor allem deshalb, weil Rößner zwar nicht seinen Namen wechselt, aber offenbar alles andere. Ganz ähnlich dem inzwischen gestorbenen Rektor der Technischen Universität‹ – wenn ich mich recht erinnere, genau weiß ich's jetzt nicht, der TU Darmstadt – ›Hans Schwerte alias SS-Hauptsturmbannführer Hans Schneider, dessen Beziehungen zu Rößner übrigens schon länger bekannt sind, vollzieht Rößner eine ans Schizophrene grenzende Mimikry. Als er Passagen in Arendts Eichmann-Buch mit Hilfe von Juristen ändern will, ist die Philosophin so von ihm eingenommen, daß sie nicht ihm, sondern den Juristen NS–Nähe vorwirft.‹ Und noch weiter: ›So kennt die reiche Geschichte der Kontinuitäten nun einen weiteren aufsehenerregenden Fall, ›kein Ruhmesblatt‹, wie man bei Piper richtig bemerkt. Und daß Klaus Piper, laut Spiegel, zwar nichts von der SS-Vergangenheit Rößners wußte, wohl aber, daß sein Angestellter Nazi war, tröstet kaum. Allerdings gab es natürlich unter den ›Braun-Schweigern‹ der Nachkriegszeit auch Journalisten.‹ Henri Nannen, der Gründer des Stern, war auch nicht sauber, oder Werner Höfer zum Beispiel. Andere wurden, wie man weiß, Ressortleiter beim Spiegel. Es ist der Mann ...«
»Ich weiß es. Er hat diese TV-magazine, diese table ronde mit journalistes, diese Frühschoppen geleitet. Ich kenne es noch aus Berlin.«
»Ja ja, meine Liebe. Das sind alles wohlerzogene, brave Bürger gewesen. Und niemand wollte Böses über sie sagen.«
»Oui. Das weiß ich. Terrible. Ápropos Hannah Arendt. Die Banalität des Bösen. Ich habe es gelesen. Eichmann war nach ihre Worten nicht pervers und nicht ein Sadist, sondern er war erschreckend normal. Und das größte Übel war, daß er niemanden irgendwo hat entdecken können, der wirklich gegen diese Endlösung war.«
»Na ja. Damit charakterisiert sie Eichmann als Person. Das Böse, das in diesem schlichten, eigentlich denkunfähigen Mann steckte ...«
»Worüber wir gesprochen haben! Du hast es gesagt, und ich bestätige es – dieses Nichtvorhandenseins eigener Gedanken. Das ist es, was sie geschrieben hat.«
»Ja, Naziza – und dem man nicht einen einzigen dieser tausend und abertausende Morde nachweisen konnte, den er selbst ausgeführt hat. Das ist der eine Punkt. Es gibt allerdings noch das Böse, das im Banalen steckt. Im Banalen als Person! Und nicht nur diese Nationalsozialisten, die sich haben als Mitläufer kennzeichnen lassen. Also, lange Rede, kurzer Sinn – davor haben viele Angst gehabt. Und in vielen Älteren steckt diese Furcht noch heute. Das ist mit ein Grund, weshalb viele Eltern ihren Kindern verheimlichten, daß sie Juden sind. Das ist zum Teil wohl eine enorme Leistung gewesen. Denn bei Isaac beispielsweise war ja nun wahrhaftig alles jüdisch – eine riesige jüdische Familie. Überall Verwandtschaft. Bis in die USA. Auch irgend so'n reicher Suppenwürfel. Auch er ausgewandert aus dem gelobten Land Schweiz. Sogar eine Guggenheim-Linie ist mit drin. Wie die das hingekriegt haben, das ist schon erstaunlich.«
»Wie hat sie es aufgenommen? Es muß sehr schwierig gewesen sein.«
»Das kann man wohl sagen. Glücklicherweise habe ich mich damit leichtgetan, weil man mir wenigstens das nicht verheimlicht hatte. Und ich hatte natürlich dadurch auch einen ordentlichen Informationsvorsprung. Aber jetzt kommt's! Nachdem es raus war, sind sie alle angekommen. Auf einmal war eitel Sonnenschein.«
»Was meinst Du damit?«
»Daß alle so getan haben, als sei nie etwas gewesen. Nun gut, man muß es auch verstehen. Doch das Verrückteste daran ist ja, daß alle gejubelt haben, daß Isaac 'nen Jidden abgekriegt hat.«
»Deinetwegen? Grotesque. Haben sie es für eine divine providence gehalten? Ein jüdische, es ist zu vermuten. Oder?«
»Da hast Du wohl recht. Es wäre wirklich zu komisch, wenn's nicht so traurig wäre.«
»Wie sieht Isabelle es heute? Lebt sie jüdisch vielleicht?«
»Nein. Wie soll das gehen. Dazu ist sie viel zu versaut ...«
»Oh! Didier. Je vous en prie! Ein wenig Ernst möchte doch sein. Wenn Du mich mit Deine sottises auch immer wieder lachen machst. Doch es wird sein, daß Du sie hast, wie Du sagst, versaut.«
»Wie kommst Du denn auf die Idee. Bin ich der einzige Mensch, der versaut ist und der andere deshalb versauen kann?! Schau doch mal auf die aktuelle politische Diskussion! Wir haben brav über das Judentum gesprochen, haben Verwandtschaft auf dem Friedhof besucht ...«
»Man hat es ihr dann alles gezeigt wohl.«
»So ist es. Alles. Dann hat man ihr alles erzählt. Vielleicht. Und Isaac ist um die halbe Welt auf jewish sightseeing tours gegangen.«
»So sehr?«
»Na ja – ich übertreibe ein bißchen. Wie immer. USA, England. Überall Verwandte. Die sich dann auch gezeigt haben. Und ich hatte, wie gesagt, auf einmal eine riesige jüdische Familie. Nachdem ich die alte aus meinem Leben getilgt hatte. So haben sie jedenfalls alle getan. Als es auseinanderging, hat sich das allerdings rasch wieder gelegt.«
»Und es nichts geblieben? Und bei Isabelle? Sie hat keine Zugang zur réligion?«
»Geblieben? Mir sind ein paar Kuriosa geblieben. Als die kleine Debbie, ein entzückendes, ungemein hübsches Paradebeispiel des Nachwuchses dieser Mishpoche, eine jetzt zweiundzwanzigjährige süße kleine Engländerin mit dem Namen – attention! – Spain ...«
»Ouf! Spain? Es klingt wie eine ...«
»Das ist wohl so. Wir vermuten es, Isaac und ich. Sephardim. Vermutlich. Der Papa von Debbie stammt aus Irland ...«
»Es wird immer mehr – les bras m'en tombent! Irlandais?!«
»Ja. Das ist es es ja. Wahrscheinlich sind die dort gelandet. Und wenn man Debbie sieht mit ihren großen dunklen Augen und ihrem Ashkenazi-Mund, dann kann man eigentlich nur fröhlich lächeln. Isaac und mir geht es jedenfalls so. Da haben eben die Sephardim mit den Ashkenazim kopuliert. Irische Sepharden mit schweizerischen Ashkenazim. Eine köstliche Mischung.«
»Das ist die curiosité?«
»Ach so. Nein. Damit meine ich was anderes. Debbie ist ja nicht kurios. Die ist einfach eine im besten Sinn des Wortes wunderschönes Beispiel für die Durchrassung, hier eben der reinrassigen jüdischen Durchrassung. Wie die Araber untereinander. Also. Besagte Debbie, die ich ein paar Jahre nicht gesehen hatte – und sie mich eben auch nicht –, sagte vor ein paar Tagen, als sie in München war – sie wird dort weiterstudieren, irgendwas Psychologisches – zu Isaac, ich würde jetzt endgültig aussehen wie ihr Großvater.«
»Was ist dieses nun wieder?«
»Ja. Wirklich verrückt. Vor ein paar Jahren kam das schonmal zur Sprache. Da war Debbie so um die achtzehn. Und sie und Isaac waren sich damals schon einig, daß ich Debbies Opa sehr ähnlich sehe. Und jetzt, kürzlich eben, meinte sie, daß die Ähnlichkeit immer frappierender sei. Isaac hat's mir erzählt. Und die meint auch, Debbie sähe mir ähnlich. Ich kann das nicht beurteilen, weil ich nicht so oft in den Spiegel schaue. Ja, die Nasenpartie vielleicht. Von der Isaac immer meint, da sei eine Tram drübergefahren. Egal. Doch das Allerverrückteste an dieser Geschichte wäre, ich hätte nicht nur äußerlich extreme Ähnlichkeit, sondern auch charakterlich. Ich wäre genau so ein mieser Typ wie er.«
»Du bist solches nicht! Du bist manchesmal etwas – wie sage ich es? Différent.«
»Ach ja, anders ist's ja wohl auch nicht gemeint. Nicht wirklich fies. Sie meint, zum Beispiel, ich könnte genauso wenig zuhören, wie's bei ihm der Fall war. In diese Richtung. Das sind eben die Spielchen von Isaac. Ich find's lustig. Auch komisch. Ach so, nochwas. Sie meinte, wenn ich in die Zürcher Löwenstraße, in die Synagoge ginge, würden die dort wohl meinen, sie seien im falschen Film. Denn Debbies Opa ist vor etwa einem Jahr gestorben. Also, vielleicht sind wir doch verwandt.«
»Das ist bizarre! Vraiment. Ich muß daran denken, was Du erzählt hast von die Väter, von Isabelle und Deine. Von diese caricatures in diese ...«
»Ja. Das ist mir wieder eingefallen, als wir drüber gesprochen haben. Auch da eine gewisse Ähnlichkeit. Also verwandt nicht nur innerhalb der großen, weltweiten jüdischen Gemeinschaft. Sondern auch direkt in der Sippe. Ach was, vielleicht in erster Linie. Nach all dem, was mich in der letzten Zeit ereilt hat, würde mich das auch nicht mehr wundern.«
»Du glaubst, daß tatsächlich ein parenté immédiat besteht?«
»Ach, Naziza. Ich weiß es nicht. Das sind natürlich Spekulationen. Aber wer weiß? Würde ich jetzt tatsächlich weiterforschen in den Sudelbüchern meiner Mutter ...«
»Sudelbücher? Ich kenne es nur als die Tagebücher von Lichtenberg! Seine Aphorismen.«
»Ach ja. Sudeln heißt ja nicht nur kritzeln oder schmieren. Es gilt auch für Dreck, Schweinereien. Cochonnerie eben.«
»Maison de fous! Mon Dieu! À propos – ich fragte nach Isabelle. Nach ihre réligion. Ob sie hat keine Beziehung – nach alle diese Geschehnisse?«
»Isaac und Religion? Ach, wie denn? Ich hab's Dir doch gesagt. Allerdings hat sie sich intensiver damit beschäftigt. Sie ist jetzt eben auch Kulturjüdin. Doch da sich so etwas natürlich herumspricht, versuchen sie sie immer wieder mal als Alibijüdin irgendwohin hinzusetzen, auf irgendein Diskussionspodest, in irgendeinen Vorstand. Doch sie hält ihre Eitelkeiten damit wahrlich im Zaum. Ich rechne ihr das hoch an, daß sie sich dabei nicht verführen läßt. Eigentlich ist sogar eher das Gegenteil der Fall. Wir machen unsere Witze über diese Menschen, die sich für etwas Besonderes halten. Für so eine Art neuen deutschen Adel.«
»Puh! Wir haben das auch. Du wirst es erleben. Teilweise Du kennst es ja. Deine Lieblinge – Bruckner, Finkielkraut, Glucksmann.«
»Ach, Naziza. Die haben aber doch wenigstens was zu sagen. Über Finkielkraut haben wir doch gesprochen. Glucksmann, na ja. Ein bißchen wirr vielleicht. Ist ja auch schon etwas älter. Bei uns ...«
»Bei uns? Du bist Franzose! Mein Mann ist eine Franzose!«
»Muß ich jetzt aufstehen und die Marseillaise grölen? Sei nicht albern.«
»Du bist es, wenn Du dieses bei dem Wort nimmst. Mais – ein wenig darfst Du es.«
»Also gut – in Deutschland. Da nennt sich jeder dahergelaufene mittelmäßige Journalist jüdischer Publizist. Oder wird so genannt. Wenn er's vorher in die Kladden der Öffentlichkeitsorgane eingetragen hat.«
»Weißt Du, Didier, was mir bringt eine Beklemmung dabei zusätzlich – alle diese Namen, die ich nenne, die ich bezeichne als Deine Lieblinge und die doch auch für mich als eine Frau einer anderen, späteren Generation sehr wichtig sind, als ein Mensch, der sich dieses zuschreibt, wie Du es nennst. das Vermögen, zu unterscheiden, daß diese deutsche Namen sind. Bruckner, Finkielkraut, Glucksmann – sie haben uns zu denken gegeben, die wir primaire von der arabischen und armenische culture geprägt sind, von Papa und auch von Maman, die doch gewechselt hat dort hinüber ...«
»Aber freiwillig und nicht aus ideologischen Gründen! Vielleicht sogar eher aus Gründen der Wißbegierde.«
»Es ist correct. Auch Mirjam und Aaron, ebenso Raymond, unsere président de groupe parlamentaire de catholicisme ...«
»Der nur auf seiner Haut, nicht in seiner Überzeugung so schwarz ist wie Deine Augen. Jedenfalls erinnere ich mich daran.«
»Ah! Grandiose! Memoire! Mais – doch nicht so comme jais wie Deine unglaubende Seele! Du judaïce païn de culture!«
»Was ist denn das nun wieder?«
»Du hast das nicht verstanden?! Judaïce païn ...«
»Letzteres nicht. Und comme jais.«
»Ouf. Pardon. Comme jais ist dunkelschwarz.«
»Aj jeh. Dunkelschwarz. Jetzt sind wir beim Beweis angelangt, daß die Nichtfarbe Schwarz doch keine Nichtfarbe ist. Es gibt Dunkelschwarz.«
»Immer Du willst mich ärgern. Ich werde mich rächen. Wie heißt es denn? Ich habe es vergessen. Meine Augen aus Eierkohle nennst Du so – yeux de jais. Es ist peche.«
»Ach! Sag's doch gleich – pechschwarz. Oder kohlrabenschwarz.«
»Du kannst es mir gleich sagen! Ich lehre Dich Französisch. Dann kannst Du mir etwas zurückgeben, was mir verloren gegangen ist, auch in der deutschen Sprache. Seit Du verschwunden bist, ist auch diese Sprache mit allem gegangen, was ist mehr als fünfhundert Wörter. Nun bist Du wieder zurück. Also gebe mir auch die Sprache wieder. Wie bei der Liebe. Bon alors – Païn ist ein – oh! là là! Nächste. Was ist es deutsch? Puh! Nicht Deine Kopf ist kaputt. Meiner ist es, der hat große Löcher. Außerdem es stimmt nicht. Du bist keine – ich habe es gefunden – Heide.«
»Selbstverständlich bin ich einer! Aus christlicher Perspektive bin ich einer. Ich bin nicht getauft. Wenn es auch heißt, die Knoblauchöl-Taufe während einer Veranstaltung in den achtziger Jahren hätte Gültigkeit. Die Katholen sind da ja gnadenlos. Auch wenn sie ständig was von Gnade faseln.«
»Was war dieses wieder?! Eine Taufe? Recevoir le baptême – avec huile de ail? Du? Ich sehe es – immer spielst Du in irgendeine Weise mit réligion!«
»Naziza, meine Entzückende – ich habe lediglich mitgespielt. Oder anders – mir wurde ganz übel mitgespielt. Ich habe nämlich danach drei Tage lang gestunken wie ein Skunk ...«
»Ist es ein moufette?«
»Woher soll ich das den wissen? Bin ich Franzose?«
»Du bist es. Du meinst ein Stinktier?«
»So ist es. Aubertin das Stinktier. Gibt es den Skunk nicht im Französischen?!«
»Wenn Du es etwas anders, etwas weniger mauvaise américain aussprichst – wie Du es entgegen Deiner Abneigung sehr häufig tust –, dann gibt es ihn. Skünk. Wie Käite Büsh. Ich war nicht sicher. Allez – Was war es mit Deine stinkende Taufe?«
»Es war ein großes Fest, ein Abschiedfest. Das Ende einer Ausstellung, eine Finissage. Sie haben mich als Vorspiel zu einem großen Besäufnis mit einem Akademieprofessor verheiratet. Angeblich, weil wir ein unzertrennliches Paar waren. Und so etwas muß eben nach Christenmanier unauflöslich verschweißt werden. Doch da eine solche Ehelichung nach Ansagen des Ritualienmeisters beziehungsweise Wortführers der Veranstaltung nur unter Getauften nach katholischem Gesetz möglich sei – so hat man mich das zumindest insistent glauben gemacht, man befände sich schließlich auf bairischem Territorium – wurde eine Nottaufe vorgenommen. Ein bildender Künstler, nein, Student der Kunstakademie nach seiner Promotion als Kunsthistoriker, Mitbegründer der Weltgesellschaft des Glücks und trotzdem mit noch nicht einmal vierzig Jahren gestorben, der nebenberuflich päbstlich-urkundlich verbriefter katholischer Theologe war, er das also offenbar qua Amtes vornehmen durfte, hat mich mit Knoblauchöl – es war eigentlich als italienischer Brotaufstrich vorgesehen – vollgeschmiert, während andere mich auf dem Foltertisch festgehalten hatten. Doch ich sehe das als Teil einer Performance. Wenn die Katholen ja auch ständig Perfomances feiern in ihren Kathedralen und Kathedrälchen. Wurscht. Ich erachte diese Taufe als nicht gültig. Gestrichen.«
»Du hast in eine maison de fous gelebt? Sind diese Künstler alle so verrückt?«
»Das wäre schön. Na ja. Manchmal vielleicht und mittlerweile ein bißchen anstrengend für so'n alten Sack wie mich, aber durchaus schön. Allerdings ist das ja zwanzig Jahre her. Da war ich auch noch ein bißchen mehr unterwegs und bin regelmäßig zu Zeiten ins Bett, in denen ich heute aufstehe. Nein. Sie sind nicht alle so. Obwohl, es kommt darauf an. Wenn es ohne das Aufgesetzte eines Startheaters abläuft, also ohne sehr bekannte Künstler oder solche, die es werden wollen, die immer nur nach der Kamera schielen, das Ganze sich aus der Situation heraus und ohne Medientussis und -heinis entwickelt, dann kann es wonnevoll sein. Dann befinde ich mich auch heute noch gerne mittendrin. Das ist dann Lebenslust, Lust vor allem an der Gemeinschaft, an Gott und der Welt, an Göttern und Welten. Das ist dann nie destruktiv. In solchen Stunden ist das Leben wirklich sehr schön, weil die Phantasie – und dafür haben wir unsere Künstler schließlich! – das Zepter schwingt. Dann werde ich auch nicht müde. Wenn es auch von einem bestimmten Zeitpunkt an recht anstrengend wird, dann nämlich, wenn um dich herum alles besoffen ist und die eigene Nüchternheit das nicht mehr so recht mitmachen will. Aber wenn man es kennt – und ich war ja lange genug heftiger Mitsäufer –, dann kriegt man es eher auf die Reihe. Und wenn's gar nicht mehr geht, dann muß man eben gehen.«
»Du hast keine Sehnsucht danach?«
»Nein. Ich habe erfahren, daß es auch ohne Besäufnis geht. Und zwar großartig. Hier säuft man ja auch nicht so viel. Die Gespräche am großen Tisch sind mir mittlerweile schon lieber. Also ohne Getümmel. Da kommt meistens auch mehr dabei heraus.«
»Wie meinst Du das? Benötigst Du einen Gewinn aus einem Zusammensein?«
»Meine Güte. Im deutschen Sprachgebrauch nennt man das ja durchaus so – daß man dabei gewinnt. Das meint aber keinen materialistischen Gewinn. Es kann sich durchaus auf einen ideellen Gewinn beziehen. Man nimmt etwas mit nach Hause, worüber es sich nachzudenken lohnt. Mir fällt eben ein Beispiel ein. An einem solchen großen Tisch saßen wir mal, etwa acht bis zehn Leute. Es ist ein paar Jahre her. Darunter ein Maler und Zeichner aus Wien. Georg Chaimowicz, ein Wiener Jude. Erst ging's um die besagte Wurst und wie man daraus Kosheres macht. Womit wir wieder mal beim Thema Fisch und Fleisch wären. Es war in einem Kölner Gasthaus, in dem quasi nichts anderes als Bratwurst am Meter gereicht wurde.«
»Beurk! Peu appétisant.«
»Na ja. Es gibt Menschen, die's mögen. Juden vor allem, die sich eben denken, es wär a Fisch. Kurzum, am Ende der Meterbratwurst waren wir, logisch, bei der Kunst angelangt. Aber nicht bei der Kunst, aus Schwein Fisch zu machen. Sondern bei der jüdischen Kunst. Bei der Bildfeindlichkeit. Es entspann sich ein etwa dreistündiges Gespräch, daß ich sozusagen mit nach Hause genommen und dann weiterentwickelt habe.«
»Es ist interessant. Was hat sich ergeben?«
»Ich bin zu dem – dann schriftlich fixierten – Ergebnis gekommen: Die jüdische Religion ist durchaus als bildfeindlich zu erachten. Die sich daraus entwickelnde Mentalität, hier die des Künstlers Chaimowicz, um dessen Arbeiten es primär ging, umschifft dieses Diktum, indem es das Chiffre im allgemeinen und das Abstraktum im besonderen benutzt. Wahrheiten, auch Kritik, werden nie deutlich, also direkt ausgesprochen, sondern ›durch die Blume‹. Das heißt: Was zwischen den Zeilen steht, ist an Deutlichkeit nicht zu überbieten. Immer vorausgesetzt, daß der Adressat über eine entsprechende Bereitschaft zur Auseinandersetzung verfügt. Und das Abstrakte als solches bemüht ja grundsätzlich das Wesentliche, den Kern der Sache. Da fällt mir gerade Velázquez ein beziehungsweise Goya. Goya hat an der Malerei seines Kollegen aus dem sechzehnten Jahrhundert beispielsweise das Nicht-Ausmalen der Gesichter, das Offenlassen bewundert. Wie ja damals wegen der Inquisition einiges nur verschlüsselt dargeboten wurde. – Solches entsteht aus fröhlichem Beisammensein.«
»Non, Didier. Du hast es nur wieder möglich gemacht, den Weg zurückzufinden zur réligion.«
»Jetzt spinnst Du zwar völlig. Aber gut. Meinetwegen. Das geht mir auch sonstwo vorbei. Laß uns also zur verrückten Familie Al Arfaoui-Malakian zurückkehren. Was mich ein bißchen gewundert hat, ist, daß Du diesen Begriff des Heiden gebrauchst. Denn er ist ja tatsächlich sehr christlich-kämpferisch – alles, was anders ist, muß missioniert werden. Ob an die Natur Glaubender oder an einen Gott, der nicht dem Staatskirchen-Dogma entspricht. Da schlachte ich entweder ein paar tausend Muslime ab oder schneide den Katharern die Zunge raus, auf daß die langue d'oc entsteht. Dies ist mit ein Grund, daß ich Jude wäre, wäre ich keiner.«
»Nun hast Du Dich entblößt! Soeben hast Du mir Dein jüdisch beschnittenes Glied in Deinem Kopf gezeigt. Außerdem ist es nicht nur in Deine Kopf beschnitten. Und Du bist es zudem selbst gewesen, wie Du mir erzählt hast. Also hast Du eine intime Nähe zu diesem Glauben. Sonst hättest Du Dich nicht freiwillig zerschneiden lassen.«
»Ich darf doch sehr bitten, Madame. Derart despektierlich unsittlich äußert man sich nicht im Zusammenhang mit so Ernsthaftem wie dem Glauben. Sowas lerne ich bei Dir! – Ach. Was ich Dir alles erzählt habe! Man könnte glauben, wir wären schon dreißig Jahre und nicht erst seit drei Jahren verheiratet ...«
»Es sind bald vier Jahre!«
»Gut-gut. Es war damals im Zusammenhang mit Israel. Da hatte ich meine Phase, ich ewig Suchender. Meine unterbewußt religiöse Samenkapsel schien damals zu platzen. Aus dieser dann hervorgegangenen religiösen Hocherektionszeit habe ich ja auch das meiste an Informationen zum Judentum. Davor wußte ich ja kaum etwas. Ab und zu hat der Dadde ja ein wenig abgelassen. Darauf hat er geantwortet, wenn ich Fragen gestellt habe. Sonst nie. Und ich wollte ja auch ein richtiger, ein echter Israeli werden. Ein jüdischer Israeli. Ich wollte in die Nähe Zions. Mit allem drum und dran. Die Familie in Haifa hat natürlich ihr übriges zu diesem Selbstvertümmelungsinitiationsritus beigetragen. Heute begründe ich es einfach als medizinische Indikation und Operation. Außerdem war's auch ein bißchen eine Ehrenbezeigung an meinen Grigorije. Er hat sich schließlich wenigstens einmal durchgesetzt und hat bestimmt, der Junge soll das später einmal selbst entscheiden. Wie mit der Religion. Vielleicht aber hat er sich nicht durchgesetzt und hat einfach mal wieder gekuscht vor meiner Mutter, die nicht wollte, daß jede blonde Frau sofort sieht, wes Religions Kind das Kind oder der Mann ist und man ihn deshalb nicht heiraten dürfe. Vielleicht war's ja auch genauso eine Vorsichtsmaßnahme wie bei den anderen. Obwohl man ja nicht sofort jedem Mann in die Hose greift, um nachzuschauen, ob er Jude oder Moslem ist. Doch unterm Strich glaube ich eher, daß es die liberalen Ansichten meines orthodox aufgewachsenen, vergewaltigten Vaters waren. Der deshalb von der jüdischen Glaubensarmee desertiert ist. Was nach deren Gesetzen überhaupt nicht möglich ist. Einmal jüdischer Krieger, immer jüdischer Krieger. Weil man's im Blut hat. In dem der Mutter, aus dem die Armeen kriechen. Von ihm habe ich dieses Glaubensbekenntnis zur Freiheit des Selbstdenkenden. Das hat mich doch sehr geprägt. Und so bin ich schließlich zu einem tiefgläubigen Atheisten geworden.«
»Den ich Dir nicht glaube! Und bereits dieser schöne Widerspruch von eine tiefgläubige Atheist bringt es voran.«
»Was ist, meine süße Verführerin? Willst Du mich missionieren? Willst Du mich zum Judentum bekehren. Juden missionieren nicht. Das habe ich Dir doch gerade eben gesagt. Oder bist Du letztlich doch katholisch verseucht? Armenien ist doch protestantisch?«
»Ich wollte eigentlich zu unsere alte nouveau philosophe aus Deutschland gehen und mit Dir über diese phénoméne sprechen, daß wir arabisch-armenische Familie sind so sehr beeindruckt von ihren Gedanken, die in dem Jüdischen ihre Wurzeln haben. Doch ich muß vermutlich zunächst einmal einen Weg gehen, der Dich bringt auf den richtigen Pfad. Nicht auf den heilige arabische. Zu Finkielkraut et cetera wir können noch zurückkehren. – Du weißt vielleicht doch etwas wenig über Arménien. Pour le moins dans France. In Deutschland weiß ich das nicht. Nicht so viel.«
»Da magst Du recht haben. Ich weiß kaum etwas. Und mit Armenien habe ich mich auch erst beschäftigt, als ich – mal wieder – einer Frau ...«
»Schon wieder eine Frau. Du machst mich verrückt ...«
»Hergottnochmal! Naziza. Mir kommt das gerade. Das kann eigentlich nur Deinetwegen gewesen sein. Ich kenne zwar ein paar Armenier, auch eine sehr, sehr schöne Frau ...«
»Didier! Ma jalousie en arriere!«
»Ja. Nein. Ernsthaft. Das kannst nur Du gewesen sein! Hast Du mir empfohlen, das Buch von ...«
»Franz Werfel. Die vierzig Tage des Musa Dagh.«
»So ist ist. Es kam von Dir?«
»Ich kenne Deine armenische Harem nicht. Doch sollte es sein, daß Du einmal auf Deine Erstfrau gehört hast, dann wird es so gewesen sein, daß sie es Dir in Deine Ohr eingespült hat, weil es Dich etwas voranbringen kann in Deinem Unwissen über dieses Land – und Du dabei vielleicht noch hast etwas ein wenig amusement. Oui. Du hast es Dir direct kommen lassen aus Allemagne. Ich hatte das nur en français: Les 40 jours du Musa Dagh. Das hast Du verweigert. Du hast es direct bestellt mit dem téléphone über eine Bekannte, weil es hier gedauert hätte eine Jahr. Oder die vierzig Jahre des Musa Dagh. Weil wir Franzosen nämlich sind die wirklichen Erfinder von die Bureucratie. Sie haben damals nicht gefunden die Verlag in ihre neue Computer. In die FNAC, die größte Buchhandel in France!«
»Schon allein deshalb kann ich das Buch nicht bestellt haben, weil ich nicht in Buchkaufhäusern kaufe.
»Du weißt es nicht mehr. Das ist sehr schade! Oh! Oh! Doch ich habe Dich begleitet, ich bin Zeuge, es war in Centre Bourse. Sie haben immer hineingeschrieben München. Weil Du wolltest ein Rechnung auf Dein Adresse in München. Aber sie haben das für den Verlag geschrieben, doch der befindet sich in Francfort. Das alleine war bereits Extrémisme. Sie wußten solches nicht. Bis wir es gemerkt haben, weshalb sie es nicht finden. Ebenso München, das haben sie auch nicht gefunden. Sie haben immer diese Umlaut hineingegeben in die ordinateur. Doch diesen Umlaut gibt es nicht in der französischen Sprache. Deshalb sie haben auch das nicht gefunden. Und sie haben sich geschämt, uns zu fragen. Es war dann über das Téléphone nach drei Tagen hier. Und dann hast Du es durchgelesen in eine Nacht. Tausend Seiten. Non. Du hast Dir Café geben lassen von mir und hast immerfort weitergelesen. Ich konnte nicht mehr an meine Mann. Er war theoretisch mit dem armenischen Teil von seiner Frau beschäftigt. Die praktische Teil ist in diese Zeit ausgetrocknet.«
»Ach Gottchen! Ich war schwerst beeindruckt. Es war ja auch zum Fürchten – andererseits erinnere ich mich auch der Sprache, die ebenfalls zum Fürchten war in ihrem Pathos. Seinerzeit mochte ich dieses K.-u.-K.-Deutsch ...«
»Kauka?«
»Ich nenne es so. Es handelt sich um die Abkürzung für kaiserlich und königlich, um das habsburgische Österreich-Ungarn, in dem großteils ein sozusagen untertäniges Deutsch geschrieben wurde. Nein, Unsinn, es ist schlicht die Sprache der Gebildeten dieser Zeit beziehungsweise dieser politischen Landschaft. Roth gehört ja auch dazu. Es liest sich überwiegend nach Klage, die Ehrfurcht schwingt überall mit. Keiner von denen schrieb so locker, so respektlos wie Tucholsky, und der kämpfte gegen den deutschen Kaiser. Nein, gegen den den Kadavergehorsam, gegen das schreckliche Spießertum, das dieser olle Kaiser Willem, den deutsche Marinesoldaten 1918 in die niederländische Wüste gejagt hatten, hervorgebracht hat. Bei Werfel, bei diesem Buch schien mir das Ehrfurchtsvolle besonders ausgeprägt, und das, obwohl auch das K.u.K-Tum längst abgeschafft war, nach dem Ende dieses schrecklichen ersten Weltkrieges. Und Musa Dagh ist schließlich erst in den dreißiger Jahre erschienen, während die beschriebenen Ereignisse 1915 stattfanden. Auf jeden Fall wird die Sprache auch der Grund dafür gewesen, daß ich von diesem böhmischen Autor nichts mehr gelesen habe. Doch ich tue ihm möglicherweise unrecht. Schließlich war ich von diesem Buch, von dieser Geschichte eines Genozids beeindruckt. Vergessen werden darf dabei allerdings nicht: Es ist ein Roman und keine historische Darstellung. – Andererseits wollte ich ein Leben wie im Roman. Und das ist schließlich in all seiner edlen, erhabenen Schönheit über mich gekommen.«
»Mon Dieu! Didier! Mon troubadour! Es ist so wunderschön, wie Du – pardon, Werfel, non, Du mit Werfel – mich besingst. Jedoch, was war es, wieder einmal?! Die Oase wollte laben einen Mann. Doch er ist lieber gegangen in die Wüste der histoire und in den Papiergesang der Eloge!«
»Oh je. So schlimm? Aber manchmal war's auch ein bißchen komisch in dieser Wüste.«
»Du meinst wegen das pathos?«
»Ja. Ein bißchen viel arg manchmal. Hin und wieder habe ich mich geärgert – über mich selber.«
»Weshalb dieses?«
»Weil ich mich habe so einlullen lassen von dieser Schwärmerei. Und damit meine ich nicht die Hymnen an Dich.«
»Ich erinnere das. Doch wir waren einig darüber, daß es nicht schwierig ist, Faktoren herauszunehmen, die sind eine Spiegel dieser histoire. Diese histoire von eine génocide! Es kamen durch diese massacre 1,5 millions Arméniens zu Tode ...«
»So steht es, wenn ich mich recht erinnere, auch bei Werfel. Ich lese jedoch immer wieder, daß diese Zahl nicht stimmt – wenn es auch unerheblich ist, ob es eine Million oder anderthalb Millionen waren. Jeder ist zuviel. Und die Türken stinken mir sowieso. Da den Juden oder sonstwem, Europa zum Beispiel, schön tun und auf der anderen Seite die Kurden abschlachten. Oder zuvor eben die Armenier. Wurscht. Und es sehr frei nach dem Kuhjungen aus den USA als Terrorismus reklamieren. Wenn die – oder andere – irgendwas tun, dann geschieht es ohnehin aus materiellen Interessen. Na ja, bei den Türken kommt noch dieser schleimige Nationalismus dazu. Wenn sie darin auch keine Ausnahme bilden.«
»Ecaxte. La Turquie nennt es lapidaire ›troubles de la guerre‹. Aber es sind auch viele Musulman umgekommen. Eh oui – man hört solche Wörter des nationalisme auch in der armenischen Hymne – ›Unser Vaterland, beraubt, schikaniert / Unterdrückt von skrupellosen Feinden / Ruft jetzt seine treuen Söhne / Um den rächenden Schlag auszuführen.‹ Malheur. Bien alors – doch deshalb möchte ich dorthin, wo ich glaube, daß Du irrst. Du sprichst oft von den Protestantes in Arménien. Sie gibt es sicher dort. Wenn, dann es sind primaire die Deutschen jedoch. Das glaube ich. Genau ich weiß es nicht. Die armenische Marseillaises haben vor ungefähr zehn Jahren sogar ihre Oberen an die Deutsche abgegeben. Grand Tolerance. Doch es wird man ihnen wohl abgenommen haben diese Entscheidung. Offenbar werden es in Allemagne immer mehr Arméniens. Prêtre Karekin Bekdjian ist zum Directeur ecclésiastique der armenischen Kirche in Deutschland bestimmt worden. Jedoch, Didier, zuerst ist diese Kirche primaire ein Credo orthodoxe, es ist urchristlich. Und die Sprache der Liturgie ist das alte Arménien. Armeniens Culture ist seit dem vierten Jahrhundert christlich, also katholisch geprägt!
»Das habe ich doch eben gerade korrigiert ...«
»Oui. Pardon. Es gab auch eine eigene Schrift durch Mesrop Maschtoz im Jahr 406. Sie hat die écriture grecque et syrienne abgelöst. Der Obere dieser Kirche ist der Catholicos! Doch es ist etwas irreführend, denn nur eine kleine Teil ist einig mit der Eglise catholique. Sie ist in der Hauptsache orthodoxe. Sie ist begründet etwa um das Jahr 300 durch Grégoire, nach ihm ist sie eine gregorianische Kirche.«
»Da dachte ich, es kommt mir endlich mal ein bißchen Abwechslung ins Leben, weil ich mit einer Musulmanin verheiratet bin. Dann kommst Du und erzählst mir die armenisch-christliche Kirchengeschichte. Es ist nicht zu fassen. Eine erzkatholische. Dazu muß ich Dir den Kommentar wiedergeben, den ein in Paris lebender italienischer Maler mir mal hat zukommen lassen: Unsere Vorstellungen hindern uns mehr, als daß sie uns Wege öffnen – wie in dieser Geschichte von dem Mann, der in die Hölle kommt und einen riesigen wunderschönen Strand vor sich sieht. – Ich nehme an, er hat damit Marseille gemeint. Er kann nur an unsere himmlische Hölle gedacht haben. – Da fragt er den Teufel, was ist denn los, wo sind wir denn? Oh, sagt der Teufel, in der Hölle sind wir. Aber, stottert der Mann, wo sind denn die Flammen und die armen Seelen? Da fährt der Teufel mit dem Mann zum äußersten Ende des langen Strandes, zeigt ihm eine hohe Mauer, läßt ihn hinaufklettern, und dahinterschauen. Erstaunt sieht der Mann auf der anderen Seite die Hölle mit den Flammen und den armen Seelen – ich persönlich meine, wahrscheinlich ist der Teufel übers Ziel hinausgeschossen und hinter den Hügeln von La Nethe in Vitrolles oder in Marignane gelandet. In der Hölle von Jean-Marie Le Pen. Siehst du, sagt der Teufel, das ist die Hölle für die Katholiken, denn so haben die sich‘s ausgedacht. – Mögen sie darin schmoren, diese ganzen Kirchenknechte. Die Christenkirche geht mir – ach, alle Kirchen geh'n mir sonstwo vorbei. Mörderbande. Nicht mal die eigenen Leute hat sie verschont. Katharer! Inqusition! Alles, was anders denkt, muß weg. Wenn jemand an diesen einen oder von mir aus an mehrere glauben möchte – es soll mir recht sein. Solange er mich damit in Frieden läßt. Nix Pax Christi. Pax Aubertin! Ich mag diesen ganzen Götter- und Götzenkram in diesen Institutionen nicht. Und auf jeden Fall Laizismus! Wie hier bei uns. Jawoll! Bei uns in France sind Kirche und Staat radikal getrennt! Vor allem – sollen die Pfaffen doch für ihre Rituale ihr Geld selber zusammensuchen. Nicht wie bei den Deutschen. Keine staatlich unterstützte Verdummung der armen Leute, die nicht denken können – und es ja auch nicht sollen! –, weil man ihnen ständig was von göttlicher Bestimmung erzählt. Wenn so eine Kutte oder sonstwer zu mir kommt – wie die in Lateinamerika zum Beispiel – und mir verdeutlicht, daß er tatsächlich was für die Armen tut, dann kriegt er auch die von mir sein Scherflein.«
»Ich muß Dich fragen – mon Dieu!«
»Bei Deinem Gott was über Gott? Mich?«
»Bei meinem Gott, diesem ministre des trésor de langues ancienne. Ich Arme! Ich brauche ein Scherflein? Es ist doch alt? Oder?«
»Ach ja. Da haben wir's mal wieder. Die alten Begriffe, die offenbar im Französischen völlig verkümmert sind. Na ja, auch verkümmert sind. Sowas wie das Scherflein hat's doch im Französischen sicher auch gegeben. Es bedeutet so etwas wie – heißt das nicht im Französischen sogar obole?«
»Ah! Oui. Du meinst – apporter son obole à ...«
»Genau, das kleine Münzlein, den Obolus, die attische Maßeinheit, die man dem Toten in den Mund gelegt hat, auf daß Charon ihn endlich in seinen Frieden karre. Scherflein. Etymologisch hab ich's jetzt nicht. Müssen wir im Kluge nachschauen. Irgendwas Mittelniederdeutsches für scharf. Oder so ähnlich. Vermutlich weil sie so dünn war. Der Scherf war bis ins sechzehnte Jahrhundert die kleinste Zahlungseinheit.«
»Ich habe auch eine Währung. Du bekommst viele davon pour remerciement pour cela – mon trésorier. Doch nun geht es leider nicht. Ich muß Dich dorthin fahren, wo ich sie Dir kann geben.«
»Also gut. Ich leihe Dir solange ein paar kleine Knutscherscherflein.«
»Meine Währung für Dich beginnt nicht mit eine obole!«
»Also gut. Dann nicht.«
»Doch.« Sie deutet auf ihren Hals. »Hier hinein.«
»Nun denn, mein cou de cygne.« Ich gebe mir Mühe, den Schwanenhals annähernd so zu berühren, wie sie es mit meinem weniger zarten Gebilde tun würde.
»Ah! Mon Dieu! Merci. Dieu! Ich gebe es mehrfach zurück, Didier! Doch zurück zu Deinem Ärger. Ich gebe Dir nur etwas Unterricht in Culture. Daß Du nicht etwas Falsches sagst, wenn wir wieder zuhause sind bei Maman et Papa. Ich will nicht, daß meine gebildete Mann einen Fehler begeht.«
»Das ist doch Quatsch, Naziza. Ich bin doch nicht allwissend.«
»C'est tout! Un point! Und ich – ich! Monsieur Aubertin, mon mari! – ich bin also nicht nur ein wenig von der ganz früheren Zeit in Persien juive, ich bin auch catholiqie – vieille catholique! Vieille culture. Du hast nicht so unrecht mit Deine Wut. Und doch ich will Dir auch sagen: Bereits dort finden wir uns, mon cheri. In alle cultures, die sind nun einmal bestimmt von diese réligiones. Und dann Papa hat uns nämlich auch noch diese bonbonnière von Allah geöffnet. Doch er hat uns das Beste geboten, was der Islam anbietet für richtige Menschen. Nicht diese Schmutzdose von islamisme. Er – und auch Maman! – hat uns gelehrt, daß der Coran immer will gedeutet werden. Nicht wie diese intégriste des Islam, die behaupten, es gelte nur das Wort. Es ist falsch. Non, nicht falsch. Denn man kann durchaus Stellen finden, wo alles Nicht-Islamische verurteilt wird. Jedoch es gibt sehr viele passages, in denen zur Auslegung aufgefordert wird. Expressis verbis! Es ist überwiegend sogar. Manchmal ich lese den Coran wie eine version moderne der bible. Und – dieses ist entscheidend! Und viele wissen es nicht oder wollen das nicht wissen! – Islam heißt immer freie Entscheidung! Denn Islam heißt primaire poésie und fantaisie. So steht, zum Beispiel, geschrieben ein Verbot des Weines. Doch immer wieder wird in den Interpretationen des Coran von Wein geschrieben. Hymnes poetique! Und – maintenent! – Du weißt es, daß der Coran sehr viele Bezüge hat zu dem Alten Testament, le Livre, das Buch der Bücher, wie es heißt in der deutschen Sprache. Du kannst also gehen, wohin Du willst, Du entkommst mir nicht. Deine Bluthälfte ist von mir!«
»Wer sagt denn, daß ich Dir entkommen will? Ich bin ja froh, von Dir eingefangen worden zu sein. Doch mit dem Religionskram kannst Du mir ruhig fernbleiben. Er interessiert mich allenfalls kulturhistorisch.«
»Non mais alors! Monsieur. Schon wieder! Du hast es mir genannt. Du hast diese Künstler Ullman zitiert, der gesagt hat, Tradition, Literatur, Religion kann man nicht trennen.«
»Jetzt versuch mir nicht missionarisch das Wort im Mund herumzudrehen! Das ist ja Klitterung, was Du das betreibst! Wie Broder.«
»Ah! Didier! Sei nicht so böse. Du weißt genau, daß ich das nicht bin und daß ich das nicht will. Es geht um unsere Liebe. Und in der Liebe werden wir nicht missionieren. Dann müßten wir die Erleuchtung schließen, wenn ich Dich hineinschiebe in das Geheimnis von meine Lust. Doch wir machen da drinnen das Licht an. Ich scherze mit Dir. Nicht mehr. Wie unsere frühere jeu intellectuelle. Unser Tanz auf dünnem Eis. Wo ist Deine berühmte Humour?! Manchesmal er geht Dir verloren. Deshalb muß ich ihn bewegen, ihn Dir wieder ein wenig zurückführen. Meine geliebte so kluge und weise Kulturjude – Deine Mélange de réligions et culture sagt Dir etwas aus dem Coran, aus der 33. sourate von den Verbündeten: Dann schlossen wir eine Alliance mit den Prophètes, mit dir, mit Noah, Abraham, Moses und Jesus, dem Sohn von Maria, und wir schlossen ein festes Bündnis.«
»Das ist durchaus schön!«
»Arrêt! Es geht weiter. Non. Es ist etwas in diese – wie heißt es deutsch noch einmal – sourate?«
»Sure.«
»Merci, mon maître. In diese Sure spricht der Prophète in einer Sentence davon: wenn ihr aber eure Väter nicht kennt, so laßt sie sein eure Brüder in der Réligion und eure Genossen. Er war auch kein Frauenfeind, der Prophète!«
»Da haben wir ja was Gemeinsames.«
»Oooohhh! Didier. Du bist unmöglich! Und kein prophète! Doch zum Glück Du machst wieder Deine dumme Witze.«
»Also. Was hat er zu unseren Mädels gesagt?«
»Wenn ihr das Leben hier unten begehret mit seiner Pracht, so kommt. Ich werde euch versorgen und entlasse euch ehrenvoll.«
»Solches ist, nehme ich an, aus der bonbonnière Deines Papas?«
»Primaire wohl diese Stücke hat Maman herausgesucht. Doch Papa hat zu Beginn dieser tragi-comédie als architecte diese bonbonnière hingestellt und geöffnet. Manchesmal hat sie ihm vielleicht etwas zuviele von diese arabische Hönigstücke herausgefunden und genommen. Vor allem, wenn Maman zuviele davon hat an ihre Töchter gegeben. Es hat, glaube ich, oft Kampf gegeben in seinem Inneren, und er hat versucht, dieses etui de liberté etwas zu schließen. Gelungen ist es ihm nicht sehr oft. Mais – er hat immer gelächelt. Doch es war auch Maman, die hat sehr klug und weise darauf geachtet, daß es bleibt eine gute, ausgewogene Mischung. Und für uns Töchter hat es dann wirklich oft etwas weniger an Süßem gegeben. Aaron ein wenig mehr. Typisch für diese alte Bergvolkfrauen. Doch ich lebe. Wie Du siehst.«
»Fürwahr. Ich sehe es. Du lebst nicht, Du blühst.«
»Ah! Meine alte troubadour ist zurückgekehrt. Nicht mehr Naziza, die Blume der paralysie?«
»Jetzt mach' aber mal ‘nen Punkt! Das ist ist doch wirklich Schnee von gestern. Im wahrsten Sinn des Wortes. – Aber, nebenbei, das fällt mir gerade ein, ganz am Anfang des Romans von Werfel, ich meine sogar im ersten Absatz, blühen Narzissen.«
»Ouf ! Manchesmal ist es sehr schwierig, in Deinen Kopf zu schauen und zu erkennen, wann Du bist ernst und wann komisch. – Ich möchte noch einmal kurz nach Arménien gehen mit Dir.«
»Ich gehe mit Dir – fast – überall hin.«
»Fast. Presque. Das ist typisch für meine Didier. Nicht überall. Fast überall. Bien. Ich weiß es, daß ich ihn nicht überall hin mitnehmen. Jedoch dorthin – Du weißt, daß in keinem Land Westeuropas so viele Armenier leben wie in France?«
»Ich habe davon gehört. Besser gesagt – gelesen.«
»Weißt Du, daß es ist noch nicht so lange Zeit her, daß laut gerufen wurde: ›Chirac, du kriegst unsere Stimmen nicht mehr! Jospin, wir haben dich noch nicht gewählt!‹?«
»Meinst Du im Zusammenhang mit Armenien?«
»Oui. Man hat es gerufen am 24 avril letztes Jahr. Der 24 avril ist der Tag, den meine Maman neben dem 14 juillet feiert. Nicht feiert. Sie gedenkt. Es ist der Tag des Mordes an den Arméniens. Chirac und Jospin haben diese Rufe gehört. Es ist zwar nichts besonders herausgekommen, aber doch immerhin eine sentence, die geworden ist Gesetz: Frankreich erkennt an öffentlich den armenische génocide von 1915.«
»Ach ja. Jetzt erinnere ich mich genau. Sogar die deutsche Regierung hat unterschrieben. Es hat ziemliche Proteste von jüdischer Seite gegeben, weil der jüdische Alleinvertretungsanspruch des Völkermords in Gefahr war. Deppen. Typisch. Siehst Du – bei sowas will ich eben kein Jude sein. Nein. Anders. So ein Jude bin ich nicht. Ich heiße doch nicht Broder.«
»Du weißt auch, daß es nicht nur daran lag? Es ging auch – einmal wieder – um das Geld, um die économie libérale zwischen Frankreich und der Türkei, um das fließende Geld. France ist, glaube ich, die größte Warenlieferant in die Türkei. Dann – wir als alte révolutionaires geben unsere esprit auch lieber den unterdrückten Völkern von la Palestine. Und auch, la Turquie hat viele Juden geholfen und ein traditionell gute Beziehung zu Israel. Theodor Herzl hat 1898 auf dem zweite congrès der sionistes, als die letzten pogroms de arménien nicht weit zurücklagen, dem osmanischen Sultan seine Loyalität versichert. Und Bernard Lazare, ein prominenter Verteidiger von Dreyfus, hat in der Zeitschrift Pro Armenia Herzl dafür sehr scharf angegriffen. Allerdings sind die Arménies heute sehr kräftig in France. Ich habe es gesagt. Dafür die Türken verschmieren heute die armenische monumentes dans France ...«
»Ich erinnere mich aber auch, Naziza, daß es in dieser Proklamation sowie in dem Gesetz auch hieß, wenn es der Türkei nicht einmal gelänge, die historische Tatsache des Völkermordes an den Armeniern anzuerkennen – wie sollten da die Staaten Westeuropas auf eine Änderung der türkischen Politik in der Kurdenfrage hoffen. Damit war auch das brünftige Verlangen der Türken gemeint, Europa zu penetrieren. Ich habe nie verstanden, weshalb die mit ihrem Fitzelchen Land in Europa sich dazuzählen. Na ja. Selbstverständlich weiß ich es – Absatzmarkt Europa. Arbeitsmarkt Europa. Ach, irgendwie ist mir das auch wurscht. Sollen sie halt rein. Aber dann gehört auch Armenien und Algerien rein. Die Regierungen sind ja bereits hier. Und einen General haben wir auch da. Nicht wahr, meine Süße?«
»Du meinst auch Deine neue gouvernement? Mon feld-maréchal Marietta Taline Al Arfaoui née Malakian aus der Famille der Hagopian, dieses wilde Volk aus den Bergen. Mit Mohamed François Al Arfaoui. Aaron Al Arfaoui und Mirjam. Eben – was machen wir mit den Saint-Louis aus die Sénégal?«
»Zunächst einmal! Du hast mal wieder Dich vergessen – meine Oberhäuptlingin. Der andere wird unser Sicherheitsminister. Seine Leistungsfähigkeit hat er ja ausreichend unter Beweis gestellt als Leibgardist des ansonsten nicht überlebensfähigen Aubertin. Selbstverständlich gehört damit der Senegal auch zu Europa. – Naziza, was mir zusehends mehr auffällt – Du sprichst sehr viel mehr über Armenien als über arabische Problemata. Irre ich mich da?«
»Non. Du bist meine gute observateur.« Ich mache den Versuch, ihr einen solchen Hauch auf die Wange zu geben, wie ich ihm immer bekomme. Weinherzkirschen kann ich nicht verteilen. Die kommen von Nazizas Baum. Außerdem läßt sich das während der Fahrt nicht so günstig an. »Es ist richtig. Wir stehen Arménien näher als Algérie. Sogar Papa haben wir hineingenommen in diese Zone am Rande von Europa.«
»Europa? Ich höre wohl nicht recht?«
»Es ist so, Didier. Doch, auch Maman ist extrême beeinflußt von die culture européenne. Ihre Famille. Es sind die personne cultivée alle in diese Länder. Wo Du schaust hin, alle haben ihre éducation aus europäische Länder. Die meisten haben studiert in einem europäischen Land. Auch Papa. Er hat in Aix studiert. Er ist hier geblieben. Nach die militaire.«
»Ach?! Französisch?«
»Sûr. Algérie war ja noch französisch zu diese Zeit. Er war in Deine Heimat.«
»Also in Marseille.«
»Puh, Didier. Nun hast mich auf eine falsche Fuß – in Deine alte Heimat.«
»Und wo, bitte befindet sich die?«
»Du weißt es nicht?«
»Nein. Ich habe nur eine, und die hat mir Joseph Roth an meine Fußsohlen geklebt.«
»Ich gebe mich geschlagen. Ich meine – er ist gewesen für drei Monate in Metz.«
»Du meinst die Lügenheimat meiner Mutter.«
»Ah! Dummkopf. Sie hat dort gelebt.«
»Aber ich nicht. Ich bin als Boche auf die Welt gekommen. Es hätte gerade noch gefehlt, wenn Du gesagt hättest Elsaß ...«
»Wenn, dann hätte ich gesagt Alsace.«
»Au weh. Dann wäre ich Dir an den schönen Hals gehüpft. Miststück. – Und dort war er die ganze Zeit, der arme Kerl? Im hohen Norden, kurz vor den Pfahlbauten der barbarischen Boches.«
»Non. Ich habe gesagt – für drei Monate. Dann hat man ihn verschoben nach Lyon. Danach ist er nach Marseille gegangen.«
»Und ist dann mit Deiner Maman auf die Île Ratonneau in die Calanque gezogen.«
»Non. Dort haben sie mich gemacht. Aus Sand. Meine Nest gebaut haben sie dann später in die Nähe von die place de Lenche.«
»Aha. Immer im Dorf bleiben. Aber seine Familie – war die nicht in Algerien?«
»Oui. Sie lebt noch immer dort. Sie möchten auch nicht weggehen. Doch auch ihre éducation ist gerichtet nach France.«
»Aber Du hast doch auch was von Tunesien erzählt! Mit solch einem Durcheinander bin ich verehelicht!«
»Seine Eltern sind von Tunis nach Alger, bevor es autonome wurde von France. Wenn ich nicht irre, es war 1950. Dann sie wollten nicht mehr wandern, als Algérie auch von France wegging. Doch sie sind noch immer sehr verbunden. Mit France! Et Papa mit Algérie. Oui. Es ist so. Auch wenn sie seine wunde Seele immer zudecken mit ihre armenische Küsse, diese armenische Frauen mit ihren Gesänge und ihren schwellenden Lippen, diese Marietta Taline et Naziza et Mirjam et Anouk et Esther. Denn auch die letzte beide sind halbe adoptierte petite filles d'arménien. Da kann auch ihre Papa, diese starke roi du nègre nichts dagegen ändern. Wir Frauen sind stärker. Non. Es stimmt nicht. Papa weint manchesmal.«
»Hat er denn solches Heimweh?«
»Es ist primaire die schlimme Zustand in seine alte Heimat. Es war ein so schöne Land einmal, sagt er immer. Es hängt sein Herz mehr daran als an Tunésie.«
»Du meinst die politischen Zustände in Algerien?«
»Oui. Wir haben vor nicht so lange Zeit alle ein pétition unterschrieben. Sie war gerichtet an die gouvernement, weil sie schon seit viele Jahre die algerische Politik unterstützt, die die Opposition töten will und damit große Teile der zivilen Bevölkerung. France hat eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Kriegsmaschinerie in Algérien! Es liefert Waffen und bildet Soldaten aus. Es gibt in France mittlerweile eine große Discussion über Folterungen während des guerre de libération, doch unsere Regierung gibt ihre Segen für sehr schlimme Verletzungen der Rechte von Menschen dort in Algérien. Es muß ein Ende haben. Dafür haben wir das alle unterzeichnet. Papa hat nicht bitten müssen. Non. Es war sogar Maman, die mit diesem Papier ankam. Maman, la combattante. Mon Général. Sie kämpft immer. Auch bei attac. Dort sie übersetzt in das Armenische und das Arabische. Paroles de combat. Und ich helfe ein wenig. Maman kämpft. Nicht nur für flüchtende Männer ...«
»War es nicht so, daß sie mich verflucht hat?«
»Didier. Das war zu Beginn. Es tut ihr leid. Sie möchte Dich nehmen in ihre Arme. Sie möchte ihren Sohn zurückhaben. Es ist so! Und Papa, das glaube ich, war immer ein wenig mehr auf Deine Seite. Er hat nie geschimpft auf Dich. Er hat nur sehr traurig geschaut. Vielleicht war es, weil er seine Sohn zum Fischemorden nicht mehr hatte.«
»Also gut. Mein fischemordender Partner ist demnach in Tunesien geboren?«
»Oui. Né 1938 en Tunis. Geheiratet 1960 en Marseille. Mit eine armenisch-persische Bergziege. Und ich bin sehr schnell gekommen. Obwohl Papa ein Musulman und Maman ein Christenfrau aus jüdische Blut waren. Sie haben schon immer sehr gerne zugemacht ihre Augen. Wie Papa beim Schweinefleisch. Wenn man schließt die Augen, Gott sieht es nicht. Verstehst Du?«
»Ich könnte mir vorstellen, daß ich das verstehe. Wir haben ja darüber gesprochen. Schön jüdisch. Auf keinen Fall so anständig wie anständige Christen. Extrem sympathisch. Aber er übt das ja offensichtlich immer gemeinsam mit den Juden. Also – Ihr seid keine richtigen Araber. Europäische Araber mit armenischem Bergblut. Eher von allem ein bißchen was. Und schon gar nicht gottesfürchtig.«
»Man kann es so nicht sagen. Es hat schon immer réligion gegeben. Mehr Glauben als réligion. Und auch etwas Strenge es hat schon gegeben. Mon Dieu! In diese Zeit. Es ist nicht wie heute! Eine Mädchen mußte gesittet sein. Und nicht nur eines des islame. Wenn es heute wiederum auch völlig anders ist. Es ist nicht zu vergleichen. Allerdings meine ich damit nicht diejenigen, die sind assimilé. Doch sie haben nie eine Versuch gemacht, mich zu ver – verkuppeln? Heißt es das?«
»Ja. Doch Du meinst wohl eher, daß sie keinen Versuch gemacht haben, Dich an einen Mann zu verkaufen. Dich zu verheiraten.«
»Es ist correct. Doch dann es hat sich sehr schnell gewandelt. Und diese mélange hat uns, das glaube ich, sehr gut getan. Diese mélange aus alle réligions. Diese schöne Durcheinander. Nachdem Maman hat Allah wissenschaftlich untersucht und Papa ein wenig zum Schweigen gebracht. Es hat geöffnet. Und es hat nie eine Kritik gegeben an meinem Studium. Sie haben das immer nicht nur gebilligt, sondern es auch unterstützt. Leider Papa ist krank geworden mit seine schlimme arthrite und konnte nicht mehr gut Geld verdienen. Als er war wieder gesund, gab es keine Arbeit mehr für ihn. Dann war er doch eine Arabe. Obwohl er hatte eine französische Uniform getragen. Und meine toque carée de docteur mußte ich an die Stange hängen. Merde. Doch sie haben mir das hoch oben angerechnet. Und nun habe ich das, was Madame eine ganze Traum von einem Mädchen träumt – eine docteur zu eine Ehemann. Puh! Merde. Ich bin eine idiot, die so etwas sagt.«
»Ach, Naziza. Es tut schon weh?«
»Oui! Didier. Es tut sehr weh. Noch immer. Ich habe immer Leid gehabt damit. Ich wollte die ganze romanisme et romantisme durchrollen. Forschen, entdecken, hinter das Wesen dieser Zeit kommen. Und dann kamen diese imbéciles in die tourisme. Bis Du bist über mich gekommen wie eine Himmel. Du warest eine Ausgleich. Eine kurze Zeit ...«
»Aber ...«
»Arrêt! Es ist vorüber. Es mir mir hinausgerutscht. Pardon. Ich wollte nicht klagen. Es war eine Fluß eben. – Eh bien, ich einmal als ein halbe Arménien und ein halbe Arabe in französische Humus. Doch es gab zu diese Zeit immer Conflit. France war sehr von sich eingenommen. Das, was Le Pen wieder möchte. La Grande Nation. Mit Tricolore um den Bauch. Ohne die andere, die den Dreck weggenommen haben. So ich sehe das. Diese böse Spinner. Man muß es sich vorstellen, er verspricht zweihunderttausend neue Plätze. Nicht Arbeit. Neue Plätze im Gefängnis! Er will hinausgehen aus Europe! Er sagt, daß er liebt dieses Land, sein Land – und will es töten. Es wäre tot ohne eine wirtschaftliche Verbindung nach draußen. Er hat keine Lösung für unsere problèmes. Man kann nicht abschneiden den ganzen Körper, wenn man heilen möchte den Kopf. Diese schlimme Idiot. Und alle hinaus, was ist nicht seit 1789 französisch. Uns alle, die wir diese Land haben mit geschaffen. Schaue herum, wer in den vergangenen Décennies Culture française geprägt hat, wer den Name France hinausgetragen hat in toute monde! Uns alle, die wir es lieben – à cause de égalité, liberté, fraternité. Und die uns lieben deshalb. Und das Volk, das animaux de boucherie wählt seine Boucher. Algérien, Arménien, Juifs, Chrétiens. Crétins ...«
»Na ja. Es gibt ja noch ein paar andere auch. Glücklicherweise. Man hat es ja erlebt. Isabelle Adjani zum Beispiel. Sie bekannte sich öffentlich dazu, zu einem Teil aus Algerien zu stammen – nachdem Le Pen zum Sturm gegen afrikanische Einwanderer geblasen hatte. Ihren Sohn Barnabe nannte sie mit zweitem Namen trotzig Said, zu Ehren ihres Anfang der achtziger Jahre gestorbenen Vaters. Den Vater des Jungen, den Regisseur Bruno Nuytten, wollte sie lange nicht nennen. Sie hütete ihr Privatleben. Und über ihre Kindheit ist bekannt, daß Isabelle Adjani mit ihrer Mutter deutsch sprach. Die Mutter wiederum behauptete von ihrem Ehemann, er sei Türke gewesen. Vermutlich schämte sie sich, einen Algerier geheiratet zu haben. Was wiederum sehr deutsch wäre.«
»Nun muß ich einmal die Deutschen verteidigen! Der deutsche PEN hat immerhin einen Vorstand mit dem Namen Said!«
»Vermutlich aber auch nur, weil ein anderer keine Lust dazu hatte, den Präsidentenposten zu übernehmen. Was jedoch auf keinen Fall was gegen Said sagt. Er ist, möglicherweise wegen seiner Bescheidenheit, ein geradezu unglaublich liebenswerter Mensch – und ein guter Lyriker. Dessen Gedichte die Deutschen überhaupt nicht kapieren. Dennoch tut er den Deutschen ausgesprochen gut. Aber er ist alles andere als ein Algerier oder überhaupt Nordafrikaner. Er ist ...«
»Ich weiß es. Er ist mit Maman verwandt ...«
»Nein! Said ist ...«
»Didier. Was glaubst Du, was ich habe gelesen die vergangenen Jahre auf die Suche nach meine mari? Viele journals. Und ich habe, wenn es mir war möglich war, gehört das deutsche programme de radio. Deutsche Welle ou Deutschlandfunk. Weil ich habe gewußt, daß meine Ehemann dort zu alten Zeiten auch hat, wie er es sagt, gefunkt. Und dort bin ich auf Said gekommen. Deshalb ich weiß, daß er ist mit Maman verwandt!«
»Aber Naziza, er ist doch ...«
»Ich meine Maman aus dem früheren Leben. Als sie noch getragen wurde in ihre Großvater. In Persien. D'accord?! Und von diese haben wir auch einige in France. Wenn wir dort auch nicht so actif sein konnten mit unsere armée. Dafür es hat gesorgt Ayatollah Komeini – den wir haben beschützt vor Pahlevi! – dafür, daß auch ein wenig persisches Blut in unsere französische hineingemischt wurde, weil sie flüchten mußten vor diese andere Mörder von Menschen und civilisation et culture. C'est ça. Pareil. Le Pen will diese aus den colonies oder andere nur hierbehalten im Land, wenn sie waren in die légion étrangère oder bei seine division parachutiste – ich weiß es nicht, was es ist in deutsch. Doch, ich weiß es. Es heißt, glaube ich, Fallschirmflieger ...«
»Fallschirmjäger heißt es im Deutschen.«
»Oui. Pareil. Wie sagst Du immer – es ist zum Kotzen.«
»Nein. Das wäre beschönigend. Siehst Du – das ist mit ein Grund, weshalb ich mich immer mehr zurückgezogen habe aus den Diskussionen. Denn woanders ist es nicht besser. Eher schlimmer, – à cause de égalité, liberté, fraternité. Weil es dieses Gefühl nicht gibt. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das in France eben dennoch vorhanden ist. Ich mag einfach nicht mehr. Es fruchtet nichts. Was haben zwanzig, dreißig Jahre Auseinandersetzung damit gebracht? Im privaten Kreis oder im beruflichen Engagement? Frustration darüber, daß sich allenfalls alles ins Gegenteil dessen verkehrt, was man sich wünscht an ein bißchen mehr Menschlichkeit. Mehr – oder weniger – Geld, auf jeden Fall mehr Mord und noch mehr Totschlag. Ob jüdisch oder armenisch oder französisch oder deutsch oder katholisch oder islamisch – immer dieselbe Scheiße. Unterm Strich geht es immer um Macht, um die Kohle. Ich wende mich lieber meinen Eierkohlen zu.«
»Diese sind weit offen. Und noch viel mehr. Zu Dir und unsere kleine Welt.«
»Dann können wir uns ja jetzt wieder den schönen Dingen des Lebens zuwenden. Den Frauen.«
»Maudit soit – dieser Mann, der mich immer will ärgern!«
»Du hast doch damit angefangen. Du konntest Deine Neugierde nicht zügeln. Du weißt doch, daß ich sehr gerne an Euch denke, aber höchst ungern über Euch spreche. Du hast mich aber rausgelockt.«
»Mon Dieu! Mon amour. Du hast so recht. Ich bin selbst schuld an meine Leid.«
»Isses so schlimm?«
»Non. Ich muß selbst lachen. Doch es kitzelt mich ein wenig dabei. Und immer kommt diese Neugierde. Es ist – wie heißt es? Selbstquälerisch?«
»Ich weiß nicht, ob's stimmt.«
»Welches? Das Wort?«
»Wenn's zutrifft, dann stimmt das Wort.«
»Salaud! Oui! Es stimmt. Ich bin eine weibliche Verstümmlerin meiner selbst.«
»Perfekt.«
»Comment?! Es gefällt Dir?!«
»Nein. Oder – ich weiß nicht. Auf jeden Fall ist es lustig.«
»Infamie! Du bist ein ganz üble Kerl. Ich verstümmele mich. Und sagst parfait.«
»Ich meine doch die perfekte deutsche Grammatik. Vor allem in der verdeutlichenden Verstümmelung durch die Verdoppelung des Weiblichen.«
»Oh! Didier. Du machst Dich wieder einmal nur lustig über mich. Wie sagt unsere Titeuf immer – das ist nicht fair.«
»Meinst Du diese witzige Zeichentrickfigur.«
»Oui. Du kennst sie!? Sie gefällt Dir auch?«
»Ja. Ich kenne Titeuf von unserem Kinderkanal, der tagsüber Arte blockiert. Aber schön blockiert. Tagsüber Entspannung beim KiKa, abends bei Arte. Immer derselbe Elfenbeinturm-Kanal-Sessel ...«
»Du schaust am Tag télévision?. Ich glaube es nicht.«
»Ja. Wegen Titeuf. Und Deinetwegen.«
»Quoi?«
»Ja. Ich mache mittags mein Päuschen zwischen eins und zwei – gemeinsam mit Titeuf und seiner schönen Maman. Sie sieht nämlich aus wie Du.«
»Du mußt verwirrt sein, mon amour. Wie kannst Du mich derart verwechseln. Ich habe zwar ein so reizende caractère wie die Maman von Titeuf, bin vielleicht ein wenig so durcheinander und habe auch diese zauberhafte Figur. Non. Es stimmt nicht. Sie hat andere – sie hat vielleicht das Rauchen beendet ...«
»Du meinst, wegen ihrer etwas ausgestellteren Unterweite?«
»Exact. Dieses eben auch. Mais! Didier! Und ich habe doch nicht diese Haarfarbe. Es ist ‘henné! Wie kannst Du mich so verwechseln mit eine andere!«
»Laß mal. Sie hat schon viel Ähnlichkeit mit Dir. Sie ist immer ganz lieb zu ihrem Titeuf, dem armen Kerl. Der gibt mir immer Nachhilfeunterricht im Versagen – wenn's um Euch Mädels geht. Außer bei seiner Maman hat auch er kein Glück bei den Frauen.«
»Du bist unglaublich. Du wirst mich auch noch mit eine vedette du télévision betrügen. Du fährst immer wieder gerade hinein in meine offene Wunde. Ich habe es Dir gesagt. Ich bin doch so sehr eifersüchtig. Und Du bohrst immer weiter hinein.«
»Doch es siegt immer wieder das entzückende Näschen – das von Titeufs Maman ist im übrigen nicht so schön wie Deines –, das hineinfährt in den Modder jener Vergangenheit, die es nicht riechen will. Dauernd bohrt sie darin herum – und beklagt sich, das es zwickt. Doch, ach! Mir geht es nicht anders. Trotz aller Zurückhaltung. Wenn ich nur den Namen Paul höre, geht mir das Messer in der Tasche auf. Na ja. So schlimm ist es vielleicht nicht gerade. Aber eifersüchtig bin ich. Ich muß es gestehen. Das ist vermutlich die avant-garde der Verlustangstruppe.«
»Cheri – Paul ist eine Freund. Pardon für mein Lachen. Doch er ist eine ganz liebe Freund. Wie Deine Freundinne Anne et Julia. Wohl, er hat mich begehrt. Vielleicht tut er es noch. Es ist anzunehmen. Aber er weiß, zu wem ich gehöre. Und er respektiert dieses. Er hat nie einen Versuch gemacht. Vielleicht tut er dieses alles aus Liebe. Wenn es so ist, dann macht es ihn groß.«
»Kennst Du ihn denn nicht schon länger?«
»Oui. Mais – Du weißt es! Seit wir bei ihm waren wegen der Wohnung. Also drei Jahre und mehr. Wir haben uns immer wieder einmal getroffen ...
»Siehst Du! Jetzt machst Du mich eifersüchtig. – Es ist zu dämlich. Aber es ist so.«
»Bitte – Didier, Du mußt jetzt nicht lachen! Es ist nicht Kitsch! Ich habe immer zu Dir gehört. Schon lange, bevor wir uns gesehen haben. Bevor wir einander gewußt haben. Du warst es immer. Kennst Du Ondine von Jean Giraudoux? Wir haben über dieses Thema gesprochen!«
»Die französische Undine?«
»Oui. Du kennst es.«
»Das Stück hab ich jetzt nicht im Kopf. Den Inhalt in etwa. Er hat damit eben Fouqués Undine-Thema aufgegriffen. Ach, das hatten wir doch schon. Nun denn. Ähnlich wie bei Oscar Wilde sucht nicht das Wassergeschöpf Erlösung in der Vernunft, sondern der Mensch, der Mann sehnt sich nach Erweiterung seines in Regeln gefangenen Denkens.«
»D’accord. Er läßt Ondine sagen: ›Ich wußte nicht, daß man wählt bei den Menschen. Bei uns wählt man nicht, denn wir werden von unseren Gefühlen gewählt. Der erste der Unsern, der kommt, bleibt für immer der Einzige.‹ So war es. Nie habe ich gewußt, wie Du aussiehst. Es war mir auch égal. Doch Du warst es. Als Du vor mir standest, wußte ich, daß Du es bist. Du warst gekommen. Derjenige, der mir solches geschrieben hat:
›Denn ich weiß ja sehr wohl, was es mit Eurem Bauch auf sich hat. Wir dürfen ihn zwar manchmal berühren, bisweilen auch in ihn hinein (nachdem wir rausgekommen sind aus ihm, also die ewige Sehnsucht nach der warmen, weichen Heimat), uns also mit ihm be-fassen. Aber dann ist auch das Ende der Teerdecke erreicht. Denn was hinter dieser Straße an Endlosigkeit besteht, an (eben) unvorstellbarem Arkadia (manchmal auch nicht), an grenzenlosem Elysium, das können wir Männer allenfalls ahnen. Ein wenig ahne ich. Mehr jedoch nicht. Deshalb ist ja das Undine-Thema so ungeheuerlich spannend. Es handelt von der Sehnsucht, von unserer, in Ansätzen wenigstens (das ist es ja! bloß nicht alles abgeben!) sich von diesem Moloch des Nützlichkeitsprinzips zu befreien, und von eurer, uns das klarzumachen. Es ist diese himmlische Hoffnungslosigkeit, die die Romantik beherrscht (bedamt, müßte es wohl richtiger heißen). Hoffnung benötigt man nicht, wenn das Leben als solches in sich stimmig ist. Wo Liebe sprießt, bedarf es des Düngers Hoffung nicht (mehr). Bei Oscar Wilde ist es grandios beschrieben, weil es nicht nur die Männerwelt, sondern auch diesen ganzen tristen Acker malt, den wir Männer mit Hilfe dieses artifiziellen Drecks angelegt haben, den die Nützlichkeits-Chemie-Industrie für uns aus der eigentlichen Aufklärung herausgefiltert hat, jene für den Menschen geschaffenen Klarheit des freien Denkens, deren Anfänge im Französischen so viel treffender als ›siècle des lumières‹ heißen – die(se) Gesellschaft mit allen ihren schrecklichen Begleiterscheinungen. Aus denen wir bisweilen flüchten, indem wir uns rückwärts gewandte Hoffnung, Nostalgisches zulegen. Das hat dann wenigstens ein bißchen was an Ahnung dessen, wie es in des sehr frühen Romantikers Antoine Watteau Gemälde ›Einschiffung nach Kythera‹ von 1717 skizziert ist: die sehnsuchtsvolle Ferne des Unaussprechlichen. Mysterium des Glücks.‹
Solches hast Du mir geschrieben. Und deshalb hatten andere Männer auch wenig Möglichkeit. Es war dieses Wunderbare! Andere Männer senden Blumen, die sie gekauft haben in eine boutique de fleuriste. Du sendest mir Chocolats, die Du selbst bereitet hast. Und ich lasse sie vergehen auf meine Zunge. Und sie geht hinein in meinen Geist. Und in diesen großen Umschlag in meinem Herzen. Du hast diese Briefe nicht durch ein Bombardement getragen wie Cyrano. Jedoch es war ein Bombardement in meinem Kopf, in meinem Herz. Es ist mir in meinen Bauch gerutscht. Und mein Herz ist humide geworden. Ich war Roxanne. Dann wurden meine Augen feucht. Später, als Du wegwarst. Jedoch vorher haben wir sehr oft darüber gesprochen. Dieses hat mich Dir angenähert. Deshalb ich wollte sein Deine Frau. Doch dieses liegt bereits schon viele Jahre zurück. Bevor Du mir solche Caramelles geschickt hast. Davor? Bonté divine! Ich war eine junge Hühnchen. Es geht zu diesem Hahn oder zu einem anderen. Oder der Hahn kommt. Es war immer langweilig. Doch Du bist in meinen Schoß gefallen.«
»Das klingt jetzt irgendwie komisch.«
»Was klingt komisch? Du glaubst mir das nicht? Das macht mich traurig. Ich will zu Dir nichts sagen, was nicht beruht auf Wahrheit. Nie!«
»Nein, Naziza. Das meine ich nicht. Wie Du es gesagt hast, im Deutschen bekommt es eine Doppelbedeutung.«
»Comment?«
»Du hast gesagt, ich sei Dir in Deinen Schoß gefallen. Im Deutschen heißt das, daß einem etwas leicht gemacht wird.«
»Es war so. Vom Himmel herab in meine Schoß.«
»Ach. Laß mich doch mal ausreden. Aber ich bin in Deinen Schoß hinein – puh, jetzt fange ich ja genauso an. Ich denke nur an das eine. Also, alles Quatsch. «
»Du hast recht. Es ist eine schönes doppeltes Bild. Es ist lustig. Und es stimmt. Es hat zwar ein paar Tage gedauert, bis ich Dich in meine Schoß hineinbekommen habe. Aber Du bist es. Du bist erst in mein Herz gefallen, dann habe ich Dich ein wenig geschoben. Wie sagt man? Nachgeholfen?«
»Ja.«
»Dann hatte ich Dich auch in meine Schoß. Bis hinauf in meine Herz. Non. Es war ja nach unten gerutscht. Ich habe wirklich Angst gehabt ...«
»Wovor denn, um Himmels willen?«
»Daß Du eine Troubadour bist – nur eine Troubadour. Daß Du schreibst nur wunderbare Éloges. Eben diese Éloge, diese amour courtois, die gerichtet ist an eine nicht Bekannte. Daß Du vielleicht nur mein Bild liebst.«
»Ach Gottchen. Unser Pygmalion-Thema, im umgekehrten Sinne.«
»Oui. Du warst so reizend. Du warst so behutsam. Doch Du hast mich nicht angefaßt. Ich wollte jedoch, daß Du mich anfaßt. Es ist ein großes Glück, daß Du es hast getan. Sonst ich wäre verzweifelt – es kommt endlich meine Mann. Doch er faßt mich nicht an.«
»Liebes. Es ist schon was dran ...«
»An mir? Genug?«
»Natürlich! Doofe Nuß. Ich meine, was meine anfängliche Zurückhaltung betrifft. Ich wollte schon auch ...«
»Es ist beruhigend.«
»Verflucht.«
»Jetzt bin ich es einmal, die so ist, wie Du es sonst bist.«
»Ich hatte Angst, etwas kaputtzumachen.«
»Mich? Ich bin vielleicht etwas wenig, aber nicht sooo fragile. Du weißt es.«
»Ach, Naziza.«
»Cheri. Ich weiß es. Und ich weiß auch, daß Du hast Angst gehabt – vor Dir. Vor Deinem Mut. Und Angst davor, etwas zu zerstören. Und nun ist es ja jedoch gut. Wir haben zueinandergefunden. Maintenant – das zweite Mal. Wir wollen es halten. Ja? Für immer? Bis zu Philemon und Baucis. En outre.«
»Der eine Teil des Tempels ist ja schon alt genug.«
»Petit sot. Willst Du es immer und immer wieder hören, daß Du nicht alt bist? Eh bien. Ich sage es Dir gerne. Du bist es nicht. Du bist nicht alt. Du bist viel jünger als andere. Oft bist Du ein Kind. Dann habe ich eines. Ein großes Kind, nicht ein altes. Dann ich schüttele den Kopf. Wie das ist, wenn ein Kind dumme Dinge sagt oder macht. Manchesmal gibt es ein problèm, wenn das Kind erwachsen sein will. Wenn es ist mit einemmal ein bourrique! Dann gehe ich und lasse Dich mit den Hufen schlagen und Dich Iaahhh! rufen. Es geht vorbei. Didier – Dein Körper wird älter. Du hast graue Haare. Eine junge alte Esel eben. Ein wenig. Es gefällt mir. Doch auch der meine wird es werden. Ich werde auch graue Haare haben. Ich weiß, daß es Dir gefällt. Voilà. Wir werden es lösen. Non. Unsinn. Es gibt nichts zu lösen. Es wird kommen. Wie wir kommen, wenn wir kommen. Weil es kommt. Wir halten es nicht an. Pantha rei. Wir lassen es fließen, wie ich nun einmal Heraklits Gleichnis ein wenig sehr verkürze: vom steten Werden, vom Wechsel, von der unaufhörlichen Bewegung. Alles. Doch wir machen keine Exercice sportif aus dem Werden oder zeichnen zuvor eine Plan. Laisser-faire. Kein Vorausschauen mehr. Ich weiß, daß Du es nicht möchtest. Nicht mehr! Und es ist mir sehr angenehm! Es ist wohltuend, es strömen zu lassen. Ich höre dabei den Himmel singen. Manchesmal auch nur dann, wenn ich neben Dir sitze und Deine Nähe spüre. Oder ich sie spüre, wenn ich an Dich denke. Dieses ist ohne Alter. Mais – ich weiß auch gar nicht, ob es etwas zu tun hat mit dem Alter.«
»Naziza. Ich habe damit auch keine Probleme. Natürlich möchte ich, daß er funktioniert, der Körper. Es ist noch nicht solange her, da wollte ich, daß er aufhört, daß er sich abschaltet. Doch nun möchte ich es wieder. Es gibt ja Anlaß genug. So eine Art Frischzellenkur. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Und das erst seit ein paar Stunden.«
»Es ist noch etwas anderes, das mich sehr interessiert. Es hat zu tun mit unsere Gespräch über Dein Bild von Frauen. Wir haben auch früher darüber gesprochen. Nicht nur Frauen. Doch diese intensité war zuvor nicht. Es ist etwas geschehen – naturellement! Mais, dieses, was geschehen ist, hat etwas tief in Dich hineingegeben. Du bist doch ein wenig verändert ...«
»Meine Güte! Es ist ungeheuerlich viel passiert. Ich habe noch nie soviel nachgedacht wie in der letzten Zeit. Ich glaube, seit dreißig Jahren nicht. Aber es war ja nie dieses Potential vorhanden. Möglicherweise war es das. Dann, als ob dieser Unfall, achwas, kein Unfall, diese leichte, vorübergehende körperliche Dysfunktion etwas freigelegt hätte ...«
»Und andere verschüttet!«
»Ja. Das ist sicherlich so. Aber ich bin da jetzt eher optimistisch. Denn bislang, also die letzten zwei Jahre – nein, das stimmt so nicht. Ich hatte eine schreckliche Zeit. Da war gar nichts gut. Aber – sag ich mal, etwa seit einem Jahr gewinne ich selbst depressiveren Phasen Positiveres ab. Meistens kommt ein Gewinn dabei heraus. Ich bin mittlerweile tatsächlich in der Lage, nach einer Erkenntnis zu mir sagen – so, jetzt handele aber auch danach. Und oft tue ich es tatsächlich. Das war früher schlicht unmöglich. Theorie und Praxis waren da diametral verlaufende Angelegenheiten.«
»Ich sehe bei Dir mehr Nachdenklichkeit, mehr Bedacht als vor drei, vor bald vier Jahren. Ohne Nachdenken warst Du nie. Sonst wären wir nie ein Paar geworden. Nun jedoch ist es mehr Réflexion. Ich sehe viel tiefer in Dich hinein.«
»Ich sehe keinen Grund, mich nicht zu öffnen. Das heißt aber noch lange nicht, daß ich das bei anderen auch tue. Da dürfte eher das Gegenteil der Fall sein. Ich habe auch allen Grund dazu. Durch die erhöhte Sensibilität habe ich, wie erzählt, herbe Enttäuschungen erlitten. Bei Dir fürchte ich nichts. Mehr – ich will ja, daß Du in mich hineinschaust. Sagen kann ich Dir ohnehin nicht alles. Außerdem ist es ein ungeheuer angenehmes Gefühl, gesehen zu werden. Von Dir!«
»Ich möchte das auch – ich meine, daß Du auch in mich schaust.«
»Ach Liebes! Du bist doch ohnehin ständig vor mir aufgeschlagen – ich lese in Dir wie andere in ihren heiligen Schriften.«
»Es ist schön, was Du sagst. Es macht mir viel Freude. Du wirst jedoch nicht glauben, daß Du alle Seiten kennst?! Ich mag Deine Engel sein, doch ich bin auch die Hölle! Und ich möchte nicht, daß andere alle diese Seiten lesen können?!«
»Das will ich damit nicht angedeutet haben. Aber es ist eine Tatsache, daß Du ein bei weitem sehr viel offener Mensch bist als ich. Du hast keinerlei Probleme, Gefühle zu zeigen ...«
»Wir Frauen sind in diese Hinsicht möglicherweise grundsätzlich nicht ganz so behindert wie ihr Männer – non, ich spreche in Cliché. Das will ich nicht. Es ist so, Didier – Du warst verschlossen, als wir uns haben kennengelernt. Es kam vor, daß ich mußte Dich aufbrechen wie eine huître, sie ist ein sehr robuste Jungfrau, mit einem ganz festen Muskel, der alles zuhält. Kein großes, starkes Messer kann in sie hineinfahren, um diese Festung zu zerschneiden. Manchmal hast Du ein wenig geöffnet und hast mich hineingelassen. Dann haben wir in Dir tief drinnen gesessen, haben Dein Blut aus eau de mer getrunken und darin gebadet. Aber oft hast Du mich dann wieder ausgespuckt, und ich mußte immer bitten, daß Du wieder öffnest. Ich wollte immer in Dir sein. Aber Du wolltest das nicht so oft. Das jedoch erscheint mir verändert. Non. Es scheint nicht. Es ist. J'en suis absolument certain! Es ist, gegen früher, als ob Du Dein Brust aufklappst und mich hineinsehen läßt in Dein Herz. Und mich mit hineinbittest wie früher ein wenig in Deine Austernschale. Du gibst viel mehr Gefühl als früher. Auch Deine Berührungen sind andere. Zärtlich warst Du immer. Aber diese tendresse maintenant ...«
»Es ist die Zärtlichkeit des Ertrinkenden.«
»Du machst wieder dumme Witze. Es ist mir ernst. Ich will Dir Wichtiges sagen. Und Du machst es dumm.«
»Nein. Das mag wieder wie ein blöder Witz geklungen haben. Ich meine es ernst. Ich bin am Ersaufen ...«
»Du hast mich. Du mußt nicht ertrinken!«
»Das ist es ja – schau, wie ich es zuvor gesagt hatte: das positive Element. Ich erkenne, daß ich ertrinke. Aber ich erkenne auch, daß ich gehalten werde. Folglich lebe ich weiter. Früher, vor noch gar nicht allzu langer Zeit, habe ich einzig ans Ersaufen gedacht. Also war ich tot. Der nächste Aspekt ist der, daß wir es hier wiederum mit einer Doppelbedeutung zu tun haben – auf diese Weise ertrinke ich gerne. Ich gehe ins Meer. Dort fühle ich mich wohl. Ich gehe mit Ondine hinein in das weiche Fruchtwasser Mer méditeranée, in die Liebe. In den Ozean. Weil Liebe besser ist als Weisheit. Das bessere Bild wäre sicherlich, ich sagte: Ich sinke ein in Dich. Doch ich empfinde das Bild vom Ertrinken in Dir als das Schönere. Und ich will Dir auch vermitteln, daß es nichts Negatives hat. Das ist für meine Restumwelt vielleicht nicht so angenehm, weil sie mich damit gesehen hat. Aber das hat – bis auf die Dir bekannten Ausnahmemenschen – ohnehin nicht interessiert. Faktor, um es mal ein wenig zu entpoetisieren, Faktor ist, daß meine kleiner gewordene Welt zu Dir hingewandert ist. Sie geht ein in Deine. Es stirbt etwas. Es darf endlich etwas sterben ...«
»Ich möchte nicht, daß gestorben wird!«
»Écoute – etwas sehr, sehr Müdes, völlig Verbrauchtes stirbt. Aber der Same, der gute Same hat bereits Anker geworfen. Mein altes Leben ist dahin. Ein neues beginnt. An einem anderen Ort. Es wird völlig anders aussehen. Möglicherweise ist es ein Leben, das ich mir immer gewünscht habe. Vielleicht schon in meiner Kindheit. Wahrscheinlich ist es so. Nach über fünfzig Jahren darf ich es vielleicht finden. Gut – ich bin für die Restgesellschaft nicht mehr zu gebrauchen. Wer von mir etwas will, der hat das genau so zu nehmen wie das, das er antrifft. Ansonsten – fin. Zero. Ich habe mir immer Arkadien, Elysium und weiß der Teufel, wie die Dörfer sonst noch alle heißen, gewünscht. Doch nie wußte ich, wo sie liegen. Nun weiß ich es. Ich weiß jetzt, wie mein Dorf heißt. Es heißt Naziza. Ich habe nie, noch nie in meinem Leben ein solches Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit gespürt.«
»Es macht mich glücklich, aber auch sehr traurig. Wir haben vor über drei Jahre geheiratet! Was war? War ich so anders, daß Du sagst, es ist jetzt gut? Vorher nicht? Es war eine wunderschöne Zeit. Leider sehr kurz. Für mich. Mais, Didier – was ist mit diese Zeit davor? Du sprichst, als ob es erst jetzt beginnt! Ich gibt eine Zeit davor! Es muß etwas geben. Es kann auch nicht sein – heute ist lundi. Au soir de dimanche wir haben uns wiedergesehen, nach weit mehr als drei Jahre. Nun ist es ein paar Stunden zurück – und Du sprichst, als ob nie gefehlt hätten Jahre! Es muß doch etwas sein!«
»Vermutlich ist es so, Naziza. Du hast völlig recht. Vor ein paar Stunden noch habe ich Dich verflucht. Dann habe ich gespürt, daß Du tatsächlich mich meinst. Und es ergab sich diese absolute Plausibilität. Ich wußte ja, daß in meinem Gehirn was kaputtgegangen war. Und ich muß auch gestehen, daß das Gespräch mit Isaac mit entscheidend war. Sie ist nunmal meine Vertraute. Und sie ist auch die einzige, die mir den Kopf waschen darf. Sie hat es getan. Und so bin ich seit ein paar weiteren Stunden angekommen. Ich habe Dir doch gesagt – es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn ich in die Wohnung käme, und alles wäre vertraut. Und je mehr Du über dieses oder jenes sprichst, um so weniger ungewöhnlich kommt es mir vor. Es muß also vorhanden sein. Es ist nur noch längst nicht alles nach oben gelangt. Das meiste nicht. Doch ich bin guter Dinge. Und ich habe, vor allem, Vertrauen. Ich habe keine Angst mehr. – Und das, was Du vorhin von Dir gesagt hast, daß Du meinst, immer für mich gewesen zu sein ...«
»Es war so! Warum muß ich es betonen?!«
»Gut. Ja. Ich will auch nur sagen, daß es sich sicherlich ähnlich verhält bei mir. Auch darüber haben wir ja schon gesprochen ...«
»Es gibt etwas, das muß immer gesprochen werden. Es ist nie genug. Ich fürchte nicht eine Wiederholung. Du sagst selbst, wenn Du eine Text immer und immer wieder bearbeitest, er wird immer besser – weil Du mehr Tiefe erreichst. Es ist eine Erfahrung, die Du mit andere teilst. Edmond Jabès zum Beispiel schreibt: ›Dans le dire, rien n'est assez dit qui n'aspire à être redit, mais autrement. De sorte que le dire est, à la fois, la révélation et la promesse contenue du dire.‹«
»Au weh! Und Du meinst, diese vermutlich geballte Weisheit hätte ich jetzt verstanden?! Wenn dem so wäre, könnte ich sicherlich sofort an der Université Aix-Marseille als Französischlehrer für Autodidakten anfangen.«
»Du und Deine Coquetterie! Ich versuche, es zu übersetzen. Bien, er sagt etwa: Im Sagen ist nichts genug gesagt, als daß es nicht danach drängt, noch einmal gesagt zu werden, aber anders. So daß das Sagen gleichzeitig ist Enthüllung und Ankündigung von diesem, was im Sagen enthalten ist. – So ist es damit auch. Ich will in diese Tiefe. Um so länger ich in diesen Abgründen bin, um so weniger sind sie Abgründe. Die Réflexion hebt das Niveau, das Plateau. Meine Augen bleiben geschlossen. Ich sehe es mit meinem Gefühl. Es kopuliert aber auch ständig mit meine Intellektualität! Diese beiden streiten nicht. Sie sind ein sich liebendes Paar. So wird es heller. Und ich kann etwas weitergeben davon. Es macht mir große Freude! Ich muß nicht besitzen. Es ist gut, abzugeben. – Nur Dich gebe ich nicht ab. Ich teile Dich nicht.«
»Das ist überaus freundlich, daß ich nicht gevier- oder mehrteilt werde.«
»Oh, Didiercheri! Du weißt doch, wie ich ...«
»Klar weiß ich das, Naziza. Und ich bin sehr glücklich bei diesem Gedanken.«
»Nur bei diese Gedanke? Nicht mit mir? Du kannst mich haben. Ich schenke Dich mir. Oder mich Dir? Pareil. Beides.«
»Gibt es das wirklich?«
»Welches? Beides. Mais oui! Dich und mich. In Dir und in mir. Einmal so und einmal so. Doch immer zusammen.«
»Ich meine, was da geschieht.«
»Du meinst unsere Roman d'amour? Du siehst es. Wir lesen darin. Und wir schreiben es. Und lesen. Immer weiter. Es wird eine Buch der Bücher. Wem es nicht gefällt – es bringt uns nicht aus eine balance. Es ist unseres. Es ist unsere Buch von Psyche et Cupidon. Mon amour – mon amor, mon Cupidon. Ich wurde in ein Tal getragen. Mon amour – Cupidon, Éros, die Liebe kam zu mir. Es war wunderschön. Dann ich habe gelitten. Weil andere mich haben verraten. Ich bin herumgeirrt. Überall im Kosmos habe ich Dich gesucht. Und dann hat mein Gott mir meine Cupidon zurückgegeben. Und der Gott der Dichter war mein garçon d'honneur. Nun sind wir beide auf die Olymp – ou paradis. Es ist beides. Non – eine paar kilometre müssen wir noch fliegen mit die Ente. Non. Wir beide sind bereits angekommen. Den Ort werden wir auch bald erreichen.«
»Wo sind wir denn?«
»Auf welche Seite des Buches?«
»Neiiin. Kilometer wieviel. Wo befinden wir uns auf unserer Lustreise von München nach Marseille?«
»Béotien. Immer wieder. Ich singe Dir immer wieder ein chanson d'amour. Und Du fragst nach eine Radio, das spielt tralala. – Ich weiß es nicht. Es ist mir égal. Non. Ich möchte bald zuhause ein. Zu meine béotien in das Bett.«
»Du nimmst einen Banausen ins Bett? Was machst Du denn mit dem darin?«
»Ich bilde ihn aus. Ich mache den allerallerbeste troubadour aus ihm. Non. Ein troubadour ist er schon. Er ist ein Banause, weil er nur ein poème dichten kann. Er ist eine poète, doch er kann nicht fühlen, was er hat geschrieben, komponiert. Ich werde ihn anders bilden. Ich stopfe ihn in mich hinein. Er muß lernen, wie es in mir aussieht. In der Liebe, die er besingt. Durch Fühlen.«
»Hat Ariane denn wenigstens ein paar Fäden ausgelegt?«
»Siehst Du, was Du bist für ein Béotien! Du bist noch nicht in mir – und rufst bereits nach eine Notausgang! Du bleibst in mir! C'est tout!«
»Oh je. Didier, der Höhlenbewohner. Andererseits ...«
»Was ist andererseits?! Etwas nicht in Ordnung?«
»Du läßt mich ja nicht zu Wort kommen.«
»Du sollst nicht sprechen. Du sollst mich lieben! Tu m'aimes!«
»Jetzt sofort? Auf der Stelle?«
»Wenn es nicht wäre so kalt, ich würde Dich an den Rand fahren. Oui. Mir ist es so. – Mais, es ist wirklich zu kalt. Wir warten auf die Höhle. Unsere warme. Deine warme.«
»Und was machst Du solange?«
»Wann?«
»Während ich in meiner Höhle bin und herumirre.«
»Oh! Vielleicht werde ich ein wenig stillhalten. Vielleicht auch nicht. Vielleicht helfe ich Dir etwas suchen.«
»Wobei?«
»Nicht nach die Ausgang! Vielleicht suchen eine Ei.«
»Ach ja. Aber Ostern gibt's erst nächstes Jahr wieder.«
»Du ballot. Du gefühllose buffle! Ich biete Dir le jardin d'Éden, eine Garten der Lust. Und Du denkst an Jésus-Christ.«
»Nein-nein. Ich denke an den eher lieber weniger. Davon mal abgesehen, daß der Garten Eden in Mesopotamien verortet wurde, und zwar zu einer Zeit, zu der dieser Judenbengel noch lange nicht einmal als Sperma existieren sollte. Aber gut, diese Jungfrau hatte auch keine Eier. Wir gehen also auf Eiersuche. Gut – ich. Und ich soll ein ganz bestimmtes finden?«
»Ich möchte, daß Du lange suchst. Überall. Es gibt Myriaden von kleine Verstecke in mir. Du sollst alle erkunden.«
»Nach diesem einen Ei?«
»Didier. Du tust mir weh.«
»Ich bin doch noch gar nicht drinnen in Dir.«
»Idiot. Du weißt es ganz genau, wie ich meine. Und wie Du in mir bist. Und wie tief. In meine tiefste Wunde wühlst Du.«
»Und Du traust Dich nix zu sagen.«
»Oui. Ich schäme mich. Ich sage es immer zu Dir, Du sollst alles sagen. Und ich tue es nicht.«
»Dann tu's doch.«
»Du bist nicht böse?«
»Ach, Naziza. Es hat sich soviel geändert. Ich habe Dir doch gesagt, das Alte stirbt ab, um Neuem Platz zu machen. Der Alte geht in die Erde – ich hab's doch vorhin gesagt. Der Alte geht in die Erde, und tief unten keimt bereits der vitale junge Samen.«
»Du hast das so gemeint?«
»Ich meine – fast – immer, was ich sage.«
»Du sagst es – fast. Presque jamais. Man weiß nie, was Du meinst.«
»Das ist nicht fair! Nicht Titeuf, ich habe es gesagt.«
»Ich darf mit Dir darüber sprechen? Vrai?«
»Wenn es geht.«
»Wenn was geht? Spreche doch nicht so – mystérieux! Darf ich mir Dir sprechen über dieses eine Ei? Oder nicht?«
»Ich meine ja – wenn es geht. Wenn wir es finden.«
»Mon Dieu! Ich fahre doch sofort mit Dir in die Wald.«
»Nein wirklich. Du hast es gesagt – es ist zu kalt. Laß uns warten, bis wir zuhause sind. Im warmen Bett.«
»Um zu sprechen? Oder was?«
»Von mir aus zum Eiersuchen.«
»Und zu sprechen? Auch jetzt?«
»Ja. Naziza. Ja doch. Ich hab Dir doch gesagt, es hat sich einiges verändert – in meinem Kopf.«
»Und Du würdest es tun?«
»Was? Eiersuchen? Gerne.«
»Didier! Ich wiederhole meine Rede von vorhin, Du weißt – die aus die Port. Sacré nom de Dieu! Tonnere de Dieu! Malédiction. Bordel! Maintenant – Du hast mir gegeben eine winziges Stück von Deinem Fingernagel. Ich will aber jetzt Deine ganze Hand! Du hast davon angefangen. Du kannst sie nicht zurückziehen! Mais – lasse mich nicht stehen wie eine dumme Hühnchen.«
»Ich habe angefangen? Du hast mich zum Eiersuchen geschickt.«
»Oui! Monsieur. Und ich habe auch daran gedacht, als ich es gesagt habe. Doch ich habe mich nicht getraut. Und nun ist der Hahn – er tut caqueter. Mais – eine Hahn kann nicht legen eine Ei. Es ist in mir. Das Ei. Und es möchte hinaus.«
»Vorher müssen wir es noch suchen. Pardon. Ich muß es suchen.«
»Que Dieu me vienne en aide! Warum tust Du dieses?!«
»Weil es mir genauso schwerfällt wie Dir.«
»Mais, Didier – es liegt an Dir! Du mußt mir nur sagen, daß wir darüber können sprechen. Dann werde ich es tun. Ich benötige Deine Hilfe. Dein Wort ist es. Weil ich weiß, was es heißt. Wir haben sehr, sehr oft darüber gesprochen. Deshalb habe ich Angst, es alleine zu tun. Ich will Dein Wort dazu. Es ist ein Wort. Du weißt es.«
»Ja.«
»Ist damit ja gemeint?«
»Wie ich es gesagt habe.«
»Wir müssen anhalten.«
»Was? In den Wald.«
»Non! Dein vieille folle braucht ein Pause. Bitte. Didier. Ich muß weinen. Ich kann nicht fahren.«
»Fahr den nächsten Parkplatz an. Ich löse Dich ab.«
»Aber wir sprechen – darüber?«
»Ja. Ich hab's gesagt.«
»Didier – es kommt eine panneau indicateur. Dort. Weit. Ich kann es sehen.«
»Ja. Fahr mal weiter. Vielleicht können wir eben runter. Zum Platztauschen.«
»Ich möchte jetzt gerne eine café haben. Machen wir das? Bitte.«
»Wenn eine Raststätte kommt. Runterfahren nutzt nichts. Es hat nichts geöffnet. Es ist früh am Morgen.«
»Mon Dieu! Oui. Ich wäre jetzt so glücklich, zuhause zu sein.«
»Wir können jetzt aber wirklich gerade nicht ...«
»Non. Du Dummkopf. Ich möchte nur in Deine Arm liegen und weinen. Vor Glück. Ich danke Dir.«
»Da. Naziza. Das Schild. Meine Güte. Die 16. Privas. Ardèche. Wir sind ja schon an Valence vorbei. Ich habe das überhaupt nicht mitgekriegt. Da. Essence, Gazol. Zehn Kilometer. Geht das? Oder woll'n wir vorher schnell.«
»Non. Es geht wieder. Mais – le station. Oui?!«
»Klar.«
Und nun? Ist Schweigen im Walde. Ich habe mir das selbst zuschreiben. Aber ich mit meiner Herumdruckserei. Daß ich das nicht hinkriege. Ich hatte doch selber vorhin Andeutungen gemacht. Wahrscheinlich hat sie den Ball ja ganz vorsichtig zu mir zurückgespielt. Und jetzt kriege ich Vollidiot das Maul nicht auf. Und mache dem Mädel das Leben schwer. Verflucht noch eins. Ich kenne mich doch. Wahrscheinlich habe ich ihr damals ein für allemal Sprechverbot erteilt bei diesem Thema. Warum haben sie mir denn dieses Verhinderungsteil nicht weggebrannt im Krankenhaus. Gute drei Jahre ist es her. Aber dieser Hirnriß ist noch da. Ich reiße mich zusammen.
»Naziza.«
»Oui. Mon amour.«
»Wir müssen uns jetzt nicht anschweigen. Wir können ruhig sprechen miteinander. Mir ist nicht bang.«
»Sag es doch nicht! Sonst ich lasse das volant los und nehme Deine Kopf. – Oui. Didier. Ich sage es noch einmal. Ich sage es tausende Male. Ich danke Dir. Daß wir wenigstens können darüber sprechen. Ich habe so sehr viel zu sagen zu Dir. Ich habe so viele Fragen.«
»Wir müssen nicht nur sprechen darüber. Wir können es tun.«
»Silence! Jetzt nicht alle auf einemal! Du machst mich verrückt! Darf ich fragen?«
»Ach, Naziza. Was soll denn das? Ich bin doch kein Inquisitor! Ach nee – der ist es ja, der fragt. Also, sei Du meine Inquisitorin. Nimm mich in die Mangel.«
»Ich will nicht das. Ich will Dich – fragen. Ich will Dich fragen – puh. Noch cinq kilometre. Willst Du es denn – wirklich mit mir über diese Thema sprechen? Du weißt, daß es überall in mir ist und ich nicht aufhöre. Es hat damals bereits alles in mir zugeschnürt, als Du gesagt hast – Non! Du weißt es, daß wir es getan haben?«
»Ich kann es mir denken. Nein. Ich bin mir im klaren darüber. Und ich bin auch sicher, zu wissen, was ich gesagt habe. Du hast Dich ja auch zwei, dreimal geäußert. Kurz. Also, sprich.«
»Ich habe damals sehr bald gesagt, daß ich wahnsinnig möchte eine Kind haben mit Dir.«
»Und ich habe vermutlich entgegnet, ich hätte schon genug.«
»Du weißt es? Du erinnerst?«
»Njein. Ja. Vielleicht doch. Du mußt mir helfen.«
»Ich habe zu Dir gesagt, daß ich mir nie eine Kind habe gewünscht. Nie habe ich mich dazu gefühlt. Ich war immer mir sicher, daß ich würde nicht sein eine gute Mutter. Manchmal habe ich gedacht – vielleicht kommt doch eine Mann, und ich will das doch. Doch es ist immer schnell verschwunden. Ich konnte gut leben damit. Und dann bist Du gekommen.«
»Da, Naziza. Da kommt die Tankstelle. Verpaß sie nicht. Hoffentlich kriegen wir da einen Café. Aber wenn, dann nur einen dieser schrecklichen aus dem Automaten.«
»Er bringt mich nicht um. Mich kann nichts mehr umbringen. Dieses Leben nicht mehr.«
Sie fährt runter. Ich bin froh. In diesem Zustand wäre es nicht gut gewesen, weiterzufahren. Meine Güte, was habe ich getan?! Ich habe sie ja völlig aufgeworfen. Aber jetzt ist es geschehen. Und damit ist es gut so. Du hast Dich bereitwillig weit aus dem Fenster gelehnt, Aubertin. Also schau auch hinaus in die Landschaft. Du vermutest doch ohnehin schöne Aussichten. Also durch!
»Oh! Naziza. Ich glaube, wir haben Glück. Es sieht so aus, als ob wenigstens ein Automat in Betrieb wäre. Fahr direkt nebendran. Nein. Ich tanke gleich.«
»Es ist noch Essence darinnen?«
»Ist doch wurscht. Da isser vielleicht freundlicher beim Caféherausrücken. Fahr an die Säule. Außerdem können wir dann durchfahren.«
Der Tankwart kommt auch sofort raus. Naziza steigt aus und fragt ihn sofort nach Café. »Oui-oui. En dedans.« Ich tanke. Es gehen nur knapp zehn Liter hinein. Ihm ist das gleichgültig. Es ist ja ein 2 CV. Ich stelle ihn direkt neben den Eingang und gehe hinein. Ich sehe sehr, sehr feuchte Augen. Aber es sind keine schlimmen Tränen. Doch sie schwimmen kerzengerade auf mich zu und holen mich ab. Einer dieser Becher mit dem Pappespresso für mich steht bereits auf dem runden Stehtisch.
»Madame, Monsieur! Aimeriez-vous une tasse de café dans de espresso?«
»Oh! Oui! Merci Monsieur. Du auch, Naziza? Er ist besser als dieses Zeugs.«
»Oui. – Noch lieber ich will Dich, cheri. Ich trinke Dich aus.«
Sie umschlingt mich. Sie wird mich nicht mehr loslassen. Dieser Klammergriff ist eindeutig. Da komme ich nie wieder raus. Ich will aber auch gar nicht da raus. Ich bin völlig eingewickelt in einen federleichten Calmar. Überall sind seine Tentakeln zu spüren. Da bleibe ich drinnen.
Der Tankwart bringt zwei Espressi – in richtigen netten kleinen Täßchen. Hier Segafredo, mal nicht Lavazza. Dennoch: Die italienische Café-Globalisierung schlägt unbarmherzig zu. Auf französischen Autobahntankstellen ohnehin schon seit langem – und dort besonders.
»Eau minerale? Monsieur.«
»Oui. Deux. Je faire – Monsieur, avec votre permission, avoir besoin un peu électricité pour ma portable. C‘est possible?«
»Oui-oui, Monsieur, c‘est très faisable!«
»Naziza – ich springe schnell raus und hole das Ladegerät fürs Telephon. Ein paar Minuten Saft tanken. Wer weiß, was los ist, wenn‘s in den Morgen geht.«
»Oui, Didier. Die Welt ist schön. Und alle sind sehr freundlich zu uns. Es gibt électricité. Sogar ein machine für eine gute café. Und Du sprichst französisch. Komme schnell zurück. Je t’aime.«
Als ich zurück bin, stehen auch zwei Fläschchen Badoit auf dem Tisch. Keine Dosen. Wie angenehm. Der Tankwart scheint froh zu sein, daß er mal Besuch hat um diese Uhrzeit. Er hat uns geradezu den Tisch gedeckt. Sogar Aschenbecher hat er hingestellt. Obwohl überall Hinweisschilder zu sehen sind, die Rauchverbot signalisieren. Doch das hat damals, so um 1995, die Franzosen bereits vier Wochen nach der Einführung in der Gastronomie nicht mehr interessiert. Ich frage nach dem Stromanschluß. Er kommt hinter seiner Theke hervor und zieht kurzerhand den Stecker für die Segafredo-Beleuchtung heraus. Für kurze Zeit ist Italien ohne Strom. Wenigstens in Frankreich.
»Und nun? Was machen wir jetzt? Verbringen wir jetzt die Nacht in einer Tankstelle auf der Autoroute du soleil? Statt in der soleil?«
»Du bist eine Dummkopf! – Non. Didier. Ich mußte eine Pause haben. Nicht wegen des Fahrens. Wegen Deiner Worte. Es waren zu schwerwiegende Worte. Sie haben sich schwer auf mich gelegt.«
»So arg?«
»Das nicht. Non. Es war sehr viel auf einmal. Ich habe nie gedacht, daß es noch einmal sein würde ein Thema für uns. Ich war schon sehr glücklich, Dich wieder zu haben bei mir. Doch darüber wenigstens sprechen zu dürfen, was mich immer hat sehr beschwert, das ist sehr – vielleicht un peu beaucoup.«
»Ich will Dich gerne erleichtern. Wenn ich es kann.«
»Meinst Du, Du wirst können?«
»Aber ja doch! Sonst würde ich es nicht sagen. Ich insistiere ja geradezu.«
»Du hast keine Angst mehr?«
»Wovor denn – Himmel?! Jetzt machst Du's mir aber welche. Willst Du mich denn ängstigen?
»Oh! Non!«
»Also. Wovor soll ich Angst haben?«
»Es auch zu tun?«
»Ach, Naziza. Ich würde es doch sonst nicht sagen!«
»Ich meine – ich wage nicht, es auszusprechen.«
»Dann tu ich's. Du meinst – ein Kind haben.«
»Mon Dieu! Oui.«
»Für mich?«
»Nein. Nein. Ganz entschieden nein!«
»Nein?«
»Ich meine nein – für Dich. Das will ich nicht. Das wäre das Gegenteil dessen, was ich will. Bei aller Liebe. Kinder sind nichts für einen. Kinder sind für zwei. Von mir aus für mehrere. Aber auf keinen Fall für einen. Daß ist ja das große Mißverständnis dieser pervertierten Gesellschaft, die sich dann auch noch bei Kindern aus dem Besitzdenken heraus definiert. Kinder sind keine Spielzeuge, die man anschafft und abstellt, wenn sie einen langweilen oder gar lästig sind. Und sie sind ebensowenig Kompensation für Frustration. Kinder sind nichts für Einzelpersonen. Sie werden so egozentrisch wie ihre Besitzer. Sie werden gemeinschaftsuntauglich. Sie werden wie ich. Das kann meine heile Welt nicht gebrauchen.«
»Mon Dieu – was habe ich gesagt?! Ich meine es nicht anders. Ich habe gefragt, ob Du es für mich tust?«
»Nein, Naziza. Wenn, dann ist es unsere gemeinsame Sache. Alles andere kommt nicht infrage. Da ist schon genug Scheiße passiert. So etwas darf mit meinem Dazutun nie wieder geschehen. Das war ja mit der Grund, weshalb ich nicht mehr wollte.«
»Und es ist anders geworden?«
»Es hat mit Dir zu tun. Meine Sehnsucht hat Wurzeln geschlagen. Und in mir schlagen Flammen hoch – Lustflammen. Lust, es doch nochmal zu versuchen. Mit einem neuen Leben. Das Du verursacht hast.«
»Ein neues Leben in ein neues Leben?«
»Ja. So ließe sich das bezeichnen.«
Wieder wickelt sich diese Federkrake um mich herum. Und sie pumpt Unmengen Lebenssäfte in mich hinein. Durch alle erdenklichen Poren. Es hebt mich. Ich werde selbst zu Feder. Doch der Denkmechanismus setzt bereits wieder ein. Bitte Naziza, sag jetzt schnell etwas! Irgendwas. Das Denken darf nicht zu Wort kommen. Ihre leicht geöffneten Lippen nähern sich meinem Ohr. Doch dann löst sie sich mit einem Mal, rückt von mir ab und steht sehr nachdenklich da. Ich sehe auf einmal Tränen. Es sind keine Freudentränen. Sie werden zunehmend stärker. Dann fließen sie.
»Liebes – was ist los? Ich fürchte ja, daß das alles ein bißchen heftig ist. Sag mir – sprich mit mir.«
»Didier – ich muß ein Geständnis machen.«
»Schon wieder? Oder wäre es nicht so langsam an der Zeit, daß ich Geständnisse abgäbe?!«
Die Tränen fließen jetzt ungebremst. »Didier. Ich weiß, nun, daß Du vieles nicht weißt. Und deshalb ich muß eigentlich warten, bis es zurückgekehrt ist in Deine Erinnerung. Mais – es gibt etwas, das nun nicht kann warten. Es ist etwas, daß Du nicht wissen kannst. Das ich Dir sagen muß– à cet instant.«
»Ist es schlimm? Schlimmer als anderes?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ja. Doch es muß nun sein, darüber zu sprechen. Es kann nicht warten. Es ist keine gute Ort hier. Ich wollte warten bis zuhause. Mon Dieu! Es geht nicht anders.«
Nun schluchzt sie nur noch. Ich nehme sie in den Arm. Der Tankwart kommt auf uns zu, schiebt zunächst wortlos, aber freundlich und verständnisvoll lächelnd den Tisch ein Stück in Richtung Ecke und sagt dann ruhig: »Pour silence – pour vous.«
Behutsam halte ich sie fest. Vermutlich müßte ich gehalten werden. Schlimmste Befürchtungen beginnen in mir zu kreisen. Also – Flucht nach vorn.
»Komm, Naziza. Sprich.«
Sie versucht, das Wasser etwas einzudämmen und holt tief Luft. »Didier, wir haben eine ...«
»Oh nein!«
»Tout doux! Wir sollten eine Kind bekommen.«
»Ich versteh nich' ...«
»Bitte lasse mich aussprechen.«
»Pardon.«
»Ich hatte ein Kind in mir getragen von Dir.«
Mir wird bedrohlich ungut im Kopf. Rasch suche ich Halt am Hocker. Ich setze mich auf ihn.
»Ich habe es nicht mehr.«
»Du hast ...«
»Tu es fou! Non! Nie ich würde das gemacht haben! Es war meine Hoffnung, meine Liebe. Es war Du! Es ist gegangen.«
Ich ahne Grauen. Ich ahne, Schreckliches angerichtet zu haben. Mir ist schlecht. Doch ich fühle auch, daß ich jetzt Kraft nach oben drücken muß. Zumindest die Kraft, das durchzustehen. Ich kämpfe sie mir hoch. Vielleicht kann ich ja endlich einmal wieder was gutmachen.
»Gestorben?«
»Oui. In mir.«
»Ach du meine Güte. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wann?«
»Fin novembre. Ich glaube, es wollte nicht sein ohne sein père.«
Nun weint sie nur noch leise in sich hinein. Ich bin einmal mehr hilflos. Ich weiß weder, was ich sagen, noch was ich tun soll. Aber ich muß etwas tun! Das einzige, was mir einfällt, ist sie fest zu umfassen. Eine Weile schweigen wir so. Ich würde gerne auch weinen. Doch alles in mir ist erstarrt. Mir wird klar, was ich verbrochen habe. Nach ein bis zwei Minuten halte ich es jedoch nicht mehr aus.
»Es war nach meinem Verschwinden? Klar. Entschuldige. Ich bin ein Idiot, sowas überhaupt zu fragen. Es tut mir leid.«
»À peu près trois mois après – es ist etwa drei Monate geworden. Dann ist es eingeschlafen in mir. Erst warst Du gegangen, dann unsere Kind.«
»Das heißt – Klartext –, ich bin des Kindes wegen abgehauen.«
»Ich glaube nicht alleine das. Ich glaube, es ist Dir etwas gewachsen über Deinen Kopf. Es war zuviel – Maman.«
»Sie hat sich eingemischt?«
»Oui.«
»Sie war immer da?«
»Oui. Omniprésent. Sie hat uns nicht gelassen in Ruhe. Sie war wie ein couveuse, une mère poule.«
»Wie ‘ne Glucke, meinst Du?«
»Oui. Nun weiß ich es. Ich weiß es nun, daß es sehr schlimm war. Und Maman weiß es auch. Maintenent!«
»Nun gut. Doch das dürfte eigentlich kein Grund sein, davonzulaufen.«
»Es ist richtig, was Du sagst. Doch ist ist heute so, daß ich es besser verstehe. Ich habe Dir gesagt davon, daß wir haben viel gesprochen darüber. Und gestritten. Didier. Ich sehe es. Ich habe fast Sicherheit, daß es dieses war mit Deine Flucht. Ich erinnere mich nun daran, wie Du oft hast die Augen gedreht, als wir zurück waren von unserer Reise. Erst Pérpignan bei Maman et Papa. Dann zurück. Wieder waren sie da. Und immer Bruder und Schwester und Onkel und Tante, wie Du sagst. Dann das Kind. Als wir es wußten, es ihnen gesagt haben – es war, als ob Maman es würde bekommen. Es war schrecklich. Ich sehe das ein heute. Es ist viel für einen Mensch, der es nicht kennt. Didier – ich will Dich nicht wieder verlieren. Deshalb werde ich es abbinden. Und vielleicht werden wir eine compromis finden. Wir müssen eine Lösung finden. Ich will mit Dir sein. Das ist meine Welt. Ich habe auch sehr lange darauf müssen warten. Es ist mir mehr – doch ich werde es meine Eltern. Mon Dieu! Sie sind sowieso à Pérpignan. Und Raymond hat ein paar Male gesagt – ich verstehe Didier. Ihr geht mir auch auf die Nerven.«
»Das hat er gesagt! Er wird mir noch sympathischer.«
»Oui. Er hat das sehr ernst gesagt. Wir haben oft zusammengesessen und haben versucht zu lösen dieses Rätsel Deines Weggehens. Wir haben alles mögliche in Erwägung gezogen. Raymond war es, der es angesprochen hat. Maman war schrecklich böse. Raymond hat ihr sehr heftig widersprochen. Sie haben gestritten. Raymond hat gesagt – wir leben nicht in eine Dorf im Hindukush. Wir leben in eine von die größte Städte von France. Bon, in die sud, dans Marseille, eine andere Welt als France. Aber nicht in eine Trou perdu in die Hindukush oder Atlas-Berge oder in ein Herde schwarze Affen in die Sénégal. Und Ihr wollt sperren diesen Weltumsegler, nicht nur seine Geist, in einen Negerkral von Naturvölker. Papa hat ein wenig genickt. Wie immer. Doch Maman hat geschrien, wie ich sie noch nie gehört habe. Ich komme nicht aus Afghanistan. Ich bin aus Armenien! Dort es gibt den Kaukasus, Du illettré ...
»Was'n das?«
»Er kann nicht lesen und schreiben – eine Analphabète. Raymond hat zurückgegeben – auch eine Volk von hüpfende Ziegen in Bergen. Maman hat geweint – vor Wut. Er hat seine Frau verlassen! Eine Frau mit eine Kind in ihre Bauch. Er hat verlassen Frau und Kind! Raymond hat widergeschrieen, daß ihm dafür gehört zur Strafe, von ihr totgeliebt zu werden. Aber von ihr, nicht von eine Affen- und Ziegenherde von eine Famille. Jetzt, danach, ist es sehr fast komisch. Aber damals war es schlimm. Doch sie haben sich – c'est clair – wieder versöhnt. Wir versöhnen einander immer. Vielleicht streiten wir deshalb so oft, weil es so schön ist, diese Grand Pardon. Doch es hat ein Nachdenken gegeben seit diese Zeit. Doch ich vergesse es manchesmal. Jetzt nicht mehr. Ich verspreche es Dir. Ich gelobe es bei meine Gott, der in mir ist.«
»Was mich allerdings schon sehr interessiert – ich weiß es eben nicht, weshalb ich Dich fragen muß. Du bist mir nicht böse? Ich bin mir im klaren, daß es wehtut.«
»Non. Ich weiß es, daß wir sprechen müssen darüber. Ich wollte warten. Mais ...«
»Ja. Warum denn nicht hier und jetzt?!«
»Es tut mir gut, daß Du es sagst. Ich danke Dir.«
»Ach, hör auf, Naziza! Hör auf, Dich für so etwas zu bedanken! Ich muß mich bei Dir bedanken! Ich bin derjenige, der etwas zerstört und wieder gutzumachen hat!«
»Du tust es ja bereits. Und Du tust es sehr lieb mit mir.«
»Also – ich muß es fragen! Ich habe zu diesem Kind ja gesagt?! Ich, der ich keine mehr wollte?!«
»Ah! Didier. Glaubst Du, ich würde bekommen ein Kind ohne Dich?! Ohne es mit Dir zu wollen?!«
»Klar. Schon wieder Trottel. Nun denn ...«
»Wir haben oft und lange darüber gesprochen. Vielleicht ein Woche hintereinander. Und an einem Abend hast Du mich in Deine Arme genommen und hast es zu mir gesagt.«
»Was habe ich gesagt?«
»Du hast gesagt – jetzt oder nie. Und Du hast gesagt, Du mußt etwas wiedergutmachen an die Geschichte. Und Du hast gesagt – wenn es gibt eine richtige Zeitpunkt, dann ist diese gekommen.«
»Und dann hat die Geschichte sich wiederholt. Gottverfluchte Scheiße!«
»Oui. Ich habe ein paarmal daran gedacht. Es war nicht schön, daran denken zu müssen.«
»An die Wiederholung der Geschichte? Also in diesem Fall meiner?«
»Es ist richtig. Du hattest mir erzählt, daß Du einmal weggelaufen bist wegen eine Kind.«
»Meine Güte! Diese Flucht. Vermutlich vor der Verantwortung. Ein halbgarer Jüngling flieht vor der Vaterschaft. Und das wiederholt sich. Allerdings ist der Jüngling dann kein Jüngling mehr. Ich fasse es nicht. – Wann hatte ich das gesagt? Daß ich doch will. Vor oder nach unserer Hochzeit?«
»Es war zuvor. Es hat uns gestärkt darin.«
»Zu heiraten?«
»Oui. Wir hatten es beschlossen bereits zuvor. Doch nachdem Du mich hast glücklich gemacht ...«
»Glücklich gemacht?«
»Denke nun nicht daran. Es ist nicht gut. Es war so. Es ist nun geschehen. Es liegt etwas vor uns.«
»Wann bist Du schwanger geworden?«
»Zu unsere fête du mariage ich war es. Du hattest bereits getroffen.«
»Das ging aber schnell.«
»Nachdem Du gesagt hast ja, es ist geschehen.«
»Was so ein Ja-Wort alles bewerkstelligt. Doch der Klapperstorch hat's wohl gebracht.«
»Wir haben ihm dazu Tag und Nacht das Mandat erteilt, das bébé zu finden. Bei uns findet er es ja. Zufällig. Wir hatten sehr viel Bewegung in unserem Traum.«
»Den ich zerstört habe.«
»Didier! Du bist daran, ihn wieder zu beleben. Mein Wunde beginnt sich bereits zu schließen. Du hast mir vor ein paar Minuten Salbe aufgelegt. Ich rede dumm. Lange zuvor bereits. Mais – nun doch noch etwas mehr.«
»Demnach würde es jetzt drei Jahre alt. Ist das richtig?«
»Es war im avril.«
»Oh je. Dann muß ich mich aber beeilen mit der Wiedergutmachung.«
»Zu diese Zeit, wenn unsere Tochter ...«
»Tochter?!«
»Du kannst nichts anderes. Non. Ich weiß es nicht. Es war zu früh. Und auch wir haben beschlossen damals, nicht vorher danach zu schauen. Wir haben gesagt, daß wir nehmen alles. Fils ou fille. Es gab nie ein Diskussion. Wir waren sogar sehr unvernünftig und haben auch keine ultrason ...«
»Was ist das? Ultraschall?«
»Oui. Wir haben verzichtet darauf. Mirjam hat gefragt, ob wir wollten in das Mittelalter. Wir haben gesagt – non, quelques années en arrière dans le romantique.«
»Das machen wir aber nicht mehr.«
»Zurückgehen in die Romantique?«
»Diesen Roman leben wir ja bereits. Nein, ich meine ohne Ultraschall. Das wäre jetzt zu gefährlich.
»Du machst ein neue Tochter? Es wird eine. Mit Ultrason oder nicht. Es darf auch zuvor sein. Eh bien – ich bin geöffnet. Du weißt es.«
»Es wäre sehr schön, wenn wir's hinbekämen. – Doch, ich muß noch etwas fragen. Darf ich? Auch wenn's wehtut?«
»Cheri. Es ist besser, wir sprechen es nun alles. Wir sind gut in Ruhe hier. Es tut vielleicht dann nicht mehr so sehr weh. Allons – frage.«
»Ich tu's nicht gerne ...«
»Doch! Tue es. Es sollte hinter uns – ich weiß, was Du fragen möchtest ...«
»Du weißt ...«
»Oui. Was ist geschehen, möchtest Du wissen.«
»Ja. Du bist ein Phänomen.«
»Non. Ich bin keine Phénomen. Ich liebe meine Mann. Deshalb ich kenne ihn. – Bon allors. Es gab eine – problème mit, es heißt wie ductus arteriosus.«
»Um Gottes willen. Was ist denn das? Arterie. Klar. Aber der Rest?«
»Störung des Atems, der Versorgung des – apnée. Seine cœur ist gestorben. Und meine auch.«
Herzversagen. Nun kann auch ich die Tränen nicht mehr halten. Und doch ist es zugleich befreiend – ich trauere tatsächlich. Und ich bin zugleich wütend. Über mich. Da hab ich in meinem Leben doch nun wahrhaftig genügend Schaden angerichtet. Dann hätte das zum Ende hin nicht auch noch sein müssen. Nur, weil mein Egozentrum mal wieder Gefahr signalisierte, von fremden Mächten bestürmt zu werden, habe ich andere zertrümmert. Ich bemühe mich um Haltung. Da muß ich jetzt durch.
»Ich habe Dein Herz zerstört – und damit das unseres Kindes. Es hat keine Luft mehr gekriegt.«
Naziza nickt nur ganz leicht.
»Ich habe unser Kind umgebracht.«
»Non! Didier!!! Non!« Sie reißt mich zu sich herum und fixiert meine Augen. »Sei nicht eine solche idiot. Sage so etwas nicht! Es ist gestorben. Es hatte eine schwache Herz. Vielleicht ich hatte nicht genug Kraft. Jamais – Du hast es nicht umgebracht! So etwas kannst Du nicht! Nie hat irgendjemand so etwas gesagt. Ich hätte diese personne umgebracht, die es sagt!«
»Naziza – ob ich das je wieder gutmachen kann?«
»Du bist daran – longtemps. Du hattest auch Leid.«
»Quatsch. Womit denn?«
»Mit Deine Kopf.«
»Ach was. Das war doch nix. Ich hab Dir doch gesagt – nie hat mir irgendwas wehgetan.«
»Ist es nichts, seine Gedächtnis zu verlieren? Ist es nichts, daß Du Dir gewünscht hast den Tod. Ist es nichts, nicht zu wissen, wo sind diese Menschen, die Dich lieben? Dein Herz war auch tot! Didier. Es ist auch sehr schlimm. Wenn ich hätte auch nur gehabt eine Ahnung! Mon Dieu! J‘ai comme le pressentiment que – ich habe es nie gefragt. Wann war Deine ...«
»Daß ich im Krankenhaus war?«
»Oui. Wann ist es geschehen?«
»Ende November.«
»1998?«
»Mon Dieu! J'ai une peur bleue! Didier. Du weißt es, daß ich nicht bin – was ist es noch einmal – superstition?«
»Aberglaube.«
»Oui. – Ich bitte Dich mir herauszuhelfen von diese Wahnsinn. Unsere Kind ist gestorben fin novembre 1998. Halte mich fest! Ich werde verrückt.«
Nun klammern wir uns aneinander. Doch diese Wahnsinnsidee, die sie da entwickelt – die will ich nicht mitgehen.
»Didier. Welcher Tag war es?«
»Liebes! Laß es sein. Das führt doch zu nichts. Wir machen es uns damit nicht leichter. Und ungeschehen machen wir erst recht nichts damit.«
»Non, Didier. Wir sind so weit vorgegangen nun. Es kommt nicht mehr darauf an. Soll ich Dir sagen, wann unsere Kind ist in mir gestorben?«
»Nein. Ich habe Angst.«
»Siehst Du. Dann sage nicht eine solche Unsinn. Du irrst nicht, wenn Du sagst, es wird nicht leichter. Auch nicht, wenn Du sagst – ungeschehen. Doch wir müssen es bearbeiten, non, verarbeiten.«
»Ich weiß allerdings nicht mehr, ob das hier jetzt der rechte Ort ist.«
»Oh! Didier. Doch. Ich glaube das. Ich glaube es, weil wir inmitten dieses Leid von uns sind. Wir haben es angerührt. Nun sollten wir es nennen. Maintenent! Dann wird es uns vielleicht besser gehen. Nicht für immer. Mais – pour le moment. Für ein paar Stunden. Für eine Zeit eben. Wir werden vielleicht wieder sprechen darüber. Doch leichter dann. Et maintenent – es ist auch wichtig für mich. Wenn Du es mir gestattest. Es ist unser Leid. Compris!«
»Scheiße.«
»Oui. Große! Mon cheri. Mon amour! Zusammenhang oder nicht – pareil. Unsere Tochter und Deine Kopf sind kaputtgegangen zur gleichen Zeit ...«
»Naziza! Das ist Kitsch!«
»Non. Es ist eine Roman. Unser Roman. Den wir leben. Und darin gibt es auch viele Scheiße, diese nach Kundera. Also keine Kitsch. – Écoute! Naturel – es gibt keine unmittelbare Verbindung. Doch sage mir, warum platzt – wie Du es nennst – Dein Kopf? Ich sage es nun auf ihn zu, wann es geschehen ist! Ich weiß es nicht. Und ich weiß es doch! Es ist ...«
»Nein!!!«
»Non. Didier. Wir machen es auf andere Weise. Ich will Dich erst fragen, warum Du glaubst, daß Deine Gehirn sich hat abgeschaltet.«
»Ich hab's doch gesagt – Funktionsfehler. Konstruktionsfehler.«
»Sot! Wenn es so ist – nach vierundfünfzig Jahre geschieht es?!«
»Manchmal gehen Maschinen eben kaputt.«
»Du sollst diese Sarcasme lassen! Es ist nun wirklich zu ernst hier in diese moment! – Du hast mir auch gesagt, daß es auch war eine psychische Fehler.«
»Sagen die Ärzte.«
»Idiot! Du sagst es selbst! Du hast es mir erzählt. Du hast erzählt, wie schlecht es Dir ging. Diagnose Amnésie! Du hast es erzählt. Oh! Merde. Isabelle hat es auch zu mir gesagt. Deine Seele war sehr krank. Es kommt nicht von – wie heißt es? – ungefähr. Es ist ausgebrochen, weil etwas war zerbrochen in Dir! Aus einem Traum ist geworden ein Trauma – traumatisme. Du hast selbst abgeschaltet Deinen Kopf! Das sage ich!«
»Das glaubst Du?«
»Didier – ich kenne diese Seele! In diese kurze Zeit mit ihr habe ich sie gelernt kennen. Du hattest Dich ganz geöffnet. Du selbst hast oft zu mir gesagt, daß Du nicht weißt, was ist mit Dir, daß es so ist, daß Du alles gibst von Dir. Du hast mir alles gesagt. Ich glaube. Viele Nächte haben wir gesprochen. Wir haben uns geliebt und gesprochen. Immer. Es war – endlich – mein Leben auch. Es war Erfüllung. Und es war auch Deine! Und nach meine erste Wut und meine Schmerz dann habe ich Dich – das glaube ich – verstanden. Warum, glaubst Du, habe ich mich gemacht auf die Suche nach meinem Mann?!«
»Ich bin Dir sehr dankbar, Naziza. Sehr.«
»Ich weiß es. Und es wird gut sein, wenn wir es reparieren – corriger la fortune. Ein wenig. Das wird gehen. Es gibt vielleicht eine schöne Zukunft. Wir werden sie nun – enfin! – gemeinsam gehen. Doch es gibt etwas zu klären. Zu erklären? Bien – Du bist weggelaufen. Du bist nicht alleine in die Flucht gegangen wegen meine Maman. Du bist auch geflüchtet Deiner selbst. Ist es richtig?«
»Da kannst Du durchaus recht haben.«
»Es ist Dir zuviel geworden. Diese grande Famille. Das Kind. Et cetera. Du hast Angst bekommen?«
»Das ist anzunehmen.«
»Und nachdem Du warst weggelaufen, hast Du wieder Angst bekommen. Nur von die andere Seite. Angst davor, es könnte sein irréparable? Dein Paradis könnte geschlossen sein von diesem Zeitpunkt an?«
»Ja. Es ist durchaus möglich.«
»Dann sage ich Dir – deshalb ist Deine Kopf geplatzt! Nachdem Deine Tochter ist gestorben. Ein paar Tage zuvor.«
»Naziza – woher willst Du das denn wissen?! Herrgottnochmal!«
»Weil ich Deine Herz und Deine Seele kenne. Herrgottnochmal! Ich sage Dir jetzt, wann es ist geschehen mit Dir.«
»Ich habe Angst, Naziza.«
»Didier! Wir müssen schließen Wunden! Es geht nur so! Das ist vielleicht thérapie! Daß Du endlich zu Dir kommst. Weg von Deine wahnsinnige Versuche, alles zu schieben auf zufällige Zusammentreffen von Funktionsstörungen. Du bist kein machine, die geht nach vierundfünfzig Jahre – justement, nur einmal so – kaputt. Gut, ich bleibe in Deine Bild. Du bist gegangen kaputt, weil Du erst warst angekommen in die richtige atelier de réparation. Und dann hast Du Dir dieses selbst verschlossen durch Deine Flucht. Dein Kopf explodiert ein paar Wochen danach, ein paar Tage ...«
»Durchaus möglich.«
»Didier! Daß wir beide so lange Zeit immer eine bestimmte Mensch gesucht und ihn dann gefunden haben – das ist keine Zufall. Du hast noch längere Zeit gesucht. Weil Du etwas mehr hast an Jahren als ich. Denke an Rohmer! Denke an diese Frau. Und ihre Seefahrer. Bien. Es waren dort nur, vielleicht, fünf Jahre. Bei uns waren es, vielleicht, zwanzig Jahre. C'est pareil. Wir kannten uns auch. Auch wenn wir uns nicht kannten zuvor. Encore une fois pareil. Wir sind eine Seele. Und unsere Kind ist – merde, es war auch unsere Seele. Und diese Seele ist hingeflogen zu Dir, zu seine Papa ...«
»Du machst mich wahnsinnig!«
»Nonnonnon, mon cheri! Du irrst. Es war unsere Tochter! Sie war zu Dir geflogen mit ihre Seele. Damals und heute. Sie ist in Deinen Kopf geflogen. Sie wollte nicht ihn zerstören. Du warst es selbst. Dein Kopf und Deine Herz – mourir de chagrin! Die Seele von unsere Tochter ist dann zu mir geflogen und hat zu mir gesagt, Maman, Papa braucht Deine Hilfe – und ich sage es jetzt! Es war novembre 27 ou 28. Ist es richtig?!«
Ich muß mich auf den Boden setzen. Naziza reißt ihre Bluse aus der Hose, kippt Wasser darauf und wischt damit über meine blutleere und schweißnasse Stirn. Ich sehe den Tankwart neben mir stehen. Höre ihn fragen. Höre Naziza etwas von Wasser sagen. Immer wieder kühlt sie mir Stirn und Hals. Mittlerweile hat ihr wohl der Tankwart einen anderen Lappen gebracht. Langsam geht es mir besser. Kein Anfall. Kurze Zeit dachte ich, es käme wieder einer. Ich erhole mich sehr rasch. Naziza hält mir ein Glas mit Wasser hin. Ich trinke. Ich kann wieder richtig atmen.
»Komm, Liebes, hilf mir auf.«
»Wirklich? Nicht noch eine moment?«
»Nein. Hilf mir. Es ist besser, wenn ich stehe.«
»Es ist nichts mit Deine Kopf?«
»Nein. Ich glaube, das war jetzt der Kreislauf.«
Sie beugt sich zu mir herunter und stützt mich dann. Sie weist den Tankwart freundlich ab. »Es ist unsere Kreislauf, mon amour.«
Ich sitze wieder auf dem Hocker. Ich nicke dem Tankwart zu und mache eine Handbewegung des Danks.
»Das ist schon der schiere Wahnsinn, den Du da abläßt.«
»Non, Didier. Das ist nicht Wahnsinn! Das ist diese andere Wirklichkeit. Es ist diese, die auch in Dir ist. Die andere Seite. – Kann ich weitersprechen?«
»Du bist hart. Aber wer weiß, wozu es gut ist. Also.«
»Ich habe von diese Tag an im novembre 1998 an alle meine Wut auf Dich vergessen. Es war nur Traurigkeit und Sehnsucht. Von diese Zeitpunkt an war deutlich, daß ich Dich würde suchen. Nicht nur aus diese Gründe, die ich genannt habe in Deine Wohnung – Wut. Ich habe es nur vorgegeben. Auch deshalb, weil ich war etwas unsicher. Ich habe Fehler gemacht. Mais – ich bin keine détective. Ich war auch dumm. Daß ich nicht bin einfach gefahren nach München. Immer ich habe gedacht, Du bist irgendwo in die Welt verschwunden. Ich habe mich täuschen lassen davon, daß Du nie gegangen bist an Deine téléphone. Merde téléphone. Ich hätte mich müssen setzen vor Deine Tür. Da immer nur diese machine, der répondeur angeschlossen war – guten Tag, hier ist die Anrufbeantwortungsmaschine, et cetera. Ich habe vermutet, daß es ist etwas, das Du abrufst nur aus der Ferne. Wie eine sociéte aux lettres. Nie habe ich daran gedacht, es könnte sein, daß Du bist dort in diese Wohnung. Quelle merde! Auch Dein courrir électronique – weshalb hast Du es geändert?!
»Banal. Ich hatte Ärger mit der Firma. Sie hatten technische – Kapazitätsprobleme. Da habe ich gewechselt. Wie beim Telephon.«
»Merde. Ich bin wirklich eine idiot. Mais, vielleicht ich habe auch gehabt Angst. Probable ...«
»Wovor denn Angst?«
»Vor eine Wirklichkeit, die ich nicht wollte.«
»Die da wäre?«
»Daß Du bist meinetwegen gegangen. Es könnte durchaus gegeben haben einige Gründe.«
»Welche sollten das denn sein?!«
»Vielleicht meine expériences.«
»Was denn für Experimente, um Himmels willen?«
»Die ich habe gemacht mit Dir – mon Dieu! Manchmal ich wollte ein wenig eine bessere Mensch machen aus Dir. Oft ich habe versucht, diese enfant antiautoritaire Didier in eine Gemeinschaft zu fügen. In ein Famille. In unsere Famille.«
»Jetzt muß ich aber – bei aller Traurigkeit des Ganzen – dann doch lachen. Glücklicherweise erinnere ich mich nicht daran. Du hast versucht, das zu tun, was in – zu diesem Zeitpunkt – vierundfünfzig Jahren niemandem gelungen ist?! Mich zu erziehen?!«
»Oui, Monsieur. N'avoir pas toute sa tête – man nennt es.«
»Nicht ganz richtig im Kopf?«
»Oui.«
»Wenn dem so war, Liebes, dann ist das wahrlich ein gefährliches Unterfangen. Das ist etwas, das allerheftigste Abwehrreaktionen in mir auslöst. So etwas kann tatsächlich dramatisch enden. Ich hoffe sehr, daß Du alle Anwandlungen dieser Art für alle Zeiten abwehrst. Du kannst mich auf alles ansprechen. Und ich bin mittlerweile mit Sicherheit auch gesprächsbereiter, als ich das je zuvor in meinem Leben gewesen bin. Aber Erziehungsversuche – die läßt Du besser sein. Allein der Gedanke daran kann in mir Fluchttier Bewegung – in welche Richtung auch immer – bewirken. Meinst Du denn tatsächlich, daß es so gewesen sein könnte?«
»Ein wenig durchaus. Doch nicht so terrible, wie Du es bemalst ...«
»Ausmalst.«
»Que? Ah! Oui. Etwas ausmalen, nicht bemalen. Non. Es war nicht so schlimm. Doch es hat sicher ein paar Versuche gegeben, Dir unser Leben schmackhaft zu machen.«
»Du meinst, das eines Herdentiers?«
»Oui. Ich habe es manchmal gedacht – es muß möglich sein, es Dir zu zeigen, wie schön warm es ist in eine solche Nest mit vielen zusammen.«
»Aber Du sagst doch selbst, daß Raymond und Deine Mutter und ...«
»Oui, Didier. Doch diese Streit war, als Du lange wegwarst! Es war nicht nur mein Maman. Ich bin Blut von ihr. Ich bin auch ein wenig Bergvolk und Herdentier. Es war auch ich, die aus einem Einzelwesen ein Tier der Herde formen wollte. Es besteht sicher keine Zweifel. Ich war sehr dumm. Ich habe nicht nachgedacht. Es war mir nicht bekannt, daß es dieses gibt.«
»Daß es was gibt?«
»Eine Mensch, der ist solch eine Réduction auf sich.«
»Ich habe es nie gehabt. Immer war ich Einzelkind. Du weißt es doch. Und immer dann, wenn ich mal die Möglichkeit gehabt hätte, über längere Zeit mit anderen zusammenzusein, hat irgendein Umstand das wieder verhindert. Sei's eine erneute Abreise, sei's drum, daß andere weggezogen sind. Folglich konnte ich es auch nie lernen. Deshalb war ich ja froh, später ins Internat gehen zu dürfen. Meine Mutter hat nie geahnt, was sie mir damit für einen Gefallen getan hat. Sie wollte mich bestrafen. Doch auch das hat nie funktioniert. Weil ich auch das nicht gelernt habe. Ein Internat, noch dazu eines, in dem eine enorme Fluktuation herrscht, ist keine Schule für Gemeinsinn familiaren Charakters. Gesucht habe ich es also immer. In irgendeiner Form. Und sei's in der Ehe.«
»Unsere?«
»Red keinen Unsinn. Ich bin in Gedanken weit über dreißig, vierzig Jahre zurück. Du weißt es auch. Daß wir beide geheiratet haben, kann ja nur aufgrund eines elementaren Gesinnungswandels erfolgt sein. Ich habe davor schließlich so manche Anfechtung abgewehrt. Und das, obwohl ich nie ganz frei war von der Illusion, eine solche jurististisch fixierte Verbindung könnte zwei Menschen miteinander verschweißen.«
»An unsere hat man diese Irrtum gesehen.«
»Ach, mach's mir doch nicht so schwer, Naziza. Ich meine hier jetzt auch meine frühere Suche, mein hilfloses Herumirren. Israel war nichts anderes. Das weiß ich heute. Da war's aber auch ein bißchen wohl der Instinkt, der mich zurückgehalten hat. Oder manchmal aufblitzende Erkenntnis. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man dreimal im Jahr ein paar Tage in der Großfamilie verbringt oder sein komplettes Leben. Es ist dasselbe wie mit dem Urlaub. Menschen kaufen sich irgendwo ein Haus, weil es ihnen im Urlaub immer so gut gefällt dort. Dann sind sie für immer angekommen – und wollen nur noch weg. Aber sie können nicht mehr weg, weil sie das Ding am Bein haben. Das ist ja der Grund, weshalb ich irgendwann beschlossen habe, doch keine Immobilie zu kaufen. Ich war ja kurz davor gewesen, vor etwa zehn, fünfzehn Jahren ein Haus in Pérpignan ...«
»À Perpignan? Du? Eine Haus?«
»Ja. Ich hatte ein Angebot. Für etwa hundertzwanzigtausend Mark. Genau weiß ich's nicht mehr. Aber ich hab's damals sein lassen, weil es mir zu schnell gehen sollte. Heute bin ich heilfroh. Denn ich hab's mir letztes Jahr auf der Fahrt zu Walter Benjamins Grab nochmal angeschaut. Grauenvoll. Dort hocken alle die, denen es im Urlaub so gut gefallen hat.«
»Wo in Pérpignan – pas en centre! À la plage, présumé?«
»Ja. Pérpignan-Plage. Völlig absurd. Wie in einem schlechten Film. Oder guten Film, weil er nämlich diese furchterregende Realität zeigt. Der Vater einer Bekannten, ein Pied-noir, hatte sich dafür ein Leben lang abgerackert. Jedes Wochenende ist er von Montpellier aus dorthin gefahren. Das muß man sich mal vorstellen. Als er's dann hätte genießen können, ist er abgekratzt. Wie so oft. Das Häuschen selbst war ja recht wohnlich. Sogar gemütlich. Liebevoll, weil über lange Zeit, Stück für Stück hergerichtet. Ich hätte es gut ausgehalten. Vermutlich. Aber die Lage! Nur Ferienhäuser. Mittlerweile. Nur fette Bäuche und knielange Badehosen. Als er anfing in den fünfziger, sechziger Jahren, war das ja eine ruhige Gegend. Aber das jetzt nur am Rande, und es ist außerdem hinfällig. Damals war's das Verlangen nach einem neuen Ort. Auch France spielte dabei eine Rolle. Das steckt ja offensichtlich in mir. Und einen solchen Ort habe ich ich mein Leben lang gesucht. Ich war nämlich nicht wirklich ein Nomade, wie ich eine Zeitlang geglaubt habe. Und dennoch hat es mich erst kürzlich wieder kurz durchzuckt, als ein Bekannter mir etwas Entzückendes, absolut touristenfrei, direkt neben einem Kirchlein aus dem zwölften Jahrhundert gezeigt hatte. Aber im Périgord. Denn irgendwann hatte sich eindeutig herauskristalliert, daß dieser Ort, diese Utopie, im Süden Frankreichs liegen würde. Richtig im Süden. Also am Meer. Wie auch immer – ganz frei war ich von diesem Verlangen nach einem Nest nie. Und das ist es ja bis heute – ewig dieses Hin- und Hergerissensein. Hier die Sehnsucht nach Ruhe, eben auch nach dieser familiaren Geborgenheit, und dort das Einzeltier, das anpassungsunfähig sein möchte – im engen Kreis. Manchmal war's schrecklich. Immer und immer wieder habe ich's versucht. Den Sieg davongetragen hat bislang immer der Solist. Ein Pfaffe würde es wohl den Teufel heißen. Meine problematische Beziehung zu Bindungen hat sicher damit zu tun. Ganz sicher.«
»Und ich habe geglaubt, ich könnte es Dich lehren.«
»Mit Crash-Kurs? Oder wie? Was bei euch über Generationen gewachsen ist, ach was, über Jahrhunderte, soll ich in drei Monaten lernen? Es wird schon so gewesen sein, daß ich um ein Haar erstickt wäre. Schöne Scheiße. Nun denn. Es ist geschehen. Wenn ich auch ein ungemein schlechtes Gewissen habe. Nicht wegen der Großfamilie. Wenn, dann Deinetwegen, unseretwegen. Jetzt noch mehr. Du weißt schon. Ich täte es gerne, aber es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Doch eines weiß ich genau – und das ist jetzt wirklich kein Vorwurf, daß wir uns da nicht mißverstehen! –, hätte es einen Laut von Dir gegeben vor meinem Krankenhausaufenthalt – ach, Quatsch, gerade auch danach –, es wäre mir wahrscheinlich vorgekommen wie ein Geschenk von oben. Gerade danach, als ich völlig die Orientierung verloren hatte.«
»Es war so?«
»Ja. Wie gesagt! Schlimmer noch. Ich habe nichts mehr gesehen. Ich habe nicht gewußt, wozu ich eigentlich in dieser Scheißwelt herumtapere. Am Anfang bin ich noch herumgerannt. In jede Ecke. Wie besinnungslos. Genau – ohne jede Orientierung. Mein Erinnerungsvermögen war ja weg. Es war so schlimm, daß ich eine Zeitlang überhaupt nicht wußte, daß es verschwunden war. Ich konnte nicht mehr denken. Ich bestand nur noch aus Gefühl. Nein. Nur noch aus Sehnsucht. Allerdings wußte ich auch dabei nicht, wonach ich mich sehnte. Auch Unsinn. Selbstverständlich wußte ich es.«
»Wonach hast Du Dich gesehnt? Nach Deine Familie?«
»Ja. Sicher. Ich wußte nur nicht, daß es sie gibt. Sie war im Irgendwo. Irgendwas war ja da. Ganz entfernt. Ein Rudiment im Nebel. Schlimm war auch, daß ich über einen Zeitraum von anderthalb Jahren nachts nicht mehr schlafen konnte, ohne den Fernseher laufen zu lassen. Überall. Auch im Hotel. Wie in der Kindheit, wenn ich feiertags nach dem Essen auf der Chaiselonge liegen und die Stimmen der Erwachsenen hören durfte. Angst vor der Einsamkeit. Schlimm. Alles in mir hat gejault. Ich glaube, ich habe mal einen Köter gesehen, der zwei Stunden lang völlig durchgedreht seine Schnauze in jedes erdenkliche Loch gesteckt hat, weil er irgendetwas gesucht hat. Ich glaube, dem haben sie was ins Futter getan. Vermutlich wußte er – wie ich – nichtmal, was er sucht. Wahrscheinlich wußte er auch nicht, daß es ihn gibt. Zum Schluß wollte ich nur noch ins Mauseloch. Was ich ja auch getan habe.«
»Was war es? Du hast aufgegeben?«
»Ja. Ich glaub schon. Nach etwa einem Jahr. Dann bin ich nicht mehr raus. Also über zwei Jahre jetzt. Es war aber auch jahreszeitenabhängig. Ab Frühling ging's. Im Winter war's so schlimm, daß ich sogar die Sonne nicht ertragen habe. Es war mir zu hell. Wie in dem Gedicht von Mallarmé, in dem der Dichter sich die Wolken und den Ruß herbeiwünscht, auf daß sie den Azur bedecken. Jetzt erst, letzten Winter. Grauenvoll ...«
»Doch das Blau des Frühlings siegt bei Mallarmé! Unsinn. Es ist nicht das Blau des Frühlings. Es ist das Blau der romantique, das Blau der Blume, des Denkens, des Fühlens. Dieses also ist es, das siegt – ›Azur! Azur! Azur! Azur!‹ «
»Ach ja. Wie recht Du hast. Nicht die Genialität. Aber im Bild war es so. Es scheint zumindest so. Also, damals – ich bin nur noch zur Arbeit, morgens um fünf, in stockfinstrer Nacht. Und auch oder gerade das war oft eine Qual. Eben das Hinausmüssen aus dem Loch, aus der schützenden Dunkelheit, aus der Abschottung. Isaac hat mich manchmal quasi rausgezerrt. Später.«
»Wohin?«
»Mal ins Restaurant. Auch mal in die Oper. Das waren die einzigen Veranstaltungen, die ich besucht habe. – Nein, das stimmt nicht. Wenn ich in France war, bin ich ins Theater, ins Konzert, In Avignon, in Lyon, in ...«
»Es ist verrückt, Didier! Auch in ...«
»Ja, sicher. Es tut mir leid. Ich weiß nicht – Heimatgefühle. Keine Ahnung, was das war. Tagelang habe ich herumgesessen in Marseille. Oder auf dem Meer. Weil ich mich hier eben auch wesentlich wohler gefühlt habe als anderswo. Ich könnte heulen alleine deswegen. Ich sitze am Quai des Belges neben dem, was ich suche, und sehe es nicht. Drei Türen weiter. Wahrscheinlich habe ich auch geheult. Mit Sicherheit. Einmal gewiß. Als ich Ferré gehört habe, als er ...«
»Marseille?«
»Weiß ich nicht. Es gibt ein Lied von ihm, da singt er, der ohnehin mein Schleusenmeister ist, vom weinenden Meer ...«
»Des Meeres Tränen sind die Worte in den Straßen von Marseille – tes mots qui dans la rue se prenaient par la taille – und die Leidenschaft und die Trauer, so ungefähr. Wir haben es oft gehört zusammen.«
»Nun bitte ich Dich ausnahmsweise mal ums Original. Hast Du's im Kopf? Du Marseille-Lexikon?«
»Ich habe im Kopf, was unsere Liebe beschreibt.«
»Das hast Du nun aber fein zwischen die Zeilen gesprochen! Dunnerlittchen.«
»Soll ich es nicht sagen?«
»Unsere Liebe? Oder wie? – Tonnere de Dieu! Ferré. Marseille! Français. Du kennst es doch. Ich rieche es, daß Du’s draufhast! Du riechst nachgerade nach Vieux Port! Vielleicht hilft es mir auf das Bateau der Erinnerung.«
»›O Marseille on dirait que la mer a pleuré/Tes mots qui dans la rue se prenaient par la taille/Et qui n’ont plus la même ardeur à se percher/Aux lèvres de tes gens que la tristesse empaille.‹ Er beendet das Lied mit Marseille, Marseille je t'aime. Er hat es 1972 in Marseille im Palais des Congrès gesungen.«
»Au weh. So lange ist das her. Aber – kriege ich das auch noch auf Deutsch?«
»Du sollst Français – nun gut. In etwa, ich habe es ja bereits einmal getan. Deshalb ich weiß es: ›O Marseille, man könnte meinen, das Meer habe geweint./Seine Tränen sind deine Worte in den Straßen vereint,/wo die Leidenschaft nicht mehr alles verzehrt/und in deinen Menschen die Trauer einkehrt./ O Marseille ...‹ – Damals, als Du mir es gesagt hast, wie sehr Du ihn liebst, habe ich mir sehr gewundert.«
»Weshalb? Worüber?«
»Weil Du Ferré kennst – und ihn liebst.«
»Was ist daran absonderlich?«
»Es gibt keine Deutsche – pardon, Du bist kein Deutscher.«
»Gut, die paar Deutschen, die ihn kennen, halten ihn für einen Kitschier. Hier ist Tucholsky einzusetzen: ›Die Deutschen muß man verstehen, um sie zu lieben, die Franzosen muß man lieben, um sie zu verstehen.‹ Ohne Wenn und Aber. Allerdings: Bei einem Deutschen habe ich Ferré zum ersten Mal gehört. Hinzufügen muß ich jedoch: Er war mit einer Französin zusammen. Und sie hatte Ferré mitgebracht.«
»Siehst Du! Als ich in Berlin war, niemand kannte ihn. Doch mein Didier kannte ihn auswendig.«
»Das halte ich nun für arg leicht übertrieben.«
»Du hast ihn sehr oft gespielt. Mon Dieu! La solitude, Ton style, La mélancolie, Les vieux copains, Madame la misère. Und Du hast immer Augen des Traumes bekommen, wenn Du ihn gehört hast. Oft ich habe gedacht, Du wirst bald weinen. Ich habe Dich dann noch mehr geliebt, wenn es überhaupt möglich ist. Diese Sehnsucht in Dir, La nostalgie! Und auch Avec le temps, Pépée. Und Marseille. Auch Aragon. Und andauernd Dein Lieblingszitat, dieses Muß es sein, es muß sein, aus Je te donne aus dem Jahr 1976, mit der Ouverture von Beethovens Coriolan. Ich habe sehr vieles von Dir, vieles kannte ich zuvor nicht, avant tout Coriolan. Und dann ich habe es viel gehört. Doch eines fällt mir soeben ein, es variiert dieses Thema. Du weißt es?«
»Was weiß ich?«
»Bonté du ciel! Ich mache auch dieses mittlerweile wie Du. Ich bin so schlimm wie Du.«
»Was denn? Hergottkruzitürkennochmal!«
»Was war das?«
»Dilletantisches Bayrisch. Was ich eigentlich nicht ausstehen kann. Aber was interessiert mich mein dummes Geschwätz von gestern. Also, was machst Du mir andauernd nach? Vermutlich alle Schlechtigkeiten. Sie scheinen Dir zu gefallen.«
»Ouf ! Daß ich etwas voraussetze, wovon noch nicht einmal Vorausbemerkungen getan wurden.«
»Ah ja. Und wie denn nun?«
»Muß es sein? Es muß sein!«
»Ja. Richtig. Es muß sein. Daß Du mir endlich sagst, was Du mir sagen willst.«
»Du weißt, woher es kommt.«
»Ja doch. Von Beethoven.«
»Es ist correct. Doch ob Du die vorausgehende Histoire dazu kennst? Du mußt sie kennen. Sie steht ...«
»Meine Güte, Naziza. Ich bin doch kein Lexikon, kein Musikwissenschaftler. Nein, ich kenne die Worte nur von Ferré.«
»Es steht bei Kundera.«
»Wie bitte? Wo? In der unendlichen Leichtigkeit?«
»Oui. Sag nicht, Du weißt es nicht!«
»Dann muß ich einen Fehldruck erwischt haben. Oder etwas überschlagen haben. Oder mein Hirn ist ein Fehldruck. Klar. Ist ja bekannt. Ich weiß es nicht. Und wenn Du mich abmurkst.«
»Ich? Dich? Didier – soll ich abtöten, was ich liebe? Mit dem ich heute abend zu Boubou gehen möchte, auf daß sie ihren zweiten Gott begrüßt?«
»Jetzt mach aber halblang. Jetzt wird’s ein bißchen heftig.«
»Es ist so, Didier. Sie fragt oft nach Dir! Vielleicht nicht Gott. Ich passe mich Dir an: Ich übertreibe ein wenig. Viel. Jedoch sie liebt Dich. Anders als ich. Es ist jedoch so. – Eh bien, Du wirst Dich gleich erinnern.«
»An die Dicke ...«
»Non! An Beethoven, an Kundera. Beethoven war Gläubiger eines Mannes. Dieser schuldete ihn, ich weiß jetzt nicht, wieviel, jedoch einige Gulden. Beethoven forderte seine Geld zurück. Der Mann stöhnte: ›Muß es sein?‹ Beethoven antwortete: ›Es muß sein!‹ Daraus komponierte er ein kleines Stück, das später zur Grundlage seines letzten Quartetts wurde. Und Kundera kommentiert es dahin, daß er schreibt, diese Worte hätten immer mehr einen solchen feierliche Ton angenommen, als hätte das Schicksal persönlich sie ausgesprochen.«
»Jetzt kommt mir doch was. Sehr dunkel nur und nicht in der Verbindung mit Kundera. Irgendwas mit Kant. Mit der Sprache der Metaphysik.«
»Didier! Es ist Kundera!«
»Du meinst? Ich hätte mal wieder gefehlt?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht Du bringst etwas durcheinander. Richtig ist Kant. Dein Kant!«
»Ach, Naziza.«
»Oui. Es ist gut. Fin. – Kundera schreibt, in Kants Sprache könne sogar ein einfaches ›Guten Tag‹ zu einer metaphysischen These werden. Er schreibt, die deutsche Sprache ist die der schweren Wörter. Und ich komme eben deshalb darauf, weil Ferré auch darüber lacht und sich lustig macht. Und Kundera geht einen Schritt weiter in seine Auslegung. Er bezieht sich auf Permenides, der für einen Übergang vom Negative ins Positive garantiert hätte, der Schweres in ein Leichtes umgewandelt hätte. Und Kundera schließt mit der Erkenntnis, daß nach Permenides am Anfang eine große metaphysische Weisheit gestanden hätte, aber am Ende eines vollendeten Werkes eine federleichter Scherz.«
»Ich kann mich daran nicht erinnern. Verflucht noch eins. Wurscht. Großartig. Was schon wieder seltsam oder auch komisch ist, daß der Künstler, von dem ich erzählt habe, dieser Gourmand-Gourmet – Du erinnerst Dich?«
»Ich habe den Eindruck, daß Dein Mechanismus des Kopfes tatsächlich ein wenig durcheinander ist. Didier! Selbstverständlich. So lange es ist noch nicht her, daß Du es erzählt hast. Was ist mit ihm? Bekommst Du Geld von ihm? Oder er von Dir? Es muß sein?«
»Uff. Schon wieder plattgemacht. Nein. Er hat mal eine Skulptur, nein, eine Plastik geschaffen.«
»Ich verstehe nicht. Skulptur? Plastik? Es ist dasselbe!«
»Nein. In der zeitgenössischen Kunst nicht. Na gut, es ist Interpretationssache. Aber nach der Definition des Kunsthistorikers Eduard Trier nimmt der Künstler bei der Skulptur etwas weg vom Material, während er die Plastik aufbaut. Also hat er eine Plastik gebaut mit dem Titel ›Su e giù per le scale‹, was wohl heißt ...«
»Treppe hinauf, non, Treppe auf, Treppe ab.«
»Pardon, Madame, nein, scusi, Signora. Ich vergaß, daß ich Einsilbiger mit Donna Poliglotta verheiratet bin.«
»Babbeo!«
»Was auch immer das sein mag – schon nichts Gutes. Wahrscheinlich irrst Du trotzdem nicht. Also – ich kucke da jetzt nichts mehr durch! Das hätte mich doch reißen müssen bei Kundera. Ich habe damals einen Text über diese Plastik geschrieben – der sogar ins Italienische übersetzt wurde! Stolz! In dem ich mich expressis verbis mit Leichtigkeit und Schwere beschäftigt habe. Und das war mit Sicherheit lange, bevor ich Kunderas Leichtigkeit gelesen habe. Und lange, bevor ich anders zu denken begonnen habe! Denn damals habe ich noch aus dem Spielerischen eine Rationalisierung geschaffen, eine ›Ordnung des Ganzen‹, das auf einer geometrischen ›Urform‹ der Moderne fußt. Und noch irgendwas, nach besagtem Eduard Trier – siehe Kant! –, von ›schwebender Flüchtigkeit und lastender Dauer‹«
»Mon Dieu!«
»So ist es. Und es ist nicht zu ändern. Es ist in die Annalen eingeangen. Es ist gedruckt. Wie so Vieles, das ich verzapft habe.«
»Doch es stimmt. Die Dauer ist eine Last. Meine Flüchtigkeit Didier ist zu mir zurückgeschwebt. Puh! – Non! Ich habe nichts gesagt! Du hast nichts gehört!«
»So-so. Wie auch immer – Nun muß es sein, daß ich Je te donne anders hören muß. Da siehst’e mal, was Sprachlosigkeit anrichten kann. Ich bin ein Schwerstbehinderter.«
»Oui. – Ferré spielt mit dieser Schwere. Leicht. Du kannst auch Saint-Pol-Roux nehmen, der geschrieben hat, bei Beethoven seien die Symphonien Orchestersonaten und die Klaviersonaten Symphonien.«
»Das ist mir jetzt klar! So, wie der’s krachen läßt, die Corolian-Ouverture losdonnern läßt mit seinem fünfzigfach besetzten Symphonieorchester. Es fällt mir jetzt wie Schuppen von den Ohren. Ich Doofkopp.«
»Ah! Didier. Wir haben ein paarmale darüber gesprochen, über diese Ironie darin. Du hast es vergessen. Genau weiß ich es, daß es einmal neben Boubou war, die damals hat diesen Donner gegeben. Mit ihrer Stimme. Du bist wütend geworden. Du warst ganz Beethoven. Und Boubou hat dann ihre Lippen zusammengehalten und Dir Marseille aufgelegt. Für Deine Mélancolie, für Deine Ruhe, hat sie gesagt. Du hast dann selbst gelacht. Und manchesmal ich mußte es hören, weil es mich an Dich erinnert hat. Deshalb kann ich es auswendig. Bei Boubou eben. Oft sie hat ihn gespielt. Und wieder mitgesungen. Laut. Sie hat bei La violence et l’ennui das Maschinengewehr nachgemacht. Da hatte sie ihr Versprechen wieder vergessen. Du – wie hat Isabelle Dich genannt? Apo-Opa?
»Au weh. Du lernst nur die schlimmen Sachen. Von der blöden Kuh.«
»Ah! Didier. Es ist nicht wahr. Es ist jedoch sehr komisch. Vor allem deshalb, weil Du, wie Du wiederholt gesagt hast, Du würdest ihn nicht verstehen mit seinen Anarchistes et cetera. Und dennoch hast Du geschimpft, weil Du ihn hören wolltest und nicht sie.«
»Klar. Ich wollte die Musik hören. Sie hat mich schließlich zu ihm gebracht. Seine Stimme. Auch wenn ich vieles nicht verstehe. Doch die Stimme allein ist Musik ...«
»Weißt Du, wie Henri Bergson es sieht?«
»Was? Wen? Ferré. Der dürfte zu dieser Zeit allerdings kaum gesungen haben.«
»Oh Didier! – Musique! Wenn die Töne der Musik stärker auf uns wirken als die Nature, dann kommt es daher, daß die Nature es bewenden läßt dabei, Gefühl auszudrücken, doch die Musik sie uns suggeriert. Ferré suggeriert! Er zaubert. Er ist ein Hexer. Doch ich lasse es auch gerne zu, mich von ihm verzaubern zu lassen. Es geht mir wie Dir. Oft höre ich die Worte nicht, jedoch seinen Gesang.«
»Na ja. Das ist vielleicht nochmal was anderes. Es geht mir ja ständig so im Chanson. Aber es ist schon so, daß er eine ungeheure Suggestivkraft hat. Stimmt. Wenn er Apollinaire oder sonstwen anstimmt, den ich nicht verstehe – dann verstehe ich ihn eben doch. Ohne Worte. Durch diesen Gesang, durch die Modulationen darin.. Und – ich liebe ihn. Er ist der einzige Mann, bei dem ich völlig entschwebe, bei dem ich alles vergesse. In nahezu jeder Stimmung.«
»Ich weiß es. Er ist Dein Gott. – Siehst Du, Du hast auch einen Gott!«
»Jetzt wird’s aber peinlich, Madame.«
»Oui. Doch, es ist etwas daran. Nie werde ich Deine nebeligen Augen vergessen, Dein von der Trauer umhülltes Gesicht, als Du von seinem Tod erzählt hast.«
»Das habe ich erzählt? Dir? Das erzähle ich doch sonst nie. Aber Dir dann wahrscheinlich, weil Du die einzige bist, die ihn kennt. Und – es ist ja ewig her.«
»Ich weiß es. Von Dir. 1993. Du hast es sehr umfangreich umschrieben, daß Du in das Hôtel kamest dans La Rochelle, als Du den Fernseher eingeschaltet hast – wie Du es immer machst, wie ich weiß, wenn Du hineingekommen bist in ein Zimmer –, an der Fête Nationale 1993, und Du entsetzt warst von seinem Tod und Du dann eine ganze Nacht nur alte Sendungen gesehen hast mit Léo Ferré, und daß alle Kiosque à journaux überall in ganz Paris gefüllt waren von oben bis unten und um alles herum mit Titelseiten von seinem Tod. Wahrscheinlich wirst Du im nächsten Jahr wieder eine ganze Nacht vor dem Fernsehgerät sitzen, weil es alles wiederholt wird zu dem anniversaire de la mort Und dann wirst Du alles verstehen! Du warest voller Ehrfurcht damals. Ich weiß, Didier. Ich könnte diese Geschichte in ein Buch schreiben. Du hast sie nicht nur einmal erzählt. Und nicht nur mir. Ich mußte einmal sogar Dolmetscherin sein und sie übersetzen. Boubou. Als sie wieder einmal Deinen Gott laut übersungen hatte. Da mußte ich ihr Deine Erinnerungen und Deine Philosophie zur Musique von Léo Ferré übermitteln. Von dieser Zeit an hat sie immer erst aus dem Fenster hinausgesehen, ob Du irgendwo sitzt. Bevor sie ihn gespielt und dann mitgesungen hat. Wenn Du anwesend warst, hat sie sich den Mund vernäht mit ihren Fingern. Das hat sie mir einmal gesagt. Sie wollte nicht Ärger haben mit Dir. Und mit Ferré. Denn sie würde beide lieben, oui, das hat sie mir gesagt. Und die Götter solle man nicht erzürnen, meinte sie. Ein wenig haben ihre Mundwinkel und ihre Augen dabei gezuckt.«
»Meine Güte. So hab ich mich aufgeführt. Aber es könnte zu mir passen. Vielleicht hat's mich deshalb immer auch zur place de Lenche gezogen. Nicht die grölende Dame, mochte sie noch so nett gewesen sein ...«
»Sie ist es noch immer, Didier.«
»... sondern Ferré.«
»Es ist vielleicht noch etwas mehr. Es muß sein. Du mußt es in Deine mémoire gehabt haben – une vague souvenir. Doch es ist auch Wahnsinn, daß dieses alles so geschehen ist. Daß wir uns nicht gesehen haben.«
»Ja. Aber wirklich. Bis vor drei Wochen, bevor Du kamst, war ich tatsächlich fast vorm Durchdrehen. Es hatte sich gerade ein wenig gelegt. Im nachhinein kommt mir das wirklich vor wie eine Prüfung, die mir da auferlegt wurde. Konntest Du nicht früher auftauchen?«
»Didier ...«
»Nein, Naziza. Ich meine das nicht böse. Es ist kein Vorwurf! Glaub's mir. Ich will ja auch nicht jammern. Nichts liegt mir ferner als das. Nach alledem. Es würde mich nur interessieren, weshalb das alles so kam. Ich bin sicher – ach was, ich weiß es, daß alles sich zu einem besseren hätte wenden können, wärest Du früher aufgetaucht. Wie hast Du das bloß geschafft, mich nicht zu finden?! Wer oder was hat da mitgemischt?«
»Einmal habe ich daran gedacht, eine Détektive eine Auftrag zu geben. Raymond und Mirjam haben gesagt, ich solle es nicht tun.«
»Einmal im Leben wäre mir so ein Trottel vor der Tür recht gewesen. Weshalb bloß hast Du's nicht getan?«
»Sie haben gesagt, Du würdest wiederkommen. Ich habe dann auch daran geglaubt. Und dann ist es geschehen, daß ich getroffen habe Anne. In Deine Mercure Bourse ...«
»In dem Du nicht einmal nachgeschaut hast, ob ich ...«
»Ich verstehe es selbst nicht. Vielleicht war ich zu diese Zeitpunkt bereits ergeben in meinen Glauben. Oder würdest es nun auch wieder eine Zufall nennen, daß ich Dich drei Jahre suche wie eine Folle und nicht in diesen Computer schaue, der vor mir steht und der mich directement könnte führen zu Dir?«
»Wohl. Ja. Nein. Mittlerweile bin ich da eben nicht mehr so sicher.«
»Denke an Rohmer. Du sprichst über diese Film von was? Wir haben darüber sehr viel gesprochen. Avant tout im Zusammenhang mit uns beide. Was ist es?«
»Glauben.«
»Bon, et maintenent? Glaubst Du mir?«
»Ja. An Dich glaube ich.«
»Du mußt auch glauben an diese Glauben. Es war immer mein Glaube. Ich habe Glück gehabt. Ich habe immer gehabt meine Famille. Sie alle haben geglaubt. An mich. An uns, Didier! Weißt Du das?«
»Nein.«
»Ich habe es Dir gesagt. Und ich sage es Dir gerne noch einmal. Bis auf eine paar von diese Imbéciles, diese Catholique calviniste de Malakian, alle haben mit mir geglaubt. Maman hat – trotz alle Wut am Anfang – sich gemacht große Vorwürfe. Die Arabes waren alle grandiose! Sie haben mir gegeben viel Kraft! Du weißt es – es gibt immer viel Liebe bei uns. Doch danach es war noch mehr. Und es ist richtig, was ich gesagt habe zu Dir – alle freuen sich auf Dich. Maman spricht von einem verlorenen Sohn! Papa freut sich auf Dich und – lancer la ligne. Fische morden. Die uns so sehr gut schmecken dann, weil ihr sie habt gefangen. Raymond spricht davon, daß er sich freut, Dich wieder hüten zu dürfen. Er ist gerne Deine gorille. Oui – auch Anouk erinnert sich an Dich. Auch wenn Du es nicht glauben willst. Paul hat daran geglaubt. Oder weshalb, glaubst Du, gibt er mir diese Wohnung? Sie alle haben immer mit Naziza gewußt, daß diese Didier für sie ist. Und deshalb haben sie gewußt, daß diese beide werden wieder zueinanderfinden. Und? Haben sie das? Haben alle recht gehabt?«
»Und jetzt? Glaubst Du, daß ich das wieder hinkriege? Daß ich das überhaupt hinkriege?«
»Wie meinst Du das – hinkriegen? Réparation?«
»Ja. Aber auch dieser erneute Versuch. Gut – ich habe mich verändert. Das weiß ich. Der Blitz der Erkenntnis ist eingeschlagen in mich. Daran besteht kein Zweifel.«
»Welcher Blitz der Erkenntnis? Du bist gewachsen. Meinst Du das?«
»Ja und nein. Dieses Wahnsinnserlebnis mit dem vorübergehenden Stillstand meines Lebens. Ich war ja tot.«
»Du hast es gesagt ein paar Male. Richtig verstanden habe ich es nicht. Du warst nicht tot. Sonst wären wir beide nicht hier zusammen.«
»Na ja. Ich hab Dir ja gesagt, daß ich es so genau nicht weiß. Tatsache ist jedoch, daß ich zu denjenigen gehöre, die ein sogenanntes Todeserlebnis, nein, Nahtoderlebnis hatten.«
»Ich habe davon gehört und gelesen. Es klingt so unwahrscheinlich.«
»Ja. Ist es auch. Wenn ich früher davon gehört habe – auch ich habe mal was darüber gelesen, vor vielen Jahren schon –, habe ich es immer abgetan als spirististische Spinnerei. Nun habe ich es selbst erlebt.«
»Was ist es? Was geschieht?«
»Ich bin herausgetreten aus meinem Körper. Ich habe alles genau gesehen, was mit mir geschieht. Was man mit mir macht. Allerdings von außerhalb.«
»Es ist unglaublich.«
»Genau. Und ich muß auch in diesem Fall – und in diesem ganz besonders – sagen: Ich würde es es nicht glauben, wäre ich nicht selber dabei gewesen. Dieser blöde Spruch – man steht neben sich – hatte hier Gültigkeit.«
»Wie – daneben?«
»Seitlich oberhalb meines Körpers habe ich beobachtet, was sie mit mir machen. Auf mir rumgehauen. An mir rumgezerrt. Ziemlich heftig. Arg rüde. Ärzte eben. Nun ja, Notärzte. Abgeklärt. Aber sie müssen wohl so sein, um nicht durchzudrehen. Ich habe mich dennoch pudelwohl gefühlt dabei.«
»Du hattest keine Angst? Keinen Schrecken?«
»Nein. Überhaupt nicht. Es ging mich ja irgendwie nichts an. Das da unten – ich wußte zwar, es war mein Körper. Aber irgendwie gehörte er dann doch nicht zu mir. Als ich wieder in mich gekrochen war, also wieder zu mir kam, muß ich nur gelächelt haben. Irgendjemand hat es mir erzählt. Ich weiß leider nicht mehr, wer es war.«
»Das also ist das Erlebnis, von dem so viel geschrieben wird.«
»Ja. Seither sehe ich das auch völlig anders. Erst kürzlich habe ich eine Dokumentation darüber gesehen, die ich mit höchstem Interesse verfolgt habe. Früher hätte ich das als Mumpitz ...«
»Puh! Was ist das?«
»Ein umgangssprachlicher Begriff für Schwindel. Eigentlich Schreckgespenst oder so ähnlich. Schwindel ist daraus geworden. Also, wie ich schon sagte, als Schwindel oder als spiritistische Spinnerei hätte ich es abgetan. Heute sehe ich das anders. Vor allem aber denke ich völlig anders über die Aussage der Betroffenen, nach einem solchen Erlebnis sähe man die Welt anders. Es ist so.«
»Das hat so vieles verändert?«
»Mit Sicherheit. Ja. Entschieden. Na ja, sage ich mal, es hat sehr viel dazu beigetragen. Es hat mich ein wenig entschlackt, mich alles etwas unbeschwerter werden lassen. Ich bin anfänglich nur nicht mit den Ereignissen an sich fertiggeworden. Die waren eine große Belastung. Sehr lange. Ich hab’s ja erzählt.«
»Und wie ist es nun? Ist es leichter?«
»Das wäre jetzt so dahingesagt. Ich fühle mich schon stärker. Oder, sag ich mal – ich bin etwas gelassener geworden. Auch dies deckt sich mit den Aussagen der anderen, die es erlebt haben. Alles ist auf einmal nicht mehr so wichtig, wie man es vorher genommen hat. Es gibt Wesentlicheres. Allerdings habe ich schon sehr damit zu kämpfen, denn ich spüre, wie diese Erkenntnis sich zurückzieht. Es beginnt zu verblassen. Was ich sehr bedaure. Möglicherweise erstarkt es wieder durch das, was Du mir geschildert hast. Diese Schrecklichkeiten. Leichter ist es also nicht. Ich weiß zudem nicht, ob ich das wieder repariert kriege.«
»Es gibt nichts zu reparieren. Es gibt kein Schuld – es muß kein Sühne geben. Wir sind nicht in die Christenkirche. Wir sind unsere eigene Glauben. Es gibt Neues. Du und ich. Du hast mir gesagt vorhin etwas Wunderbares. Das ist es. Wir werden ein alte und ein neue Famille haben. Wir werden es besser machen als zuvor. Nicht wieder dieselbe Fehler. C'est clair. Doch es gibt bereits alle Zeichen dafür. Unsere Wohnung. Neue Arbeit. Gutes Geld. Du hast es gebracht.«
»Zufall. Koinzidenz, räumliches und zeitliches Zusammentreffen. Ich glaube nicht. An keinen Gott, und schon gar nicht an das, was frühmittelalterliche Religionsstifter uns auch heute noch als Schicksal unterjubeln wollen. Wobei ich eingestehen muß, daß mir in letzter Zeit der Zufälle ein paar zuviele begegnen.«
»Merde. Schon wieder. Gerade eben erzählst Du mir wundersame Dinge! Et en une fraction de seconde – es ist kaum zu verstehen. Du sprichst schon wieder von Zufall. Oh, mon Dieu! Didier – lassen wir es sein. Wir machen es. In ein paar Stunden werden wir zuhause sein. Und was werden wir dann machen?«
»Vielleicht eine Tochter?«
»Mon Didier – nun muß ich wieder weinen. Aber andere Tränen – l'amour rend aveugle. Ich sehe nichts mehr.« Sie findet trotzdem meinen Hals, meinen Mund. Nun füllt sie mich mit ihrem Mittelmeerwein aus dem Tränenmeer. »Ich habe ein wenig Angst.«
»Wovor. Vor mir?«
»Fou! Vielleicht bin ich zu alt. Wie ich es gesagt habe.«
»Das kann ich nicht beurteilen. Du mußt es wissen. Fühlst Du Dich denn so?«
»Non. Ist es nicht dangereux? Biologique?«
»Also, das macht mir am wenigstens Sorge! Zugestandermaßen war ich immer dagegen. Aber mittlerweile ist es mir gleichgültig.«
»Wogegen?«
»Gegen das Kinderkriegen in diesem Alter.«
»Und Du hast Dein Meinung geändert? Ich kenne Deine ganz alte Bedenken dagegen, es noch einmal zu werden – Vater. Du hattest sie zerstreut. Doch diese kenne ich nicht.«
»Ach. Da schwingt alles mögliche mit. Ich empfand das immer als sehr unangenehm. Es gibt einige Argumentationen meinerseits dagegen. Zum einen ist da die von mir diagnostizierte Hysterie, die Torschlußpanik. Ich weiß gar nicht, ob es zutrifft. Doch, in einigen Fällen mit Sicherheit. Überhaupt habe ich es grundsätzlich als nachgerade pervers empfunden, welche Versuche unternommen werden, unbedingt Kinder zu kriegen. Ich kann das bis heute nicht nachvollziehen angesichts der vielen Kinder ohne Eltern. Eine liebe Bekannte von mir, die hat, mit ihrem Mann, ein Kind adoptiert, als sie es beide nicht zuwege gebracht haben. Vermutlich aus gesundheitlichen Gründen. Es hat mich sehr, sehr gefreut. Ich habe den Kleinen vermutlich alleine deshalb sofort in mein Herz geschlossen.«
»Wie lange ist es her?«
»Schon einige Jahre. Und es geht wunderbar. Er ist ein Prachtjunge geworden. Er hat aber auch wunderbare Eltern bekommen. So etwas macht mich tatsächlich glücklich. Und es wären wahrlich genug Kinder da, mit denen man es machen könnte. Wobei es mir völlig schnurz ist, woher sie kommen. Du mußt wissen, daß das deutsche Adoptionsgesetz extrem streng ist. Aber es ist wohl auch gut so. Denn es ist ja nun wirklich nicht jeder geeignet, Kinder großzuziehen. Es ist ja schlimm genug, daß jeder ungestraft Kinder kriegen kann. Jemand wie meine Mutter zum Beispiel.«
»Didier! – Bien. Ich verstehe. Du hast sicherlich sogar recht mit dem, was Du sagst.«
»Das ist das eine. Zum anderen ist es noch widerlicher, wenn eine Frau, die bereits Kinder hat, sich mit Hormonen vollpumpen läßt, um mit sechzig Jahren nochmal werfen zu können. Es ist auch scheißegal, daß da so ein öffentlichkeitsgeiler Arzt dahintersteckt. Eher noch schlimmer ist's. Ich find's ekelhaft. Diese ganzen widerwärtigen Klimmzüge. Es gibt ja Paare, die rennen jahrelang durch die ganze Welt. In der Millionen von Waisen herumliegen und am Verrecken sind. Vor der Tür liegen sie.«
»Es ist anzunehmen, daß in diese Fälle es die Frauen sind, die es vorantreiben. Und wenn die Männer es mitmachen, dann ihrer Frauen wegen. Es war nie meine problème. Mais – ich glaube, wir müssen es akzeptieren. Frauen wollen Kinder haben. Wenn ich auch Deine Meinung ganz zustimme, was eine Adoption betrifft. – Et maintenant – ich bin auch ein alte Kuh. Was tun wir? Du willst nicht?«
»Ach, Liebes. Was interessiert mich mein dummes Geschwätz von vorgestern. Ich habe vieles revidiert und bin zu einem anderen Schluß gekommen. Und jetzt erst recht! Nun ohnehin. Es ist ja nun auch wahrlich ein anderer Ausgangspunkt. Ich bin dafür. Absolut! Ich bin mir auch sehr viel näher als meine Urteile von früher. Und was Dich betrifft – denk doch mal darüber nach –, meine Mutter! Wie alt war die? Sie war vierzig. Und das war 1944! In dieser Zeit war es höchstwahrscheinlich nicht ungefährlich. Aber heute! Die Medizin ist so weit fortgeschritten. Ich kenne haufenweise Frauen, die in diesem Alter Kinder kriegen. Na ja – einige.«
»Ich wäre – in eine Fall von nächste Jahr – quarante-trois!«
»Eine Bekannte hat mit fünfundvierzig ihr erstes Kind gekriegt. Auch wenn ich mich damals fürchterlich aufgeregt habe darüber – ich habe den Eindruck, daß es sehr gut gegangen ist. Es ist die Frage, ob wir es wirklich möchten ...«
»Didier!«
»Ja doch. Die möglicherweise sehr viel schwerwiegender Frage ist die – ob nicht ich zu alt bin!«
»Das ist nun ganz großer Unsinn. Du gibst das Beispiel von Deine Mutter. Und was ist mit Deine Vater? Er hätte sein können Deine arrière-grand-père!«
»Das ist richtig. Und er war kein Einzelfall, der im Alter eines Urgroßvaters Kinder gezeugt hätte. Aber ich weiß nicht, ob es geht.«
»Was geht? Ob Du es kannst?«
»Das ist das eine. Und das andere, ob ich auch die psychische Leistungsfähigkeit habe, das durchzustehen. Natürlich auch die physische. Angenommen wir bekämen ein Kind. Also, sagen wir mal nächstes Jahr schon ...«
»Wir fahren sofort in die Wald.«
»Doofnuß. Also, angenommen. Nächstes Jahr. Wenn das Kind die ersten Schritte macht, sitze ich im Rollstuhl.«
»Was redest Du?! Grosse idiot! Du bist bei Deine beste Gesundheit! Und Deinen Kopf brauchen wir nicht – puh!«
»Ach. Es war ja auch eher sinnbildlich gemeint. Wenn das Kind zehn Jahre alt ist, dann bin ich fast siebzig.«
»Es ist das Alter von Deine Vater, als Du zur Welt gekommen bist!«
»Wenigstens befindet sich in dieser – vorübergehenden – Kleinfamilie wenigstens ein Optimist. Nein, eine Optimistin. Wie ihr Mädels eben so seid. Dennoch – ich war zwanzig, als mein Vater starb. Das war ein herber Verlust. Ich war sehr allein. Ich war gerade dabei, ihn kennenzulernen, zumal wir beide uns erst so richtig anzunähern begonnen hatten und ich vom Eindruck erfüllt war, er würde mir doch noch ein bißchen was erzählen. Und ich hätte seine Liebe ganz gut gebrauchen können. Und er vielleicht auch meine. Wer weiß, was dann aus mir geworden wäre. Also weiter in der Zeitrechnung ...«
»Wenn Du das schöne Alter hast von neunzig Jahre, ist Deine Tochter dreiunddreißig, zweiunddreißig. Pareil. Es wird gehen. Doch Du wirst zumindest einhundertzwanzig Jahre alt, Du bist Jude. Dann ist sie dreiundvierzig. Sie kann dann bereits ein wenig alleine gehen. Also hundertzwanzig Jahre! Ich werde dafür sorgen. Ich will Dich auch lange – ich sage: Philemon et Baucis!«
»Du hast keine Bedenken?«
»Non. Ich will Dir auch alle andere Deine Bedenken nehmen. Ich glaube, Du bist erst jetzt soweit. Vielleicht auch gerade wegen diese Ereignisse. Teilweise sagst Du es selbst. Ich glaube aus diesem Grund, Du wärest erst jetzt eine wirklich gute Vater – plus que jamais!«
»Weshalb glaubst Du das? Ein Kind will spielen mit dem Papa. Das kann ein alter Sack nicht mehr.«
»Es gibt eine wunderschöne Compensation – Deine Ruhe.«
»Aber ein Kind will doch keine Ruhe! Ein Kind will Bewegung.«
»Es wird Bewegung haben. Und es wird diese andere Bewegung hinzubekommen, die ein junger Vater nicht geben kann. Du selbst hast ausführlich darüber gesprochen. Und ich habe Dir in allen Punkte recht gegeben. Es stimmt alles, was Du gesagt hast. Es ist es, was mich stimmt sehr optimiste. Und es gilt, nicht zu vergessen – es wäre ein Kind, das in eine große Umgebung erwächst. Mit viele andere Kinder. Mit viele andere personne. Eine große Famille. Anouk, Esther. Vielleicht sie kriegen noch eine. Es ist möglich. Es ist mein Bruder. Ich glaube nicht, daß er wird bleiben ohne Kinder. Vielleicht er wird heiraten seine albigeois. Dann wird es noch mehr Kinder geben. Und – in eine wunderschöne Natur. Am Meer. Überall Bäume. Wasser. Wein, zum üben. Und überall Menschen, die lieben Kinder. Wie Du! Ich sehe so oft, wie Du Dich verhältst bei Kinder. Ich sehe Deine Augen. Und ich habe gesehen Deine Augen damals, als ich Dir habe gesagt, daß wir werden bekommen eine Fillette pour le Papa Aubertin ...
»Aber ...«
»Non, Didier! Denke nicht daran jetzt. Das war zu eine Zeit, in der Du hast nicht gehabt diese Ruhe, diese, wie sagt man, la maturité d'esprit.«
»Reife. Geistige Reife.«
»Oui. Diese Grad von geistige Reife hast Du nicht gehabt vor drei Jahren! Du bist gewachsen énorme seither! Es sind Deine – wenn auch schlimmen – Erlebnisse. Sicher. Doch juste dieses macht mich sehr glücklich und sehr froh. Und es würde mich noch sehr viel glücklicher machen, wenn wir es könnten weitergeben. Maintenent! Hier werde ich Dich teilen. Und es ist so – maintenent Du darfst mich verprügeln – ich glaube daran, daß es ist alles gut so gekommen, wie es gekommen ist, à cause de moi coïncidence. Didier – wir machen keine Kind!«
»Wie darf ich das jetzt nun wieder verstehen. Du machst mich ganz wirr!«
»Wir holen unsere Tochter zurück zu uns! Sie wird zurückkehren. Sie wartet darauf, zurückzukehren zu uns. Ich weiß es – ich spüre es. Écoute – es ist noch etwas ganz anderes. Es ist, glaube ich von große elementare Wichtigkeit. Ich wünsche mir nicht ein Kind, weil ich habe ein Panique vor dem Ablauf von meiner biologischen Uhr. Je m'en fous complètement. Ich brauche – auch nun nicht! – kein Kind wegen meine Équilibre hormonal. Meine Körper ist ausgeglichen. Auch mein Herz ist gefüllt mit Hormone. Ich habe es Dir gesagt. Es hat mich nicht verzehrt. Das war vor gute drei Jahre nicht anders. Nun, ich nehme Dich und stopfe Dich in mich hinein. Complet. Und wieder hinaus. Und wieder hinein. Ich gebe Dich an meine Brust. Ich lasse mich aussaugen und vollpumpen von Dir. Dafür alleine brauche ich kein Kind. Ich habe diesen tiefe Wunsch, seit wir uns begegnet sind. Aber erst seit dieser Zeit. Nie vorher. Ich habe gedacht – mit diesem Mann wäre es schön, mit Liebe Leben zu machen. Nicht etwas der Welt geben. Da ist mir meine soziale Gedanken an eine Gesellschaft – puh, si tu crois que ça m'interesse. Ich bin hier Eigennutz. Es wird gut sein für eine Gesellschaft, zu haben eine solche Mensch. Bon. Aber es ist für diese Mensch! Für unsere Tochter. Ihr zu zeigen, was es gibt für gute Eltern. Dann wird es automatique ein wunderbare Glied in einer Gesellschaft. Vielleicht auch ein Beispiel für eine Gesellschaft. Mais – für uns und für ein Kind. Das war und ist meine Wunsch. Nicht, daß Du glücklich machst ein Kuh, die sitzt wie diese in im Jardin ou Parc Borely oder dann vielleicht in diese petit aire de jeux pour enfants à l’Estaque und spricht den ganze Tag mit andere Kühe über die aliments concentrés für ihre Kalb.«
»Du bist nunmal ‘ne dumme Kuh, wenn Du mit mir Taugenichts ein Kind haben willst! Du hast doch erlebt, was mit mir ist.«
»Oh Didier! Fin! Ich bin ein Kuh? Du hast gesagt, Du nimmst kein Kuh. Also ich bin kein Kuh! Du Ochse.«
»Mit dem könntest Du auch kein Kalb zeugen.«
»Point par point. Le point sur l'i – ich weiß nicht, ob es richtig ist. Doch – es ist auch wichtig. Es ist anders als vor drei Jahren. Wir haben nicht nur eine schöne Wohnung. Sie ist auch groß. Und sie ist so, daß ein kleines Kind kann sein auch auf die terrace! Und überall sind andere Menschen mit andere Kinder! Das ist es, was Du sagst – andere Kinder. Es wird nicht immer müssen rennen mit Papa auf die Wiese. Papa kann mit ihm hinuntergehen an seine geliebte Mer méditeranée. Zu seine geliebte Fische. Und sein Papa wird ihm erzählen etwas über diese Fische. Prochaine point. Es sieht so aus, daß wir haben gute Geld für die nächste Zeit. Es ist ein perspective, die ich nicht habe gesehen vor ein paar Stunden. Es ist vielleicht auch in diese Punkt noch besser als 1998. Viel besser vielleicht, weil Du wirst hier arbeiten. Wir werden gemeinsam hier arbeiten. Das ist noch einmal anderes! Du hast es gemacht. Alleine dafür ich küsse Dich eine Woche nur! Complètement. Du hast gesorgt für eine Zukunft. Puh! Ich bin doch keine Européenne moderne. Ich bin ein alte armenische Bergziege aus Algérie, die sucht eine Mann, die ihn versorgt mit Wohlstand, die ...«
»Red nicht so'n Quatsch. Das ist doch normal. Das hat doch damit nichts zu tun. Außerdem tun wir's gemeinsam ...«
»Oui, Didier! Wir werden arbeiten, daß es weitergeht. Nicht so viel, daß wir haben keine Zeit. Aber soviel, daß es reicht für ein gute Kind. Eine gute Tochter, die kehrt zurück zu uns.«
»Und was ist mit uns? Nur noch Kind?«
»Oh! Non. Didier. Ich habe gesagt – ich bin keine Kuh mit einem Kalb. Wir alle. Wir zusammen. Unsere Tempel von Philemon et Baucis verschieben wir nur ein klein wenig nach hinten. Aber es ist nicht vergessen. Wir müssen noch ein wenig auf etwas anderes schauen. Mais – wir werden einander nicht vergessen. Du mußt nicht Angst haben! Ich will diese Kind ja mit Dir! Seit Du da bist, habe ich diese Wunsch. Nicht nur ein Kind. Es interessiert nicht. Wir. Das ist wesentlich.«
»Wir. Gut. Aber auch nix dauernd Oma und Opa Al Arfaoui und Onkel und Tante aus Saint-Louis. Oder was sonst noch alles da herumrennt an Malakians oder Hagopians oder wie sie alle heißen. Das ist ein kritischer Punkt.«
»Didier. Ich habe es gesagt. Wir werden keine problèmes mehr haben damit.
»Da fällt mir gerade ein – nimmst Du eigentlich Verhütungsmittel?«
»Ich?! Weshalb sollte ich das tun?! Für ein wenig Masturbation man braucht es nicht. Es hat nie eine Bedürfnis gegeben nach eine andere Mann. Ich wollte immer nur diesen einen. Nur diesen, den ich wiederhabe. Und nun hat dieser Mann mir so Schönes gesagt, daß ich besonders keine mehr brauche ...«
»Wie? Mich auch nicht? Oder bin ich kein Mann?«
»Du bist eine solche große Dummkopf! Merde. Du weißt genau, wie ich dieses meine. Du willst mich ärgern. Doch, noch einen anderen Mann. Vielleicht einen kleine noch. Doch für meine große nehme ich auch gerne ein kleine Frau. Ich nehme alles, was für uns ist gut. Ein eigene Famille mit eigene Gedanken. Oui, es ist sehr gut.«
»Darauf nehme ich noch einen Café. Und dann fahren wir. Du auch noch einen?«
»Oui. Et minerale. Ich brauche es jetzt! Minerale et autres choses encore.«
»Monsieur! La même chose, s’il vous plaît!«
»Vielleicht hast Du mich schon aufgeblasen.«
»Das ist jetzt aber ein dickes Ei. Im wahrsten Sinn des Wortes. Ich fasse es nicht! Und überhaupt – wann denn?!«
»Non, cheri. Es ist nicht die Zeit, nicht mein fruchtbare Zeit. Und ich würde das nie tun! Ich würde wieder Verhütung genommen haben. Sofort. Wenn Du es gewünschst hättest. Nie würde ich es tun. Ich hätte zu sehr Angst, daß Du wieder wirst weggehen. Das wäre es nicht wert für mich. Du weißt es. Ich habe es Dir gesagt. Es ist mir nie gewesen nur um eine Kind. Es bist immer Du gewesen. Mais – maintenant? Soll ich wieder nehmen Contraceptif?«
»Nein. Quatsch. Jetzt gerade eben nicht! Wir haben es besprochen. Und nun sollten wir es auch darauf ankommen lassen. Ich will auch gar nicht mehr abwägen. Du hast alle ganz entscheidenden Punkte angeführt. Es gibt keinen Grund, jetzt noch darüber nachzudenken, ob es richtig wäre oder nicht. Im Gegenteil. Es wäre falsch. Ich glaube, daß diese Entscheidung ein für allemal richtig ist. Ich bin auch ziemlich sicher, daß ich es selbst möchte. Quatsch – ich will es! Aber was ist, wenn es nicht klappt? Wir sind beide nicht mehr jung. Je höher das Alter, um so geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einer Schwangerschaft kommt. Und – vielleicht kommt ja nur noch heiße Luft bei mir!«
»Dann es ist wunderbare warme, zärtliche Luft. Ich werde sie einatmen mit alle meine materielle und immaterielle Öffnungen. Wir werden es sehen. Außerdem es ist so lange noch nicht her, daß es sehr gut ist gegangen. Rapide! Absolu!«
»Ja, gut. Aber nach diesen ganzen Vorkommnissen. Ich weiß ja nicht, was in meinem Kopf, in meinem Organismus passiert ist.«
»Wir lassen es kommen. Mon amour. In die beste Sinne des Wortes. Es ist eine gute Gefühl – es kommen lassen. Es ist noch viel schöner. Der Gedanke allein ist eine Orgasme. Puh! Mir ist ganz anders. Immer, wenn wir Lust haben, geht dann ein recherche gigantesque los. Millionen suchen eine. Es ist ein herrlicher, non, weiblicher, ah! himmlischer, Gedanke. Millions von particule d’amour schwimmen los, um sich zu vereinen mit diese eine.«
»Das ist aber eher ein erbarmungsloserer Kampf in Deinem Bauch als die Handlung eines Liebesromans. Da tobt eine Schlacht!«
»Es ist mir égal. Außerdem ich weiß, wie es ist! Du verstehst es wieder nur als Naturwissenschaft. Das ist mein Bauch. Und in diesem gibt es kein Bataille! Darin gibt es ein roman d’amour! Es ist Poésie. Vielleicht eine triviale. Es spielt keine Rolle. Dabei tut nichts weh. Ça me chatouille. Es ist schön! Und wenn Deine armée d'amour unsere Ei nicht hat gefunden, dann sind wir ihr nicht böse. Dann darf sie weiter zu ihrem Vergnügen immer in mir herumspazieren. Diese Armée geht spazieren. Pas de marcher. Oder schwimmen. Im Piscine Naziza. Es wird viel Freude machen – uns alle. Und wir nehmen überhaupt dann Deine wunderschöne Idée.«
»Welche Idee denn?«
»Wir legen Dich und Dein Idée zusammen an mein Brust.«
»Ich verstehe nur Bahnhof.«
»Exactement. Gare du sud – l’Estaque. Non. Bêtise! Gare Saint-Charles. Großer Bahnhof. Un comité d'accueil nombreux! Für jemand andere. Dann wir begrüßen ein andere armes Kind – mit oder ohne eigene Tochter – für sein reiches Zuhause. Reich an Liebe. Wo wir jetzt hinmüssen. Allez, les bleus.«
»Gib mir den Schlüssel, Du Schwarzblaue.«
»Ich kann wieder fahren. Wenn Du möchtest. Es geht mir wieder gut. Es geht mir besser. Viele besser als je einmal zuvor. Du hast mir eine Restauration gegeben. Ich kann nun Ente fliegen.«
»Wirklich? Ich empfände es durchaus als angenehm. Ich bin auch ein bißchen wacklig. Außerdem lasse ich mich gerne fahren. Nachts ohnehin. Mit meinem Astigmatismus ist das nicht so angenehm ...«
»Du hast?«
»Ja. Es ist nicht dramatisch. Nur eben nachts. Da habe ich doch ein arg eingeschränktes Sichtfeld. Als ich es noch nicht wußte, war es seltsam. Isaac hat mal, vor ewigen Zeiten, zu mir gesagt – wüßte ich nicht, daß Du nicht besoffen bist, ich wäre sicher, daß Du sturzbesoffen bist. So, wie Du gefahren bist. Es müssen schlimme Schlangenlinien gewesen sein. Dann bin ich zum Augenarzt. Aber das solltest Du doch wissen!«
»Non. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur von Deine zwei Lunettes. Mais – nachts sind wir auch nie gefahren. Vrai. Du hast immer gesagt, daß Du es nicht gerne tust.«
»Ja. Deswegen. Die eine Brille brauche ich zum Lesen. Das ist wohl das Alter. Oder es kommt vom zu vielen Computerkucken. Die andere ist für das Schweifen in die Ferne. Aber die brauche ich tatsächlich nur nachts, bei schlechter Sicht auch tagsüber. Aber nur beim Autofahren. Und wenn ich mal genauer hinschauen muß, was sich in der Ferne tut. Aber dafür habe ich ja einen Fernseher ...«
»Ouf ! Mon Dieu!«
»Gut. Ich seh’s ein. Ich hab schon bessere Witze abgegeben. Insgesamt scheint es jedoch besser geworden zu sein.«
»Didier. Du siehst – oui, Du siehst! Du wirst jünger!«
»Ach je! Vielleicht jetzt mit einer Mütze voll Nickerchen. Bei Dir geht es. Du fährst sehr angenehm ruhig. Meistens habe ich Angst, bei jemandem mitzufahren. Bei Dir nicht.«
»Merci pour le compliment. Ich will es gerne tun. Mit Deine fette Voiture wollte ich es nie. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht fahren eine cuirassé.«
»Na ja. Der Panzer war etwas umfangreicher. Es stimmt schon. Also gut – ein Nickerchen. Wenn's Dir nichts ausmacht?«
»Non. Wirklich nicht! Wie weit ist es noch bis zuhause? Was glaubst Du?«
»Sicherlich noch gut zweihundert.«
»Oh. Wir sind sehr nahe an unsere Paradis.«
»Drei Stunden, schätze ich. Zwei bis drei. Aber vielleicht machen wir noch eine Pause. Es ist ja jetzt so gut wie geschafft. Da kommt's auf das bißchen auch nicht mehr an. Auf jeden Fall freue ich mich sehr. Es ist ja überhaupt unglaublich, was in den letzten Stunden alles geschehen ist. – Also auf. Einsteigen, losfliegen. Madame, starten Sie die Entenflügel.«
Das Entchen schnurrt los. Die südfranzösische Luft scheint ihr wohlzutun. Man könnte gerade meinen, der Fünfhundert-Kubik-Motor klänge geruhsamer als mein früheres Mercedes-Aggregat mit fünf Litern. Doch vermutlich übertreibt die Einbildung mal wieder ein wenig. Und die schlichte Tatsache, daß die lange, ruhig gefahrene Strecke das Rasenmähermotörchen von städtischen Stop-and-Go-Verunreinigungen befreit haben dürfte, zeigt wohl auch Wirkung. So rollen wir gemeinsam dahin in unseren offenbar immer weiter werden Horizont.
»Möchtest Du nicht schlafen?«
»So auf Anhieb kann ich das nicht. Laß nur. Es kommt, wie's kommen soll. Ich glotze einfach ein paar Minuten in die Nacht. Dann kann es durchaus sein, daß das Sandmännchen kommt.«
»Oh! Le marchand de sable – pour ma chère bébé.«
»Ja ja. Das ist einer der schönsten Zustände, die ich kenne. Aber eben auch erst seit meinem Krankenhausaufenthalt.«
»Wie dieses? Warum?«
»Das hat mit meiner ganzen Rhythmusveränderung zu tun. Durch die Tatsache, daß ich so früh aufstehe, komme ich des öfteren zu einem Mittagsschlaf. Mittagsschläfchen, muß ich sagen. Was früher undenkbar gewesen wäre! So habe ich gelernt, zwischendrin aufzutanken. Es tut unglaublich gut. Und manchmal ist es eben so, daß ich mich in den Sessel begebe – darin klappt es am besten – und aufs Sandmännchen warte. Wenn der Schlaf dann so langsam kommt und ich wegsegele, dann ist das ein unbeschreibliches angenehmes Gefühl der Entspannung. Alles senkt sich langsam ab, alles wird ruhig, ich merke richtig, wie ich tief in mich hineinsinke. Und dann bin ich meistens innerhalb kürzester Zeit weg. Der wohlige Nebeneffekt ist die anschließende Frische. Manchmal bereits nach fünfzehn Minuten. Selten länger als eine halbe Stunde. Dann habe ich meistens die Energie für weitere drei bis vier Stunden konzentrierter Arbeit. Und abends gelingt es mir – im Gegensatz zu früher – im Bett dann auch, sanft das Sandmännchen herbeizubitten. Es ist ein wirklich sehr schönes Gefühl. Es kommt immer wieder mal vor, daß ich dabei erotisierende Parallelen spüre.«
»Vrai! Du meinst damit sicher dieses Eintauchen, non, dieses Wegtauchen in die Welt außerhalb der Welt?«
»Ja. Durchaus. So könnte man es auch beschreiben. Es ist ein sehr lustvolles Moment. Manchmal möchte ich es anhalten, verlängern. Aber das funktioniert nie. Ich möchte es vor allem dann, wenn ich in eine Vortraumphase gelange. Wenn es so eine Art himmlischer Gedanken sind, die langsam heranschweben. Die möchte ich gerne halten. Aber meistens falle ich dann ganz schnell tief in den Schlaf. Meistens in dem Moment, in dem ich es mir wünsche. Es ist schade. Es ist ein klein wenig wie das Herannahen eines Orgasmus'.«
»Puh ! Du machst mir Lust! Es muß so sein, wie Du es beschreibst. Ich kann es nicht. Meine motricité läßt es nicht zu.«
»Du meinst Deine Motorik?«
»Oui.«
»Es ging bei mir früher, wie gesagt, auch nicht. Vielleicht probierst Du's mal aus. Einfach mal mit mir früher aufstehen. Vielleicht klappt's ja dann. Es tut wirklich gut. Der Tag wird nicht nur länger dadurch, sondern er dehnt sich durch diese zusätzliche Pause nachgerade unendlich aus. Fünf, sechs Stunden Schlaf in der Nacht und ein Nickerchen am frühen Nachmittag. Das wird ein schöner langer Tag. Ich kriege auf diese Weise problemlos zwölf Stunden Arbeit hin.«
»Mais – was machst Du, wenn ist so lange hell? Denn ich erinnere mich – Du möchtest Dunkelheit zum Schlafen.«
»Das ist auch nicht mehr so arg wie früher. Klar. Wenn es gleißend hell ist, dann kann ich auch nicht so gut einschlafen. Gleichwohl – mittags geht es auch bei hellstem Sonnenschein. Aber nur im Sommer – auf jeden Fall nur dann, wenn die Sonne hoch oben steht.«
»Ich werde es ausprobieren mit Dir.«
»Das funktioniert auf keinen Fall! Wenn wir in die Kiste gehen, ist's aus mit Schlaf!«
»Du stößt mich weg?!«
»Ach, Liebes, Du erheiterst mich schon sehr. Du weißt genau, wie ich das meine. Ernsthaft. Ich glaube nicht, daß es zu zweit geht.«
»Ich soll es ausprobieren. D’accord. Ich werde es tun. Doch Du wirst dann auch ausprobieren, wie es ist mit Naziza an Deine Seite. Vielleicht wird es noch viel mehr himmlisch.«
»Das mag wohl sein, daß es dann abgeht ins Elysium. Aber das ist dann die Nachbarstation, andere Baustelle. Dann geht vielleicht die Post ab. Oder uns was anderes. Aber auch der Schlaf.«
»Wo ist nur meine romantique?! Ich hänge ihm einen Himmel voll mit die herrlichste Klänge. Und er sägt sich in einen Schlaf. Cheri! Es gibt einen Schlaf danach! Postludium. Nach unserem Konzert. Es ist wie eine Leben nach dem Leben! Wir haben es gehabt. Ein paar Male. Ich bitte doch sehr um heftige Erinnerung! Du ignorante.«
»Ich will‘s versuchen. Jetzt zum Beispiel. Ich glaube, das Sandmännchen naht. Vielleicht bringt es Dich ja mit in meinem Traum.«
»Dann wird es ein schöner. Von mir erhältst Du nur solches. Faites de beaux rêves! Monsieur Cupidon.«
Traumhaft
Ich erwache. Ich höre das Rattern von Rädern. Es sind Bahnräder. Seit wann fahren Enten auf Schienen? Lustig. Nein. Seltsam. Ich schaue hinaus. Ich will hinausschauen. Doch da. Da ist ein Spalt, durch den ich etwas sehen kann. Er klafft zwischen den Brettern des uralten Güterwagens. Er reicht für einen Blick. Schön. Ich sehe den Bahnhof von Valence. Großartig. Doch draußen ist diffuses Licht. Es wird die Morgendämmerung sein. Aber wo fährt der denn hin! Ich will nicht in den Osten! Auf dem Wegweiser steht in kyrillischer Schrift ein Ortsname. Es hat im Süden diese Schrift nicht zu geben. Ich will das nicht. Aber Marseille ist doch griechisch. Es ist beruhigend. Doch es ist Kyrilliza! Es ist russische Schrift. Was steht da. Unsinn. Ich kann doch keine kyrillische Schrift lesen, schon gar keine russische. Aber ich kann sie lesen. Das Rattern des runden Eisens auf den Geleisen wird immer heftiger. Nein. Ich lese nicht. Ich höre. Es wird meine Französisch-CD-ROM sein. Doch nicht. Die Räder lesen es mir vor, rhythmisch, immer lauter. Stakkatohaft. Lenin. Lenin. Leningrad. Leningrad. Wie der Mob, der skandiert. Was soll ich in Leningrad? Dort ist es kalt. Als Kind habe ich da schon jämmerlich gefroren. Ich will in meine Höhle. Ich will in Naziza. Zu der Kleinen. Ich muß das Ei mit Meeresschaum füttern. Und nun fahre ich auf Schienen nach Norden. Dafür habe ich keine Zeit! Im Süden liegen meine Aufgaben. Ich sehe an der Waggonwand einen Zettel kleben. Was steht darauf geschrieben? Über Krakau. Nach Leningrad. Nun faucht die Dampflokomotive. Swerd-Lowsk. Swerd-Lowsk. Swerdlowsk. Um des lieben Himmels willen. Der Dadde ist doch schon ewig tot! Ich will nicht in die Vergangenheit. Mir reicht die jüngste. Ich muß zurück in die Zukunft! Gottseidank. Gott? Aber Naziza hat ja einen. Er soll ja jetzt auch für mich zuständig sein. Ich höre Bremsen quietschen. Gleich wird der Güterzug umdrehen und seine Fracht in die andere Richtung befördern. Es war sicher mal wieder ein Fehler in der Software. Hier am Ural, kurz vor Asien sind sie noch nicht so weit. Und für die deutsche Software haben sie kein Geld. Die Deutschen bringen anderes Material. Sie bringen mich. Was? Mich? Mit kreischenden Rädern kommt der Zug zum Stehen. Wieder höre ich das Skandieren. Ein Pulk von Menschen. Er grölt paukenschlagartig meinen Namen. Au-ber-tin! Au-ber-tin! Diet-rich. Diet-rich Au-ber-tin! Es klingt nicht sehr freundlich. Sie rufen es sehr deutsch. Die Tür des Güterwagens wird aufgeschoben. Ach du Schreck. Da stehen hunderte Uniformierte. Sie sind schwarz. Die Uniformen. Die Köpfe sind alle hellblond. Semmelblond, wie der Bayer sagt. Obwohl es Semmelblonde eigentlich eher in Friesland gibt. Und da gibt es keine Semmeln. Die strohblonden Köpfe sind alle – auf allen Körpern befinden sich zwei dieser Köpfe. Vor dieser Menschenmenge steht jemand, der aussieht wie ein Heerführer. Ein verheerender Führer. Sehr groß. Sehr blond. Sehr blauäugig. Nein. Das kann man bei diesem Gesicht wirklich nicht sagen. Wie eben gerade gelöschter Stahl. Da ist fast noch Glut drinnen. Es ist die einzige Uniform, die nur einen Kopf trägt. Und es ist eine französische Uniform. Die rechte Hand der Uniform hält eine Leine, die zu einem Hundehalsband führt. Es ist kein Hund. Es ist mein lieber alter Grigorije. Mein alter lieber Vater. Auf allen Vieren. Seine Hände-Füße sind ganz schrundig. Um Himmels willen. Dann kann es sich nur – mein Blick wandert auf der Leine zurück zu Uniform, zurück zur Hand, den Arm hinauf, zur Schulter. Dort befindet sich ein französisches Generalszeichen aus dem ersten Weltkrieg. Mein Blick tastet sich ganz vorsichtig weiter, erst zum Hals. Ein schlanker Hals. Hätte ich nicht ein sehr ungutes Gefühl, ich würde sagen, es ist ein schöner Hals. Es könnte ein Frauenhals sein. Ein Frauenhals in einer französischen Generalsuniform aus dem ersten Weltkrieg? Das geht doch nicht. Träume ich? Nein. Ich träume nicht. Es ist Mon Général Lilian Aubertin. Das Gesicht lächelt. Ach ja. Das kenne ich. Wenn dieses Gesicht lächelt, steht mir nicht Gutes bevor. Vermutlich muß ich mal wieder drei Monate am Stück reisen. Wenn ich Glück habe. Andere kriegen einen Tag Hausarrest, wenn sie nicht artig waren. Ich werde auf Reisen geschickt. Es ist die perfideste Strafe für ein Kind überhaupt. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Allerdings weiß ich mal wieder nicht, was ich ausgefressen habe. Irgendwas wird es schon sein. Mon Général hat noch immer was gefunden. Vermutlich habe ich mal wieder ein Eselsohr in eine Buchseite gemacht. Es wird mir beim Einschlafen auf der sonntäglichen Chaiselonge hinuntergefallen sein. Das darf nicht passieren. Mit Französischvokabeln geht man so nicht um. Und dann ist es wohl überhaupt auf den Innenseiten zum Liegen gekommen. Das verheißt Höchststrafe. Ein halbes Jahr Reisen. Meistens in Hotels. Die Reise hierher war wohl erst der Anfang. Na ja, dann muß ich wenigstens nicht Klavierüben. Was auch immer. Ich werde es schon noch erfahren. Mit Erstaunen stelle ich fest, daß sich außer mir niemand in dem scheinbar endlos langen Zug befand. Ich bin der einzige Deportierte. Bin ich das? Der Zeigefinger des Generals winkt mich mit langsamen, aber unendlich zwingenden Bewegungen heran. Angekommen, werde ich von Pulk der zweiköpfigen, aber gesichtslosen Uniformen eingekreist. Eingeschlossen. Fast lautlos, aber für diese Masse offensichtlich unüberhörbar, marschieren wir los. Ich kann nicht marschieren und gerate sofort außer Tritt. Das gibt gesondert, zischt mir die Generalsstimme zu. Wir kommen im völlig vergammelten Bahnhofsgebäude an. Ein mehr als ungemütlicher Saal. Doch Bahnhofsgebäude kurz vor Sibierien waren noch nie angenehm. Ich kenne das von unseren Reisen mit dem General und unserem Hund Grigorije. Es ist also nichts neues. In der Mitte des Raumes steht ein äußerst gepflegter Renaissance-Schreibtisch, und dahinter ein filigraner Rosenholzschrank mit Büchern darin. Es sind Gesetzeswerke. Auf allen Rücken steht: Du sollst nicht! Darüber ist ein Transparent gespannt. Darauf steht geschrieben: Tribunal gegen Dietrich Aubertin! Die Masse Uniform ordnet sich im Halbkreis hinter dem Schreibtisch an. Alle setzen sich auf den Fußboden. Auch ich will mich setzen. Es knallt eine Peitsche. Sie sagt: Stehen! Ich schlafe ein. Die lange Reise hat mich müde gemacht. Ich schlafe im Stehen. Ich träume. Ich träume vom Bauch meiner Naziza, in dem wir zu Millionen spielen. Es ist ein sehr schöner Traum. Alles ist warm und weich und so schön glitschig. Manchmal hüpfen wir ein bißchen. Es ist immer so, wenn Naziza lacht, weil wir sie so kitzeln. Ich bekomme auf diese Weise nichts mit von der Gerichtsverhandlung gegen mich wegen böswilligen Verlassens einer mir zugewiesenen Staatsangehörigkeit. Es handelt sich um einen besonders schweren Fall von Pflichtverletzung. Er bedingt von vornherein eine höhere Höchststrafe. Also ein Jahr reisen. Aber fast habe ich mich an diese Strafen gewöhnt. Es wundert mich, daß es so glimpflich abgehen wird. Ich höre den Urteilsspruch des obersten Volksrichters des elsässischen Weltreiches, Lilian Aubertin. Sie erhalten wegen der Schwere des Verbrechens Strafverschärfung. Wir verurteilen Sie zur Haft in einer unreinrassigen armenisch-arabisch-afrikanischen Familie. Na ja. Meine Mutter hat ja noch nie durchgeblickt. Sie begreift einfach nicht, daß Menschen sich verändern. Daß es überhaupt Menschen gibt. Doch jetzt kommt die Verschärfung. Die Todestrafe wird Ihnen genommen. Sie dürfen nicht mehr sterben. Wir verurteilen Sie zu überlebenslanger Haft in der Einzimmerwohnung einer unreinrassigen armenisch-arabisch-afrikanischen Familie. Sie dürfen sie nie verlassen. Ohne Genehmigung der dortigen Aufsichtsratsvorsitzenden dürfen Sie überhaupt nichts tun. Die Reise ist sofort anzutreten. Sie dauert ein Jahr. Habe ich mir doch gedacht. Ich kenn' die doch. Sie führt über Grönland und die Arktis. Das Reisefahrzeug ist der Güterwaggon in dem Güterzug, mit dem Sie hierhergefahren sind. Ihre Verpflegung besteht aus Bier und Rosenkohl. Das ist schon hart. Doch ich werde mich wohl in mein Schicksal fügen müssen. Adieu mein schöner warmer weicher Bauch.
Ich erwache. Ich bin angekommen. Ich bin ganz aufgedunsen von einem Jahr Bier und Rosenkohl. Was ist jetzt? Dasselbe Bild wieder. Eine riesige Menge Uniformen vor einem Bahnhof, aber mit arabischen Schriftzeichen. Auch die Uniformen sind alle schwarz. Auch die Doppelköpfe. Aber alle tragen Tücher um den Hals, die mit SS-Runen versehen sind. Wieder ein General, der eine Frau ist. Die kenne ich aber nicht. Oder doch? Auch hier wieder diese Hundeleine. Mein Gott! Nein. Dieses Mal ist es nicht mein lieber alter Vater. Es ist Naziza, die auf ihren ehemals so schönen zarten, aber nun völlig zerfetzten Pfoten steht und zittert. Meine Naziza! Mein wunderschöner lieber weicher zarter Bauch. Die Generalin ist Ihre Mutter. Mon Général Marietta Taline el Fatah Al Arfaoui. Ich kenne sie also doch. Mütter sind die Hölle. Mir wird verkündet, daß ich meine Strafe in der Einzimmerwohnung sofort anzutreten habe. Alle Rechte sind mir aberkannt. Auch meinen Hund darf ich nicht sehen. Als Lektüre ist nur der von den Islamisten überarbeitete Koran zugelassen. Jede Zuwiderhandlung wird mit einem weiteren Jahr Unsterblichkeit bestraft.
Ich erwache erneut. Ich befinde mich allerdings nicht auf einem Strohlager in einer armenisch-arabisch-afrikanischen Einzimmerwohnung, sondern auf dem Schreibtisch eines schlichten, aber peinlich sauberen Büros. Schon wieder höre ich eine Menschenmenge. Aber sie skandiert nicht irgendwelche bösartigen Parolen gegen mich. Doch wieder höre ich Aubertin. Allerdings nicht Dietrich Aubertin und auch nicht in harter deutscher Prononcion. Sie rufen fröhlich lachend und sehr französisch: Di-dier. Di-dier. Didier Aubertin! Ich stehe vom Schreibtisch auf und gehe ans Fenster. Offensichtlich befinde ich mich in der Préfecture von Marseille. Über den Köpfen der ausgelassen herumhüpfenden und Champagnerflaschen schwenkenden Gruppe von Menschen hängt ebenfalls ein Transparent. Darauf steht in Kinderkrakelschrift: Bienvenu à patrie ! Papa ! Die Tür öffnet sich. Herein kommen drei Hähne. Naziza würde sagen – drei coq d'gaulois, denn sie sind eingewickelt in jeweils eine Tricolore. Jeder der drei Hähne trägt etwas sehr feierlich auf je einem Samtkissen. Sie bauen sich mit einer synchronen Verbeugung vor mir auf. Es sieht recht lächerlich aus, aber nicht nach einer neuerlichen Höchststrafe auf die Höchststrafe. Der eine macht einen Schritt nach vorne. Er nimmt eine Urkunde vom Samtkissen und liest vor: Aufgrund eines Erlasses des Kaisers der weltfreien Stadt Marseille – Sa Majesté l'empereur Bernard Tapie! – verbunden mit dem Ableben von General Lilian Aubertin verkündigen wir hiermit Ihre Begnadigung. Sie dürfen ab sofort wieder sterben. Einher mit dieser Begnadigung geht die der Calypso Naziza Aubertin. Auch sie darf sterblich werden. Er tritt zurück ins Glied. Der Mittlere tritt vor. Hiermit verleihen wir Ihnen die Ehrenstaatsbürgerschaft der weltfreien Stadt Marseille. Da die weltfreie Stadt Marseille die Grenzen zu Frankreich respektiert, dürfen Sie visumfrei überall hin und uneingeschränkt reisen. Er überreicht mir einen Paß, der dem französischen täuschend ähnlich sieht. Er tritt zurück ins Glied. Der Dritte macht einen Schritt nach vorne. Erst jetzt sehe ich, was auf seinem Samtkissen liegt – es ist ein Ei. Es ist das Ei der Naziza! Ich bekomme es ehrenhalber lebenslang verliehen. Es ist allerdings nicht übertragbar. Nur ich darf es befruchten. Die Drei entfernen sich aus dem Raum, lassen jedoch die Tür geöffnet. Das ist wohl ein Zeichen dafür, daß ich frei bin. Also verlasse ich das Büro und gehe nach unten.
Es ist tatsächlich die Préfecture meiner Heimatstadt Marseille. Links neben dem Ein- beziehungsweise Ausgang steht ein Zeitungsständer mit La Provence. Ich schaue drauf und sehe das Datum. Flüchtig nur, denn die Menschen, die mir zugewunken haben, laufen auf mich zu. Es ist August 1998, soviel kann ich gerade noch lesen. Dann bin ich umringt. Alle umfassen mich und küssen mich und herzen mich. Als ich wieder einigermaßen durchatmen kann, sehe ich ein paar Schritte zurück Naziza stehen. Sie sieht zauberhaft aus in ihrem leichten, weißgepunkteten dunkelblauen Sommerkleid. Sie hat eine Leine in der Hand. Mir fährt der Schrecken durch alle Glieder und in alle Poren. Nein. Lieber Himmel nein! Doch dann sehe ich, daß es keine Leine ist. Es ist eine Schnur, die zu einem Luftballon führt. Aber dazwischen befindet sich ein Kinderhändchen. Und zu diesem Händchen gehört ein Traum von einem kleinen Mädchen in einem Kleidchen aus exakt demselben Stoff wie dem von Mamans Kleid. Das Gesicht ist mit dem der Maman nahzu identisch. Die Augen sind allerdings blau. Na ja – immerhin dunkelblau, eher ein bißchen ins Schwarze gehend. Und in dem Lockenkopf blitzen ein paar fast rötlich-blonde Strähnen auf. Die Kleine schaut mich ganz erwartungsvoll an. Ich schaue lächelnd zurück. Auf einmal reißt sie sich von Mamans Hand los und rennt auf mich zu. Ich komme fast nicht schnell genug hinunter, um ihr meinem Hals zu bieten. Sie ruft laut und vernehmlich: Bienvenu Papa! Ich bin also doch noch angekommen. Wie sie heiße, frage ich sie. Mit schüchternem, aber auch ein wenig traurigem Lächeln antwortet sie mir, das sei aber sehr schade, daß ich nicht wisse, daß sie Amphitrite-Calypso heiße. Aber natürlich wisse ich das. Ich habe sie nur auf die Probe stellen wollen nach einer so langen Reise. Ich nehme sie auf den Arm. Es ist eine Wonne. Aber was mache ich denn jetzt mit dem Ei? Ich werde mich wohl mit Naziza beraten müssen. Sie kommt nun ebenfalls auch mich zu und legt sich einmal rund um mich herum. Wie sie das eben so macht und wie nur sie das kann. Sie flüstert mir ihr Glück ins Ohr.
Auf einmal stehen sie alle in Reih und Glied vor mir. Sie bedeuten mir, ich möge ihnen doch bitte verzeihen. Nie wieder würden sie mich bedrängen. Und ich möge doch nun bitte, obwohl ich ja alle erdenklichen Reisefreiheiten hätte, zuhause bleiben. Sie kämen auch nur ab und zu und würden sich nie wieder in unsere Angelegenheiten mischen. Aber ich möge doch endlich wieder zur Familie gehören. Dort sei mein Platz. Sie hätten ihre Lektion gelernt. Naziza habe ihnen auch beigebracht, daß ein Mensch auch mal alleine sein müsse. Ich nicke. Dann macht es Plopp. Es gibt herrlich leicht muffeligen Champagner. So, wie ich ihn liebe – nach altem Wein schmeckend. Nicht dieses staubende Zeugs, das die Deutschen so lieben, weil ihnen ein für Deutsche zuständiger Händler gesagt hat, daß dies trockener Champagner sei. Ich frage alle, ob das der Ort sei, wo ich meine Staatsbürgerschaft beantragt habe. Mit ziemlichem Durcheinander wird es bejaht. Nun kommt auch noch mein schwarzer Leibgardist angerannt. Mein Güte – wie ich mich freue. Und es ist schier unglaublich, was dieses nahezu ausnahmslos aus Muskeln und Sehnen bestehende riesige Kraftpaket für eine Zärtlichkeit in eine Umarmung geben kann. Heute, sagt er mir, wie immer lachend, müsse er mich ausnahmsweise nicht retten. Naziza habe ihn vertreten. Ich schaue mich sehr erfreut um und erkenne tatsächlich den Ort wieder, wo ich Franzose werden sollte. Als Mitglied einer armenisch-arabisch-afrikanisch- und ein auch bißchen französischen Familie.
Ich erwache. Ich höre leichtes Rauschen. Ich schaue hinaus aus dem Güterwaggon. Verflucht. Schon wieder unterwegs. Ich wollte und sollte doch nicht mehr reisen! Ich sehe ein Hinweisschild. Es ist französisch beschrieben. Darauf steht: Bollène 5. Moment mal. Hier kommt man doch zum Heiligen Berg des Dichters, zum Mont Ventoux des Francesco Petrarca. Eine frühe Zufahrt, ein Stück weit vor Cavaillon, wo er gelebt, oder Fontaine de Vaucluse, wo er im Gärtchen seine Canzoniere geschrieben hat. Dann merke ich, daß ich mich auch nicht in einem Güterwaggon befinde. Ich sitze, mit leicht verdrehten Gliedern, in einem Döschwoh. Und neben mir sitzt die schöne Frau, die mir soeben diese entzückende Amphitrite-Calypso geschenkt hat. Uff. So hart habe ich schon lange nicht mehr gearbeitet im Schlaf. Ich gebe einen Laut von mir, der bedeuten könnte, wieder unter den Sterblichen zu sein.
»Mon Didier! Du bist wieder zurück. Wo warst Du – mon Dieu?! Es hat geklungen, als ob Du alle Berge dieser Erde verschieben würdest. Ich wollte Dich beinahe wecken, so schlimm war es.«
»Du hattest mich in einen Traum geschickt, und ich bin Deinem Befehl auch brav gefolgt. Aber selbst dann, wenn ich Dir Bösartigkeit unterstellen würde, glaube ich kaum, daß Du mir das gewünscht hast.«
»Es war schlimm?«
»Ja. Ziemlich. Alptraum. Aber wenigstens mit gutem Ausgang. Sozusagen tout est bien finit bien.«
»Puh. Didier le Français! Merde alors! Willst Du erzählen? Oder ist es nicht bestimmt für meine Ohren?«
»Teilweise. Ich möchte auf Einzelheiten verzichten – auch gar nicht mehr daran denken. Aber es gibt ein happy end – neben der Tatsache, in Frieden neben Dir aufgewacht zu sein. Im Traum war es insgesamt viermal.«
»Viermal was?«
»Daß ich aufgewacht bin.«
»Im Traum? Aufgewacht? Viermal?«
»Ja. Ungefähr. Ich habe jedes Mal gedacht, jetzt ist endlich Schluß mit dieser Scheiße. Das Schlimme ist ja, daß Du genau weißt, daß du träumst. Und trotzdem ist es ein Alptraum. Sogar als ich eben tatsächlich wachgeworden bin, habe ich gedacht, daß es gleich weitergeht. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, daß es nun tatsächlich vorbei ist. Fürchterlich. – Also. Weißt Du, daß wir eine entzückende, zauberhafte süße kleine Tochter haben, die Dir aus dem Gesicht geschnitten ist?«
»Vrai?« Sie schluckt. »Du hast sie gesehen? Du hast unsere Tochter gesehen?«
»Du hast mit ihr gestanden, als ich von meiner schrecklichen Reise zurückkam. Quatsch. Von meinen vielen schrecklichen Reisen. Vor der Préfecture. Mit dem ganzen Clan.«
»Mon Dieu!«
»Laß mal. Es war ganz nett. Sie haben mir versprochen, ab sofort lieb zu mir zu sein. Ich erzähl Dir den Traum irgendwann mal. Den vergesse ich sicher nicht. Aber jetzt mag ich nicht. Aber von unserer Tochter will ich Dir erzählen.«
Nun hüpft sie fast ein wenig auf und ab. Ich bin erleichtert. Das sollte ich vielleicht auch tun. Aber vermutlich hindert mich mein denkschwerer Hintern daran. Andererseits sage ich mir jetzt der Einfacheit halber – ich kenne unsere Tochter ja schon.
»Sag mir etwas von ihr. Ich will wissen, was aus mir herauskommt!«
»Wenn wir das hinkriegen. Dann sind wir die Größten! Ach, die Hälfte würde auch schon reichen. Wie damals bei mir, als ich Dich zum ersten Mal sah.«
Seltsam. Auf einmal sehe ich das Bild ganz klar. Ich erinnere mich genau an unsere erste Begegnung, bei der mich diese zauberhafte Frau so hingerissen hatte, daß ich vor Angst um ein Haar gleich wieder ausgebüxt wäre. Doch ich will vorsichtig sein. Nicht, daß es wieder eine Sinnestrübung ist oder sonst irgendein Streich, den mir mein verrücktes Hirn spielt. Doch Naziza geht gar nicht weiter darauf ein. Sie denkt jetzt nur noch an ihre Tochter. Verflucht! Doch es ist ihr gutes Recht.
»Didier! Erzähle!«
»Ich bin jetzt wohl abgemeldet. Du hast nur noch Tochter im Kopf. Ich habe es geahnt.«
»Oh Didiercheri. Sage es nicht. Du hast sie schon gesehen. Ich nicht.«
»Ich weiß gar nicht, ob es so gut ist. Dann setzt Du Dir was in den Kopf, was in meinem stattgefunden hat. Das war logischerweise meine Wunschprojektion.«
»Merde. Didier. Ich habe ein Recht zu erfahren, wie die Geburt von unserer Tochter aus mir in Deinem Kopf ausgesehen hat. Eine Kopfgeburt! Meine Mann kriegt unsere Tochter aus seine Denkerstirne! Unglaublich! – Ich will jetzt meine Tochter sehen!«
»Ich vermute sehr stark, daß es meine Rezeption des Bildes ist, daß Du mir von meiner Nichte gegeben hast. Auch so'n halbes Halbnegerkind, vermutlich mit noch hellerer Haut. Ansonsten sehr ähnlich. Eher zwillingshaft ähnlich.«
»Mon Dieu! Es wäre wundervoll. Mais – Didier. Du hast gesehen unsere Tochter, die kehrt zurück zu uns. Hat Sie eine Name?«
Ich muß hell auflachen.
»Ja. Den offensichtlich Du ihr gegeben hast. Von mir kann er ja nicht sein. Denn ich war auf Reisen.«
»Du warst nicht bei die Geburt. Das ist sehr traurig. Das machen wir aber in Wirklichkeit nicht. Wir hatten das damals auch so besprochen. Ich brauche Dich in meine Nähe. Allez – wie heißt Sie.«
»Amphitrite-Calypso.«
In der Ente dröhnt es, als ob ein fünffach besetztes Symphonie-Orchester einen reinen Schlagwerkeinsatz hätte. Aber es ist nicht das Finale eines Trauermarsches.
»Calypso ich verstehe noch. Mais – Amphitrite! Die Gattin des Poseidon. Die Göttin des Meeres. Du hast eine Fantaisie! Wie kommst Du auf sie?!«
»Weiß ich doch nich'! Du hast ihr den Namen doch gegeben. Ich war ja nicht da. – Ich weiß es nicht, wie ich darauf komme. Vielleicht hat es mit dem Meer zu tun? Das kann gut sein. Vielleicht, weil Poseidon sich in sie verliebt hat, als sie tanzte. Von irgendwoher wird mein Traumerzeuger sie schon herhaben.«
»Amphitrite-Calypso. Es ist verrückt schön. Es gibt schon eine Straße nach ihr.
»He!? Jetzt spinnst‘ aber endgültig.«
»Non. Oui! Avec plaisir! Dans Montredon, huitièment arrondissement. Direction Les Goudes. Fast am Meer also. Didier! Es ist quasi eine Traum! Traumhaft schön!«
»Naziza! Sollten wir tatsächlich das Glück haben, so ein Zauberwesen zu bekommen. Gut. Herrlich. Aber – Amphitrite-Calypso! Wenn wir uns ein Fischerboot kaufen, mit dem Du vor der Île Ratonneau gestrandete Fischemörder einfangen kannst, das können wir so nennen und ‘ne hunderttausend Francs teure Flasche Champagner dranknallen. Aber jeder dahergelaufene fette Geldsack nennt sein Beiboot Calypso. Außerdem bist Du Calypso. Unter uns. Na ja, Du bist ja alles mögliche, die gesamte griechische weibliche Mythologie rauf und wieder runter. Also, wir können alles mögliche an Schwachköpfigkeiten fabrizieren – aber nicht einem Kind einen solchen Namen verpassen, den es ein Leben lang mit sich herumtragen muß. Mir gehen diese Modenamen ohnehin fürchterlich auf die Nerven. Und dann sowas! Stell dir mal vor, das arme Mädchen kommt in die Schule und wird gerufen. Amphitrite-Calypso. Und dann nennt em Ende gar halb Marseille ihre Töchter so. Nee, also wirklich nicht.«
»Die Leute sind mir – pareil. Mais, Du hast recht. Doch man kann es als zweiten und dritten Namen geben. Wenn es so kommt, dann möchte ich es. Es ist Deine Traum in unsere Traum. Es ist herrlich. Es ist wunderbar. Meine Mann hat für mich eine Tochter bekommen. Eine Kopfgeburt. Ich träume. Non. Ich will unsere Kind kriegen. Das ist noch immer eine Sache der Frau. Dieu merci! Du mußt es in mir machen, und ich kriege es. Doch Du hast nicht nur bei dem Anfertigen dabeizusein. Auch wenn es kommt.«
»Das dürfte dann allerdings eine meiner leichteren Übungen sein. Hauptsache, ich kucke dabei nicht so dämlich unter meinen Hörnern hervor wie diese ganzen anderen unglücklichen männlichen Kühe.«
»Pourquoi? Es wird kein Kamera dabei sein! Nur ein glückliche Kuh sieht das Gesicht von meine glückliche Kuh. Wir machen keine Démonstration für ein Série mélo pour arte. Es ist nur unsere Série mélo! Du darfst ein Blick haben wie unsere frischgeborene Bébé. Mir wird es gut gefallen. Vielleicht ich muß ein wenig lachen – wie jetzt.«
»Mach Du Dich lustig. – Aber ach! Naziza. Wir träumen – im wahrsten Sinn des Wortes! – von ungelegten Eiern.«
»Ein Ei! Cheri. Von einem Ei. Von ein ausgebrütete. Weshalb sollen wir das nicht träumen? Es verbietet Dir Deine Welt des Rationalen dieses? Sei nicht dumm. Wir haben etwas, von dem wir träumen können. Wir haben es wieder. Von diesem und von anderem. Sei glücklich. Germer – pas de décomposer. Naître!«
»Ach ja. Es keimt auf dem alten, verottenden Komposthaufen Aubertin. Eine Kopfgeburt. Ob mein Kopf das aushält? Ob das was wird? Ich als Erzieher zu einer besseren Welt?«
»Mille tonnerres – niais! Laß es sein. Es war alles schon einmal besprochen! Es ist jeu intellectuellement. Es ist nicht angenehm – diese coquetterie. Einmal ein kleine Witz. Bon. Das mag ich auch. Du weißt es. Pas en permanence. Und Du mußt auch nicht immer gegen Dich kämpfen. Es wird Deine capacité intellectuelle nicht kleiner machen, wenn Du Dich etwas gehenläßt in Deinem Gefühl. Das Gefühl, Didier, selbst ist ein Lebewesen! Du bist nicht ein Richter der Révolution. Du mußt Dein Gefühl nicht in die Guillotine legen. Folge Bergson, nicht Kant et ses amis. Lasse es leben. Du hast es nicht nötig. Ich habe gedacht, es ist vorbei! Es ist térrible! Diese sarcasme sind nicht notwendig. Es wird so sein, daß Deine große Essai noch viel mehr wird wachsen, wenn Du etwas hineinfließen läßt von Dir selbst und diesem, das ist ein Teil von Dir, das ist caractéristique! Muß ich kommen zu Dir mit eine Argumentation aus l'art et philosophe.
»Wie soll ich das verstehen?«
»Es gibt diese Peintre d'constructivisme aus Espagne, seine Familie ist aus Uruguay ...«
»Meinst Du Torres-Garcia?«
»Oui, Monsieur.«
»Oh! Madame beschäftigen sich mit bildender Kunst ...«
»Merde! Vrai – Du bist ein wirklicher Franzose! Monsieur! Arrogant – plaintes éternelles! Glaubst Du, es gehört Dir alleine? Das Wissen?«
»Das habe ich damit nicht gesagt. Ich bin nur erstaunt ...«
»Pah! Naturellement hast Du es so gesagt! Anders – es kommt aus Dir, Didier. Also – Du hast es auch so gemeint.«
»Also gut. Was ist mit Torres-Garcia?«
»Ich habe gesehen – er ist, glaube ich, geboren wie Dein Papa, so gegen 1875. Ich habe gesehen ein paar Bilder von ihm in Paris. Sie haben mich seltsam angerührt, diese Mischung aus Construction und Chiffre. Es ist immer ein Versuch – ein Zeichen dieser Zeit –, diese Organique zu greifen, zu fassen. Es in eine feste Ordnung zu geben. Und dabei bin ich in Gedanken gestoßen auf Nietzsche ...«
»Was mir nun allerdings wieder etwas logischer erscheint.«
»Was ist das, Didier?! Das ist sehr unangenehm, daß Du mich nicht kannst zu Wort kommen lassen. Ich möchte Dir etwas erklären. Ich möchte mit Dir sprechen, wie ich es gerne und mit viel Lust getan habe zu frühere Zeit. Es war immer gelungen. Maintenent Du bist stur wie ein dummer, alter Esel!«
»Ja. Du hast recht. Ich weiß auch nicht, weshalb ich ausgerechnet gegen Dich halte. Es ist eine alte Krankheit. Entschuldige bitte. Sprich bitte weiter.«
»Dieser Maler war also einer, der sich hat wie viele dieser Zeit mit große Euphorie aufgeschwungen hin zur neue Welt-Ordnung ...«
»Es ist mir bekannt – merde. Pardon.«
»Diese Ordnung empathique – alles muß haben eine Form. Doch sein Ursprung aus l'Amerique latine hat nach meiner Meinung immer gegeben ein Correctif der reinen Ordnung – Vernunft. Und bei Nietzsche habe ich gelesen, in ›Menschliches, Allzumenschliches‹, eine Note: ›Ursprünge des Geschmacks an Kunstwerken‹. Daß es gibt diese Culte der Symétrie. Mais, wenn er ist satt davon, der Mensch, er sucht – écoute! – Vernunft in einer scheinbaren Unvernunft. Ich sehe es so. Nietzsche schreibt von eine – puh. Was ist es: ästhetische Résolution d'une énigme? Rätsel? Frage von eine Rätsel?«
»Meinst Du Rätselraten?«
»Oui. Dies ist es. Ein ästhethisches Rätselraten. Nietzsche meint, daß nach einer Übersättigung durch die Symétrie ergo Vernunft ergo Regel der Mensch auch sucht in der Verborgenheit des Nichtwissens, in der Vermutung, in einer Ahnung. Vielleicht wie die Maya als die Nichtwissenden, vielleicht auch das Sanskrit-Maya im Veda – als eine Illusion. Diese Veda, die hineingebracht worden ist von indogermanischen Immigrantes! Zweitausend Jahre vor der große heilige Jésus-Christ! Ich meine nicht diese triviale Humanisme occidental von einem Glauben an das Wahre und Gute in den Menschen. Auch nicht diese scheinbare Geheimnisse, die man sich bemüht, als Ésotérisme auf eine Markt zu verkaufen. Ah! Was rede ich?! Du weißt es. Und – diese andere Vernunft liegt nach meiner Meinung in einer Welt des Gefühls. Es ist eine Welt der Naturvölker. Torres-Garcia hat – ich glaube, seine Mutter war eine Indio. Er greift zurück auf eine Sprache des Fühlens. Ich habe es gespürt in diesen Bildern. Und ich glaube, daß Nietzsche es so gemeint hat. Es ist dies eben die andere, die verborgene Seite von diese Vernunft. Worüber wir gesprochen haben – diese andere Vernunft. Eine andere Vernunft als diese, die wir so sehr Gebildete aus einer zivilisierten Welt haben geschaffen. Es ist quasi – le Revers de la médaille. Wir sind uns darin einig. Das ist es, was ich meine mit Dir! Von dem, das auch Dein Gefühl hat geschaffen – von Dir!«
»Aber mein Gefühl denkt nicht.«
»Doch! – Es denkt Dich. Du widersprichst Dir. Es ist noch nicht solange her, daß Du das Gegenteil von diesem gesagt hast. Du bist nicht tout seul grand esprit! Nicht diese reine Vernunft von Descartes, die den Menschen hat totale wirr gemacht mit seiner Aussage, es liegt alles in Zahlen. Ah! Ich rede selbst dumm. Es liegt alles außerhalb eines Körpers, er hat gesagt. Diese Dualisme! Hier Körper, dort Geist – res extensa, res cogitans. Dieser dumme Kopf mit seine Kopf ohne Körper! Und er hat fest geglaubt an Gott. Alles ist geschaffen von Gott. Mais – wer hat es nicht getan in diese Zeit? Also muß er gedacht haben, wie Rimbaud es gesagt hat: Ich werde gedacht. Von meinem Gott. Oder wie sonst? Ich meine diesen schrecklichen Zwang, immer alles ordnen zu müssen in ein catégorie. Ich meine, vielleicht Du bist der große Geist, wenn Du Dich freigibst von all diesem! Puh. Wir sprechen immer und immer. Und Du bist so oft in Übereinstimmung mit mir darin. Es ist so oft, daß Du mit Rimbaud hast gesprochen, mit Baudelaire, mit Novalis und viele andere. Didier – wo ist der Connaiseur l'romantisme, le flâneur d'romantique? Was ist das für eine terrible combat, den Du kämpfst – gegen Dich! Ich habe gedacht, es ist vorbei!«
»Ich weiß es selber nicht.«
»Du wirst Deiner Tochter nicht erzählen wollen, ein großer, ein guter Mensch kann nur so werden, weil er den ganze Tag nichts anderes tut als alles gegeneinander wiegen. Du willst immer sein ein Romantique? Un poète? Sa vie est un vrai roman? Puh! Didier, komme zurück zu Dir. Wo ist mein Träumer? Mon rêveur! Unsere Tochter! Die wird herauskommen aus mir, während ich unter einem Olivenbaum liege, den wir vor zweitausendsechshundert Jahre in die Calanques der Île Ratonneau gepflanzt haben, und Du meine Hand hältst und unsere Tochter deshalb eine Göttin wird. Wie ihr Papa sich das so sehnlich wünscht und weil er neben seiner Déesse noch eine hinzu benötigt. Ich werde sie ihm gerne schenken. Nicht Rom werden wir gründen, sondern Marseille! Ich weiß es – und Du weißt es auch: Le couple d'amoureux Didier et Naziza ist nicht geboren auf diesem großen alten verrottete Haufen von einer Vernunft, die gekommen ist zu uns, und kommt als Réligion protestant, eine Calvinisme zu uns. Diese Esprit ohne Utérus! Kennst Du diese Geschichte von diese Indianer, diese ‘huron – wie heißt es?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht Hurone?«
»Oui. Diese Hurone sagt zu eine Missionaire – hier eine Catholique, eine Français aus Canada! Du mußt träumen. Wie willst du sonst deinen weiteren Weg sehen? Und was antwortet dieser katholisch-demagogisch verseuchte Idiot? Er sagt, er ist zu müde zu träumen. Ihm würde Gott helfen. Und dann sagt diese Imbecile noch – welche Antwort soll man geben Menschen, die Träume für Wirklichkeit halten?!«
»Fürwahr. Das ist die göttliche Vernunft. Du sollst keinen anderen Traum haben neben mir.«
»Taratata! Wieder ein lächerlicher Kommentar – pseudo-liberté, pseudo-intectuel ...«
»Aber ich habe doch nur ...«
»Ferme-la! Diese Träume sind Wirklichkeit! Sie sind in Dir! Du hast mir einmal gesprochen von Deinem Kampf, von Deiner Vorstellung als junger Mann von nahe fünfzig Prozent Intuition und einundfünfzig der Vernunft. Von diese Waage, die immer schwankt hin und her. Du hast es erzählt, wie schlimm Du hast gelitten, so daß Du Dir eine solche Modèle hast konstruieren müssen. Didier! Es ist alles gewachsen auf zwei große Haufen voll mit Leben von Vielfalt. Et maintenent zwei Misthaufen sind gewachsen zusammen. Und nun machen wir agriculture biologique. Wir werden ganz kleine fermieres. Und wir werden soviel haben, daß wir andere davon abgeben können. Am liebsten unsere. Logiquement. Wir werden den kleinen Jardin wieder schaffen. Weg mit diese riesige Champs de monoculture! Das wirst Du erzählen Deine Tochter. Nicht diese Ungeist von eine monoculture de raison. Oder Du wirst ihr erklären wegen, mit der Kraft von Deinem Geist, daß Vernunft ist ein Summe von allediesem. Das bist nämlich Du! Und nicht Deine Versuche, Dich zu enteignen von dieser Kraft, die in Dir ist – Du alte verrottete Misthaufen an der Seite von einem alten verrotteten Misthaufen. Immer wieder treibst Du gegen diese Vernunft von einem besseren Wissen diese Mécanisme des Dualisme in Dir an. Was machst Du, wenn Amphitrite-Calypso noch einem kleinen Bruder einen großen Bahnhof für unsere kleine Welt bereitet – un bout de chou, von irgendwoher? Willst Du ihn vollstopfen mit diesen Gedanken, die Dich zu Ulysse gemacht haben? Möchtest Du diese kleine Menschen dauergießen mit diese engrais chimique, mit diese – wie heißt es? –, mit diesem Kunstdünger, der Dich hat so vergiftet, daß Du gebraucht hast vierzig Jahre et encore plus, um zu verstehen, daß Du brauchst Natur?! Ich will es gerne sein – Deine Natur ...«
»Was ich sehr genösse.«
»Mais, Didier – dann mußt Du es schließlich auch werden. Ich habe auch gebraucht ein wenig, es zu lernen, daß ich es bin.«
»Du? Das glaube ich nicht.«
»Quelle merde! Ich habe doch auch wie Du – mon Dieu! Wie oft haben wir gesprochen darüber! – geglaubt an diese sogenannte reine Vernunft! Ich bin weg mit meinem Geist von Descartes, diese Herr über Nature, vielleicht mehr hin zu Pascal. Ich bin mehr bei ihm, bei dieser Art von einem Naturwissenschafter: Geist und Herz sind Türen, durch die empfangen werde die Wahrheiten der Seele. Oder, eine sehr viel spätere Zeit, jedoch gültig, für mich: Henri Bergson. Muß ich es nun sein, die Dir erläutert, daß diese Vernunft ohne Gefühl einen Menschen krank macht. Ich meine nicht ein Gefühl, das für bestimmte Denker nichts ist als eine chemische Verbindung, die das Denken zusammenfaßt. Das ist etwas für ein scientifique de cerveau. Oder für einen Biologiste eben. Dieses Gefühl, von dem ich spreche, ist eines des laisser-faire. Es ist nicht herausgelöst aus einem Körper. Es ist in uns. Bergson weißt es nach. Lasse diese reden, die sagen, es gibt es nicht. Du sollst das leben, was Du empfindest. Auch wenn über Deinem Kopf jemand ruft, es sei nicht vernünftig. Pascal hat geschrieben: ›Descartes überflüssig und unschlüssig.‹ Bergson meinte: ›... ein böser Geist von noch größerer Macht als der böse Geist Descartes'‹. Ouf ! Genau – diese Abstraction. Diese Scuplture von reiner Vernunft! Sie ist eine Schönheit wie ein Mannequin auf die Passerelle – mais, sie hat kein Blut. Wir, Du und ich, wir lieben die Mélange, das Durcheinander. Es ist égal, ob ein Mensch ein ganzes Leben lang immer nur geht in ein einzige Quartier wie Kant in sein trou perdu Königsberg ...«
»Findest Du das jetzt nicht selbst ein bißchen arg heftig!«
»Was meinst Du?«
»Mit Kant – den Du damit quasi als Schreibtischtäter bezeichnest. Er doch ein bißchen was zuwegegedacht.«
»Er hat gedacht. Es ist richtig. Ich will dieses nicht kleiner machen. Er – und andere, par exemple unsere Encyclopédistes – haben Großes gedacht. Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß sie alle diese siècle des lumières haben geschaffen. C'est certain – diese Philosophen der Aufklärung haben uns alle dorthin bewegt, wo wir heute gehen. Doch Kant war nur ein Physique, er war immer Newton und seine physique constitutif du objet. Ästhetik und das Organische, sie galten ihm als eine Nebensache, weil sie waren nur eine perspective subjectif. Er hat Bewußtsein und äußere Wahrnehmung getrennt voneinander. Er hat es genau getrennt oder, wie sagt man – bon: scharf getrennt. Ein Einzelner hatte es sehr schwer. Fichte – und eben in Folge Schelling und eben Goethe – den Du nicht magst ...«
»Ich mag eitle Höflinge eben nicht.«
»Schelling hat seinen Lehrer Fichte – gegen Kant – weiterentwickelt – die Natur als eine große organisme, animé – was ist es?«
»Was? Animé?«
»Oui.«
»Belebt. In diesem Fall würde ich sagen – beseelt.«
»Ah! Oui. Bon alors – als eine große, beseelte Organisme – Analogie, Métaphore. Weshalb erzähle ich es Dir?! Du weißt es doch. Ich weiß auch nicht, weshalb wir hier eine Discussion führen. So oft waren wir einig über die Bedeutung von: Die Philosophie entspringt erst aus der Dichtung und wird dann auch wieder Dichtung. Wir haben nie gestritten darüber, daß Romantique ist trotz alledem nie christlich-religieux zu definieren. Puh! Et maintenent kommst Du mit Kant und seinem: immer nur Dualismus. Er, der für alles benötigt ein Étiquette. Er, der auf den Menschen eine solche Etiquette geklebt hat: Unmündig durch eigene Schuld ...«
»So'n Quark, den Du da erzählst! Unmündig meint hier, nicht selber denken zu wollen oder zu können.«
»Und daran hat der Mensch selbst schuldig? Er ist nicht Knecht gewesen von anderen Menschen. Von gottgesandten Menschen?«
»Deshalb sprach Kant ja von Aufklärung. In diesem Zusammenhang.«
»Um wieder zu einem neuen Dualisme zu kommen. Das ist gut, weil es vernünftig ist. Das ist schlecht, weil nicht reine Vernunft. Was bleibt einem Menschen dann noch, das er denken kann? Ou Descartes. Oder – wer immer. Und! Alle zusammen sie haben zudem gesehen die Frauen als Schmuck an ihrer Seite. Diese als note marginale.«
»Was soll denn das nun? Ich hab dazu doch gar nichts gesagt. So'n alter, nebenfeministischer Hut. Das ist ja nicht zu fassen. Außerdem bist Du kerzengerade von der Frühromantik in die Hochromantik und wieder zurück gerauscht.«
»Je m’en balance! Ich wollte auch nicht nur sprechen mit Dir über Romanisme, Romantique – maintenent! Doch ich meine, der Rationalismus, par exemple der Dualismus der Vernunft von Kant, diese Abwehr gegen Phénomene, gegen eine Kraft der Imanigation, gegen einen nicht geordneten Traum, überhaupt den Traum. Er hat mit eine große Last auf uns geladen. Warum kommst Du in diesem Zusammenhang nicht mit Hegel? Hegel und seine Philosophie der Freiheit! Liberté als ein weit oben stehendes Recht. Er hat das Recht des Ich in eine Gesellschaft integriert. Doch kein Absolutisme von Selbstbewußtsein! Nicht nur das Ich! Das Leben: ›eine alle einzelnen Systeme der Natur übergreifende Bestimmung‹! Und er hat dem Wissen große Bedeutung gegeben, diesen auch heute gerne von vielen Politikern gezielt falsch gebrauchten Unsinn unter sein Messer gelegt: Volkes Meinung. Wie Du es auch immer sagst – ohne Wissen keine Möglichkeit der Réflexion. Bien, er hat das Wort Réflexion nicht geschätzt. Heute haben wir etwas mehr Wissen. Heute er würde es mögen. Ich hoffe es. Ah! Nun rede ich Unsinn. Denn das Volk ist genauso dumm wie damals. Es will gar nichts wissen. Es will das, wie ich es einmal bei Dir gelesen habe: ein neues Automobile und einen zweiten Kühlschrank und einen dritten Staubsauger und einmal für das Jahr die schönste Zeit ...«
»Und das hab ich vermutlich auch bei Adorno und Horkheimer geklaut. Nix Romantik. Hochmoderne.«
»Du meinst Dialektik der Aufklärung?«
»Ja. Was sonst?«
»Didier, so wie ich es bei Dir gelesen habe, können es auch andere verstehen. Diejenigen, die es betrifft, oder diejenigen – diese dumme Volk von Gebildeten, das keine Zeit mehr hat, abstracte Gedanken, extrème gerade Linien in ein Bild zu übertragen. So hast Du es nicht geklaut, wie Du sagst. Du hast ein Traduction geschaffen davon. Vor langer Zeit hast Du es geschrieben. Es ist auch bestimmt fünfzehn Jahre her. Oder länger. Du hast Deinen Beruf ernstgenommen. Es ist zu loben. Du hast mir einmal gesagt, daß Du Dich nicht verstehst als eine critique d'art, sondern als ein médiateur. Vielleicht war auch dieses nicht ohne Eitelkeit in seine Bescheidenheit. Doch es hat mir gut gefallen, weil Du Dich zurücknimmt in diese immer schlimmer werdende Erhebung. Und so ich sehe dieses als wichtig, es zu übertragen ...«
»So schmeichelhaft das nun auch sein mag für mich – meine Übersetzung dieser ›Aufklärung als Massenbetrug‹ hat auch nichts bewirkt. Wie so vieles andere auch nicht. Von mir oder von anderen et vice versa. Und ich glaube nämlich überdies nicht an die These: Unbesiegbar ist der Endverbraucher, der es gelernt hat, die verlockenden Angebote, die ihn versklaven sollen, zu unterminieren. An seiner subversiven Phantasie werden alle Konzepte scheitern: Bill Gates' Microsoft-Paradies beispielsweise wie auch seine apokalyptische Negation. Das hat mal einer im Rundfunk behauptet, ich glaub, es war im Deutschlandfunk oder im Deutschlandradio. Ist ja egal, ist ja ein Sender. Meiner Meinung nach verliert der Endverbraucher, weil er eben alles frißt, was sie ihm ihm vorsetzen. Bill Gates' Microsoft ist doch das allerbeste Beispiel dafür. Der zahlt seine Strafe aus der Portokasse, mit Zinsgewinn, weil er den Prozeß mit Hilfe seiner gigantischen Rechtsabteilung über Jahre hinzieht. Oder sie wird ihm irgendwann ohnehin erlassen oder zumindest reduziert. Und ich Endverbaucher fresse, weil ich gezwungen bin, mich diesen ganzen Monopolisten zu beugen. Wenn ich's nicht tue, bin ich abgeschnitten vom Weltweitenweb. Mit einem Minderheitenprogramm bin ich chancenlos. Also kauf ich's. Gezwungenermaßen. Und gleich noch 'nen neuen Computer dazu. Weil er so schön ist.«
»Ich sage es doch! Du hast es geschrieben. Einen zweiten Kühlschrank und einen dritten Staubsauger – und Du vielleicht noch einen fünfte Computer? Bon – und einmal für das Jahr die schönste Zeit: Vacances. Aufklärung? Pah! Dann gibt er Ruhe nämlich. Und die Politiques haben ihre. Deine Worte. Jedoch ich verstehe es. Wer immer gehen muß in eine Fabrique wie ein Office du tourisme, an ein solches Fließband der Tristesse, er darf sich freuen auf eine andere Zeit einmal in einem Jahr. Doch er läßt sich verbrennen den Geist und den Körper von der Sonne. Er will keinen Inhalt. Er will nur bronzage. Er will nicht wissen, daß eine ornemente ist nicht mehr ein bande transporteuse für einen Inhalt. Es will tout de même décoration. Bronzage. Und diese schlimmen Protéstantes hollandaise mit ihren nicht vorhandenen Vorhängen! Diese sind auch bronzage. Sie haben sich von ihrem Dieu calviniste ihren Kopf austrocknen lassen – weil sie diese Merde in sich nicht sehen wollen, vielleicht wirklich nicht können. Sie glauben, jeder darf hineinsehen in ihre Häuser. Sie irren nicht, wenn sie sagen, es ist keine Sünde in ihnen. Es ist nämlich gar nichts in ihnen. Doch: Merde aus Lüge. Oder auch ein Buch. Eines! Nicht mehr als eines: le Nouveau Testament. Es ist ihre Reinheit. Es ist eine Scheiße, von der ihnen Monsieur Calvin gesagt hat, daß es sie nicht gibt in ihnen. Und sie glauben es. Sie glauben, es ist das Reine. Wie diese Musulmans, die lediglich gelten lassen das Wort – des Gefängnis'. Das Wort ist Behältnis für Unfreiheit. Und so es ist eben Kitsch. Weil die Lüge damit verdeckt ist. Kundera. Ah! Was sage ich?! Weshalb ich bin so erregt?! Wir haben alles gesprochen. Merde. Oui, Hegel. Wenn er auch gemeint hat, das Sinnliche sei zu unterwerfen. Bon. Er hat die Romantique nicht gemocht. Er hat damit nicht geirrt. Auch seine Bestrafung der Métaphysique. Er hat damit gemeint: Flucht vor der Welt, eine Idéalisation ohne Réalisme, nur Schweben. Dieses ist auch Industrie, die verkauft: Métaphysique als Décoration. Nicht Métaphysique als Sprache, als eine Möglichkeit, Inhalte zu bewegen. Ich sehe es so. Das ist auch nicht das, was ich mit der Romantique genießen will. Eine kraftlose Schönheit hat er sie genannt. Ich will diese Verbindung von Kraft und Schönheit. Es gibt sie. Auch wenn sie vielen nur scheint. Mir ist sie vorhanden, présent. Abwesende Dinge als gegenwärtig. ›Schein als Wirklichkeit, beide täuschen‹, schreibt Lessing in Laokoon, und beider Täuschung gefällt. Bon, bei ihm ist eine andere Zeit. Jedoch, ich lebe in dieser Zeit. Sie ist zeitlos, diese Zeit. Ich habe eine Seele, und diese hat ihre Wurzeln im zeitlosen Océan dieses Gefühls, das keine Zeit kennt. Du hast mir sehr viel erzählt von Tucholsky, und ich habe verstanden, daß dieses alles, was er geschrieben hat, auch heute exact so sehen ist. Ich sehe es so. Lessing war er ein früher Tucholsky vielleicht? Dazwischen noch andere? Es ist bekannt, wie – wie hast Du es genannt: ätzend, bei uns demnach caustique –, es war caustique, wie er Winckelmann hat seziert, diesen Priester des Idéalisme, der zwar konvertiert ist nach dem Cátholizisme, jedoch immer eine pasteur protestant geblieben war. Und es ist eine große Wonne, diese Subtilité, dieser Esprit. Und Tucholsky – war er eine Romantique? Ich werde es herausfinden. Jedoch ich bin im voraus sicher, daß er es war. Er hat nicht gehofft, er hat sich gesehnt. Mit Deinen Worten. Wir kennen diesen Lessing, der Nathan der Weise, Nathan le Sage ist, der versöhnen will, alle miteinander. Wie Tucholsky uns beide. Franzosen und – pardon. Franzosen und Franzosen, die voneinander getrennt waren. Wir können auch heute eine Verbindung schaffen zwischen einem Leben von Tatsachen und unserem Traum. Diese Grenzen aufheben. Reine Vernunft! Es ist wie reine Rasse. Lebensborn. Non – débile werden durch Inzucht. Jedoch: Contracter des unions consanguines sans amour! Pah! Merde! Hegel hat geschrieben: Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. Die Discussion über eine Interprétation bis heute oder nicht, es ist mir égal – soit! Ich lese es so, wie es geschrieben steht. Mehr Précision? Es ist möglich: Was zwischen Vernunft als selbstbewußtem Geist und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser unterscheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel irgend eines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist. Bon, dann lasse ich es eben fliegen, dieses Abstraktum. Doch dieses ist auch eine schöne Sentence – von vielen! – aus seiner Vorrede zur Philosophie des Rechtes: Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit sich dieser zu erfreuen. Et cetera. Sans fin. Es ist auch gut. D’accord. Bien, Hegel ist nicht mein Gott. Oder irgendein anderer. Diese Götter mag ich nicht. Ich mag gar nicht Götter. – Doch – meine persönliche Cupidon. – Nur die mißverstandene Réligion kann uns von dem Schönen entfernen. Lessing. Mein Gott ist in mir. Ich benötige keine Réligion. Dieser Gott einer Schönheit, wie wir sie verstehen. Wir beide! Er ist mein Relais, er kann es sein, meine Station zwischen meinen Füße auf der Erde, auch zwischen Traum und Wirklichkeit. Didier – wir beide waren uns in diese Beziehung immer einig! Und Kant und dieser Dualismus! Bergson hat hierzu von dieser sehr scharfen Unterscheidung zwischen der Materie der Erkenntnis und ihrer Form, zwischen dem Homogenen und dem Heterogenen geschrieben. Er ist mit schuld an viel Verzweiflung. Puh – ich muß Dich anschauen! Didier, es geht mir in diesem Augenblick doch nur um dieses – es macht mir Problèmes, wie ein Mensch, der en permanence bleibt an einem Ort, der nicht reist herum – es muß nicht sein toute monde, jedoch ein wenig soll es sein. Nehme dieses – deutsche – Beispiel Jean Paul. Er ist immer gereist ...«
»Dieser von mir durchaus – das weißt Du sicher genau! – höchstgeschätzte Jean Paul hat, beispielsweise, um 1795 in seiner Vorrede zu Quintus Fixlein – im übrigen, um auf Deine feministische Randbemerkung einzugehen, einer flammenden Verteidigung der Frau, in seinem Angriff gegen die tumben Männer und deren Versuche, das sogenannte schöne Geschlecht in der Unmündigkeit zu belassen, es hat also auch in der deutschen Romantik vernünftige Aufklärer gegeben – sich exakt auf Kant bezogen! Wobei ich mich jedoch nicht daran erinnere, daß er den Namen genannt hat.«
»Encore! Du zeigst mir mein Land! Es ist das Terrain meiner Éducation, in dem Du mir Wege zeigst! Weshalb tust Du das? Du weißt es doch! Du hättest doch ein Lehrer werden sollen. Didier! Ich weiß es. Es sind die deutschen Genies, die ihre schützenden Hände der Faintaisie über eine Vernunft gegeben haben, die nicht aus dem Fluß einer mécanique abstrait entspringt, aus diesem Mißverständnis von deutschen Duodezfürsten – und nicht nur diese! –, Aufklärung à la français hineinzuzwingen in ihr Land ...«
»E. T. A. Hoffmann meinst Du?«
»Oui. Jedoch nicht nur! Diesen Esprit gab es nicht bei uns. Es hat sehr viel Druck ergeben durch diese Art Willen zu Raison. Es folgte Psychologie, et cetera. Bei uns kam der Topf später zum Überlauf. Daraus entstand die Symbolisme. Niemand verstand es mehr. So schön es ist. Wir hatten Problèmes damit. Eh bien. Es war eine wunderbare Vernunft in vielen Farben und des Humour, die dort gemalt worden ist. Gegen diese Vernunft sage ich nichts! Ich meine anderes. Zuvor meine ich jedoch einmal, daß er sehr scharf auch Kant kritisiert hat. Jean Paul hat in seinen ästhetische Ansichten – es war auch später als Quintus Fixlein, etwa zehn Jahre später! – geschrieben von den drei Abendland-Weisen und Könige der drei philosophischen Systeme, Kant, Fichte und Schelling – wenn anders, so Jean Paul, die Anspielung zu wagen ist, da diese Morgenland-Weisen mehr anbeteten als angebetet wurden. Hierbei, dort liegst Du nahe, schneidet der von Dir angebetete Kant am besten ab. Meine Gedanken jedoch sind diese: Wie kann ein Mensch, der nichts anderes sieht als sein Quartier, über eben diese Welt, über diese Menschen in diese Welt ein Urteil abgeben?! Wie kann ich nicht leben und dennoch darüber berichten? Ich glaube, es war diese Jochen Gerz, der es hat gemacht – um zu zeigen, daß es ist ein Nullité zu reisen – wenn er fährt hin- und her in le Transsibérien. Mit diesen zugehängte Fenster man sieht nichts, auch wenn man Millions von Kilometres fährt ...«
»Nun widersprichst Du Dir aber gewaltig! Kant wirfst Du vor, er sei nicht gereist. Und dann nennst Du in einem Atemzug Jean Paul, der immer auf Achse war. Und fährt einer wie Jochen Gerz, um zu zeigen ...«
»Weshalb unterbrichst Du mich immerfort? Weshalb läßt Du mich nicht aussprechen? – Ich ziele dorthin: C'est pareil! Es geht um die Vielfalt, diese unterschiedlichen Sources, die laufen zusammen in einen großen See, daß nur dort Leben kann entstehen. Voilà – die Théorie ist der Humus. Es ist Unsinn. Humus ist Nature. Théorie ist das Überdachen von Gewachsenem, von Humus. D'accord ...«
»Naziza – die Denker denken. Die anderen führen aus.«
»Idiot. Du sagst es doch selbst immer – eigene Gedanken haben. Nun Du sprichst so.«
»Nun denn – vielleicht war es ja auch eher ein bißchen ironisch gemeint ...«
»Man weiß es nie bei Dir! Merde!«
»Stimmt. Manchmal weiß ich es selber nicht. Und schon gar nicht, ob es eigene Gedanken sind.«
»Oui, Didier. Dieses glaube ich Dir! Encore – es geht mir um das Treten auf einer Stelle, égal, ob ein Mensch sich viel befindet auf Reisen, ob in seinem Kopf oder mit l'express transibérien. Du bist unterwegs viele Jahrzehnte und siehst nichts. Wie oft haben wir diskutiert! – Und Du und Deine große Rede zur Verteidigung von Europe. Es klingt in meine Ohren! C'est de la pure théorie. Es war nur Théorie von diese merde personnes d'politique. Sie benutzen diese pseudo Rationalisme für ihre Zwecke. Sie nennen sie Vernunft. Sie biegen sich das, wie sie möchten. Sie nennen es praktische Théorie! Beurk! Du siehst es überall, was es ist geworden! Ich treffe Dich wieder nach mehr als drei Jahren. Was ist es – maintenent? Monsieur Aubertin parler – j'accuse! Ein paar Male ich habe gedacht, daß dies nicht ist der Mann, den ich geheiratet habe 1998 und mit dem ich habe gestritten über solches. Dieser hat mehr Nuances. Didier Aubertin schimpft! Fluch über dieses Europe! Über dieses Europe, das sich dreht in sich. Das verliert den Contacte zu dem Boden. Zu den Menschen, die solches Europe nicht wollen. Diese Europe der Politiker, die jede Organique ignorieren. Sie konstruieren nur noch Büchsen von Plastique für Hoffnung, eine Hoffnung des Scheines, weil Pandore hat alle Übel bereits herausgelassen. Also, nicht für Hoffnung. Für Täuschung. Und weil alle nichtwissenden Menschen sich getäuscht sehen, sie suchen Hoffung in Berlusconi und Le Pen und in diese anderen Charlatans und Betrüger. Und sich schaufeln ihr eigenes Grab. Weil es ist eine so herrliche Ordnung. Herrlich! Wie bei Hitler. Also, was ist geschehen mit einemmal? Mais – ich bin glücklich darüber. Wüßte ich nicht, daß es daran nicht liegt, ich könnte stolz sein ein wenig auf mich, auf meine Kraft einer Überzeugung ...«
»Ach Scheiße – Du hast ja so recht. Es wird schon so sein – zumindest. Ich habe vielen Menschen zugehört zu diesem Thema – und darüber nachgedacht. Allerdings hat mir mein glückliches Unglück dabei vermutlich geholfen.«
»Das verstehe ich nicht – glückliches Unglück.«
»Ja doch – Glück im Unglück. So oder so. Ist doch egal. Ist ‘ne Wortspielerei. Sonst nichts. Ich meine damit nichts anderes, als daß ich durch die Ereignisse in meinem Gehirn zu anderen Gedanken gekommen bin. Oder anders – daß ich zu einer anderen Vorgehensweise gelangt bin beim Denken. Möglicherweise hat Herr Schopenhauer sich praktizierend eingeklinkt ...«
»Schopenhauer? Arthur Schopenhauer legt persönlich Hand an bei Didier Aubertin?!«
»Na ja – ich klittere mal wieder. Aber es gibt auch eine konkrete Assoziation. Es geht dabei um den Intellekt im allgemeinen und das Genie im besonderen. Er hat in Parerga und Paralipomena mal geschrieben, man müsse sich, um außerordentliche, wirklich originelle Gedanken zu haben, daß also einem Gegenstände und Vorgänge als völlig neu und unbekannt erscheinen, daß man sich dazu der Welt und den Dingen auf einige Augenblicke gänzlich entfremden müsse. Nun gut, es war nicht Herr Schopenhauer persönlich. Es war sonstwer, der bei mir vorübergehend den Strom abgeschaltet hat, der die Normalität, das eingeschliffene, gewöhnliche Denken mit Energie versorgt. Vielleicht war ich‘s ja selber, der sich – unwissentlich – mit Hilfe des Exzessiven zu diesem Zenit geschossen hat. Vielleicht ist‘s auch tatsächlich lediglich ein schlichter Konstruktionsfehler, geschaffen von der Natur, eine bei mir sich auswirkende Fehlplanung der Evolution. Wie auch immer. Doch scheinbar ist es Auslöser für ein völlig neues Denken gewesen. Genau weiß ich es nicht.«
»Oui. Es hat sich vieles geändert. Ich stelle dies auch mit Staunen fest – und auch mit einem guten Gefühl. Mais – dann sage auch nicht immer wieder das Gegenteil von dem, was Du denkst. Und nicht gegenüber mir! Nicht immer wieder diese Sarcasme. Du mußt mir nicht beweisen, daß Du denken kannst. Nun vielleicht noch besser als davor. Ich also weiß es. Mache also nicht den Pfau zu mir! Du brauchst es nicht. Nimm Dein Énergie für mich, für uns, für unsere Famille. Für die kleine und die große. Das klingt manchmal wie früher, als wir gestritten haben. Par exemple über José Bové. Du hast über ihn gelacht, damals. Dabei hast Du nichts gewußt! Du warst wie alle anderen von diese große Idiotes, die nur leben in diesen Urteilen über ihre Vorurteile! Das sind Deine Worte! Bové ist eine große Visionnaire. Er hat bereits vor fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre oder noch mehr gesehen, was zu uns kommt. Du hast Dich belustigt darüber, daß er gesagt hat: Je mehr wir haben die Füße auf dem Boden, um so mehr wir haben den Kopf in den Wolken. Phrases ronflantes, leere Phrases, hast Du gelacht. Doch Du hast nicht davon berichtet, was er vor diesem Satz hat geäußert! Du hast es gemacht wie so viele andere Journalistes – falsch zitieren, so daß es eine andere Bedeutung bekommt ...«
»Stimmt. Gebe ich zu. Ich hatte das Zitat so aus einer Zeitung entnommen.«
»Siehst Du es?! Doch heute gestehst Du es ein. Es war nämlich: Wir sind der Überzeugung, daß die Geschichte uns immer wieder neue Fortschritte entdecken läßt, aber daß man nichts Wahres oder Schönes tun kann, wenn man die Vergangenheit vergißt. Danach folgt: Je mehr wir haben die Füße auf dem Boden, um so mehr wir haben den Kopf in den Wolken.«
»Ja. Mittlerweile habe ich das Buch gelesen. Und es hat eben mit diese Veränderung bewirkt.«
Mais – die ganze Welt kennt ihn als einen kleinen Mann, der ein wenig amerikanischen Beton hat kaputtgemacht – secouer les puces à le grand MacDonald’s. Er geht dafür auch noch à la taule. Drei Monate er hat bekommen für das Zerstören von Zerstörung. Bové zeigt uns jedoch die Zukunft, indem wir uns erinnern an das, was wir haben falsch gemacht! Horkheimer und Adorno mit ihrer Warnung, die Du übersetzt hast. Er hat es in einer neuen Sprache, in der unserer Agriculture, wiederholt und einiges hinzugefügt. Und durch ihn es gibt sogar in diese Monstre de agriculture France es gibt inzwischen ein paar Menschen, die eine Ahnung haben, es könnte éventuel richtig sein, einen Schritt zu machen zurück. Aller en unité – diminuer. Dieses Europe bringt uns alle um. Die Version européen de mondalisation. Weil nur gedacht wird in Euro! Nicht in Mensch. Es ist auch gegründet als eine Gesellschaft des Handels. So machen sie immer weiter. Euro-Pa. Wir brauchen Attaque, attac! Bové, Bourdieu, Chomsky, alle Deine Préférés, zumindest letzte beide ...«
»Ach. Durchaus auch Bové. Mittlerweile. Bist Du denn Mitglied von attac?«
»Ich bin es nicht. Ich bin auch nicht Mitglied in einer Kirche. Non. Es ist Unsinn, was ich sage. Es ist nicht zu vergleichen. Ich bin eine Sympathisante. Wir müssen sein füreinander. Und Du bist es auch. Ich weiß es. Doch Du weißt vieles nicht. So muß ich Dich ein wenig korrigieren. Was wird uns bringen – Du hast davon vorhin mit Enthousiasme gesprochen, viele Franzosen seien dafür – ein Europa als Gegenpol zu eine Économie mondiale. Was soll es? Was macht es für uns normale Menschen? Wir werden noch mehr schlucken Merde. Wir sind bereits alle Vide-ordures von diese Geldmaschinen, wir schlucken Müll. Mal bouffe. Es wird nicht besser werden. Sie machen alles mit uns. Wir lassen uns alles gefallen. Es ist mir égal, ob es ist Scheiße aus Amerika oder aus Europa. Ich fresse es nicht. Dafür ist das Deutsche die richtige Sprache: Scheiße fressen. Ich esse ...«
»Aber, Naziza ...«
»Non. Non! Il n'y a pas de mais qui tienne! Ich bin wütend. Und wenn ich wütend bin, gibt es keine Aber. Keine solche Aber! Und ich bin wütend, weil ich denken muß an uns alle. Oui – ich denke auch an uns, an unsere kleine Welt, die wird kommen. Unsere kleine Welt, die ist ein Teil von diese andere große. Schaue dorthin, was geschieht in diese Zwei- und Dreiklassensocieté Europe – Pologne. Es ist intacte, passablement. Die Paysans dort sollen mitmachen. Diese Bauern sollen es tun, obwohl wir alle wissen, daß es falsch war und ist. Die Gesetze von diese Monstre Europe sind autonom geworden. Le größte Dichter aller Zeiten: Die Geister, die ich rief ... Und wer noch einmal nimmt das Wort allemand-juif Marx nur in die Mund, wird für fünfzig Jahre in die Gulag verurteilt. Glucksmann et Consorts haben damit begonnen. Damals. Daß es dort jetzt heißt La Russie und nicht mehr l'Union Soviétique, es ist so égal wie Europe ou les U.S.A. Maintenent darf Glucksmann schimpfen auf Rußland. Wo ist ein Unterschied? Die Menschen haben nichts zu essen. Es spielt ihnen keine Rolle, ob Monsieur Putin ist frei. Sie sind es nicht, wenn sie haben Hunger. Und sie haben Durst nach eine Communauté. Sehnsucht nach einem Miteinander. Es ist gegangen. Du weißt, daß ich nicht will Stalin. Wie oft Du hast mit Habermas gesagt: Das unvollendete Projekt Moderne. Ich stimme Dir zu, nicht unbedingt in den Gedanken von Habermas aus diese Zeit. Jedoch auch er hat sich nun ein wenig gewandelt. Oui! Auch Lenin ist nie in Wirklichkeit fortgesetzt worden, fortgesetzt gedacht. Das ist nicht zu diskutieren. Doch es gibt eben diese Idée von einem Gemeinsamen, das auch in einer Politique zu realisieren ist. Das nimmt mir niemand! Ich will gemeinsam sein mit andere. Mit Dir und unsere Kinder zusammensein mit andere. Merde Euro et Dollar! La nouveau réligion!«
»Ich muß Dir recht geben. Ich vermute, in allen Punkten.«
»Was soll dies? Warum sagst Du nicht in einem Gespräch zwischen uns beiden, die wir uns lieben und die einen Ort finden möchten für ein Leben, non, für viele Leben, es könnte mit uns eine Zukunft geben – warum sprichst Du in diese Affectation?! Weshalb sagst – es könnte sein. Vielleicht noch in diesem dummen deutsche doppelte Konjunktiv aus der englischen Sprache, von diesen Politikern, was ich immer wieder höre in le Télévision, wenn die Traduction français noch nicht liegt darauf – was Du immer in die Kritik nimmst: Es möchte sein. Ich wünschte mir. Ich wünschte mir, daß ich mir wünsche? Es wünscht mich? Oder wie sonst? Diese Futulités, diese aufgeblasene. Es ist dumme Eitelkeit. Du sprichst so, wenn Du sagst: Ich vermute, in allen Punkten. Davor sagst Du: Ich muß Dir recht geben. Selbst dort nimmst Du bereits weg, obwohl Du mich vielleicht willst küssen, anstatt überhaupt etwas zu sagen. Du kannst doch sonst auch sagen: Naziza, Du hast recht. Didier, mon amour – Du hast solches nicht nötig. Spreche doch normal mit mir. Mache es – quant à moi – in einem Deiner nächsten Gespräche mit eine Homme de politique oder mit eine Philosophe en passavant. Du kannst so wundervoll schön sprechen mit mir. So herrlich – vrai. Wir sprechen über unsere Zukunft, über unsere Famille, darüber, was Du vielleicht unserem Kind, vielleicht unsere Kinder und was Du vielleicht ihnen über die Welt wirst sagen – und nicht auf eine Campagne électorale. Ich bin nicht Madame le Ministre.«
»Meinst Du nicht, daß Du jetzt ein wenig arg übertreibst?!«
»Siehst Du! Encore! Voilà. Es ist möglich. Vielleicht. Aber nur ein wenig. Ich will, daß Du mich liebst. Und wenn Du es tust, bin ich glücklich. Denn es ist alles enthalten darin. Das ist Vernunft! Mais – ich will nicht, daß Du zu mir sagst: Es könnte sein, daß ich vermute, ein wenig anzunehmen, Dich zu lieben. Futulité! Dann sage nichts. Nicht so etwas. Es ist oft, daß Du mich anschaust – und ich weiß es. Céleste! Und wenn Du mir jetzt bist böse. Dann ist es nicht angenehm. Dann muß ich anhalten und Dich umarmen und Dich bitten, es nicht mehr zu sein.«
»Non. Chérie. Es wäre zwar wunderschön. Aber deshalb mußt Du es nicht tun.«
»Du willst es nicht? Du ver – quelle mot! – verschmähst mich!«
»Neiiiin! Das tue ich nicht! Ich bin nur wieder eindimensional vernünftig. Wie heißt es französisch?«
»Quelle? Eindimensional ...«
»Non. Verschmähen.«
»Es gibt nichts so schönes wie im Deutschen – dédaigner. Faire fi le – Du tust es nicht?«
»Nein, Du Ulknudel.«
»Mon Dieu! Was ist das. Moment – Ulk, c'est plaisanterie. Mais nouille? Nouille de plaisanterie? Drôle.«
»Genau. Drollig bist Du. In diese Richtung geht es. Du hast es außerdem übersetzt. Und selbst, wenn ich wütend gewesen wäre, könnte ich es jetzt nicht mehr sein. Also keine Verschmähung. Keinerlei. Nie nicht. Wie auch immer – so heftig kenne ich Dich jedenfalls nicht.«
»Kennst Du mich?«
»Ich glaube schon.«
»Wo hast Du mich kennengelernt? Eben gerade? La Furieuse Naziza. Du weißt, das ist nur ein kleines Stück.«
»Aber ich kenne sie. Sie hat mir schon einmal den Kopf gewaschen. Aber wie!«
»Pah! Das habe ich ein paarmal! Ich liebe es, mit Dir ein Douche zu nehmen. Du bist so schön klitschig. Dann Du einmal – und nicht immer nur ich.«
»Glitschig, Naziza – Du kennst doch das deutsche Sprichwort!«
»Sicher, ich kenne das. Und ich spüre etwas auf mich zukommen. Es ist wie in meine kühne – cela dépasse mes plus beaux rêves. Du beginnst Dich zu erinnern. Ist es richtig?«
»Ja. Immer mehr.«
»Dieu merci! L'affaire s'est terminée heureusement.«
»Sie hat noch kein Ende gefunden. Aber ich glaube, es naht. Irgendwie scheint mir mein Alptraum mit dem guten Ende dabei geholfen zu haben. Vielleicht war es auch, daß Du mir eben den Kopf gewaschen hast. Vielleicht kommt auch alles zusammen.«
»Didier – Du machst mich glücklich.«
»Die Sache mit José Bové. Daran erinnere ich mich. Stimmt es, daß es an der place de Lenche war?«
»Mon Dieu! Oui. Ich habe mit ein Stück Pizza nach Dir geworfen. Aber ich habe mich sofort hinterher geworfen an Deine Hals. Es war mir weggerutscht.«
»Nein. Es war Dir nicht weggerutscht. Es befand sich auf Deiner Gabel. Lange. Sozusagen warnend. Wie im heiß gewordenen kalten Krieg zwischen den Amis und den Russen. Hinter dieser Gabel als Waffe befand sich ein wildglühendes Paar armenisch-arabischer Eierbriketts. Auch Warnung, Abschreckung. Es hat nichts genutzt. Denn ich habe dann noch irgendein Wort gesagt, weil ich eben immer das letzte haben muß. Es kann sein, daß ich etwas provokativ gesagt habe – dieser kleine, armselige Bauernrevoluzzer oder sowas ähnliches. Dann hast Du die Gabel benutzt wie eine Wurfschleuder. Dann war es heißer Krieg. Dann hatte ich es am Hals. Aber nicht das schöne Weib, das zu den glühenden Eierbriketts gehört, sondern das – glücklicherweise mittlerweile bereits abgekühlte – Stück Pizza.«
Auf einmal rumst es. Reifen quietschen. Steine wirbeln durch die Luft, ans Autoblech. Ich werde nach links gedrückt. Mit einem Ruck steht die Ente. Bevor ich mich versehe, hängen die Eierbriketts mitsamt dem dazugehörenden Körper an meinem Hals. Es rüttelt und schüttelt ihn. Innerhalb kürzester Zeit schwimmt mein Gesicht, mein Hals, alles in Tränen. Rufen, Kreischen, Weinen, Lachen – alles auf einmal. Meine Naziza ist in einem mehr als waghalsigen Manöver auf den gerade mal eben zufällig vorbeikommenden Parkplatz geschossen. Und wieder einmal hänge ich in dieser Klammer aus federleichtem Gefühl. Es ist zwar nur der obere Teil dieses schwarzen Schwans, der sich um meinen Hals schmiegt. Doch ich spüre ihn in jeder meiner Phasen und Poren – Abschnitt einer stetigen Entwicklung, eine Zustandsform, Stufe. Astronomisch bei nicht selbst leuchtenden Monden oder Planeten die Zeit, in der die Himmelskörper nur zum Teil erleuchtet sind. Oder die daraus resultierende jeweilige Erscheinungsform der Himmelskörper. Ein Aggregatzustand eines chemischen Stoffes, zum Beispiel feste, flüssige Phase. Eine Größe, die den Schwingungszustand einer Welle an einer bestimmten Stelle charakterisiert, bezogen auf den Anfangszustand, ein Schwingungszustand beim Wechselstrom des Drehstromes. Ach was – selbst wenn ich es mehrfach herunterbete, dieses Wörterbuch zum Begriff der Phase, es reicht bei weitem nicht aus, es ist nichts als Physik – ein Wörterbuch der durch die Liebe verursachten Phasen gibt es nicht. Ich werde es auch nicht schreiben können, da ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, das zu tun, was mir meine Liebste befohlen hat – endlich zu fühlen und nicht darüber nachzudenken oder gar aufzuschreiben, was oder wie es sein könnte. Unendlich langsam und vorsichtig und etwas ruhiger werdend löst sich dieses lachende und kieksende Tränenmeer von mir.
»Mon Dieu! Didier – was habe ich getan? Wollte ich uns umbringen?«
»Ich weiß es nicht. Nicht wie. Auf jeden Fall hast Du's zunächst einmal damit versucht, mich zu ertränken. Ich schwimme gleich weg. Du mußt gleich was trinken. Du mußt ja völlig ausgetrocknet sein. Alles Wasser ist aus Dir heraus und auf mir drauf.«
»Mon Dieu! Didier. Es ist alles und alleine Deine Schuld. Wären wir jetzt tot – Du trügest die einzige Schuld!«
»Dürfte ich wenigstens den Grund meiner Mordlust erfahren?«
»Du fragst?! Ich glaube es nicht. Du siehst, welch ein roher, gefühlloser Mensch Du bist. Du kannst doch nicht bei eine solche Geschwindigkeit mir so etwas sagen. Du hättest warten müssen, bis wir angehalten sind. Oder Du hättest eine Warnung geben müssen.«
»Womit denn, bitteschön?!«
»Als Du es gesagt hast – das mit die Pizza.«
»Aha. Mit der Du auf mich geschossen hast.«
»Von der Du nicht gesagt hast, daß ich ihr prompt hinterhergeflogen bin, weil ich mich entschuldigen wollte.«
»Es stimmt. Mindestens so schnell, wie Du eben in den Parkplatz eingebogen, nein, geschossen bist. Nein. In den bist Du rein, wie das Pizzastück von der Gabel runter ist.«
»Doch ich hatte Dich gewarnt.«
»Gar nichts hast Du gesagt. Ich dachte eben, wir wären in einen fürchterlichen Unfall verwickelt.«
»Ich meine – damals, an die place de Lenche. Ich hatte Dir gesagt, Du sollest nicht immerfort so dumme Sachen sagen. Du hast nicht geendet damit. Und dann ist es losgegangen.«
»Das Stück Pizza mit viel Käse.«
»Oui.«
»Ganz von alleine hin an meinen Hals.«
»Oui. Ich hatte keine Macht. Es war mit einemmal weg. Und ich bin dahinter her, weil ich mich für es entschuldigen wollte.«
»Für das Pizzastück, das schlimme. Oh, Naziza.«
»Didier. Es ist eben hineingegangen wie eine Éclair in mich. Ich glaube, es waren un million Volt. Du weißt, daß man sich nicht mehr beherrscht bei diese Anzahl von Électricité. – Es ist wunderbar. Du weißt es schon länger?«
»Nachdem ich aus dem Traum hochgekommen war, ging es auf einmal los. Nicht wie das Stück Pizza oder eben die Ente. Aber es kamen immer mehr Bilder. Aber ich konnte Dir nicht ein einziges schildern, da Du mich ja erst verbal verdreschen mußtest. Und mich eben umbringen.«
»Non! Das wollte ich nicht – et quand, dann uns beide!«
»Liebes, kennst Du das Chanson von meiner Zweitfrau – das Du eben beinahe sehr gnadenlos in die Wirklichkeit übersetzt hast?«
»Es ist mir zwar bekannt, daß es eine Frau neben mir gibt, was ich nicht sehr gerne mag. Puh! Mais – sie ist eine Chimère ...«
»Ist sie das?! Enzo Enzo ist eine zauberhafte, eine sehr schöne Frau!«
»Dieses verbiete Dir zu sagen! Ich bin Deine zauberhafte Frau! Wenn Du es nicht willst glauben – ich fahre sofort weg und ganz schnell, zweihundert Kilometre en heure, und wir fahren sofort gegen eine Baum. Dann gibt es nur noch ein Zauberfrau bei Dir – en Ciel. Compris?!«
»Das wird die Ente zwar nicht ganz schaffen – aber, genau: Das meine ich ja! Kennst Du's nicht? Die Sache mit dem Anhalten?«
»Was muß ich kennen von eine andere Frau – von Deine Zweitfrau. Puh!«
»Ich versuch's mal hinzukriegen – in meiner Übersetzung:
Solange bis ...
ich will schäkern, herumtollen
aber wenn ich trotzdem anhalten will –
die Liebe ist wie Alkohol.«
»Oui-oui, Monsieur. Ungefähr so. Ein wenig ungefähr. Aber ich höre es so:
En attentand mieux
moi je batifole
mais j'arrête quand j'veux
l'amour est un alcool
Es ist wunderschön. Ich habe es durch Dich erfahren. Ich höre es oft! Sehr oft. Ich mag es sehr, sehr gerne. Es hat mich auch immer an Dich erinnert. Und sie hat recht, Deine Zweitfrau. Liebe ist eine Art von très bien vin. Manchmal es ist ein apéritif, eine vin de pays, ein wenig âpre, sec, wie Du, einmal ein Cru Bourgois, auch ein vin douce, nach dem Fließen. Bien. Alles wie Du. Einmal so und einmal anders. – Oui. Es ist ein sehr schöne Lied. Trés folle ist diese Musik, diese – was ist es? Eine Samba? Mais – die neue Musik ist ganz anders. Sie ist sehr neu! Du mußt sie hören. Diese Frau neben mir macht wirklich sehr gute chansons. Meine Mann hat einen sehr guten Geschmack. Ich muß es sagen. Ich muß mich wohl auch in Zukunft mit diese Zweitfrau abfinden. Aber ich muß nun einige nicht mehr so oft hören. Denn dieser Mann mit diese gute Geschmack ist wieder bei mir. – Puh. Didier. Sie hat eine Lied auf ihre neue CD – es ist schrecklich. Ich habe immer weinen müssen.«
»Weshalb denn?«
»Rien ne sèche plus vite qu une larme – es erzählt von eine Mann, der ist einfach verschwunden. Terrible! Fin.«
»Na. Die muß ich mir ja bald anhören. Vielleicht kann ich ja was lernen.«
»Garder! Non, Cheri. Sie ist verlassen worden. Das andere – Du kannst es bereits. Es gibt einen Unterschied ...«
»Der da wäre?«
»Er hat ihr ein Nachricht hinterlassen. Du nicht.«
»Oh! Naziza. Jetzt machst Du's mir aber sehr schwer. Ich bin ja bereit, Sühne zu tun. Aber ich bin noch nicht soweit. Daß ich mich so langsam an Einzelheiten zu erinnern beginne, heißt nicht, daß, daß ich alles überblicke. – Aber überhaupt! Woher wußtest Du denn, daß ich nicht entführt worden bin von der Mafia oder der Polizei? Oder von meinen geliebten Fischen meines geliebten Mittelmeers in deren ewige Jagdgründe? Oder über allem schwebe, weil ich aus meinem Körper gefahren bin?«
»Es ist nicht correct, wenn ich sage keine Nachricht. Nach etwa einer Woche Du hast einen Brief geschrieben. Darin hat gestanden, daß Du es kurz machen willst, um das Leiden nicht zu verlängern. Ich nehme an, es war Dein Leid, das Du gemeint hast.«
»Ach du meine Scheiße!«
»Es ist richtig. Es war nicht sehr schön. Doch es ist gut. Non. Es ist nicht gut. Doch ich sehe es – es ist nicht sinnvoll zu drängen. Ich bemühe mich, etwas geduldiger zu sein. Wir sprechen darüber besser ein anderes Mal. Ou alors – non. Sollen wir weiterfahren?«
»Ja. Sicher doch. Aber jetzt laß mich fahren. Ich bin jetzt fit. Vor allem laufe ich dann nicht mehr Gefahr, in irgendwelchen Wahnsinnsmanövern sozusagen um die Ecke gefahren zu werden.«
»War es sehr schlimm?«
»Ach was. Ich habe allerdings schon einen großen Schrecken gekriegt. Ich dachte tatsächlich an einen Unfall. Andererseits empfinde ich Deine Spontaneität als herrlich. Das brächte ich nie hin. Wie den Pizzaschuß.«
»Je crois – es ist gut, daß wir nicht beide so sind. Es wär vielleicht ein wenig gefährlich. Bien. Ich rutsche hinüber. Übernehme unser Flugzeug, mon Capitaine. Du darfst über mich ...«
»Ach, Du Lustmolchin.«
»Was ist das? Wieder etwas Schlimmes.«
»Meine Güte. Wie soll ich das erklären? Wir sagen das so. Weshalb, weiß ich nicht. Vermutlich, weil er sich überall verstecken kann. Möglicherweise auch, weil er so glitschig ist und überall reinkommt. Ich weiß ja nicht einmal, was Molch auf französisch heißt. Sie leben zur Paarungszeit im Wasser.«
»Oh! Oui – triton. Auf dem Land es ist ein Salamandre. Ich glaube. Es sind schöne Tiere. Es sind Saurien, ich nehme an.«
»Eine Echsenart, sicher.«
»Schön. Lustmolchin. Ich habe eine Lustmolchin ...«
»Nein. Wenn ich einer wäre, dann ein Molch. Ich bin das Männchen. Die Molchin bist Du.«
»Bon. Ich bin eine Lustmolchin. Doch ich habe keine Molch. Es geht nicht glitschig über meine Schoß. Ich habe keine Molch. Ich habe ein männliche Poule mouillée.«
Ich mache schnell, daß ich rauskomme. Sonst kommen wir nie in Marseille an. Denn es grillen schon die Zikaden von den Sträuchern, wer hier unterwegs ist. Ein armenisch-afrikanisches Untier, daß an jeder Ecke anhält. Ich flitze herum, steige ein und starte. Schnell weg.
»Ich habe eine Lâche!«
»Was hast Du?«
»Eine Feigling, der ist viel höher und weiter und breiter als Notre-Dame de la Garde à Marseille. Spreche, Du Feigling, der Du größer bist als ein Cathédrale – gehen wir heute abend auf die place de Lenche. Ein wenig erinnern.«
»Gerne. Wir wollen ja sowieso mit Pépin essen gehen. Aber es wird zu kalt sein für draußen.«
»Oui-oui! Didier. Es ist mai. Es ist sehr kühl in diesem Jahr. Am Tage es geht. Du weißt doch, daß es ist manchesmal auch am Abend ist noch im Mai un petit air frais. Mais – ich habe gesagt, wir gehen zu Madame Boubou. Wenn sie ist da. C'est pareil. Ich möchte mit Dir zu unsere Platz. Auf Dich schießen werde ich später wieder. Maintenent muß ich Dich erst einmal bei mir halten.«
»Du machst mir Laune! Aber laß mal – es war schon sehr komisch. Ich erinnere mich sogar an Dein erschrockenes Gesicht. Da kann man nichts machen. Wenn Du in Fahrt bist, ist es aus. Da schaltet alles ab. Wie eben bei Deinem Einparken aus Zweihundert auf Null. Mir kommt jetzt ein Detail nach dem anderen. – Reiß Dich zusammen! Ich sitze ich jetzt am Volant. Ich fahre nicht so gut wie Du. Auf jeden Fall traue ich mir das nicht zu, was Du vorhin gebracht hast.«
»Mon Dieu! Es ist wunderwunderschön, Deine Erinnerung. Doch sage – ich habe oft Schlimmes mit Dir getan? Du bist auch deshalb Deine Frau weggelaufen, weil sie ist ein Monstre?!«
»Ach was. Nein. Laß doch gut sein. Wir haben das doch abgehakt. Ich glaube, ich hab einfach durchgedreht. Wir haben ja vorhin darüber gesprochen. Es war sicher so, daß es mir zu eng wurde. Genau habe ich's noch nicht auf der Reihe. Tatsache ist, daß wir entweder dauernd bei Deiner Familie hockten oder die bei uns. Ja, ich weiß es jetzt genau – in dieser winzigen Wohnung ...«
»Mon Dieu! Du hast eine Erinnerung?«
»Ja. Ich weiß jetzt ziemlich genau, wie's aussah. Dauernd drei, vier Generationen Armenien und Afrika. Und p-e-r-m-a-n-e-n-t kamen Deine Eltern angerauscht! Weshalb Sind die eigentlich nach Pérpignan gezogen?«
»Puh! Ein wenig auch, weil wir sie weggeschickt haben.«
»Wie bitte?! Weggeschickt? Die lassen sich doch nicht wegschicken! Deine Mutter schon gar nicht.«
»Bonté divine! Nun kommt Erinnerung auf einmal. Du hast sicherlich recht. Aber es gab ein Möglichkeit für Papa, etwas zu arbeiten. Unglücklich es hat bald geendet. Aber dann waren sie dorthin gezogen. Und wir waren ein wenig froh. Mais – Du sagst es selbst. Sie fahren sehr oft diesen weiten Weg ...«
»Also, ich sag's Dir gleich ...«
»Didier. Wir haben darüber gesprochen. Und ich habe Dir gesagt, was war mit Raymond und Maman. Es wird nicht mehr so werden. Bestimmt!«
»Naziza. Ich bin gerne bereit, Kompromisse einzugehen. Und ich möchte ja durchaus auch gerne in Familie und so. Es ist sicherlich auch so, daß ich mich geändert habe. Doch eins weiß ich mit Sicherheit – auf Dauer hocke ich nicht in einem Zelt mit allen.«
»Wir wollen es alle nicht. Ich habe es Dir auch gesagt, daß wir Maman haben gegeben ein Injection. Auch ist es Papa nicht lieb, immer zu fahren hin- und her zwischen Pérpignan. Wir werden das ordnen. Ich verspreche es.«
»Ich bin gerade am Nachdenken. Irgendwas war, daß mich hat implodieren lassen. Wenn ich mich recht erinnere, waren Deine Eltern gerade mal ein paar Tage endlich entschwunden. Da tauchten die schon wieder auf. Ich glaube, ich war am arbeiten. Da stand auf einmal Deine Mutter schon wieder auf der Matte. Da waren die diese gut dreihundert Kilometer schon wieder runtergerattert. Aber zurück nach Marseille! Irgendwas war – schon wieder, Didier, kommst Du essen. Didier, achte auf Deine Frau. Oder, komm, wir müssen zu Mirjam und zu den Kindern. Genau weiß ich es nicht. Eines weiß ich aber – ich bin ans Meer gerannt. Meine Arbeit ist liegengeblieben.«
»Ich erinnere das. Ich habe Angst bekommen. Wir waren kurz zurück von unsere Reise. Und Maman et Papa sind uns quasi nachgefahren. Wir waren zuvor ein paar Tage bei ihnen. Oui – es war so. Es war nicht gut. Und es wird nicht wieder sein. Maman wird auch nicht bekommen eine Schlüssel. Ich habe es ihr bereits gesagt.«
»Uff! War das so? Ach, deshalb stand die dauernd in meinem Rücken. Wie soll ein Mensch da einen einigermaßen klaren Gedanken fassen! Meinst Du nicht, es ist besser, man holt die zurück?«
»Wie zurück? Rentrer en Marseille?«
»Ja!«
»Tu es fou! Es wird ja viel schlimmer. Und weshalb sollten sie das?«
»Weil ich das Gegenteil annehme! Meine Vermutung ist die, daß Deine Mutter so sehr unter der Trennung von ihrer Familie leidet, daß sie deshalb permanent hin- und herrast. Wenn die am Ort wären, dann würde sich das legen. Glaube ich. Denn wenn sie das Gefühl hat, jederzeit zugreifen zu können, dann tut sie's möglicherweise nicht so oft. Bei ihr reicht – das nehme ich an! – die Nähe. Die Entfernung ist es, die sie so kirre macht.«
»Das ist eine Überlegung! Daran habe ich noch nie gedacht! Du kannst vielleicht recht haben. Mais – wer soll es bezahlen. Sie haben wenig Geld.«
»Ach, Naziza. Das ist doch wirklich nicht die Welt. Das würden wir doch auch noch hinkriegen. Wenn damit dieses Problem aus der Welt wäre. Du darfst ja nicht vergessen, daß die auch dauernd ihre Enkelkinder sehen will. Die braucht das zum Atmen. Und wenn wir wirklich ...«
»Wir werden! Didier. Pareil – cela ira d’une façon ou d’une autre!«
»Egal wie. Irgendwie. Merde! Jetzt fang Du doch nicht auch so an! Mit diesen Zwangneurosen. Unter solchen Umständen bin ich ...«
»Non, Didier. Ich meine das nicht absolu mit eine Kind aus meine Bauch. Wir haben es besprochen. Ich meine, daß wir, wenn es nicht geht, Deinen Vorschlag nehmen. Un adoption. Das meine ich. Das möchte ich sehr gerne. Ich glaube, wir wären gute Eltern. Ich bin sicher. Das meine ich. Es wäre schön. Wir machen – faire des expériences. Wir lassen es laufen. Alles, was kommt aus Dir und mir. Es wird kommen. So oder so. Aber wir können eine Adoption machen. Wir können es. Je prie.«
»Wie meinst Du – wir können es?«
»Materiell.«
»Ach! Das ist doch überhaupt keine Frage. Klar, würden wir das schaffen. Es wäre mir das locker wert. Ob wir beide es als Eltern schaffen – nein, ich glaube auch nicht, daß etwas dagegen spricht. Aber schau. Da wären wir doch genau an dem Punkt. Deine Mutter hätte Anouk und Esther in der Nähe. Deren Maman und Papa auch. Und wenn wir Nachwuchs kriegen sollten, könnten wir das tun, was ich bei meinen Enkelkindern abgelehnt habe – ihn zu Deinen Eltern abschieben.«
»Tu es fou! Meine Kind wird nicht abgeschoben!«
»Wenn, dann würden wir unsere Kinder abschieben, Madame. Damit das ein für allemal klar ist! Außerdem meine ich damit, daß Deine Mutter ab und zu was zu tun hätte und uns somit vielleicht ein bißchen in Frieden lassen. Denn es könnte ja sein, daß wir in naher Zukunft ein bißchen ziemlich viel arbeiten müssen, um unseren ganzen Stall zu unterhalten. Was mir nichts ausmachen würde. Aber es muß möglich sein. Und darin sähe ich eine Lösung. Ich meine damit nicht das Abschieben unserer Kinder! Für unsere Kinder müssen wir immer Zeit haben. Lieber schmeiße ich alle anderen Brocken hin. Es geht mir darum, daß Deine Mutter Beschäftigung hat – und zu ihrer Herde zurückkehren kann. Wir suchen denen eine Wohnung – meine Güte, das können die auch selber tun. Sie kennen sich ja schließlich aus in ihrer Stadt. Wir fahren alle dreimal hin und her, um ihre Klamotten zu holen. Und es kehrt Ruhe ein. Entscheiden müssen die's natürlich.«
»Mon Dieu! Diese Idée ist so gut! Es ist sicher, daß sie ja sagen. Es ist ja auch noch nicht so lange, daß sie in Pérpignan sind ..«.
»Weshalb sagst Du das?«
»Es ist wegen die – être en contact avec de voisines.«
»Die dürfte doch in Marseille noch viel intensiver sein. Die alten Nachbarn sind doch noch da. Oder etwa nicht? Die haben doch Jahrzehnte hier gelebt.«
»Es ist richtig. Mais, Papa. Je présumer, er fühlt sich gut à Pérpignan. Auch ich nehme an, daß er ist ganz zufrieden damit, nicht immer zu sein bei die Famille.«
»Das seh ich ein. Aber ein paar alte Juden findet dieser Araber auch in Marseille. Es gibt ja genug davon. Vielleicht nicht soviele spanische. Ist doch wurscht. Ist ein Misthaufen. Und im Fall aller Fälle gehen der deutsche Kulturjude, der senegalesische Negerkralneger und der arabische Tunesienalgerier zum Schwein und denken, es wäre Fisch, und trinken Wein und denken, er wäre Wasser. Wenn wir Euch Weiber nicht mehr ertragen.«
»Mon petit chéri. Mich wirst Du ertragen! Bon. Es ist ein guter Gedanke. Mais – Du bist vielleicht ein Jude. Doch Du bist nicht ein deutsche Jude. Du bist Français! C'est clair?! Une fois por toutes!«
»Noch bin ich's nicht.«
»Tonnerre du Dieu! Du bist es. Wir holen Dein Document et le Passport. Fin!«
»Ja. ist ja gut. Das kann ja meine Frau erledigen. Solange ich mich um meinen Schwiegervater kümmere. Mit dem spreche ich dann mit Händen und Füßen. Denn der versteht mich vermutlich. Während meine Frau mit den Beamten parliert. Die mich nicht verstehen würden.«
»Er ist nicht Deine Schwiegervater. Er ist Deine Beau-père.«
»Stimmt. Klingt schöner.«
»Didiercheri. Wir werden sehen, wie es wir lösen, das Problème mit die Préfecture. Es ist nicht die größte Sorge. Jetzt. Regarde – Station-service. Wollen wir noch eine letzte Café vor die Heimat nehmen? Du wolltest es.«
»Gute Idee. Wo sind wir denn überhaupt?«
»Ich weiß nicht. Es wird gleich kommen ein Hinweis. Es kommt bereits ein. Avignon. Péage.«
»Das ist gut. Dann sind wir in längstens zwei Sunden zuhause. À l’Estaque.«
»Oh – mon Didier. Es geht nicht. Wir haben kein Bett.«
»Wir legen uns ins Meer.«
»Du wirst Dich ins Meer legen! Du fühlst Dich in meinem Bauch wohl, weil er hat siebenunddreißig Grad. Lieber es ist Dir, wenn ich habe Fieber. Weil Du dann hast noch mehr Wärme. Du steckst doch nicht einmal während des höchsten Sommers eine Zehe in das Wasser, weil es hat nur fünfundzwanzig Grad. Und nun wir haben Mai. Einen sehr kalten! Crâneur!«
»Du hast ja recht. Dann warten wir noch ein bißchen. Aber jetzt fahren wir erst noch einen Café trinken. Allez. Ich seh's schon. Hinter der Péage ist eines. Es sieht gut aus. Irgendwie scheint auch schon mehr los zu sein. Wie spät ist es denn?«
»Ich glaube nicht.«
»Was glaubst Du nicht? An die Uhrzeit?«
»Non. Dummkopf. Es ist noch nicht viel. Pardon – quatre heures.«
»Auf jeden Fall scheint meine Zeitberechnung hinzuhauen – um sechs sind wir zuhause. Meine Güte – weißt Du, wie lange wir unterwegs sind?! Das werden zwanzig Stunden.«
»Ça m'est pareil. Es ist schön, mit Dir zu reisen. Ich möchte es wieder tun.«
»Aber bei Tageslicht. Die andere Frage ist, wann wir dazu kommen! Nach dem, was auf uns zukommt. Moment – ich muß eben.«
Ich fahre an das Häuschen, um zu bezahlen. »Als erstes werde ich mir eine Carte bleue zulegen. Aber ob das so schnell geht? Diese Zahlerei an den Häuschen! Im Sommer. Wenn alle Welt auf der Autoroute du soleil nach Spanien schlurft.«
»Didier. Es gibt Télépeage. Man braucht keine Karte mehr.«
»Na gut. Aber was soll's. Wir werden wohl kaum allzu oft Autobahn fahren. Wir schlurfen dann über die Landstraße. Oh Scheiße. Ich habe nur noch einen Hunderter. Hast Du, Naziza ...«
»Pas de problèmes, Monsieur. Ich kann ihne das wechsele.«
»Hast Du das gehört, gute Güte. Naziza, kurz vor Afrika spricht jemand deutsch mit mir. Na ja, wohl eher allemannisch. Soll ich ihr das verbieten? – Merci Madame. Wiaderluege. – Wir sind durch. Jetzt Café. Da hinten. Sag, Du hast doch sicher eine Carte bleue?«
»Sicher. Alle haben es.«
»Da hätten wir auch – ach, was soll's. Wir sind ja durch. Es hat ja nicht gedauert. Aber ich brauche so'n Ding. Hast Du eine gute Bank?«
»Wer nicht viel hat, braucht keine gute Bank. Es gibt alles. Du weißt es.«
»Dann werde ich als erstes – ach, Scheiße. Ich sollte warten, bis ich den Paß habe. So ein Mist aber auch.«
»Was regst Du Dich auf? Und worüber. Ich habe eine Bank. Du machst Dir seltsame Sorgen.«
»Nee. Ich brauche selber. Andererseits. Es ist ja wurscht. Dann transferiere ich eben ein paar Mark auf Dein Konto, bis ich eines habe. Dein persönlicher Bankbeamter wird sich freuen ...«
»Es könnte sehr gut sein.«
»Aber Du mußt mir ab und zu ein bißchen Taschengeld geben!«
»Sot! Didier! Mache Dir doch über Bagatelles keine Gedanken. Vergeude nicht Deine Énergie. Denke an mich. Und an Deine Tochter. Das andere regelt sich alles!«
»Ach ja. Ich hab vergessen, daß ich mit einer Marseillaise verheiratet bin. Wenn ich das geschafft habe, mir wir ihr grundsätzlich alles am Arsch vorbeigehen zu lassen, dann werde ich wirklich im Elysium angekommen sein.«
»Dann wirst Du sein ein Marseillais! Didier et Nazia – le Marseillais et la Marseillaise. Un film éducatif. Pour les allemands.«
Ich fahre auf den freien Platz vor der Tankstelle. Getankt muß jetzt nicht mehr werden. Ich kippe lieber den Sprit aus den Reservekanistern rein. Dann gibt es Platz. Platz? Wozu? Wir sind kurz vor der Haustür. Ich bin wahrhaftig ein Dummkopf. Ein deutscher. Aber kurz vor der Haustür – ich fühle mich dennoch heimisch. Wir gehen zum Café. Vermutlich der neununddreißigste heute. Ich sehe frische Zeitungen.
»Naziza, schau. Die einheimische Presse begrüßt mich mit der neuesten Ausgabe.«
»Oui. Es steht vermutlich darinnen, in großen Zeilen – Didier Aubertin ist zurückgekehrt. Tout est bien qui finit bien!«
»Mach Du Dich lächerlich über Deinen leidgeprüften Gatten. Kaum ist man drei Jahre verheiratet, ist es auch schon da, das Ende. Aber nicht das gute, von dem Du sprichst.«
Sie baut sich vor mir auf in einer Mischung aus Grinsen und Ernsthaftigkeit.
»Presque quatre ans. Monsieur! Und davon fehlen mir alle.«
Ich kaufe La Provence. Mit meiner Lieblingszeitung La Marseillaise dauert es immer ein wenig, bis sie in die Gänge kommt. Naziza kommt mit meinem geliebten Automatenespresso an. Ich kaufe eine Flasche Badoit. Sogar zwei Becher stellt er mir ungefragt dazu. Am Tisch schlage ich die Zeitung auf. Ich stutze.
»Schau, Geliebte. Hier. En promotion. Lit. »Reduit 40 pour cent.‹ Die räumen ihr Lager. Donnerwetter – Buche massiv. Ganz schlicht. Hier schau.«
»Ich sehe es. Es sieht gut aus. So etwas kaufen Franzosen nicht. Es ist zu einfach. Und deshalb zu teuer. Deshalb sie müssen den Preis nachgeben. Wo ist es?«
»Centre commerce Littoral.«
»Mon Dieu! Euro 759. Das ist noch immer sehr viel Geld für nur ein Bett.«
»Naziza! Massive Buche. Spinnst Du? Da können wir fünfzig Kinder drinnen kriegen.«
»Ich möchte sie machen. Kriegen ist später. Jedoch nicht fünfzig. Non. Nicht Krieg. Faire l’amour. Amour passioné et tendresse. Mit meinem Oberkind ein Kind in mich hineinlieben.«
»Jawoll, Madame. In so 'nem Bett können wir sie machen, die Liebe. Also hin. Auf dem Photo sieht's wirklich gut aus.«
»Huit cent Euro. Das ist viel Geld. Und wir brauchen dazu Matelas.«
»Jetzt spinnst Du wirklich. Natürlich Matratzen. Sollen wir uns in den Kasten auf den Boden legen. Auf den Rost? Und hast Du gedacht, Du kriegst sowas geschenkt?! Ich habe nicht unter sechstausend Francs gerechnet. Plus Matratze.«
»Du bist verrückt.«
»Aus. Das ist mein Geld. Das bin ich unserer Liebe schuldig. Und meinem Rücken. Und auch Deinem. Ich kann Dich außerdem ja schlecht als immerwährende Unterlage nehmen. Wann kommen wir dahin? Mist. Meinst Du, wir schaffen es, solange hochzubleiben?«
»Didier. Du wirst einschlafen, wenn Du es zur Probe liegst!«
»Du hast ja recht. Meine Sorgen möchte ich haben! Fahren wir erst mal Kinder machen, anstatt über eine Operationsfläche des Kriegens – des Kinderkriegens! nicht des Bekriegens! – zu debattieren. Ihr Mädels seid einfach vernünftiger! Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen zu behaupten, wir hätten die Vernunft erfunden?! Das kann nur ein Mann gewesen sein.«
»Ein wenig der Ruhe sollte auch sein. Das sagt ebenfalls die Vernunft.«
»Das sagst Du?! Ich habe ja eine schöne Vernunft. Sie wird doch nicht etwa müde sein, meine zauberhafte Vernunft? Macht meine Vernunft schlapp?«
»Oui, Cheri. Ich kann nicht mehr gebieten über Dich. Gerne täte ich es. Du weißt, wie ich interessiert bin an der Macht über Dich. Doch mein Fleisch versagt. Nehme mich in den Arm. Ich möchte darin einschlafen.«
»Sollten wir's nicht vielleicht doch besser mit einem Bett, anstatt mit einer Tankstelle versuchen? Im Bett läßt sich sowas besser tanken. – Sollen wir fahren?«
»Oui, Cheri. Ein wenig Schlaf. Und dann werde ich etwas telephonieren.«
»Sie ist noch nicht eingeschlafen – und denkt doch schon wieder ans Telephonieren. Was zehrt so an Deinen Nerven, daß Du's nicht lassen kannst?«
»Das Bett.«
»Das ist mir klar. Aber danach?«
»Ich sage es – das Bett. Dein Bett. Non. Unser Bett. Unsere Stätte für ein große Famille. Ich werde fragen danach. Nimm diese Zeitung mit.«
»Ach so! Familienplanung. Ich verstehe. Es ist derart beunruhigend, daß man nicht einmal richtig schlafen kann.«
»Sot! Ich sorge mich um Dich.«
»Allez, meine Schwarzblaue. Fahr'n wir ins Bett. Vorläufig noch ins enge alte.«
»Didiercheri – es hat uns eine schöne Zeit gegeben, dieses Bett. Es wird noch ein Weile gehen. Und es freut sich, Dich wiederzuspüren. Auch ihm hast Du sehr gefehlt. Es hat mich oft gefragt, wo ist der weiche Bär.«
»Ach – ihr führt Gespräche? Dein Bett und Du?«
»Wenn Du nicht liegst darin!«
Wir trotten hinaus. Nun hat uns Morpheus seine Vorboten gesandt. Obwohl es bei mir geht. Nur meine Bettgefährtin scheint arg abzubauen. Noch vor kurzem hatte es den Anschein, als ob sie mich nicht zum Schlafen kommen lassen wollte. Warten wir's ab. Es ist noch eine ganze Strecke. Wahrscheinlich wird sie wieder Kräfte sammeln zwischen meinem guten alten Avignon und dem noch – viel – älteren und – noch – schöneren Marseille. Lange dauert es nicht mehr, und ich werde zu den Nachfahren der Götter gehören, die weiland dieses Elysium gründeten. Sechshundert Jahre vor Christus, nach dem wir seither unsere Zeit nehmen.. Vermutlich war auch ein gewisser Herr Odysseus schonmal dort an diesem schönen Ort. Die wußten schon, wo's schön ist. 1481 haben die Franzosen ihn dann übernommen. Daß sie nicht so viel und so weit verreisen müssen. Denn das tun sie nicht sehr gerne. Und sie wissen eben auch, wo's schön ist. Vor der Tür sozusagen, kurz vor Afrika. Unser Fluggerät schnurrt wie eh und je. Meine Zauberin läßt allerdings gewaltig die Flügel hängen.
»Nimm Dir das Kissen, meine Süße, und mach ein Nickerchen. Auf daß Du zu Kräften kommst, um mich wieder entkräften zu können.«
»Wenn ich Dich höre, glaube ich, daß ich alle Énergie aus Dir nehme. Es ist nicht ganz richtig. Aber ich mache es gerne.«
»Miststück. Kann kaum mehr ihre entzückenden Augenverschlüsse obenhalten. Aber noch einen nachladen.«
»Ich gehe nun träumen von Dir. Ich nehme Dich mit mir fliegen.«
»Während ich uns nach Hause fliege. Aber Du keinen Alptraum! Klar! Du muß Schönes träumen. Wir brauchen Energie.«
»Ich sage es – ich fliege. Mit Dir. Bonne nuit.«
Und es belebt sich doch. Nun gut, es ist ja auch schon wieder fast eine halbe Stunde vergangen, seit wir angehalten hatten. Der Süden erwacht langsam. Meine Güte – das hatte ich ja noch nie! Um diese Uhrzeit bin ich hier noch nie hineingefahren ins Himmelreich. Und dann meistens bei Temperaturen, die in etwa denen der Hölle gleichkommen dürften. Das bringt mich auf die Idee: Eine meiner ersten Tätigkeiten in der nächsten Zeit wird das Suchen nach einem schönen Platz sein, wo ich eingegraben werden will. Es ist vielleicht doch schöner, als mich den Fischen zu verfüttern. Das Alte muß zum Verrotten tief in die Erde. Schließlich bin ich – Religion hin oder her – dann doch Jude. Und ein solcher darf nicht in Flammen aufgehen. Denn anders dürfte ich ja hier wohl nicht unter die Fische. Und kaum jemand wird sich dafür hergeben, mich vorher zu Appetithäppchen für meine schwimmenden Freunde zu zerstückeln. Wie auch immer – nicht in den Ofen. Seltsam, was mir so alles durch den Kopf geht. Obwohl ich nur vor kurzem beschlossen habe, nicht nur noch ein bißchen weiterzumachen, sondern diese Erde sogar ein bißchen zusätzlich zu beleben. Wie der Mensch sich wandeln kann innerhalb minimaler zeitlicher Entfernungen. So liegt es gar nicht allzu weit zurück, daß es keiner weiteren Diskussionen um das definitive Ende gegeben hätte – ab ins Feuerloch. Gut, ans Einstreuen ins Meer denke ich sozusagen schon seit ewigen Zeiten. Nun aber mag ich nicht mehr in die ultimative Verbrennungsmaschine. Jetzt will ich auf einmal Saatgut, wenigstens Dünger sein. Eine schreckliche Vorstellung ist das auf einmal. Nicht so schrecklich wie die, daß man Menschen in Öfen geschoben hat, denen alleine die Religion es schon verbietet. Vom Leben mal abgesehen, das sie gerne noch ein bißchen gelebt hätten. – Nein, Aubertin. Daran denkst Du jetzt nicht. Du hattest Dein Quantum Alptraum bereits. Das war ja auch schon so ein wenig Hölle. Frau Generalin Liliane Aubertin als Vorsitzende des Volksgerichtshofes. Sie hat sich ja lange gehalten. Wie nahezu alle dieser fürcherlichen Menschen sich entschieden zu lange halten, die überall nur Schrecken hinterlassen haben. Zäh sind die. Aber vielleicht bin ich jetzt ja doch ein bißchen ungerecht. Ich weiß ja gar nicht, was sie – außer an mir – sonst noch verbrochen hat. Möglicherweise geben uralte Mutmaßungen der Phantasie Nahrung. Doch es läßt mir keine Ruhe. Weshalb hat sie mir nie gesagt, was los ist? Weshalb durfte ich nie erfahren, daß sie im französischen Staatsdienst tätig war? Seit 1930. Es ist unfaßbar. Was steckt dahinter? Will ich es doch wissen? Jetzt, nach Jahrzehnten des Nichtwissens? Längst war es mir unerheblich geworden. Wie die Frage nach dem Ofen. Doch nun kocht es hoch. Soll ich mich doch ans Innenministerium wenden, um es zu erkunden? Und wenn ich es tue – was wird daraus? Wird es nicht zu einer enormen Belastung für das gerade begründete junge Glück? Liegt nicht hier eine Verantwortung, die bei weitem höher zu bewerten ist als eine ohnehin nicht mehr zu ändernde Vergangenheit? Ist es denn von einer solchen Wesentlichkeit, Zurückliegendes zu erfahren? Denke lieber über den Weg nach, der von Cavaillon aus führt.
Eben fliegt es vorbei. Es wäre ja auch ein sehr schönes Stückchen Erde, die Haute-Provence. Doch es liegt so weit östlich. Sofern man Italien als Osten bezeichnen kann. Und so hoch. Schön ist es zweifelsohne, beispielsweise dieses wirklich nette Reillanne bei Manosque. Da könnte ich auch leben. Undsinn. Das Meer würde mir dann doch fehlen. Und die Stadt. Die richtige. Ach, Aubertin – du denkst südlicher. Als nächste Denkstation wird Salon-de-Provence auftauchen. Gerade mal zwanzig Kilometerchen. Unaufhörlich nähern wir uns dem Glück auf Erden. Kurz danach werde ich den Étang de Berre riechen. Das sind dann schon Meeresdüfte. Ein winziger Schlenker nach links noch, und dann ignorieren wir Aix-en-Provence. Die Schöne, die im Sommer lediglich aus einer Einkaufsmeile und einem Trampelpfad pour faire du shopping de bricoles zu bestehen scheint – Cours Mirabeau und die Rue Espariat. Zweimal habe ich stundenlang an der vermutlich wieder mal einzigen Bar weit und breit gesessen, die auch Einheimische anlaufen. Klar – Bar-Tabac. Es sind immer die besten Plätze. Ich suche sie grundsätzlich auf. Das ist bei weitem spannender als Kino. Dort, vor der Bar Espariat, kann man sie dann sehen, wie sie sich hinaufschieben und gelangweilt wieder hinunterrollen. Oben gehen sie ein bißchen alte Architektur schauen und kaufen ein paar miserable Cézanne-Reproduktionen für unvorstellbares Geld im angeschlossenen, nach dem Maler benannten Museum. Zwischendrin gibt's dann hier noch ein wenig Tand und dort ein bißchen Touristenmüll. Die Auslage der Buchhandlung KiLi besteht ausnahmslos aus Bilderbüchern. Dann können sie zuhause nachschauen, wo sie überall waren und was sie alles nicht gesehen haben. Oder was sie hätten sehen können, es sie jedoch nie wirklich interessiert hat und sie's schon deshalb nicht gesehen hätten, auch wenn sie mittendrin gelegen wären. Denn Rest kriegen sie dann auch noch gekullert – bis zur place de la Libération oder auch place de Gaulle. Dort gibt's dann endlich Eiscafé. Mit Crème de plastique. Oder zwei oder drei. Denn wenn man allzu lange ein einem sitzt, kann an einen schon der messerscharfe Blick des Kellners treffen. Wenn es ein sommerliches trou perdu unter den historischen Innenstädten gibt, dann ist es Aix-en-Provence. Im Winter ist es vermutlich angenehmer, weil die Alteingesessenen sich mal aus dem Haus getrauen. Ich werde es dann mal ausprobieren, in diesen Vorort von Marseille zu fahren. Denn nun gehöre ich ja bald zu den Einheimischen. Es interessiert mich durchaus, weshalb alle Welt dieses Kaff so zauberhaft findet. Sicher ist es hübsch. Aber alte Architektur gibt es in diesem Land mehr als Touristen. Glücklicherweise. Und im Schwabinger Universitätsviertel ist sogar im allerhöchsten Hochsommer mehr los. Und trotz der mittäglichen Hitze sieht man in Marseille ein Leben vor dem Tode. Aber Aix ist voller Leichen. Unglaublich tote Touristengesichter. Selbstverständlich werde ich es tunlichst unterlassen, derart Lästerliches von mir zu geben. Und schon habe ich den leichten Linksruck im Rücken. Kerzengerade geht's jetzt hinunter. Ein Stückchen noch, und hinter Rognac werde ich rechts ins Becken hineinschauen. Es hellt sich auf. Ich werde es sehen, das Wasser des Étang de Berre, das einmal richtiges Meer war. Nun, es schwimmen dort ja immer noch ordentlich Anteile davon herum in diesem Muschelteich. Klar, die Mischung aus Süß- und Salzwasser muß stimmen.
Unten, im Ebro-Delta, klemmen sie diesen Tierchen gerade das Süßwasser ab. Gegenüber früheren Zeiten kommen nur noch etwa fünfzig Prozent davon an. Und damit die Sedimente, die in den Stauseen der Pyräneen hängenbleiben. Sie sind die Nahrung der wohlschmeckenden Tierchen, die in den Töpfen und den Paella-Pfannen der einheimischen Küchenmagiere landen. Das Salz des Meeres allein ist macht die Mytilus edulis, die feine mejillon nicht satt. Sie braucht, wie ich, Süßes. Und weil das wenige süße Wasser nicht weit genug absinkt, wächst sie im unteren Bereich der Pfähle nicht mehr. Also nicht, weil die sich vor den Touristen ekelt, die sie so mögen. Sondern weil die es sind, die entlang des salzigen Mittelmeeres das Süßwasser doch eher schätzen. Hunderte von Kilometern in den Süden wird es gepumpt. So bauen die kastilischen Spanier einen Stausee nach dem anderen oder vergrößern die bereits vorhandenen. Trotzdem kommt kaum noch Wasser der katalanischen Spanier in ihrem Ebro-Delta an. Wir schmerbäuchigen Pappnasen kriegen es, auf daß wir unten in Almeria das Salzwasser von unseren Körpern und unsere Fäkalien wegzuspülen vermögen. Und oben trocknet alles aus. Auch die Dörfer. Weil die jungen Menschen wegziehen. Acht Milliarden Euro soll die Europäische Union dafür aus der Börse ziehen. Man muß sich das mal vorstellen! Acht Milliarden für die Zerstörung der unvergleichlichen Pyräneen-Landschaft, in die – mit Hilfe europäischer Euro – ein behutsamer, landschaftserhaltender Tourismus aufgebaut wurde. Der dann absäuft in den neugeschaffenen und erweiterten Wasserspeichern für die politische Ödnis Madrids. Wie die alten Dörfer. Acht Milliarden, um den Katalanen der Pyräneen das Wasser abzugraben und es dem skandinavischen, beneluxischen oder castop-rauxelianischen Suchtpotential einer melanomfördenden, versandhausartigen, zudem nach Ungewaschenheit aussehenden Hautfarbe zuzuführen, jenen Pigmentierungen, die die Afrikanerinnen sich mit ätzenden Chemikalien wegzuschmirgeln versuchen. Und das, obwohl Frankreich sich längst bereiterklärt hat, den Spaniern eine – umwelttechnisch problemlose, sagt man, sagen die Energie-Konzerne – Wasserspende aus der Rhône zu geben. Vierhundertfünfzigtausend Katalanen haben am 10. März 2002 in Barcelona den madrilenischen Wasserspekulanten diesen Wahnsinn demonstrativ deutlich zu machen versucht. Hier sollte Brüssel doch nun wirklich mal den Geldhahn geschlossen halten. Ausnahmsweise mal kein Geld rausrücken und das Wasser im Dorf lassen.
Hier wachsen sie noch. Ich sehe sie. Na ja – ich sehe das Wasser, wenn ich vor dem leicht traumzuckenden Näschen meiner ruhenden Calypso vorbeischaue. Der Tag hat rechtzeitig das Licht angemacht. Und jetzt rieche ich sie. Die Ente läßt den Geruch durch ihre Lüftungsschlitze zu uns hinein. Das Fenster darf ich ja nicht öffnen. Denn bei diesen Klappluken kommt sofort derartig viel Frühmaimorgenluft herein, daß mein Warmes Weiches zu meiner Rechten auf den Schlag der Unterkühlungstod trifft. Das hätte ich nicht so gerne. Doch dieser Anflug von aphrodisierendem Parfüm hat sie wohl bereits Morpheus entrissen.
»Ich rieche Gutes.«
»Stimmt. Meine Zauberin. Es riecht nach Dir.«
Sofort sind die Augen sehr weit geöffnet.
»Wie soll ich dieses verstehen? Denkst Du Unholdiges?«
Das ist jetzt dann doch zuviel der Sprachschöpfung. Es reißt mir ein fast derbes Lachen heraus.
»Du wagst es, laut über mich zu lachen?! Kaum bin ich von wohlem Duft erwacht. Darf ich denn auch wissen, was es ist, was Dich so laut und caustique macht?«
»Entschuldigung, Liebes. Du hast gerade mal wieder einen herrlichen Neubegriff geprägt. Unholdiges. Es ist zu schön.«
»Es ist nicht richtig. Un Satyr – es ist nicht ein Unhold?«
»Ja doch. Aber Du hast aus einem Adjektiv – den es im übrigen im Deutschen kaum gibt – einen Substantiv gemacht. Aber er ist wirklich schön. Und hier paßt sogar der Satyr dazu – im Deutschen. Denn der wird in diesem Zusammenhang bei uns überhaupt nicht gebraucht. Es ist einfach wunderbar. Auf jeden Fall hast Du sofort erfaßt, woran ich denke, wenn es gut riecht – eben nicht nach deutscher Satire, sondern nach mittelmeerischer Wassernixe in meinem Heiabettchen.«
»Heiabettchen? Was ist das wieder? – Oh! Ich weiß es – petit lit pour faire dodo. Es ist gut. Maintenent ich bin wach. Dann können wir beide – aller dodo. Wo befinden wir uns? Ist es Étang de Berre?«
»Oui. Du hast es gerochen.«
»Oui – ich habe es gerochen. Und ich habe es gehört, wie Du hast gehört, mon Cochonnée.«
»Ich kenne das Cochonnée nur vom Pétanque.«
»Du weißt es ganz genau! Nicht nur Deine Boule de fer sind lüstern und wollen immer zu ihm hin, zu diesem zarten kleine Kügelchen aus Holz! Ich weiß es, daß Du es weißt! Mais – es ist ein Cochonnée und keine Cochonnes. Es ist lieb.«
»Also gut, mein unholdiges Ferkelchen.«
»Du bist dieses Ferkel – chen. Ich mag es, dieses Ferkelchen Und des ist nicht aus Holz!«
»Und dieses Dein Ferkel fragt Dich jetzt – es muß es sofort wissen, weil nämlich gleich die Abfahrt kommt –, fahren wir durch unsere Tempelbettstadt?«
»Pourquoi pas? Es ist auch angenehmer. Und wir können es uns anschauen ...«
»Du hast ...«
»Non-non. Ich habe nicht. Wir können von unten hinaufschauen. Vielleicht haben wir Glück« – sie schaut auf die Uhr – »und Deine Rentercafé hat bereits geöffnet. Es könnte sein. Il est cinc heures et demie.«
»Das wäre schön. Es wäre wunderschön! Also – ich fahre runter. Ab in die Heimat. Ab nach l'Estaque.«
Schon hinter Vitrolles spürt man es. Dann, nach dem Kreuz, wo die Autobahn von Martigues her einmündet, sieht man es – la mer. Es ist nicht zu beschreiben. Ein pulsierendes, immer höher schlagendes Herz ist nicht zu zeigen. Selbst eine Kamera des höchsten technischen Niveaus vermag lediglich die ansteigende mechanische Pumpfrequenz abzufilmen – die chemische Reaktion dieses Glücksgefühls bekommt sie nicht aufs Bild. Weit geht der Blick hinunter auf die Rade de Marseille. Bei guter, also frühlingshafter Sicht wie heute reicht er bis hin zu den Îles de Frioul, zum Zeugungsort meiner Schönheitskönigin mit Blut aus Sand, der Île Ratonneau, weiter zur Nachbarin Île Pomègues und zum alten Knast des Grafen, der ja tatsächlich existierte, was die wenigsten wissen – la taule de histoire, Château d'If. La vie est un roman!
Zur Linken zeigt sich weit unten die sich über fünfzig Kilometer ans Meer schmiegende Metropole du sud mit ihren Ausuferungen, nur unterbrochen – wenn der Begriff der Unterbrechung hier allerdings fast Blasphemie ist – von unzähligen Buchten – insgesamt vierundzwanzig Kilometer Calanques mit blauem, grünem, türkisem, manchmal, von den leuchtenden Felsen her fast weißem Wasser, je nach Tiefe. In den Höhlen übersommert so mancher Naturfreund. Und man verhaftet ihn nicht. Gegenüber dem etwa dreißig Kilometer entfernten Cassis ragen die höchsten Meeresklippen Europas auf. Nicht so überragend ist dabei, daß ein – mittlerweile englische – Fußbälle fangender Kahlkopf da oben wohnt. Neben altem Adel. Selbstverständlich. Neues Geld zu altem. Die 1864 geweihte Notre-Dame de la Garde begrüßt mich. Sie versucht es immer wieder, obwohl sie genau weiß, daß ich eher ein Techtelmechtel mit dem romanischen Saint-Victor habe. Die Stille steht mit sechs- bis neunhundertjähriger Ruhe auf einem fünfzehn Jahrhunderte altem Grund inmitten des siebten Arrondissements. Die Alte Basilika-Dame oberhalb von Vauban oder Endoume oder Saint Victor oder wo auch immer – man sieht sie von überall – ist nicht weit davon entfernt, doch sie überragt eben alles und macht sich ein bißchen wichtig. Dementsprechend huldigt ihr auch der – gleichwohl harmlose, kaum spürbare – Tourismus, der sich in die geheimnisumwobene Verbrecherstadt des deutschen Sechziger-Jahre-Kinos getraut. Die gigantische Hafenanlage macht sich ebenfalls bemerkbar. Unsinn. In dieser Stadt macht sich bis auf ein paar junge BMW-Schnösel und eben Notre-Dame de la Garde niemand wichtig.
Der Hafen hat wichtigeres zu tun, als ausgerechnet auf mich winzigen Möchtegern-Heimkehrer zu achten. Er schiebt sie hinaus, die Fähren nach Afrika, nach Korsika, die Schiffe in alle Welt. Immerhin ist er zusammen mit Fos der nach Rotterdam und Antwerpen drittgrößte Europas. Wenn er auch für Marseille bei weitem nicht mehr die Bedeutung hat, die diese Stadt über zweieinhalbtausend Jahre geprägt hat, nachdem Protis an Land gegangen war, um sich mit der schönen Ligurerin Gyptis zu vereinen. Protis war Phäake, und die Phäaken, dieses Seefahrervolk von der Insel Scheria, hatten nicht nur einen gastfreundlichen König namens Alkinoos, der den schiffbrüchigen Odysseus aufnahm, um ihn dann in sein Ithaka zu geleiten. Er hatte auch eine schöne Tochter. Nausikaa war es, die den gestrandeten Odysseus fand und ins Haus ihres Vaters führte. Immer diese Mädels. Wie in Marseille. Es wurde von der Liebe gegründet. Aber diese sehr viel eher mit Griechenland als mit Frankreich verwandte Schönheit ist ja ohnehin längst selbst Mythos. Und die Mythologie (über-)lebt eben nur in ihres ürsprünglichen Wortes Bedeutung – in der Erzählung, in der Überlieferung.
Und es ist hier auch wie anderswo, wie in der von mir durchaus geschätzten Schwesterstadt Hamburg beispielsweise. Die sogenannte Hafenromantik ist dahin. Die Containerschiffe halten nur noch kurz an, im Eiltempo werden die riesigen Blechdosen aus- und wieder eingeladen, und weiter geht's auf große Fahrt. Auch Obst und Gemüse dürfen nicht lange liegen. Für Seemannsherzschmerz ist keine Zeit mehr. Die gibt es hier wie dort nur noch im Lied. Doch im Gegensatz zur Metropole an der Elbe lebt Marseille im Hafenbereich. Na ja, in dem des Alten Hafens. Für den neuen steigt man besser in den 35er Bus, der über la Joliette, wo das Hafengebiet beginnt, nach l’Estaque fährt. Vor allem ist der Tourismus wesentlich leiser, man spürt ihn kaum, er wird untergerührt ins alltägliche Leben, er ist ein Fischbröckchen in einer riesigen Bouillabaise. Die schmeckt noch nach Fisch und hat nicht den Geschmack von frittierter Pappe wie die Fisch genannten Fladen an Kartoffelsalat aus der Friteuse an den Landungsbrücken. In Hamburg richtet sich in der Hafengegend alles auf die Massen aus, die rasch durchs Hafenbecken fahren. Eine ganze Armada ist für diese Phototaschen- und Plastiktütenträger bereitgestellt. In Marseille fährt diese wunderschöne alte Personenfähre für drei Francs vom Quai du Port hinüber zum Quai de Rive Neuve oder von dort aus zur gegenüberliegenden Mairie, dem barocken Rathaus aus dem siebzehnten Jahrhundert. In Hamburg quert eine zwischen den alten Landungsbrücken und einem Musicalzelt am Rand des Containerhafens. Von den Landungsbrücken aus kann man für sündhaft teures Geld mit einer Katamaran genannten Art Rennboot für mehrere hundert Personen die Elbe hinauf- und wieder runterbrettern. Vom Quai des Belges aus schaukelt man gemütlich in Richtung Cassis und hält bei der Rückfahrt gegen achtzehn Uhr die Nase in den Fahrtwind und überhaupt in die Abendsonne, die bald über l'Estaque stehen wird. Die Hamburger Reeperbahn dümpelt nur noch für die verruchtsheitssehnsüchtigen »Pappnasen«, wie ein befreundeter Fischhändler aus Husum die Massen aus Wanne-Eickel oder Mannheim oder sonstwoher mir gegenüber mal bezeichnete. Doch für den Hafen von Marseille sieht die Zukunft düster aus. So düster, wie die Landschafts- und Städteplaner der neuen (Geld-)Zeit sie für Investoren rosig malen. Es hat den Anschein, als ob aus dem letzten großstädtischen Refugium Europas für dauerseßhaft Heimatlose vom euroglobalen Brüssel und über die Achse Paris und Préfecture Bouches-du-Rhône zu einem dem US-amerikanischen Denkmalsverständnis gleichkommenden romantizistischen, also erinnerungsverklärenden- und somit klitternden Ort des Kitsches umfunktioniert werden soll. Die Pariser brauchen ja auch nur noch drei Stunden mit dem TGV. Sie sind also bereits da. Auch die künstlich hineingedrückte Medienindustrie. Weltstadt. Aber eben nicht gewachsen wie seit zweieinhalbtausend Jahren. Sondern so artifiziell wie drittklassiges Kino oder Werbefernsehen. Wer interessiert sich denn schon für Geschichte mit all ihren Widrigkeiten, wenn man das Design auch ohne Innenleben vorführen kann. Das von Marseille ist ohnehin ein Rudiment. Fortschritt ist alles. An den Immobilienpreisen im ersten, zweiten und sechsten Arrondissement ist es längst mehr als deutlich spürbar. Aber im Schleifen von Städten und geradezu grotesken Errichten von sogenannter Moderne ist Frankreich allemale Weltmeister. Und, ach ja, Fos, diese, im Wortsinn, ausufernde französische Gigantomanie der sechziger Jahre. Winzig, geradezu grotesk klebt das alte Fos-sur-Mer mit seiner romanischen Kirche und den mittelalterlichen Befestigungsanlagen mittendrin, obendrauf. Eingeschnürt von Schwerindustrie mit Stahl, Aluminium und Petrochemie, vom Erdölhafen und Leitungen nach Norden. Es ist im Nachhinein vermutlich gar nicht mehr zu ermessen, was da alles kaputtgemacht wurde. Nun wird eben neu kaputtgemacht.
Ich nehme direkt die Abfahrt – und tauche hinein in die kleine Welt unseres Heileheilesegens, unserer Insel der Glückseligkeit. Eigentlich gibt es ja eine sehr viel schönere Zufahrt. Seit 2001 kann man von Vitrolles her über die fast dreihundert Meter hohen Klippen des Massif la Nerthe ins Städtchen fahren. Ach, was denke ich da für einen Unsinn! Das konnte man früher auch schon. Aber nun haben sie's zur Rennstrecke ausgebaut. Wahrscheinlich, daß ein paar Ortskundige zügiger zum Flughafen Marignane gelangen oder nach Vitrolles. Vielleicht Le Pen, um schneller zu seinem ihn anbetenden Stimmvieh zu kommen. Die Außerirdischen nehmen ohnehin die Autoroute, weil sie Angst haben, sich zu verfahren. Das ist aber auch gut so. Denn in l'Estaque selbst weist glücklicherweise kaum etwas darauf hin, daß man hinter den Hügeln recht gut durchrauschen kann. Die größeren Lieferwagen bleiben ohnehin weg von diesem Weg, da er trotzalledem noch immer zu viele Kurven aufweist. Richtig – sollen sie auf der Autobahn bleiben. Wir wollen in Ruhe unseren kleinstädtischen Bilderbuchsozialismus, unsere französische Kinowelt leben.
»Didier – mein Träumer. Wo bist Du wieder? Möchtest Du nicht mit Deine Naziza sprechen. Hat sie Dir etwas Schlechtes getan. Ich habe doch Cochonnée genannt und nichts Böses!«
»Ach, laß mich doch ein bißchen träumen. Immerhin sind wir unterwegs in unseren Mikrokosmos. Nein, ich hatte so ein paar antitouristische Gedanken. Golfe de Fos und so. Le port de débilité mentale, de gigantisme.«
»Oh! Oui. Es ist terrible. Mais – man hat zum Glück nicht mehr weitergemacht mit diese Zerstörung.«
»Wie meinst Du – nicht mehr weitergemacht?«
»Es sollte im Ursprung noch viel weiter ausgebaut werden, das alles. Man wollte – wie immer in unsere schöne Grande Nation – am weitesten, am höchsten und überhaupt am besten sein.«
»Ja-ja. Eben habe ich noch über den Ausbau der Straße über la Nerthe nachgedacht. Dieser Schwachsinn! Ich werde irgendwann heimlich nachts ein Schild aufstellen – réservé aux riverains. Ausgenommen ortskundige Politiker. Diese schöne alte Straße so zu verbreitern!«
»Du wirst auch bald eine Politique sein – ou un combat, battre pour ein schöne Dorf, das soll deutsch schöner werden. Vielleicht doch ein wenig monter au créneau, mon combattant?«
»Mach Du Dich auch noch lustig über mich! Wenn ich schon mal für den Erhalt unserer kleinen heilen Welt bin, fällst Du mir auch noch in den Rücken. Das ist doch wieder typisch! Fünf Jahre, nachdem sie in Deutschland die Mülltrennung eingeführt hatten, stand ein Vorreiter des Umweltschutzes in Metz am wohl ersten Glascontainer in Frankreich und kippte seinen kompletten Kofferraum voller Flaschen da hinein. Wahrscheinlich hat er gewartet, bis er hingestellt würde. Eine halbe Stunde lang ging das – bei laufendem Motor! Ihr habt doch gerade erst angefangen, so etwas wie den etwas behutsameren Umgang mit der Umwelt zu entdecken.«
Nun lacht sie sehr heftig. Vielleicht sogar ein bißchen gallig.
»Du magst ein wenig recht haben. Aber so terrible, wie Du es schilderst, ist es nicht. Du übertreibst nicht gerade in Maßen der Gerechtigkeit. Mais, d'un autre côte es kann sein, daß es noch immer zu wenig ist bei uns. Doch nun haben wir ja unsere deutsche Kämpfer für die bessere Welt ohne ...«
»Ach, Naziza. Red' doch nicht so‘n Schwachsinn. Ich bin alles andere als ein Umweltaktivist. Es ist mir nur immer wieder aufgefallen, wie schwer die Franzosen sich damit tun. Und ich bin der Allerletzte, der diesen Umweltwahn der Deutschen hier haben möchte. Das sind ja bald schweizerische Verhältnisse bei den Deutschen – wer ein Stück Papier fallenläßt, wird standrechtlich erschossen. In Besançon kann man’s bereits sehen. Ist ja auch fast in der Schweiz. Auf jeden Fall sehr sauber!«
»Oh-oh! Tiens! Tiens!«
»Es ist so. Isaac hat mir das mal erzählt. Vor weit über zwanzig Jahren ist ihr das mal passiert, daß sie, damals noch Pariserin, irgendwas weggeschmissen hat in Bern. Da ist ihr ein Mann nachgerannt, hat es ihr hingehalten und gesagt: Kann es sein, mein Fräulein, daß Sie etwas verloren haben?! Diese Schwachköpfigkeit hält bald auch bei uns Einzug. Bei Birgit Vanderbeke habe ich gelesen – sie hat über einen Schulanfang in France geschrieben, mit ihrem das Kind, wie es in ihrem Buch schlicht heißt. Da fragt die Lehrerin, ob es stimmt, daß man in Deutschland bestraft würde, wenn man einen Joghurtbecher wegwirft, ohne ihn vorher ausgewaschen zu haben. Das genau ist es. Wer raucht, wird an die Wand gestellt. Tod allen Nichtrauchern! hat Hans Pfitzinger gefordert, als das losging. Bald schmeißt niemand mehr Kippen auf die Straße. Ach was, die Raucher werden ja ebenfalls bald unter die Guillotine gelegt. Mir reicht es schon, wenn ich die französisch-deutsche Grenze überfahre und ins Badisch-Schwäbische komme oder ins Allgäu. Da sieht's genau so aus: als ob da fünfmal am Tag mit dem feuchten Tuch über die Straßen gewischt wird. Fürchterlich. Das ist jedes Mal ein Kulturschock für mich. Hier wird eben zweimal am Tag gefegt. Wie in den Kneipen, da sogar alle Stunde. Die Leute haben also zu tun. Doch hier wird ein Straßenkehrer auch ebenso respektiert wie der Polizist. Den Deutschen ist er ein Stück der hinterletzten Drecks. Wie die vielen Angestellten der Verkehrsbetriebe, die in Bus und Bahn behilflich sind. In Deutschland wirst du von den dreien, die noch vorhanden sind, nur unfreundlich angeraunzt. Vor allem in München. Das alles, obwohl alles Öffentliche bei weitem teurer ist als hier. In Marseille fahre ich für zwei Mark achtzig mit Metro oder Bus. In München kostet’s vier Mark. Oder sind zwei Euro weniger? Personal? Null und unfreundlich. Und alles ist abgesperrt in Deutschland. In Frankreich darf man fahren, wohin man möchte. Vielleicht sind die Franzosen in diesem Punkt vernünftiger, möglicherweise drängt sich das Aufgeklärte aus der Tradition des achtzehnten Jahrhunderts in den Vordergrund. Den Deutschen muß man anscheinend immer ein Schild vor die Nase stellen ...«
»Was Du tun möchtest in l'Estaque!«
»Ja. Du hast ja recht. Aber ich mein das doch nicht wirklich so. Also, die brauchen offenbar Verbote, weil sie nicht selber denken können. Mülltrennung – das nimmt wahnhafte Züge an bei den Deutschen. Es ist grauenvoll, mit welcher Akribie das betrieben wird. Die rennen zur Polizei, wenn Du die grünen Flaschen in den Behälter für die braunen wirfst. Und möglicherweise außerhalb der vorgesehenen Ruhezeiten. Einem Freund ist das tatsächlich passiert! In Garmisch-Partenkirchen. Diese Blockwartmentalität, diese Unterwürfigkeit steckt offensichtlich tief in ihnen. Du hast ja, zu recht, davon gesprochen. Das sind alles sehr große Unterschiede, bei denen ich immer froh war, außer Landes und hier zu sein. Und jetzt komm Du mir nicht und mach mich zu dem, was ich nun wirklich nie war, an dem ich nicht mal arbeiten mußte. Wahrlich und wirklich – bitte alles in Maßen. Also auch die Gerechtigkeit.«
»Du warst es, der ungerecht war.«
»Wie bitte?! Sag mal, spinnst Du jetzt? Nur weil ich es kritisiert habe, daß eine Wegstrecke, die nur von ein paar Esoterikern genutzt wird, ein Sträßchen, auf dem gerademal morgens und abends ein bißchen was los ist, zur Wahnbahn erweitert wird. Für die drei Flugreisenden, die keine Lust haben, die fünfzehn Kilometer über die Autoroute zu fahren. Für die dämlichen fünf Touristen, auf daß sie anhalten können, um ins Meer zu glotzen oder den Hafen aus der richtigen Perspektive zu sehen. Die paar Leutchen nach Corbière, an den Strand von l’Estaque transportiert ohnehin der Bus. Das, meine Liebe ist tatsächlich – na ja, auch – französisch! Schaut mal, was wir alles können! La Grande Nation. Einfach hirnrissig. Da sind die Deutschen den Franzosen nun wahrlich voraus. Die haben mit Rückbauungsmaßnahmen begonnen, beispielsweise bei den Flüssen und den Auen. Während hier immer noch größer-höher-weiter gedacht wird ...«
»Didier! Es ist nicht correct, was Du sagst! Es ändert sich. Doch wir haben ein andere Structure. Es ist Paris. Wir können das nicht immer so, wie wir möchten.«
»Naziza! Du selbst sagst es immer wieder. Gerade eben erst wieder. Das ist nun wirklich Vernunft – die ja bekanntlich aus der Erkenntnis geboren wird, mit der unsere lieben Diderot, d'Alambert et cetera uns sozusagen aufgeklärt haben. Daß die Deutschen aus einer reinen Erkenntnis gleich wieder ‘ne protestantische Volksreligion mit neuerlichem neuem Testament aus immer wieder neuen Gesetzen und Vorschriften machen, das steht sozusagen auf einem nächsten Blatt. Aber hier gibt es eben auch eine strikte Trennung von Kirche und Staat, während du in Deutschland Kirchensteuern auch dann bezahlen muß, wenn du gar nicht Mitglied einer dieser Sekten bist.«
»Du scherzt. Als ich in Deutschland war, habe ich angegeben, daß ich bin nicht Mitglied einer Kirche. Damit war es erledigt. Auch bei eine Job, den ich gemacht habe neben die Studium. Es ist also Unsinn, was Du sagst. Du machst Dich wichtig.«
»Sag mal – was ist mit Dir los? Möchtest Du, daß ich auf der Stelle umkehre? Das muß ich wirklich nicht haben. Weshalb legst Du Dich mit mir an?! Was ist auf einmal in Dich gefahren? Seit wann schaltest Du das Hirn nicht ein, bevor es losplappert.«
»Ich spüre eine Agression bei Dir. Das ist es. Und ich finde es zuviel, daß Du mir solche Dinge sagst. Deine Lust an Übertreibung geht zu weit. Du solltest wissen, daß ich immer bin informiert. Und ganz nebenbei ich habe dort gelebt in diese Land. Du mußt mich nicht für dumm ausgeben. Und dieses mit eine Steuer für die Kirche ist einfach zuviel, was Du gesagt hast. Es ist wider jede Logik, sogar gegen halbe Vernunft. Ich weiß, daß in Deutschland mir vieles nicht gefällt. Aber es ist keine Gottesstaat.«
»Meine liebe Naziza. Wenn ich Dich in Deutschland als Aushilfskraft beschäftige. Nein, geht nicht bei Verheirateten. Glaube ich zumindest. Dann müßte ich Dich in einer GmbH oder ähnlichem anstellen. Dann wieder dürfte ich bescheißen. Also, einfach. Ich habe über ein paar Jahre zwei Aushilfskräfte beschäftigt. Nach dem deutschen sogenannten 630-Mark-Gesetz. Das haben sie in dieser Form mittlerweile abgeschafft. Sie ziehen jetzt auch noch den Ärmsten der Armen Steuern ab, um hunderte von Milliarden in den Aufbau Ost zu pumpen. Zu westdeutschen Firmeninhabern. Oder Löcher zu stopfen, was sie dann Sparen nennen. Und wenn die dort auch dadurch auch noch weniger haben, weil nichts mehr übrig ist, weil sie ständig der französischen Firma Elf-Acquitaine Millionen an Schmiergeldern reinschieben müssen.«
»Merde! Was hat es damit zu tun?«
»Weil beispielsweise unser geliebter deutsch-französischer, ausgerechnet von den beiden händchenhaltenden Kohl und Mitterand angeschobener Heile-Welt-Sender zwar objektiv über diese Schmierereien berichtet, vielleicht gerade mal noch über die Besteuerung der monatlichen 630 Mark. Aber eben nicht darüber, daß ich trotz Religionsabstinenz auch noch eine nicht unerhebliche Kirchensteuer abführen muß! Das ist es, wie's so neudeutsch heißt, daß sie sogar eine Fernsehsendung so nennen: Fakt!«
»Du klingst überzeugend. Vielleicht werde ich mich entschuldigen müssen. Dann werde ich es auch tun. Doch zuvor möchte ich es wissen, weshalb ich es tun soll. Also – ich möchte wissen, wie es geht.«
»Ach. Unser großer Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Bank würde es nicht einmal als Peanuts bezeichnen. Alles, was unter dreiundfünfzig Millionen liegt, wäre wohl unter seiner Würde. Und über unter Peanuts berichtet ja auch kein deutsch-französischer Kulturkanal. Klar. Dafür ist kein Platz. Und ich versteh's ja sogar. Nun gut. Mir wurde für diese beiden Aushilfskräfte Kirchensteuer abgezogen. Und dies, obwohl weder ich noch diese beiden Damen Mitglieder irgendeiner Kirche waren. Ich habe nie einer angehört, und die beiden sind schon vor etwa hundert Jahren ausgetreten.«
»Es kann nicht sein. Das ist totalitaire!«
»Also – besagter Fakt. Sie haben mir abgezogen: zwei Drittel für die römisch-katholische Kirche und ein Drittel für die evangelische, also protestantische. Zwei Drittel für die Katholen, weil's Bayern ist. Im überwiegend protestantischen Niedersachsen ist's wahrscheinlich umgekehrt. Es ist pauschal, also ohne Aufschlüsselung abzuführen. Die genaue Summe habe ich gar nicht mehr im Kopf. Es ist ja auch seit, ich glaube, seit 1999, vorbei damit. Die beiden Frauen sind ausgestiegen. Sie haben gesagt, kein Interesse. Wir arbeiten nicht fürs Finanzamt. Für die Kirche mußten sie ja nicht. Das durfte ich erledigen. Ich wollte erreichen, daß ich dann wenigstens das Geld der israelitischen Kultusgemeinde in München zukommen lassen kann. Nein. Ende. Ich war so wütend, daß ich es in Erwägung gezogen habe, damit vors Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Aber ich bin zum Michael Kohlhaas dann doch nicht geboren. Ich bin zu faul. Außerdem hat mir ein befreundeter Anwalt abgeraten.«
»Es ist unglaublich.«
»So ist es. Und was unglaublich ist, darüber wird nicht berichtet. Und das könnte hier nun wirklich nicht passieren. In diesem wahrhaftig sehr katholischen Land, in dem sehr viele Menschen freiwillig in die Kirchen gehen. Hier würde man auf die traditionellen Barrikaden gehen. Laizismus eben. Richtig. Die deutschen Trottel lassen sich mal wieder alles gefallen. Keinen Mucks hörst du. Die brauchen Striche auf der Straße. Das ist eben mit ein Grund, weshalb ich mich hier wohlfühle – weil es eine Ausgewogenheit gibt, die von, quasi traditioneller, Aufgeklärtheit und sich daraus ergebender Notwendigkeit gespeist wird. Ich will selber denken. Und mir nicht ständig irgendwas verbieten oder gebieten lassen. Und das tut man hier. Sich nix gefallen lassen. Während auf der anderen Seite des Rheins Befehle entgegengenommen werden. Ob im Umweltschutz oder in der Steuergesetzgebung. Wurscht.«
»Didier! Wo fährst Du hin? Willst Du nicht nach l'Estaque?! Du mußt rechts fahren!«
»Oh Scheiße. Es zeigen sich mal wieder die Vorteile des Rond-point. Man fährt einfach nochmal rum. Das übernehmen die Deutschen übrigens in einer geradezu affenartigen Geschwindigkeit. Als wir auf Lauterbourg zugefahren sind, waren sie auch gerade dran, einen zu bauen.«
»Du hast es einmal gesagt. Aber weshalb dieses? Mit einem Mal?«
»Es gibt irgendwelche Untersuchungen. Ein paar Wissenschaftler haben sie angestellt. Man ist zu den Ergebnissen gelangt, die es in France seit den siebziger, achtziger Jahren gibt. Ich hab's Dir ja schon erzählt. Weniger Unfälle und so.«
»Richtig. Ich hatte es wieder verloren. – Didier, ich bitte Dich, meine Heftigkeit zu entschuldigen. Es ist zu sehr absurde. Pardon.«
»Ist ja gut. Ich bin nicht so empfindlich, wie ich aussehe. Nun ist aber gut was los hier. Na ja, es ist ja auch – siehst Du, meine Süße. Wie ich Dir gesagt hatte: sechs Uhr. Noch fünfzehn Minuten.«
»Oui. Bien! Es kann sein, daß das Café hat geöffnet. Ich glaube es. Die Arbeiter, die müssen hinein in unsere Wohnung, benötigen eine petit rouge.«
»Glaubst Du, daß ...«
»Non. Ich mache eine Späßchen. Eine Arbeiter, der kommt von Paul, geht nicht so früh. Mais – vielleicht in ein Café. Das kann sein. Es ist möglich, daß er braucht eine Schluck wegen gestern.«
»Wie darf ich das verstehen? Saufen die alle?«
»Ah, Didier. Du machst mich lachen. Bon. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Und wenn es so ist, dann ist es nicht unsere. Es kann Dir gleich sein. Oder hast Du Angst um unsere schöne Wohnung? Du solltest Deine Deutschreste, Deine Sehnsucht nach Pünktlichkeit und Ordnung bald ablegen.«
»Ach, Naziza. Schon wieder! Eben hast du Dich noch entschuldigt. Das macht mir wirklich keinen Spaß. Immer wieder korrigierst Du mich, wenn ich von mir als Deutschem spreche, ermahnst Du mich, betonst sogar, ich sei Franzose. Und nun kommst Du mir so – das ärgert mich schon sehr. Sicherlich bin ich ein wenig anders, als ich wäre, hätte ich siebenundfünfzig Jahre oder wenigstens soviel Zeit wie Du hier verbracht. Das hätte sicher einen großen Teil meiner Erbfaktoren umgewandelt. Und ich wünsche mir auch diese Grundhaltung, diese Mentalität. Aber daß ausgerechnet Du mir jetzt den Deutschen in die Haare schmierst – das macht mir nun wirklich keine Freude. In diesem Punkt bin ich ohnehin schon sehr empfindlich. Und Dich hätte ich dann doch für etwas feinfühliger gehalten. Genauso gut könnte ich jetzt sagen – da bricht die geballte sprichwörtliche französische Ignoranz und Arroganz durch, derentwegen ich gegen den Rest der Welt halte und immer weder sage, dem sei nicht so. Obwohl eine Menge dran ist. Das ist nun wirklich kein schönes Ankommen.«
»Didier – pour l'amour de Dieu! Je vous demande pardon. Ich habe es nicht so gemeint. Verzeihe das bitte. Du hast recht. Ich kann es nicht von Dir erwarten und doch so sprechen. Es war sehr dumm von mir. Und daneben – wir können das eigentlich ganz gut gebrauchen, ein wenig mehr pünktlich und zuverlässig zu sein. Quelquefois. Ich bin dumm.«
»Da bin ich nicht so sicher.«
»Ob ich bin dumm?«
»Ach – jetzt bist Du dumm! Ich meine das mit der Pünktlichkeit. Ich leide seit Urzeiten unter diesem Wahn. Ich würde ihn gerne ablegen. Ja, ich bin neidisch, nicht so sein zu dürfen. Ich bin, trotz des vielen Ärgers, den ich damit schon hatte, dadurch oft leicht verändert, ja, es hat mir schon geholfen, einiges leichter zu nehmen. Und auch anderen gegenüber werde ich dadurch gelassener. Wenn ich längere Zeit in France war, überträgt es sich. Ich spüre es deutlich. Wenn’s auch nicht in jedem Fall lange anhält. Doch oftmals sage ich mir, wenn ich mal wieder schäume, zum Beispiel im Straßenverkehr: Aubertin, halt die Luft an, denk an France. Und meistens funktioniert's dann auch. Also, das ist es, was ich anstrebe. Also, vergiß es. Laß gut sein. Komm, wir gehen rein. Sie haben geöffnet. Ich freu mich sehr!«
»Ich gehe erst mit Dir hinein, wenn Du mich küßt und sagst, daß Du mir hast verziehen. Dort drinnen werden wir keine Zeit haben.«
»Warum denn das?«
»Küsse mich. Ich bleibe hier sitzen, bis Du es getan hast. Ich kann kleiner sein als ein kleines Kind.«
»Ich weiß es. Aber was Du meinst, ist, das Du um einiges bockiger sein kannst als das aufmüpfigste Kind.«
Doch zu gerne nehme ich sie in den Arm. Vermutlich habe ich noch weitaus mehr davon als sie. Außerdem ist sie es wohl, die irgendwo recht hat. Ich bin schon selten dämlich. Wenn sie auch nicht gleich solche Geschütze auffahren muß. Doch nun erhalte ich eine mehr als liebevolle Entschuldigung. Sie nimmt meinen Kopf zwischen ihre Hände und schaut mich sehr intensiv und liebevoll an.
»Bienvenu à sol natal, mon grand amour! Du hast es vollbracht. Ich habe es vollbracht. Wir haben es vollbracht. Nun lasse uns hineingehen. Wir dürfen un petit verre haben nun.«
Ich steige aus. Direkt vor der Tür haben wir einen Parkplatz gefunden. Na, um die Uhrzeit. In einer Stunde wird's hier anders aussehen, wenn alles angerollt kommt, was die Lüstlinge von l'Estaque so in ihre Körper hineinschieben und -gießen. Tatsächlich ist das Café bereits geöffnet. Nichtmal die Tür ist geschlossen, obwohl es doch sehr frisch ist an diesem dieses Jahr im Mai eher märzischen mittleren Meer. Es befinden sich sogar schon einige Leute darin. Einer weicht im Äußeren ein wenig von den anderen etwa fünf oder sechs Männern ab. Ein angenehmes Gesicht. Doch auch das ist hier keine Seltenheit. Die Heterogenität der Freundlichkeit dieses Städtchens am Rand von Marseille ist sprichwörtlich. Aber irgendwie kommt mir dieses Gesicht bekannt vor. Was soll's. Ich bin so oft hiergewesen. Dann ist das keine Geisterscheinung, sondern nur normal. Der mir bekannte Wirt – er hat das Café wohl von den Eltern übernommen – schaut wie immer unbeteiligt sympathisch oder sympathisch unbeteiligt. Man kann's drehen, wie man will. Bei solchen Menschen kommt bei mir immer Wohlwollen heraus. Gerade mal, daß er mich wahrgenommen hat. Aber er hat's. Er nickt. Wir stellen uns nebeneinander an den Tresen. Vor mir stellt der angenehm ruhige Enddreißiger, na, vielleicht hat er auch schon die Vierzig erreicht, eine Flasche hinter die Theke und schickt sich an, sie zu öffnen.
»Also weißt Du, meine göttliche Geliebte, Du scheinst recht zu haben – die fangen aber tatsächlich früh an mit dem Nektar hier. Und dann gleich Champagner.«
»Vielleicht gibt es eine Anlaß.«
Der Thekier dreht sich um und geht zu seinem CD-Spieler. Offenbar beabsichtigt er, mit diesem Gerät zu musizieren.
»Naziza, der wird doch nicht ...«
Es donnert auch schon los. Ach du meine Güte – die Marseillaise. Es scheint wirklich was los zu sein hier. Nun, an örtliche Gegebenheiten werde ich mich anzupassen haben. Ist ja ohnehin pausenlos Krach in der Stadt. Nix zweiundzwanzig oder jetzt dreiundzwanzig Uhr Hochklappen der Bürgersteige wie in München, na ja, jetzt dreiundzwanzig Uhr. Am Cours Belsunce spielen die Kinder bis morgens um drei Fußball gegen das Gittertor des Centre Bourse. Und um sechs kommt der Chauffeur der Straßenkehrmaschine. Man gewöhnt sich daran. Aber er hier läßt's schon arg dröhnen. Auf einmal singen alle mit. Sehr, sehr laut. Ich stehe unwillkürlich und unwillentlich patriotisch stramm. Und drehe mich um. Da steht der Männerchor und schaut mich beim Grölen grinsend an.
Allons enfants de la Patrie,
Le jour de gloire est arrivé!
Contre nous de la tyrannie,
L'étendard sanglant est levé!
L'étendard sanglant est levé!
Entendez-vous dans les campagnes
Mugir ces féroces soldats?
Ils viennent jusque dans nos bras
Egorger nos fils et nos compagnes!
Aux armes, citoyens!
Formez vos bataillons!
Marchons! marchons!
Qu'un sang impur
Abreuve nos sillons!
Alles hat ein Ende. Auch die erste Strophe samt Refrain des Kampfliedes, das die Truppen von Marseille 1792 beim Marsch auf Paris sangen. Jetzt lächelt meine Naziza mindestens so breit, wie dieser Volkschor steht. Es kracht. Es war jedoch kein Schuß, das war der Champagner. Jetzt spricht der Chor auch noch.
»Le jour de gloire est arrivé! – Un invité que l'on a plaisir à recevoir – bienvenu à la patrie, Didier Aubertin!«
Mir wird ganz anders. Ich glaub, ich muß heulen. Jetzt seh ich durch meinen Schleier, daß da oben auch noch Transparent hängt mit dieser Begrüßungsrede. Ich flüchte mich in die Arme meiner Beschützerin. Nun fließt alles Wasser aus mir heraus – auf sie. Aber wie. Sie hält mich im Arm, als ob der Nachwuchs bereits angekommen wäre. So klein fühle ich mich aber auch. Kaum, daß ich mich aus der schützenden Behausung Naziza herauswage. Ich spüre, daß sie es gerne hätte. Doch ich ziere mich sehr. Muß man mich deshalb derart heulen sehen?
»Didier. Komm heraus aus mir. Hier freuen sich die Menschen, wenn man weint vor Glück. Und ich weine mit. Auch ich bin glücklich. Sie sind wunderbar. Deinetwegen hat man geöffnet und ist früh aufgestanden. Didier – hast Du das verstanden?! Um Dich in Deiner Heimat zu begrüßen!«
Langsam entwirre ich mich aus meiner zarten Fluchtburg heraus. In Distanz zu mir steht dieser sich etwas von den anderen unterscheidende Herr. Naziza wischt sich flüchtig die Tränen aus den Augen, schnieft ein wenig, nickt, lächelt und dreht sich um. Sie nimmt drei gefüllte Flöten mit Champagner, reicht eines mir und eines unserem Gegenüber, das nun herantritt.
»Didier – ich glaube, Du kennst ihn? Unser Freund Paul.«
Aha. Hat mich meine langsam wiederkehrendes Gedächtnis also doch nicht getrügt. Er reicht mir die Hand.
»Bonjour Didier. Bienvenu. Ich freue mich sehr, Dich zuhaus zu grüßen. Es ist ein groß Freude, daß Naziza es gelungen ist, Dich zu fangen. Et maintenent – restez ici! D'accord?! Pour toujours! Pardon – mein Deutsch ist nur ein bißchen. Für die Fische.«
Ich muß jetzt schon arg und sehr befreit lachen. Und meine Tränen kommen mit noch größerem Druck aus mir heraus. Doch es ist wundervoll. Alles steht da und lacht. So etwas ist mir in meinen Leben noch nicht geschehen. Ist das wundervoll. Ich gehe auf Paul und umarme ihn.
»Merci beaucoup, Paul, pour tous jolis chantes. Dank für alles. Ich bin sehr gerührt.«
»Comment?«
Naziza übernimmt das für mich Fremdsprachliche.
Paul nickt die anderen Männer heran. Er spricht ein paar Worte mit ihnen. Jeden einzelnen stellt er mir vor. Ich weiß nicht, um was es geht. Aber ich grüße die Sangesbrüder ebenso erfreut und freundlich zurück.
»Didier – es sind alle die freundliche Menschen, die für unsere Wohl sorgen werden heute und morgen und vielleicht übermorgen.«
»Wie? Alles Köche?«
»Dummkopf. Paul hat sie gesammelt, um die Wohnung und damit uns zu restaurieren.«
»Ach du meine Güte. Die armen Kerle. Deshalb mußten die so früh raus!«
»Non. Um Dich zu begrüßen, haben sie es getan. Aber dann gehen sie an die Arbeit.«
»Jetzt wird mir ja einiges klar. Du hast mich ausgetrickst. Wie hast Du das denn hingekriegt?«
»Paul und ich haben ein wenig téléphonieren. Manchmal ist es gut, wenn jemand nicht alles versteht. Wir haben es gesprochen, während Du gefahren bist.«
»Das heißt also, daß dies alles eine abgekartete Sache war und Du gnadenlos dicklügig aufgetragen hast, als Du mir immer wieder bedeutet hast, wir müßten dringend in die Heia. Rabenaas. Aber wirklich gut hast Du das hingekriegt. Summa cum laude!«
Lachend übersetzt sie es den anderen, die offensichtlich ihre helle Freude an mir Ahnungslosem haben. Sollen sie. Ich freue mich ja selber über diese herrliche List.
»Monsieur. Une bouteille de champagner pour mon copains, s‘il vous plaît.«
Ich hebe mein Glas, proste allen zu und bedanke mich. Naziza ist mit unserem – mir wahrhaftig bekannten – Fischfilmer ein Stückchen unterwegs. Wahrscheinlich heckt sie das nächste Ding aus. Solange es weiterhin derart Angenehmes ist, soll es mir wahrhaftig lieb sein. Wenn ich ihn so anschaue, erinnere ich mich immer genauer. Nun habe ich doch tatsächlich das Bild vor Augen, das uns beide in der Wohnung zeigt, die wir uns angeschaut haben, die unser junges Glück ummanteln sollte. Genau – dieser Mann hatte uns damals einen geradezu unglaublich guten Vertrag gemacht. Das ist wirklich keiner dieser Geldgeier. Gut erinnere ich mich jetzt, daß er gesagt hat, ihm sei es lieber, gute und zufriedene Mieter zu haben. Letztlich profitiere er davon, weil sie sehr viel sorgsamer damit umgingen. Werterhaltungsmaßnahmen durch Behutsamkeit im Umgang mit Menschen. Solche Weisheiten haben sich noch nicht unbedingt herumgesprochen. Doch nun gehört ihm die Wohnung nicht mehr. Er hat sie verkauft. Und noch ein paar Zimmer mehr. Er hat sie meiner Strandblume verkauft. Na ja. Sie gehört ihm schon noch. Solange sie noch nicht abbezahlt ist. Doch das werden wir ja wohl auch noch hinkriegen. Zwei Jahrzehnte habe ich von so etwas geträumt. Bis ich nicht mehr wollte. Weil ich überhaupt keinen Besitz mehr wollte. Weil er einen nur festnagelt. Und nun bin ich festgenagelt. Doch ich könnte nicht behaupten, daß mir deshalb die Tränen kämen. Es sei denn, es sind welche des Glücks. Das mir insgesamt mit einem Mal sehr wohlgesonnen ist. Der schönste Teil dieses Glücks winkt mich zu sich heran. Die beiden stehen an einem der vier oder fünf Tische. Ich trotte zu ihnen hin.
»Didier. Es ist eine vielleicht nun nicht mehr zu glaubende Kette. Dieses Bett, das Du angezeigt hast in La Provence ...«
»Ja? Ich hab die Zeitung ja im Döschwoh liegen.«
Paul hebt sein Glas. »Vive le 2 CV!«
»Non. Didier. Schau diese hier. Es ist eine Catalogue von diese Firma. Es ist dieses Bett darinnen. Und nun – es ist verrückt! – Paul hat diese Bett. Für sich. Er sagt, es ist von beste Qualität.«
Paul hat wohl verstanden. Er nickt bedächtig. »Ja. S'est produit de qualité supérieure. Un prix interessant! Es gibt – je crois – zwei, peut-être trois von diese. Sie hatte fünf. Hier matin. Ich habe kaufen eines.«
»Mensch. Naziza. Siehst Du. Ich hab's geahnt. Was machen wir nun? Müssen wir doch hinfahren?«
»Cheri. Paul hat gesagt, daß er es wird holen. Wenn wir möchten das.«
»Ach nee. Von der Tatsache mal abgesehen, daß es ein bißchen viel wird, was er für uns tut – ich kaufe grundsätzlich nichts, was ich nicht im Original gesehen habe.«
»Du kannst es sehen.«
»Ja. Und deshalb müssen wir hinfahren. Jetzt wird's doch ein bißchen viel.«
»Non. Didier. Paul hat es in seine Wohnung. Wir können es anschauen. Wenn wir möchten es, er wird es holen.«
»Je dois aller – en tout cas, pour cause de carreler! Willst Du schauen? Wir gehen in mein Wohnung.«
»Das is‘ ja ‘n Ding. Aber sicher! Machen wir, Naziza?«
»Mais oui! Paul fährt mit eine von den Arbeiter dorthin, um die Ka – diese schreckliche Wort kaufen ...«
»Liebes. Es gibt im Deutschen einen anderen, den eigentlich sogar richtigeren Begriff dafür, der Dir leichter fallen dürfte – Fliesen. Aber ich muß ja lernen – carreler.«
»Du kannst es. Bien. Da er muß sowieso hinfahren, es ist keine Probléme!«
»Gut. Aber wie soll das mit dem bezahlen gehen? Ich kann ihm schlecht meine Kreditkarte mitgeben.«
»Bezahlen. Payer? Oh non. Es gehen mit alle zusammen für Appartement.«
»Naziza. Bitte sag ihm das mal in den passenden, ausführlichen Worten – ich empfinde es als schier ungeheuerlich, was er alles macht. Für Dich. Für uns.« Ich schaue ihn dabei an. Vielleicht versteht er ja selbst genug. »Sag ihm bitte, daß ich mich bemühen werde, alles wieder gutzumachen. Und daß ich mich ganz, ganz herzlich bedanke – für alles. Vor allem für diesen wunderschönen Empfang.«
Meine ganz persönliche Übersetzerin überträgt es in diesen wundervollen örtlichen Singsang. Ach, vielleicht werde ich bald ein bißchen mehr verstehen. Ich bin mißverstanden worden. Er antwortet mir. Doch ich verstehe ihn kaum. Obwohl er sich Mühe gibt, den Dialekt herauszulassen. Aber er ist einfach zu schnell. Ich schaue wohl sehr unglücklich. Was ihn wiederum amüsiert.
»Naziza! Hilf mir doch. Hilf mir aus dieser Sprachlosigkeit. Es ist die Hölle.«
»Non. Dieses übersetze ich nicht. Ich schäme mich.«
»Wie bitte. Sagt er so schlimme Sachen?«
Sie wendet sich ab. Sie geht zur Toilette. Paul übernimmt.
»Écoute, Didier. Je suis heureux te revoir. Wir seien froh pour Naziza et Du. Es ist gut, Du bist hier. Es ist gut pour Naziza être heureux en ménage – maintenent. Enfin. Wir liebe alle Naziza! Beaucoup d'amis. Du sein ihre Mann. Wir lieben Dich – aussi! Alle ist gut. Maintenent. Fin moi grand mots. – Du mir helfe mit Deutsch? Ich brauche parfois. Pour le – Arbeit. Pour le film. Pour les poisson vers Allemagne.«
»Du meinst Fische und Filme verkaufen nach Deutschland?«
»Oui-oui. Du mir helfen will. Téléphoner. Écrire?«
Naziza ist zurück. Sie stellt sich hinzu.
»Komm, Liebes. Ich brauche Dich. Nicht nur für uns beide. Laß uns eben an die Theke gehen. Noch ein Schlückchen trinken.« Wir gehen gemeinsam. »Sag Paul bitte in aller Deutlichkeit, daß ich ihm selbstverständlich helfen werde, wo immer es geht. Ich will sehr gerne tun, was ich an Möglichkeiten habe. Das kann ich ohnehin alles nie wieder gutmachen. – Das mußt Du ihm nicht sagen. – Andererseits bist Du ja viel näher dran mit den beiden Sprachen. Sag ihm eben, daß wir ihm helfen werden. Und nun, nachdem wir in Bälde Nachbarn sind, ist es ja überhaupt kein Problem mehr.«
»Didier. Ich will es ihm gerne sagen. Doch er bietet Dir gerade Arbeit an!«
»Liebes. Wir werden Arbeit genug haben! So, wie's aussieht. Das darfst Du ihm nicht verschweigen!«
»Ich habe es ihm bereits gesagt. Er bietet es trotzalledem an. Er sagt, man weiß nie. Hinzugefügt hat er, es sei ein Branche der Haiefische. Diese Film.«
»Ach ja. Da hat er ja recht. Aber ich kenne Peter schon sehr lange. Gut, ich habe mich des öfteren auch bei Menschen geirrt, denen ich das eine oder andere nicht zugetraut hätte. Aber damit muß man leben. Es tut ein Weilchen weh, dann geht's wieder. Und wenn ich jetzt schon dabei bin, auf eine neue Weise an die Dinge heranzugehen, kann ich nicht von vornherein mit dem Faktor Mißtrauen beginnen. Dann müßte ich es auch hier sein. Hier, bei Paul und allen anderen auch.«
»Didier! Ich kenne diese Menschen alle gut! Es ist nicht angebracht, ein Mißtrauen zu haben.«
»Meine Güte. Ich hab doch gerade eben gesagt, daß ich Peter auch schon ewig kenne. Er ist vermutlich einer der letzten Ehrenmänner der Branche. Ich kenn' doch nicht nur Idioten und Ganoven. Ein paar positive Aspekte kann ich meiner Vergangenheit durchaus abgewinnen. Und es ist ja auch gut jetzt. Ich tu's ja nicht. Ich habe lediglich gesagt, daß ich's dann ebenfalls sein müßte. Konjunktiv, Madame! Ich will ja auch nicht. Ich möchte ja gerne mal wieder mit Vertrauensseligkeit beginnen. Es würde meinem unendlichen, tief in mir schlummernden Harmoniebedürfnis sehr entgegenkommen. Also lassen wir's gut sein. Kannst ihm ruhig sagen, daß ich gegebenenfalls gerne auf sein Angebot zurückkomme. Damit das jetzt erst mal vom Tisch ist. Ich will jetzt Harmonie. Und ein Bett.«
»Wir fahren dann bald.«
»Ich meine das neue Bett. Fürs Zimmer zum Meer.«
Sie lacht hell auf. »Ah! Oui!« Sie spricht mit Paul.
»Sollen wir gehen in die Wohnung von Paul? Das Bett sehen?«
»Ja. Sicher doch. Aber laß mich eben schnell noch einen Café trinken. Ich packe diesen Alkohol am frühen Morgen nicht. Das bringt mich um. Ich sollte es auch nicht tun.«
»Didier. Es ist ein große Ausnahme. C'est une grande fête! Unser Ankommen.«
»Oui-oui, Didier – toutes les occasions sont bonnes pour faite la fête!«
»Ach, Paul. Mais – je suis bourré.«
»Didier!. Du bist doch nicht betrunken. Du redest wirr.«
»Na siehste. Es ist der Suff.«
Ich kippe schnell zwei Café in mich hinein. Sie sind mir angenehmer als der Champagner. Meine Güte – wie sich das geändert hat! Früher war dies eine meiner leichtesten Übungen. Doch heute geht allenfalls ein Pastis am späten Nachmittag. Und es muß ja auch nicht sein. Die anderen haben sich daran gewöhnt, daß Aubertin im wesentlichen dem Alkohol entsagt hat. Dann werden die hiesigen es auch lernen. Vor allen Dingen nicht am frühen Morgen. Dann bedarf es ja nicht einmal einer Fehlfunktion des Gehirns, um sich lahmzulegen. Ich nicke den beiden zu, und wir gehen die Stufen hinab. Die Platanen, die im Hochsommer den kleinen Parkplatz abschirmen, haben bereits ihre ersten Blätter zu entfalten begonnen. Noch ein paar Tage, und sie werden zum Dach gewachsen sein.
»Wo müssen wir hin?«
Paul zeigt mit der linken Hand nach vorne und beschreibt eine Biegung nach rechts. Aha. Ein Stückchen hinauf ins Städtchen.
»Paul wohnt nicht weit von uns. An die nächste Straße. Doch das Haus hat seinen Eingang von die anderen Seite. C'est presque en face de nôtre maison – rue Martial Raynaud. Nicht weit.«
Es ist jedesmal so, wenn ich hier durchgehe. Sofort fällt mir der Film ein. Aber über Marius et Jeannette habe ich dieses Städtchen ja auch kennengelernt. Quatsch. Kennengelernt habe ich es durch diese freundliche Dame aus dem Office de Tourisme de Marseille, die mir geradezu emphatisch alles mögliche Material über l'Estaque zukommen ließ, nachdem ich auch nur einmal danach gefragt hatte. Ständig war anschließend was im Telefaxgerät oder im Email. Als ob ein Weibchen das Nest bauen würde, um das Männchen zu locken. Aber irgendwie war's ja letztendlich auch so. Das soll's ja in der Fauna geben. Nun geht diese freundliche Dame doch tatsächlich mit mir ein Bett anschauen. Unsinn. Es ist ja bereits der zweite Anlauf. Denn der Vertrag war ja unterschriftsreif. Wäre es dazu gekommen, hätten wir genau diesen Weg genommen. Aber, ohne meiner Liebsten wehtun zu wollen – wer weiß, wozu es gut war. Es beschleicht mich das Gefühl, daß das irgendwer irgendwie so arrangiert hat. Es mußte wohl sein, daß ich zuvor einen auf den Kopf, in diesem Fall wohl in den Kopf bekommen mußte. Denn ob ich das vor drei, vier Jahren gepackt hätte? Offenbar eindeutig nicht. Sonst wäre ich ja wohl kaum davongelaufen. Und nun kommt mir alles so vertraut vor, als ob ich seit ewigen Zeit hier leben würde. Sicher, ich bin häufig derart voller Sehnsucht hier herumgeschlichen – die Amnesie muß also doch etwas freigegeben haben von den Ereignissen. Im besonderen die letzte zwei Jahre, in denen ich mich magisch angezogen fühlte von diesem ehemaligen Fischerdorf. Irgendwie hatte meine persönliche Empfangsdame mich seinerzeit vor allem mit den Künstlern zu locken versucht, die hier ansässig waren: Braque, Cézanne, Dufy. Um nur die bekannteren zu nennen. Sie meinte wohl, wer mit Kunst beschäftigt sei, den müsse das interessieren. Doch jemanden, der, wie bei mir damals der Fall, jeden halben Tag zum Bilderbetrachten verurteilt ist, wird man mit den trivialen Postkartenperspektiven und der touristischen Lyrik der Fremdenverkehrsämter wohl kaum enthusiasmieren können. Von mir aus sollen sie der Künstler wegen dahinrennen. Mich interessiert allenfalls das, was die Künstler bewogen haben könnte, hier anzusiedeln. Robert Guédiguian ist das mit seinem Film vermutlich viel eher gelungen. Der Maler Niele Toroni fällt mir ebenfalls dabei ein. Er hat der anderen Pariser Freundin mal einen denkwürdigen Satz in ihr Interview-Büchlein gesagt. Nicht der Betrachter mache das Kunstwerk. Denn zum Glück machten nicht die Trinker den Wein, sondern die Weinbauern mit täglicher Arbeit und jahrhundertealtem Wissen. Wenn das anders wäre, hätten wir sehr bald nichts mehr zu trinken. Sehr weise! Und Guédiguian hat dieses Alltägliche im Leben gezeigt. Das ach! so scheinbar Einfache – in seiner ganzen Komplexität. Das bißchen Liebe. Aber wie sie ein Leben eben zu verändern vermag. Und das alles in dieser zauberhaften Umgebung. In diesem Mikrokosmos eines wirklich poetischen, von mir aus poetisch verklärten oder auch verklärenden Alltags. Die reine Reinheit. Durchaus auch ein bißchen wie bei Amélie Poulain. In deren Augen – in ihrer faszinierenden Schönheit denen von Naziza arg heftig verwandt – zu schauen hatte ich vergangenes Jahr in Sarlat, in einem Dordogne-Kleinstadtkino das Vergnügen. Verstanden hatte ich ja wieder mal nur einen Bruchteil. Doch diese kohlrabenbraunen Boules – pardon, Naziza, braun, nicht schwarz! – haben dieses Märchen von der Nähe zum Menschen mir fast im Alleingang erzählt. Der von Libération hat dabei genau so viel begriffen wie ich zu den Zeiten, als meine Gedanken noch festgemauert in der Erden der garantiert phantasiefreien Ideologie schliefen. Es sei mal wieder ein Klischeebild, das von den Franzosen geliefert würde, meinte er unter anderem. Einfaltspinsel. Manchmal täte auch anderen ein neurologischer Defekt ganz gut. Ich muß heute noch heulen vor Glück oder vor Sehnsucht, wenn ich an die Bilder denke, in denen Jean-Pierre Jeunet und sein Drehbuchautor Guillaume Laurant dieses Zauberwesen Audrey Tautou durch das Paris des zehnten und achtzehnten Arrondissements haben hüpfen lassen. Und zu lachen gab's auch nicht eben wenig. Geschmunzelt habe ich fortwährend. Wenigstens der deutsche Spiegel-Autor schien aus den Polit-Kitsch-Windeln herausgewachsen zu sein. Er hatte das begriffen: »Ein gigantischer Glückskeks – süß und süchtig machend.« L'art pour l'art! Im besten Sinne. Das war schon wie ein prächtiger Landwein aus dem Süden. Nein. Das war Chabert de Barbera von 1983, vin doux naturel du Maury! Getrunken im abendlichen Vierzig-Grad-Sommer im Marché du vin am Cours Palmarole in Pérpignan. Aber mit Naziza und ihrem Süßen, ihrem Papa. Audrey Tautou auch mit dabei. Gerne. Und meine der politischen Reflexionsunfähigkeit nicht gerade verdächtigen Freunde aus dem Périgord, die den Film zum zweiten oder gar dritten Mal gesehen haben. Gemeinsam mit mir. Und, natürlich, Marius und Jeannette sind auch mit dabei und Robert Guédiguian und seine zauberhafte Jeannette Ariane Ascaride. Noch eine meiner (vielen) heimlichen Lieben. Er hat sie wohl deshalb vor vielen Jahren vorsichtshalber geheiratet. Unsere neuen Nachbarn. Wir trinken diesen süßen Wein. Nicht den – nochmal Toroni – dieser Franzosen, die sämtliche Bücher über den Wein gelesen haben, aber wenn sie drei Gläser trinken, haben sie Magenschmerzen. Eintauchen. Einfach nur tun. Nicht immer erstmal denken und dann tun. Die Gedanken kommen von alleine. Diese Erfahrung habe ich ja nun ein paar Jahrzehntchen inhaliert. Es reicht. Jetzt mag ich lieber Wein machen. Na ja. Zumindest dabei zuschauen. Und dabei an die Genüsse denken, die er verursacht. Das sind erträgliche Gedanken. Obwohl? Naziza hat ja was von einem kleinen Weingarten erzählt. Vielleicht kann ich ja tatsächlich ein bißchen machen. Meine Lust, ein wenig in der Scholle herumzuwühlen, ist ja seit der Stunde Null, seit meiner Neu- oder überhaupt Geburt enorm gewachsen. Früher hätte mich nichts und niemand dazu gebracht, eine Erdkrume auch nur anzuschauen, geschweige denn anzufassen. Heute begrüße ich am Morgen meine – selbstgezogenen! – Pflanzen. Das werde ich hier in besonderem Maße fortsetzen! Und vielleicht würde der Mann, der diesen kleinen Weinberg gekauft hat und der zugleich mein Schwiegervater zu sein scheint, nach einer Rückholaktion ja mit mir dorthin gehen und mir ein bißchen was darüber erzählen. Ich würde mich sogar etwas bücken. Obwohl das nicht unbedingt meine Stärke ist. Moment – eben fällt mir ein, daß Naziza ja gesagt hat, daß sie ihn bearbeitet. Das müssen wir klären. Eine ganze Generation zivilisationsmüder akademischer Besserverdiender träumt vom Weinbau. Und ich werde es möglicherweise gar tun? Aber keine Bücher lesen und Magenschmerzen kriegen. Ich lese ja auch keine Computerbücher. Von ihnen bekommt man Kopfschmerzen, und sie halten einen vom Tun ab. Tun! – Ich sehe, wie meine Beschützerin neben mir hergeht, den Kopf etwas gekünstelt leicht nach vorne in Richtung des meinen schiebt und ein wenig grinst.
»Was ist los, Du Nervensäge? Lachst Du mich schon wieder aus?«
»Naziza la Scie, la casse-pieds? Oh! Ich säge: Warst Du wieder in Deinem Land der Träume?«
»Nicht mal in Ruhe seinen Gedanken nachhängen darf man. Du hast Dich mit dem Herrn in einer außerirdischen Sprache ausgetauscht, und da bin ich eben auf dem Boden geblieben – ich habe über Ackerbau und Viehzucht nachgedacht. Ich gehe jetzt zu José Bové in die Lehre.«
»Um zu lernen Idéologie? Das kannst Du bereits.«
»Nein! Ackerbau. Ich Zivilisationsflüchtling werde jetzt Weinbauer. Allein deshalb müssen wir Deinen Vater aus Pérpignan abziehen. Du hast mir doch von dem Weinberg erzählt ...«
»Oh! Didier. Das ist eine winzige Talus – eine kleine Hang. Wenige mètre carré. Vielleicht es sind fünfzig Meter nach oben und dreißig in die Breite. Es ist nicht weit weg – dort, vers la Nerthe, à droite. Mais – rien d'extraordinaire.«
»Wir machen einen Grand Cru daraus! Also, immerhin. Fürn krummen Rücken reicht's. Wenn dann noch die Kartoffeln und die Kräuter vor der Tür dazukommen, dann ist der Tag gelaufen, und ich sinke vor Erschöpfungs ins neue Bett.«
»Zuvor wir müssen es einweihen. Cheri – Paul hat große Berge mit Wein.«
»Also nicht nur Fischfilmer, auch Weinfilmer. Was hat der eigentlich nicht an lauter vernünftigen Dingen. Der Film übernimmt dann das Irrationale? Oder wie?«
Naziza übersetzt es. Er hat ein angenehm brummiges Lachen aus einem offenen Gesicht.
»Oui! Ils font commun une bonne bouteille! Et tourner un bonne film. Oui?«
»Sur vin?«
»Pourquoi pas?«
Wir sind endlich angekommen. Ich schwächle nun doch ein wenig. Und ich will in die Landwirtschaft. Da lachen ja nun wirklich die freilaufenden Hühner. Andererseits tun mir die paar Schritte wirklich gut. Nach zwanzig Stunden Autofahrt. Glücklicherweise sind die Häuser hier nicht so hoch wie in Marseille. Meine Güte. In der Rue de l’Évêché werde ich ja auch hinaufsteigen müssen. Doch, eben fällt's mir ein, die Wohnung liegt ja wohl lediglich im zweiten Stock. Es wird also nicht so schlimm. Wir gehen zunächst in die wohnliche Küche. Auch hier ist diese Filmsituation. Moment? War das in unserer Wohnung nicht auch so. Oder bin ich schon wieder im Film?
»Naziza – ist das in unserer Wohnung nicht genauso wie hier?«
»Maintenent. Oui. Zuvor es ging alles nur hinaus zur Straße. Bon. Zum Meer. Aber nun haben wir dieselbe Situation. Nach die Hinzufügung von diese beide Zimmer. Es ist nun ähnlich diese hier. Oui.«
»Meine Güte. Ist das schön. Da freu ich mich aber.«
»Ils montez là appartement, après. Oui?«
»Oui. Avec plaisir, Paul. – Naziza. Das machen wir. Ich bin jetzt ganz kirre.«
»Du bist nicht müde?«
»Ach, ein bißchen schlapp schon. Aber ich bin jetzt so aufgedreht. Ich glaube, ich könnte gar nicht schlafen.«
»Dann werden wir noch ein wenig schauen ...«
»Sollen wir nicht doch mit Paul zum Einkaufen fahren? Dann könnte ich auch gleich bezahlen. Mit der Karte. Das wäre mir fast lieber.«
»Puh! Didier. Du hast – un peu trop de énergie?! Laß uns das Bett sehen. Dann sehen wir weiter. Allez! Vite, vite!«
Es ist noch in Plastikfolie gehüllt. Doch auch so sieht es bei weitem besser aus als in der Zeitung. In den Katalog, fällt mir soeben ein, habe ich gar nicht geschaut.
»Weshalb müssen die eine solche klare Kontur eigentlich immer so abphotographieren, daß es ausschaut wie aus einem Versandhaus für Tinnef?!«
»Tinnef? Was meint das?«
»Mist. Billiges Zeugs. Es stammt eigentlich aus dem Hebräischen und meinte ursprünglich Kot oder Schmutz: tinnûf. Über das Jiddische kam es ins Deutsche. Es bedeutet eigentlich Schund, schlechte Warenqualität oder Ausschuß. Also solches, das wir uns nicht anschaffen würden.«
»Ah. Unsere Thema. Oui. Ich habe es Dir gesagt – die Franzosen kaufen es nicht. Deshalb photographieren sie es so. Daß man es anders sieht. Und sie hoffen, daß sie es doch kaufen.«
»Paul ist doch auch Franzose!«
»Oui. Und es gibt außer ihm noch ein paar andere, denen es wird gefallen. Deshalb werden wir uns beeilen müssen.«
»Paul. Combien coûte de lit? Was hast Du bezahlt.«
»Cheri. Weshalb übersetzt Du Dein Französisch zu Paul?«
»Ach ja. Der Anblick eines Bettes macht mich wirr. Dazu noch so ein schönes. ich könnte mich direkt reinlegen.«
»Mettre-toi! Un essai.«
»Selbst auf die Gefahr hin, sofort einzuschlafen ...«
»Du hast gesagt, es würde nicht gehen!«
»Es stimmt. Du bist in der Nähe. Da kann ich nicht an Schlaf denken. Weil Du mir das verbietest.«
»Idiot! Außerdem wir sind nicht alleine.«
»Da hast Du auch wieder recht. Also – ein Versuch.«
Ich liege zur Probe. Und wiederhole meine Frage nach dem Preis.
»Es kost Euro 759. Ich bezahle sept cent.«
»Wie bitte? Wie das?«
»Bien. Ich bin eine – marchand de bestiaux.«
»Ach Du meinst, ein Händler ist ein Händler. Egal, ob Viehhändler oder Bonbonverkäufer. Der kann eben handeln.«
»Bon.«
»Naziza – der versteht ja alles.«
»Non. Pas de toutes. Un peu.«
»Ganove. Und meinst Du, wir kriegen das auch für den Preis?«
Er zuckt mit den Schultern. Dabei sieht er aus, als ob er mir gerade dieses Bett verkauft hätte und mir glaubhaft versichert, es sei eine Kuh oder ein Thunfisch.
»Je crois. Oui.«
»Und die Matratze?«
»Promotion. Même. Deux cent cincquante Euro.«
»Fünfhundert Mark?! Auf geht's Naziza. Wir fahren sofort los.«
»Didier – es ist noch nicht geöffnet. Und ich will auch einmal zur Probe liegen.«
»Komm mir nicht zu nahe. – Paul – ils est très dangereux! Aber ich bin zu schwach. Auch wenn Du meine Schwäche – für Dich – wieder schamlos ausnutzen wirst – ich bleibe probeliegen.«
»Du bist eine Feigling und eine Dummkopf. Mon Dieu! Was hast Du mir für eine Mann gegeben?!« Sie legt sich neben mich. Jetzt wär's angenehm, zu zweit alleine zu sein. »Didier – es ist gut. Wie meinst Du?«
»Ja doch. Auf geht's.«
»Merde! Du bist verrückt! Es ist halb acht Uhr. Heures d'ouverture – neuf heures trente!«
»Ach du meine Güte. Aber gut, das schaffe ich auch noch. Dann können wir mit hinfahren. Auch nach den Fliesen – Naziza! nix Kachcheln! – Für Dich Fliesen. Auch danach können wir schauen.«
Paul kommt. Ich hatte ihn gar nicht hinausgehen sehen. War er diskret? Nein. Er hat eine Kachel in der Hand. Ich fasse es nicht. Es sind exakt die kleinen, wie ich sie so gerne mag. Sie sind tatsächlich fast rein weiß.
»Mon Dieu! Auch Promotion?«
»Non. Mais interessant. Du kannst gut nehmen. Ich bestellen. Déjà. Bon?«
»Es ist kaum zu glauben. Der macht ja wirklich Nägel mit Köpfen. Der Mann steht wirklich im Leben – bon, Paul. Très bon! Merci-merci-merci. Also bestellen.«
»Non, Didier. Er hat es bereits getan. Er wird sie holen später.«
»Der ist ja wirklich von der schnellen Truppe. Sehr schön. – Süße, ich könnt' jetzt doch gut hier liegenbleiben.«
Ich wache wieder einmal auf. Vorsichtshalber prüfe ich, ob es im Traum geschieht, mir also noch einiges bevorsteht. Das Bett, auf dem ich liege, kommt mir bekannt vor. Das ist verdächtig. Doch es ist wohl jenes, das ich zum Probeliegen aufgesucht habe. Auf mir liegt eine leichte Decke. Und mein Kopf ruht auf einem kleinen Kissen. Das kann nur meine Beschützerin gewesen sein. Die Armbanduhr sieht auch nicht so aus, als ob sie nicht aus dieser Welt ist. Sie zeigt elf Uhr. Uff. Meine Naziza ist verschwunden. Befinde ich mich doch wieder in einem Alptraum? Doch es ist auf jeden Fall Pauls Wohnung. Langsam erhebe ich mich. Ich versuche, die Stille zu ergründen. Sie sitzt in der Küche und lächelt mich mit dem zauberhaftesten und sanftesten Lächeln aller Erden an.
»Bonjour, mon cheri. Reposé?«
»Na ja. Ich bin ein wenig erschrocken, als Du weg warst. Du machst mir Angst.«
»Nun spürst Du, wie es ist. – Non! Nicht böse! Ich scherze. – Du bist eingeschlafen. Es ist gut. Paul ist gefahren. Er wird bald zurück sein.«
»Wie bitte? Jetzt macht der doch alles allein! Das wollte ...«
»Oh! Didier. Es ist gut. Er macht es gerne. Ich weiß es. Und wegen Geld et cetera – parfait. D'accord! Er hat gesagt, daß er es sowieso über seine Rechnung muß gehen lassen. Wegen dem Rabatt. Er erhält sonst keine. Naturellement sind auch die Kachchch – Fliesen mit eine Nachlaß. Er kauft es als Händler – alles. Sie geben ihm das, weil sie Angst haben, er kommt nicht mehr wieder. Er kauft so viel dort. Du weißt doch, wie das geht.«
»Woher soll ich denn das wissen. Ich bin doch kein Fisch- oder sonstiger Viehhändler. Überhaupt kein Händler. Ich kann nicht handeln. Ich bin der schlimmste Jude aller Zeiten. Ich kriege nur Rabatt, wenn man ihn mir freiwillig gibt, wie ...«
»Didier! Wer gibt das? Freiwillig?«
»Oh-oh! Mein Herr Gruber gibt mir seit Jahren ungefragt Rabatt. Wahrscheinlich habe ich deshalb soviel elektrisch funktionierende Geräte.«
»Du bist unglaublich – à propos. Isabelle hat angerufen ...«
»Siehst Du. Wenn man den Teufel nennt. Das ist eine echte, eine wirkliche Jüdin. Sie ist aber auch die Enkelin eines Viehhändlers. Die kriegt schon Rabatt, wenn sie einen nur anschaut. Die haben alle Angst vor ihr. Vrai! – Was will die denn schon wieder?«
»Oh. Du bist ungezogen. Sie hat angerufen, weil sie wollte wissen ...«
»Wann denn?«
»Huit heures trente. Sie gefragt nach uns. Ob es uns gut gehe. Und sie hat eine Annonce gemacht ...«
»Um Gottes willen. Die wird doch nicht etwa ...«
»Ferme-la. Mille tonnerres! Du bist unmöglich! Non. Nicht für sich hat sie eine Annonce gemacht. Ich muß so lachen, weil Du eben gesprochen hast von Deinen appareil électrique. Sie hat diese Annonce gemacht!«
»Wie? Was?«
»Sie hat gesagt, daß sie haben alles eingepackt gestern. Sie sagt, sie wußte, daß Du wirst bleiben bei Deine Naziza die nächste fünfhundert Jahre ...«
»Das wird nicht reichen.«
»Didier! Du hast zu gut geschlafen. Andauernd Du unterbrichst mich. Du bist ungezogen wie ein kleines Kind!«
»Das bin ich. Dank Deiner. Mein entzückender Jungborn.«
»Merdemerdemerde!!! Fanfaron. Ich schweige nun. Fin.«
»Nein. Meine Süße. Ich werde Dich jetzt ein wenig trösten. Und dann erzählst Du mir, was diese Münchner Totsäge meiner Nerven wieder von sich gegeben hat.«
»Es ist sehr komisch. Sie hat gesagt, Didier bleibt sowieso. Er wird nie wieder kommen nach München. Non. Dieser Freund, hat sie gesagt, es ist alles an Vereinbarung getroffen mit diese Peter – wie heißt er?«
»Danziger?«
»Oui. Er hat das gesagt – wir werden arbeiten zusammen. Und sie haben die Carriage vollgemacht.«
»Vollgemacht?«
»Didier. Es ist gut!!! Fin!« Lachend fährt sie fort. »Vollgeladen. Idiot! Alle Deine Équipement. Pareillement le téléviseur et le magnétoscope et la DvD.«
»Wie bitte? Fernseher, Videorecorder und DvD? Keine schlechte Idee. Aber ...«
»Sie hat gesagt, es sind immer noch zwei darüber hinaus vorhanden. Und viele Radiogeräte und so weiter. Für die anderen Mieter. Deshalb ich muß so lachen.«
»Womit sie recht hat. Es stimmt.«
»Oui. Ich habe es je gesehen. Du hast alles zehnmal.«
»Man weiß ja nie, was kommt. Ich bin schließlich ein Kriegskind. Deshalb hatte ich's wohl auch an der Galle. Weil sie mich immer mit Wohlstandsbutter gemästet haben. Wahrscheinlich war das seitens meiner Mutter die reine Widerwärtigkeit. Mir gegegüber. Und den anderen gegenüber auch, um ihnen zu zeigen, was wir alles haben. Vor allem ein gallekrankes Kind. Hauptsache Butter. Also, wenn nichts mehr geht, kann ich ja immer noch als Großhändler anfangen. Doch – hat der soviel Platz gehabt in der Kiste?«
»Es scheint so. Und es ist wunderbar. Paul hat gesagt, das Zimmer vorne, das große mit Blick zum Meer, ist heute fertig. Wir können es dort hineinstellen. Bien?«
»Puh. Ich brauche wirklich überhaupt nicht mehr zu denken. Was machen wir nun?«
»Es ist mein Vorschlag – wir warten auf Paul. Dann wir gehen kurz in unsere Wohnung. Dann wir fahren in die rue de l’Évêché. Du willst am Nachmittag Deinen Freund erwarten.«
»Und was ist, wenn ich den gleich hierher umleite? Mit den ganzen Plünnen.«
»Plünn ...?«
»Plünnen. Das ist norddeutsch, Niedersachsen, Hamburg – richtig: für alte Klamotten. Man nennt aber mittlerweile alles mögliche so. In Bayern sagen sie dazu Geraffel. Altes Geraffel. Ich sage lieber Plünnen. Ich habe ja auch nur dreißig Jahre in Bayern gelebt. Aber nun bin ich aus Marseille. Und Marseille ist die Geschwisterstadt von Hamburg ...«
»Du weißt, wie man es nennt?«
»Was?«
»Im Deutschen sagt man, Eulen nach Athen tragen, bei uns porter de l'eau à la rivière.«
»Und inwiefern trage ich Eulen in den Fluß?«
»Du klärst eine informatrice de Office de Tourisme in Marseille darüber auf, daß Hambourg ist eine Ville jumelée.«
»Da siehste mal – ich habe Dich bereits entlassen.«
»Ah! Enfin!«
»Also, Liebes, der ganze Kram. Der geht aber doch in Deine Wohnung ...«
»Unsere Wohnung! Merde! Du meinst, es wird gehen?«
»Ich kann ihn ja anrufen. Der ist ja wohl längst auf französischem Boden, wie ich den kenne. Wahrscheinlich schon in Lyon. Der fährt doch wie eine gesengte Sau. Ich kann ihm ja sagen, er soll die Abfahrt l'Estaque nehmen. Dann kann ich ihn oben abpassen. Ist doch kein Problem. Ob ich unten am Quai du Port auf ihn warte oder hier oben irgendwo. Der kann das doch gar nicht verfehlen. Und wir können das Zeug gleich hier reinstellen. Also irgendwie ist das schon blöd, Liebes.«
»Was ist blöd? Du ein wenig?«
»Miststück. Ich meine, wir hätten so gut mit Paul fahren können und gleich ein bißchen was einkaufen.«
»Bien. Wir fahren, wenn Du es geklärt hast mit Deine Freund.«
»Was ist mit Dir? Bist Du nicht müde?«
»Ich habe auch ein wenig geschlafen. Neben Dir. Du siehst, ich habe Dich am Leben gelassen. Non. Es geht mir gut. Und ich kann später wieder schlafen. Wenn Du mich läßt.«
»Wir können ja das neue Bett einweihen. Die Handwerker schmeißen wir raus. Aber sag ...«
»Ich sage was?«
»Jetzt läßt Du mich aber nicht aussprechen ...«
»Ich habe auch das Recht!«
»Ach. Diese weibliche Emanzipation. Also. Ein Problem. Ein Geldproblem. Mit der Kreditkarte wird mir das auf Dauer zu teuer. Die kassieren ja irrsinige Prozente. Da sind die ganzen Rabatte von Paul bald wieder weg.«
»Dann siehst Du, wie gut es ist, daß er kauft. Ainsi le problème d'argent?«
»Wieviel hast Du auf Deinem Konto? Es dauert ein paar Tage, bis mein Geld hier ist. Isaac wird das erledigen von München aus. Dann geht es schneller – wenn sie aufs Blech haut. Und das macht sie gerne. Kleine Summen kann ich hier problemlos abheben. Es kostet nur ein paar Mark Gebühren.«
»Was ist kleine Summen?«
»Tausend Mark am Tag.«
»Das ist ein kleine Summe? Wofür Du benötigst mehr? Wir müssen keine Wohnung kaufen. Wir haben eine.«
»Na – wir müssen Herd und Kühlschrank ...«
»Maintenent – complètement dérailler! Wir haben das alles! Du bist wirklich verrückt.«
»Wie alles? Dein alten Plünnen aus der Rue de l’Évêché?«
»Oh! Didier. Es ist alles neu in der Wohnung! Wir haben es gekauft vor ein paar Monaten. Es war wieder einmal ein Promotion. Paul ist so. Er kauft immer, wenn es ist sehr günstig. Ich glaube, er braucht das. Ihr könnt zusammengehen. Es gab ein cuisine complet, eine article de démonstration von einer Messe. Wir haben sie – puh, Paul hat sie gekauft. Er gibt sie auf die Rechnung, hat er gesagt. So ist er. Immer macht er das so. Ich kann mich nicht erwehren.«
»Der spinnt wirklich. Er muß verliebt sein in Dich.«
»Laß es sein. Ich habe es Dir gesagt, wie es sich verhält. Es ist in Ordnung. Er ist so. Er hilft sehr gerne. Er hat zu mir einmal gesagt, daß er nicht weiß, warum er es nicht soll tun. Er sagt, er hat genug Geld.
»Woher hat er es? Vom Fische fangen?«
»Oui. Vente. Commerce. Er hat, glaube ich, eine sehr gute Zeit gehabt.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Doch, ich glaube. Er will nicht mehr so sehr gerne. Mais – er arbeitet sehr viel. Viel auch mit Filme.«
»Wie kommt er denn dazu?«
»Er hat es mir erzählt – er ist verrückt danach seit seiner Kindheit. Er hat es auch studiert. Er war an eine École à Paris.«
»Und weshalb verkauft er dann jetzt tote Fische?«
»Es wäre besser, er erzählt es Dir selbst.«
»Naziza – vielleicht in zwanzig Jahren! Wir können guten Tag und Prost zueinander sagen, aber nicht über solche Dinge miteinander sprechen.«
»Oui! Du hast recht. Ich habe es vergessen. – Bon. Seine alter Vater hat ihn gefleht, die kleine Magasin zu übernehmen. Hier – an unsere plage de l'Estaque ...«
»Was denn – den Wahnsinnsladen da vorne?!«
»Oui.«
»Das ist aber wohl kaum als petit magasin zu bezeichnen!«
»Er hat es groß gemacht. Und seine ganze Handel. Er liefert bis nach Lyon.«
»Ich dachte immer, es käme alles aus Paris?«
»Das glauben viele. Es ist nicht so. Deine Heimat hat mehr Wasser ...«
»Wahrhaftig!«
»Wie meinst Du?«
»Mehr Wasser. Marseille hat Meerwasser. Im Deutschen heißt mehr, mit h geschrieben ...«
»Ah! Oui. Oui, es ist eine schönes Wortspiel. Wir müssen es ihm erzählen.«
»Vielleicht für den deutschen Markt?«
»Eine gute Idée. Wir sagen es ihm. – Bien. Nach seine grand succès er macht wieder mehr Film.«
»Erst mehr Meerwasser und jetzt mehr Film.«
»Ah. Sot. Film ist seine Liebe. Und die toten Fische sein Geld. Er gibt es. Vielen. Nicht nur Film. Er ist ein Mensch mit eine große Herz. Er sagt, es ist ihm auch geholfen worden, als es einmal ihm nicht ging so gut. Er hilft vielen Menschen. Ich bewundere es. Und es macht sehr viele Freude, zu sehen die Freude der anderen. Nun haben wir dieses Glück. Bon alors – Du solltest nicht voller Mißtrauen sein seinetwegen. Du hast es versprochen. Meine Liebe gehört zu Dir. Ohne eine Teilung. Vielleicht später mit unsere Kinder. Mais – es wird immer das meiste sein für Dich. Fin?«
»Ich werde mir Mühe geben.«
»Bien. Diese Küche mit allen Geräten wird Dir gefallen. Ich weiß es. Wir sehen es dann, wenn Paul zurück ist. Wir müssen nur das kaufen, was wir gesprochen haben – etwas Geschirr. Und bis Deine Sachen sind hier, habe ich genug an die place de Lenche. Also Du brauchst keine große Geld. Du kannst es machen in Ruhe. Hast Du genug auf diese compte courant? Für das kleine Geld?«
»Auf dem laufenden Konto, meinst Du?«
»Oui.«
»Ich hab alles da drauf.
»Du bist ein sehr gute Geschäftsmann. Vrai. Wieviel ist es – non, es geht mich nichts an. Pardon.«
»Weshalb soll Dich das nichts angehen?! Damit habe ich nun wirklich keine Probleme. Alles, was sich so angehäuft hat im Lauf der letzten zwei Jahre. Ich hab Dir ja gesagt, daß ich kaum was ausgebe ...«
»Manchmal ein paar neue téléviseurs oder eine ordinateur.«
»Doofnuß. Ja. Alle zehn Jahre einen neuen Fernseher. Na ja, beim Computer hab ich offensichtlich ‘ne Macke. Stimmt. Und einmal im Jahr Urlaub. Den brauch ich jetzt nicht mehr. Ab jetzt gibt‘s Dauerurlaub. Aber sonst – kaum etwas. Also, es sind ungefähr sechzig-, siebzigtausendtausend Mark. Mehr habe ich nicht. Doch, ein bißchen was habe ich doch noch auf einem anderen Konto. Mein Versteck gegen das Finanzamt.«
»Warum dieses?«
»Ach. Ich habe immer irgendwie ein ungutes Gefühl. Ständig schleppe ich so eine Art Angst mit mir herum, daß ich mal eine Finanzprüfung kriege. Und nachdem ich da immer wieder mal die fürchterlichsten Sachen höre von wegen Nachzahlungen, habe ich noch was auf die Seite geschaufelt, daß ich noch was habe, falls die mich ausplündern. Ich hab's in der Schweiz versteckt.«
»Ah. Doch eine vieux Grigou – arrête! Nicht schimpfen! Du mußt nun wissen, daß ich nicht will Dich beleidigen. Bon? – Es ist dennoch nicht sehr vernünftig, so viel Geld auf einem Compte courant. Du spendest ihnen viel.«
»Wegen der paar Zinsen? Ach – ich kann damit nicht umgehen, Naziza. Es interessiert mich auch einfach nicht. Und mir ist schon die Ausfüllerei der Überweisungen zuviel. Mir geht das auf die Nerven. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich empfinde es als vergeudete Zeit, irgendwelche Gelder hin- und herzuschieben. Die haben mir dreimal geschrieben, daß sie jetzt auch die Verzinsung laufender Konten beenden und daß es andere kurzfristige Geldanlagen gebe. Mir ist sowas lästig. Du kannst es gerne übernehmen. Wenn Du magst.«
»Wenn Du es möchtest – ich will es gerne tun für Dich. Es macht mir nichts aus. Non – ich tue es vielleicht auch gerne.«
»Ich meine auch den anderen Finanzkram. Was jetzt alles auf uns zukommt. Die Abrechnungen mit Danziger und so weiter. Das ist ohnehin besser, wenn ich das nicht mache. Ich lasse zwar nie etwas liegen, wie die meisten anderen das tun. Und deshalb Ärger kriegen. Aber ich erledige es, weil ich es weghaben will. So zahle ich manchmal Wochen im voraus, nur weil's weg soll. Idiotisch. Ich weiß. Die anderen verdienen an meinem Geld. Aber es ist so.«
»Bien. Das wird sein vorbei. Ich werde es übernehmen. Es wird mir vielleicht auch ein wenig Freude machen, einmal mehr zu arrangieren als fünfhundert Francs.«
»Was willst Du damit sagen? Fünfhundert Francs?«
»Ich habe oft nicht mehr gehabt. Du weißt es.«
»Ich weiß es? Mon Dieu! Ist das wahr? Das ist ja schrecklich. Tatsächlich?«
»Zweimal für Wohnung. Ich wollte immer Geld an Paul geben. Er war immer so großartig. Solches läßt mich nicht ruhen.«
»Na gut. Das ist ja dann nun vorbei. Sollen wir die Zahlung erhöhen?«
»Wenn wir es machen können. Ich würde mich gut fühlen dabei.«
»Wir könnten die Mieteinnahmen von Danziger komplett reinschieben.«
»Du glaubst, es wird gehen?«
»Warum denn nicht? Die Wohnung in München gebe ich auf. Außerdem hat Isaac gesagt, sie hätte schon einen Mieter. Temporär. Die Kosten fallen also weg. Die Wohnung am Lenche will Isaac kaufen. Gut. Wir brauchen sie noch bis Ende der Filmproduktion. Aber das sind ja nur noch zwei Mieten. – Meine Scheiße. Jetzt rede ich doch schon wieder über Geld.«
»Wir können es lassen.«
»Nein. Jetzt hecheln wir das nochmal durch. Dann übernimmst Du das. Also, zwei Monate haben wir noch die Kosten hier. – Ich habe ohnehin die ganze Zeit das Gefühl, wir säßen in unserer Wohnung. Ist die auch so schön?«
»Ich meine, sie ist noch schöner. Wir haben noch etwas mehr Platz. Ein wenig mehr. Vielleicht zehn ou fünfzehn Mètre carré. Und sie ist durch diese Hinzubau besser im coupe horizontale ...«
»Was ist das?«
»Puh. Ich weiß nicht im Deutschen. Es ist, was ein Fläche von eine Haus, eine Wohnung ...«
»Ah. Grundriß?«
»Oui. Sie hat eine bessere Grundriß. Und wir haben zwei Seiten. Zum eine diese zu diese parc pour bébé pour toi et Amphitrite-Calypso. Dorthin blickt auch die cuisine. Es ist schöner als hier. Auch schöner als in Marius et Jeannette. Und das andere mit la mer! Du wirst es dann sehen. Ich weiß, es wird Dir gefallen. Und ich freue mich sehr-sehr!«
»Also gut. Was haben wir gesagt – sechsunddreißigtausend Mark per annum. Das sind etwa achtzehntausend Euro. Macht im Monat rund eintausendfünfhundert Euro, die in die Wohnung gehen. Und das auf jeden Fall erst mal ein Jahr lang. Das sind neunzig- bis hunderttausend Francs. Allerdings müssen wir dann sehen, wie's weitergeht. Weiter möchte ich nicht planen.«
»Das ist sehr viel, Didier.«
»Wir müssen es Paul aber sagen, daß wir nur bis dahin soviel Geld geben können.«
»Ich sehe es nicht als eine Problème! Es wird gehen, daß wir dann wieder weniger zahlen. Er wird sich freuen, wenn wir ihm mehr geben. Doch ich glaube nicht wegen des Geldes. Mehr wegen unsere Willen. Mais – ich weiß es gar nicht. Ich glaube, es geht ihm nicht an seine Balance. Er ist eben auch nicht ohne Geld.«
»Klar. Aber es geht uns ja nichts an. Also. Machen wir es so? Ich lasse das Geld erst mal auf dem Schweizer Konto. Und den Rest transferiere ich hierher.«
»Wohin? Auf welche Konto?«
»Na, auf Deines!«
»Weshalb das? Du kannst eines eröffnen.«
»Nee. Laß mal. Ich will das erst dann machen, wenn ich meinen Paß habe.«
»Du vertraust mir sehr!«
»Wenn ich Dir nicht vertraue, dann wem, bitte? Meine Süße.«
»Es wird eine große Überraschung werden bei meine Bank. Große Augen werden es sein.«
»Laß sie doch.«
»Mais, Didier. Sie waren loyal. Ich kann nicht klagen.«
»Um so angenehmer. Welche Bank ist es?«
»BNP. Banque National ...«
»Ach die. Das ist die Partnerbank der meinen. Witzig. Das hätte einen weiteren Vorteil – dann geht es wohl noch rascher. Wir müssen auch ein Geschäftskonto eröffnen. Und wir brauchen einen Steuerberater.«
»Ich werde Paul fragen. Doch glaubst Du, es wird notwendig sein?«
»Kennst Du Dich in der französischen Steuergesetzgebung aus?! Diesen Tort tue ich mir nicht an.«
»Du hast recht. Ich werde Paul fragen. Er ist eine vieux renard.«
»Alter Fuchs?«
»Oui.«
»Also. Dann machen wir das so. Und das Auto lassen wir auf die Firma zu.«
»Ein Firma?«
»Ja natürlich. Was glaubst denn Du?!«
»Möglicherweise machst besser Du le ministre des finances.«
»Ach was. Die Geldangelegenheiten regelst Du. Das andere besprechen wir mit Paul. Der wird wissen, wie's ...«
Nazizas Telephon klingelt. Es ist Paul. Sie besprechen sich wieder für mich unverständlich. Es dauert jedoch nicht lange.
»Cheri. Wir können hinübergehen. Es ist alles da. Stelle Dir vor – er hat alles bereits nach oben transportieren lassen. Er ist unglaublich. Er hat gewartet solange. Nun wir sollen gehen in das Café. Sie stellen gerade die Bett auf.« Sie fällt mir um den Hals. »Ich bin so glücklich. Alle sind so liebe Freunde zu uns. Laß uns gleich gehen. Allez, mon bleu.«
Ich will denselben Weg zurückgehen. Doch Naziza zieht mich zur anderen Seite hin.
»Warum denn das?«
»Ich möchte Dir etwas zeigen. Einen kleinen Umweg. Ich will Dich vertraut machen mit unserem Dorf.«
So gehen wir denn die rue Lucrèce hinunter. Am plage de l'Estaque angelangt, zeigt Naziza zur anderen Seite hinüber
»Schau. Dort ist dieser kleine Spielplatz für unsere Kinder. Wo die glückliche Kuh und ihr Mann sitzen. Komm wir gehen nach vorne.«
Wir gehen in Richtung Café. Als wir in etwa davorstehen, zeigt Naziza nach oben.
»Ach, Mensch. Ja. Da oben. Ach, Naziza. Du bist ein Schatz. Ah. Schreckliches Wort. Mon Trésor! Genau. Neben der Bäckerei. Aber der Eingang ist auch oben in der rue Martial Raynaud? Oder nicht?«
»Puh! Didier. Du erinnerst Dich daran. Das ist fantastique! Das ist schön! Mais – es gibt zwei Eingänge. Man kann auch unten hineingehen. Neben die Boulangerie. Doch wir müssen zunächst zu Paul in das Café.«
»Geh Du mal rein. Ich rufe eben Pépin an.«
»Nehme mein Portable. Es ist nicht so teuer. Die numéro ist noch darinnen.«
Sie sucht und fixiert sie. Ich nehme praktische Vernunft und das Telephon an. Und meine Ehefrau seit vielen Jahren erhält ein Küßchen, das jedem Jüngstehemann zur Ehre reichen würde. Sie hüpft die Treppen zum Rentnercafé hinauf. Ich läute Pépin an. Sofort ist er dran.
»Mein Lieber – wieviel Tote hast du schon hinterlassen auf Deiner alten Heimat Straßen? Oder anders: Wo steckst, nein, Quatsch – wo rast Du?«
»Ich raste nicht. Du glaubst es mir doch nicht.«
»Sagen wir doch mal so – Dir traue ich alles zu! Also wo? Vermutlich schon in Besançon.«
»Pah! Ich fahr grad in Lyon rein.«
»Das wirst Du mir jetzt aber nicht erzählen wollen! Das geht doch gar nicht!«
»Rennlaster geht gut. Non – ich bin gut früher gefahren. Aber die Auto geht wirklich gut. Richtige Filmproduktionsauto. Hat, glaub ich, hundertfünfzig PeEs. Geht Hundertachtzig.«
»Und die fährst Du auch? Auf französischen Straßen.«
»Glück gehabt bis jetzt.«
»Meine Güte, Pépin. Du spinnst echt.«
»Vielleicht kommen noch ein paar Zettel, weil die waren zu langsam, weil die nicht kommt hinterher, die dämliche französische Bulle.«
Ich muß jetzt doch arg laut lachen. »Bist du tatsächlich in Lyon? Fährst Du durch die Stadt?«
»Klar. Péripérique. Geht schneller als außen rum. Bald bin ich an der Rhône.«
»Logisch. Du kennst Dich aus. – Frage ...«
»Soll ich nicht komme?«
»Blödmann. Würde es Dir was ausmachen, in l'Estaque runterzufahren?«
»Warum? Warum nicht? Seid ihr da?«
»Ja. Wir gehen gleich in unsere Wohnung. Du könntest hierherfahren. Da könnten wir die Klamotten gleich hier reinstellen.«
»Pas de problème. Wohin soll ich fahren?«
»Soll ich Dich an der Abfahrt abholen?«
»Glaub nicht. Ist doch ein Kaff. Oder?«
»Ja. Nein. Es ist das sechzehnte Arrodissement von Marseille. Doch, ist ein Kaff, außerhalb. Ist eigentlich nicht zu verfehlen. Du müßtest nur die Abfahrt l'Estaque nehmen und dann reinfahren in den Ort. Wir sitzen mittendrin.«
»Dann finde ich's auch. Gibt's was zu essen?«
»Ach Pépin. Du bist ein Schmuckstück. Ich sorge dafür, daß es zu essen und zu trinken gibt. Rufst Du an, wenn Du in der Nähe bist? Vielleicht kann ich ja was arrangieren mit Parkplatz und so.«
»Mach ich. Gegen drei ich werd dasein.«
»Du hast wirklich ‘nen Schuß. – Also, bis nachher.«
Im Café am Tresen steht unser Filmfischer und redet auf zwei der Arbeiter ein. Nebendran hört die vielleicht werdende Mutter unserer Amphitrite-Calypso aufmerksam zu. Sie erblickt mich und schenkt mir sofort ein göttliches Lächeln. Sie muß gespürt haben, woran ich gerade dachte. Sie spürt so etwas. Ich stelle mich dazu und versuche, etwas von diesem – für meine Ohren – getrommelten Kisuaheli mitzubekommen. Meine Naziza flüstert mir zu:
»Er treibt die Arbeiter an. Sie sollen für uns schneller arbeiten. Die arme Kerle.«
»Liebes – sie müssen. Pépin ist schon in Lyon!«
»Mon Dieu! Formule une avec camion?!«
»Ja. Der ist wahnsinnig. Er ist aber auch früher gefahren. Vermutlich gegen sechs oder gar fünf. Sonst könnte der noch nicht in Lyon sein. – Nun eine Bitte. Ob du Paul mal fragst, ob wir was arrangieren können wegen Parkplatz und so?«
»Oui! Ich werde es gleich ...«
Eben geht der Mann, mit dem Paul gesprochen hat. Naziza wendet sich direkt an ihn. Ich kann nur wieder demütig raten. Na ja, den einen oder anderen Zusammenhang verstehe ich sogar. Es scheint tatsächlich rasch zu gehen mit meiner Assimilation. Nun denn – es war noch immer so. Naziza und Paul wenden sich mir zu.
»Didier. Paul sagt, er hat seine camionnette vor unsere Tür stehen. Pépin kann dort hinfahren, wenn er kommt. Es geht sehr gut! Ruft er noch einmal an? Wann wird er kommen?«
»Er meint, etwa gegen drei.«
»Puh! Er ist wirklich verrückt. Ich sage es Paul.«
Der Inhaber meines zukünftigen Wohnzimmers stellt mir freundlich lächelnd Café und Wasser hin. Mittlerweile habe ich herausgefunden, wo man das Glas zwischen die Finger nehmen muß, um sie sich nicht zu verbrennen. Weit oben am Rand, wo der fast dickflüssige Café, diese Créma, wie sie in Italien kaum schöner sein kann als hier kurz vor Afrika, nicht oder nicht mehr hingelangt. Doch das habe ich bereits vergangenes Jahr gelernt, als ich des öfteren hier stand. Allerdings ohne zu wissen, daß ich so bald und unter so völlig anderen Konditionen hier als Gast würde wieder zurückgekehrt sein.
»Didier.«
»Ich höre.«
»Paul muß arbeiten gehen.«
Er reicht mir die Hand. Ich drücke sie herzlich. »Mercimercimerci, Paul, pour toutes! Bonne journée! – À tout á l'heure?!«
»Oui! Nous manger – tous ensemble! Je apportée huître.«
»Boh! Excellent! Salut! Ici?«
»Oui. Madame est la cuisine. Très bien. Au revoir, Didier.«
»Liebes – hast Du das gehört? Madame gibt die Küchenchefin?! – Aber Moment mal. Madame. Seine Frau? Du hast doch gesagt, er ist nicht ...«
»Non, Didier. Das ist ein Mißverstehen. Madame de la café. Sie macht so etwas sehr selten. Sie hat gesagt, uns zur Ehre. Ravissant. Wir werden uns sehr gut fühlen hier in unserem kleinen Dorf.«
»Wir gehen gar nicht mehr nach Marseille.«
»Rêveur. Mais – vielleicht Du hast recht. Das beste wäre, hierzubleiben und nur manchmal zu fahren in die Stadt. Doch wir werden wohl noch ein wenig tun müssen etwas anderes.«
»Ach ja, das ist die Kehrseite unseres harten Schicksals. Doch standhaft werden wir es meistern. Zum Beispiel dieses gottverdammte Interview.«
»Vielleicht willst Du es hier machen? Deine Frau kommt dann von der Arbeit und besucht ihren Mann auf dem Lande. Wie im Cinéma.«
»Doofnuß! Du mußt doch erst nächste Woche. Und ich muß das spätestens morgen ...«
»Übermorgen, Cheri. Ich rufe an bei Radio France morgen früh wegen – fixer une date. Aber wir müssen erledigen viel trotzdem. Doch wir werden jetzt bleiben hier. Wir gehen in die Wohnung. Dann wird kommen der camion de déménagement. Der kleine. Für später uns hilft Paul mit seine – von die place de Lenche nach hierher. Am Abend werden wir essen hier. – Weißt Du, daß sie ist eine cuisinière extraordinaire?«
»Nein. Woher soll ich das denn wissen?!«
»Sie hat gelernt bei Bocuse ...«
»Und dann hockt die hier ...«
»L'amour, Didiercheri! Sie haben das gekauft hier. Sie wollten das. Sie hat einmal gesagt, daß ihr diese fette Freß- und andere Säcke in Lyon auf die Nerven gehen. Sie hat gesagt, sie will lieber unter Menschen. Non. Es ist auch – sie ist von hier. Sie liebt ihre Dorf am Rande der großen Stadt. Und sie liebt ihren Mann.«
»Versteh ich. Wie auch immer – hab ich ein Glück!«
»Sie macht es nicht oft. Sie hat keine Lust. Sie kocht für ihren Mann, manchmal ein soup de poisson auch für hier. Richtig Bouillabaisse. Es ist der Himmel. Ich sage es Dir.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.«
»Wir werden immer wieder einmal hierher hinunter gehen und fragen. Ich glaube, wir werden manchmal ein wenig bekommen. Mais – aujourd'hui es wird geben un repas avec quatre ou cinq plats.«
»Meine Güte. Fünf Gänge. Non. Ich muß ja jetzt, genau wie Du, andauernd Mon Dieu! anrufen. Heimat verpflichtet.«
»Ordure! Geliebter.«
»Und Paul bringt Austern mit!«
»Er hat es gesagt?! Ich habe es nicht mitbekommen.«
»Pah. Liebes – ist das alles herrlich. Mensch, und Pépin kriegt auch was Ordentliches zu essen. Ich hab ihm versprochen, daß ich mich drum kümmere!«
»Wir werden ihm geben ein Sandwich zuerst. Später es gibt richtiges dann. – Komm, wir gehen hinauf in die Höhle von unserem Paradis.«
Pépin ist angekommen, hat eingeparkt, alles ist ausgepackt, so habe ich noch keinen der vielgerühmten Deutschen zupacken sehen. Alle Gänge des köstlichen Menus sind genossen, in den Weingläsern befinden sich nur noch Neigen.
»Mon Dieu! Es ist spät. Ich werde nun doch sehr müde. Wir müssen fahren nach Hause, Didier.«
»Rester ici! C'est chez soi! Plage de l'Estaque. L'Estaque! Didier – Ihr haben sehr schön Appartement!«
»Paul ist gut. Irgendwo hat er recht. Naziza – warum nicht. Die Frage ist nur, ob's da oben nicht zu sehr nach Farbe stinkt.«
»Non! Pas de – nous ouvrier les fenêtres toutes!«
»Es ist – ce n'est pas idée mal! Mais – wir haben keine Decke. Keine Kissen. Keine Wäsche. Und meine Didier ist nicht sooo breit, um seine Naziza zu decken.«
Pépin und ich brechen in schallendes Lachen aus. Paul und Naziza schauen leicht verwirrt. Dann haut Naziza kräftig auf meine Schulter. Federgewicht schlägt Schwergewicht.
»Weshalb prügelst Du mich? Es wird Dir doch nicht gekommen sein?«
Es war unwillentlich die Krönung. Es prustet aus mir heraus. Nun bekommt unser beider Gelächter Stammtischcharakter. Obwohl mir das nun wirklich nicht liegt. Doch ich kann es nicht verhindern. Erneut beziehe ich so etwas ähnliches wie Prügel. Auch Pépin erhält einen ordentlichen Rempler. Sie läßt einen Redeschwall in Richtung Paul los. Er bewirkt eine enormes Grinsen der beiden anderen. Nur ich verstehe mal wieder nichts. Mit einem Mal erinnert sich Naziza daran, daß Pépin möglicherweise mein Verbündeter sein könnte, er die Sprache aber sehr wohl versteht. So unterschiedlich sind die Dialekte zwischen dem Dauphiné und dem Hiesigen dann doch wieder nicht, daß man das Französische nicht heraushörte. Es macht sie noch ein bißchen wütender. Das durch und durch volle Mischblut geht mit ihr durch. Also gibt sie Pépin noch einen mit. Ich mime ein angsterfülltes Einziehen meines Kopfes. Nun lacht sie mit.
»Bien. Ihr habt viel gelacht. Über mich lachen – à tout prix. Darf ich nun erfahren, mit was ich habe Euch so sehr erheitert?«
»Typisches Kampfmaschinengemisch aus Asien und Nordafrika – erst prügeln und dann erst fragen. Liebes, Du hast einen herrlichen Sprachhüpfer nach dem anderen getan. Und vor lauter Lachen habe ich dann noch einen draufgegeben.«
Die Actrice macht ein säuerliches Gesicht. »Sprich! Type dégoutant!«
»Also, zum einen – im Deutschen sagt man von jemandem, der sehr besoffen ist, er sei breit. Der nächste Punkt – durch Auslassung eines Präfix hast Du es geschafft, aus mir einen sturzbetrunkenen Deckhengst oder so was ähnliches zu machen. Decken! Der Hengst deckt die Stute. Was Du meintest, ist – es ist für Didier keine Decke vorhanden, um seine Naziza zuzudecken.«
Ihr Lachen geht in etwa in die Dimension unseres Gebrülls. Nun geht es bei Paul los. Pépin hat es ihm übersetzt. Es kommt mir vor, als ob wir alle vier von diesem herrlichen Lachgras geraucht hätten, daß mich mit Freunden vor vielen Jahren, ach was, Jahrzehnten mal stundenlang hat wiehern lassen. Doch der Wein aus dem Süden, dieser würzige und schmackhafte Corbières – meine ich zumindest herausgeschmeckt zu haben – dürfte mindestens so viele Lachstoffe in sich haben. So darf das Leben sich weiterbewegen. So langsam kommen wir ein wenig zur Ruhe.
»Didier.«
»Oui, ma bien aimée.«
»Womit willst Du Dein Naziza decken?«
Der Witz ist zwar ein bißchen verbraucht. Doch er löst dennoch eine kleine Nachlachwelle aus.
»Mit mir, meine Geliebte.«
Das ging nun offensichtlich für die beiden anderen zu sehr in den Intimbereich. Paul dürfte es zwar kaum verstanden, aber doch gespürt haben. Möglicherweise hat er es auch an Pépins Gesicht abgelesen. Sie schauen ein wenig betreten. Naziza und ich schauen uns an und beschließen wortlos und lächelnd, dieses Thema untereinander miteinander abzuhandeln.
Paul meldet sich etwas ruckartig zu Wort. Er spricht mit Naziza. Allzuviel verstehe ich nicht. Aber doch immerhin Decke, Kissen, Bettwäsche – couette, oreiller, literie. Der Gedanke gefällt mir außerordentlich gut, die erste Nacht im Paradies sogleich in unserer Höhle verbringen zu können. Ich würde ohnehin überhaupt am liebsten ganz hierbleiben. Wenigstens für die nächsten Tage. Zum Eingewöhnen sozusagen. Und die Nähe zu Paul, hier das wohlige Rentnercafé mit dem köstlichen Essen von Madame – so gut ging es mir seit ewigen Zeiten nicht mehr. Ich habe jedenfalls keine Erinnerung daran. Naziza zieht bei Pauls Rede unentschlossen die Schultern hoch und wendet sich an mich.
»Hast Du es verstanden, Didier?«
»Ein bißchen schon.«
»Paul würde uns geben alles – daß Du nicht mich erdrückst ein ganze Nacht. Er sagt, es ist genug vorhanden.«
Sie wendet sich kurz an Pépin und spricht mit ihm. Ich sehe ihm an, daß ihm nicht unwohl ist bei dem Gedanken, nicht ins Hotel nach Marseille fahren zu müssen, sondern hierbleiben zu können. Paul hat es wohl angeboten. Es ist schon erstaunlich, was so ein paar Stunden ausmachen, in denen ich von dieser Sprache umgeben bin. Sicherlich liegt es jedoch auch daran, daß sie mit Pépin nicht sprechen kann wie mit Paul. Wenn die beiden ihr Patois geben, geht es mir wie früher, wenn Isaac mit ihrem Vater gesprochen hat. Mit der Mutter – dieses Zürich-Schweizerisch, das habe ich gut verstanden. Aber dieses Berndeutsch! Es dürfte zum Deutschen in etwa im selben Verhältnis stehen wie Ostfriesisch zum Dialekt aus Marseille.
»Didier – wollen wir? Paul sagt, sie hätten nur reine Farbe der Nature benutzt. Pas de chimie ...«
»Engrais organique«, gibt Paul zum besten. »Stinkt gut.«
»Ballot!« kommentiert Naziza knapp.
»Didier – wollen wir hier unsere erste Nacht verbringen?« Sie kommt mit leicht geschürztem Mund sehr nahe an mein Ohr, drückt mir zärtlich eine Weinkirsche hinein und flüstert hinterher – »Unsere neue erste Nacht. Du darfst mich déflorer. Es wächst gerade eine Hymen in mir für uns beide. Du wirst es zart durchbohren. Ich werde Dich und alles empfangen, was ist in Dir. Je t'aime, mon amour.«
Etwas schwer Bestimmbares durchkreist meinen Körper. Ich umarme sie. »Sollten wir, nach Deiner Aussage, nicht schlafen?«
»Schon wieder verschmähst mich? Non. Ich möchte einschlafen auf Deiner Brust. Danach. Wollen wir es machen?«
»Was? Machen? Oder hier schlafen?«
»Du unromantischer, liebloser Kerl! Ich hasse Dich.«
Ich beeile mich, wieder ganz nahe an das Gesicht zu kommen, das eher vom Gegenteil dieser Absage an mich kündet.
»Ach, Naziza. Natürlich will ich.« Sie küßt mir den Vertragsabschluß corbièresfeucht auf beide Augen.
Ich sehe, daß Paul nicht mehr am Tisch sitzt.
»Pépin – wo ist er? Toilette?«
»Non. Er ist gegangen, die Bette hole.«
»Dieser Scheißkerl. Ihm zu helfen, ist wirklich schwierig.«
Naziza springt auf. »Ich mache es. Ich laufe ihm nach. Bleibe Du hier.« Sie saust in ihrem ganz besonderen Eilschritt los.
Es riecht tatsächlich nicht. Die Fenster können wir also schließen, denn es wird nächtens doch recht kühl, wenn das Lüftchen von meiner geliebten Badewanne her hineinweht. Im Hochsommer ist das angenehm, wenn die oftmals vierzig, in der prallen Südsonne auch sechzig und mehr Grad des Tages etwas moderiert werden. Doch wir befinden uns in einem auch hier unten kurz vor Afrika dieses Mal sehr spät in die Gänge gekommenen Frühling. Meine Güte, es ist fast Mitternacht. Rasch bereiten wir die wunderschöne, weil klar gestaltete, einsfünfzig breite Liegewiese. Die beiden helfen auch dabei noch. Mein schönes Breitwandkino mitsamt Videorecorder und DvD hatten sie zuvor bereits installiert. Hier ist einmal mehr belegt, daß es sinnvoll ist, ein paar Mark mehr auszugeben – das Fernsehgerät läuft problemlos auch im französischen PAL-System. Paul hat sogar die Programme eingestellt. Endlich Télévision français complet! Über die Münchner Wohnanlagengemeinschaftsschüssel konnte ich nur Türkei, Serbien, Ungarn, Eurosport, CBSCNBCCNN, Sportfernsehen et cetera empfangen. Und glücklicherweise auch Arte. Das ägyptische Fernsehprogramm mit seinen Seifenopern aus tiefergelegter Kitschlatte war noch ganz amüsant. Doch diese Sprache spreche ich noch ein kleines bißchen unvermögender als die französische. Aber endlich TV 5! Über diesen Sender der Francophonen kann ich endlich per Untertitel nachlesen, was auf Französisch gesprochen wird. Also auch die guten Filme und Dokumentationen werbefrei für Analphabeten. Die Kartons mit Büchern und allem möglichen, von dem ich gar nicht weiß, was Isaac und Pépin hineingepackt haben, stehen im anderen Zimmer. Wenn es auch herrlich bequem ist – doch so langsam wird’s mir schon arg unangenehm mit dieser ständigen Umsorgung durch Paul und die anderen. Ich Einzelkind seit ewigen Zeiten bin solches einfach nicht gewohnt. Da werde ich mich wohl etwas umstellen müssen. Oder lernen. Hier zählt der Gemeinsinn. Hoffentlich packe ich das. Paul und Pépin verabschieden sich und gehen. Dezent überlassen sie das junge Glück sich selbst. So, wie es aussieht, werden sie wohl noch ein Gläschen oder auch zwei trinken. Hier schaut es aus wie in einem Sakralraum. Das Bett genau in der Mitte des großen Raums – Blickrichtung Meer. Und nun kommt Naziza aus der Küche und bringt auch noch eine große, bestimmt zwanzig Zentimeter hohe, bereits flackernde Kerze mit.
»Du meine Güte, Liebes – wo hast Du die denn her?«
»Ich habe sie bei Paul gesehen. Es ist ein cierge religeux. Ich habe zu Paul gesagt, daß ich sie brauche für ein Devotion heute Nacht. Er hat gelacht und gesagt, dafür sie ist. Er hat mir zwei gegeben. Wir können also ein lange Nacht der Ergebung haben.«
Ich gehe zum Fenster und schaue auf mein geliebtes mittleres Meer. Meine Hauptgeliebte schmiegt sich an meine Seite und hilft mir beim träumerischen Absuchen des Horizonts.
»Bist Du glücklich, Cheri? Hier zu sein? Mit mir hier zu sein? Bist Du gegangen an Land, angekommen in Ithaka, mon amour?«
»Ja. Ich kann es nicht fassen. Mittendrin in Griechenland. In Massalia. Meinem Ithaka. Und ich könnte es nicht beschreiben. Und gleich in der Wohnung. Unglaublich. Und auch noch mit Bett.«
»Unsere Wiese von unserer Lust der Liebe.«
»Du hast eine Energie. Enorm.«
»Ich habe sie nur für Dich. Ich habe Durst nach Dir. Drei Jahre und mehr haben mich ausgetrocknet. Ich bin innen wie ein alte Frau. Du mußt bügeln weg alle Falten der Trauer. Ich möchte gerne, daß Du sie glättest mit Deiner Lust auf mich. Ich möchte, daß Du mich berührst. Überall.«
Ich taste leicht nach den Ausbuchtungen meiner Heimat.
»Fasse sie. Sie sind die Deinen. Alles ist das Deine. Fasse sie fest. Didier – meine Gedanken sind glitschig.«
In meinem Kopf beginnt ein Rad leicht anzulaufen. Doch dieses Kreisen ist kein Krankheitszustand. Oder vielleicht ist es ja dieser Zustand – richtig, Liebe ist wie Alkohol. Diese Zartheit in Vollreife.
»Oui, Didier. Fasse sie. Halte sie fest. Sie will nie wieder aus Deiner weichen Liebeshand. Öffne mich.«
Die sanften Hügel von Al Arfaoui strecken sich mir mit einem Mal entgegen. Die Knospen sind mit schwarzem Blut gefüllt. Ich muß es trinken. Sie drängt sich mir entgegen. Ihr pechschwarzes Mal genau über ihrem Nabel leuchtet wie der Abendstern.
»Komm zu mir. Fühle, wie meine Lust aus mir fließt.«
»Es geht nicht, Liebes.«
»Es geht nicht?« Sie schaut mich fast erschrocken an.
»Ich kann nicht mit derbem Tuch an Deinen Chiffonleib. Haut auf Haut.«
»Ah! Lieber. Ich werde Dir helfen.« Ihr Mund geht zu meinem rechten Ohr. »Aber dann möchte ich, daß Du mich fest und zärtlich liebst. Einmal nur. Ich muß es spüren, daß Du es fühlst. Ein Beginn.«
Nun ebenfalls Natur, umarme ich sie – »Liebes, Du riechst so herrlich. Wie heute früh am Étang de Berre.«
»Ich weiß es, was Du gemeint hast.« Sie lacht. »Mais – es ist kein Moule. Es ist eine Huître. Du mußt es austrinken. Non, wie heißt es?«
»Ja, eine Auster – ich werde Dich ausschlürfen.«
»Es ist auch ein Perle darin. Wirst Du sie auch trinken? Bitte. Non. Du mußt sie ein wenig beißen. Dann öffnet sie sich. Es ist ein perle de vin! Sie hat lange gewartet auf Dich.«
Meine Nase spürt das schwimmende Perlmutt. Meine Quellnymphe ist geöffnet, als wollte sie einen neuen Fluß gebären. Nein, jetzt will sie erst empfangen. Ich drücke mich hinein in die weiche Hülle. Ich wühle mich hinein. Ich wühle im Saft einer Auster. Ich trinke dieses Salzwasser. Es macht immer durstiger. Ich löse mich auf. Alles Denken verflüchtigt sich. Sie drückt mein Gesicht immer tiefer in ihre warme Meeresfrucht. Fast, daß ich sie verschlinge, diese innere Auster. Sie ist nicht zu vertilgen. Immer wieder gibt sie noch mehr Fleisch dazu. Mehr und mehr wird sie. Je intensiver ich in ihr herumwühle. Mein Gesicht schwimmt darin. Alles an Naziza beginnt sich zu spannen.
»Didier. Didier. Ganz leise. Écoute. Es kommt zu Dir. Es geht in Dich. Hörst Du es, wie es fließt. Halte mich. Non. Bleibe dort. Nimm alles, was Du nehmen kannst. Toutes! Halte es. Es wird lauter. Es wird nicht schreien. Es macht Musik. Höre es mit. Es ist Musik, die will fließen in Deinen Mund. Ja. Didier. Trinke aus mir. Ich gebe es in Dich hinein.«
Fest drückt sie mich in sich. Ein leises, fröhliches Stöhnen kommt aus ihr. Wie ein Liebeslied klingt es. Ich fülle alles aus. Kaum, daß ich atmen kann. Es ist egal. Etwas Luft bekomme ich noch. Dann reißt sie mich, die letzten Räume schließend. Sie ruft. Sie ruft nach mir. Nun ist es ein einziges Winden. Nun ruft sie laut. Unendlich langsam gibt sie mich ein wenig frei. Um mich sofort wieder zu fassen. Sie zieht mich zu sich herauf.
»Ich will an Deinen Mund. Ich will das schmecken, wie das ist, wenn es kommt zusammen.«
»Es ist wie süßes Wasser und Wasser aus dem Meer. Das Meer bist Du, und ich bin das Land.«
»Non. Mon amour. Du bist auch Meer. Du bist ein Insel. Du bist meine Insel. Gib mir unseren Saft aus Deinem Mund.«
Wieviel Zartheit diese Kraft hervorbringt. Sie löst sich von meinen Lippen und schaut mich intensiv an. Sie lacht milde. Sie drückt sich leicht in meine Halsbeuge. Nur sie kann es so. Nie hatte ich es anderswo so erlebt. Sie umfährt meinen Hals mit ihrem Mund. Sie fährt mit ihren herrlich schamlosen Lippen wogend hinunter zu dieser wegen Überreife aufgegangenen Riesenkirsche. Mit ihrer Wange streicht sie über sie, sie küßt sie, umsäumt sie, knabbert mit den Lippen an ihr. Dann streifen Ihre Haare wieder wie ein sanfter Pinsel auf meinen Bauch. Ihre Haut fühlt sich an wie Crème.
»Oh! Didier. Es ist schön, dies wieder zu spüren. Mein Haut von meinem Bär.«
Einen Hauch nur noch sind ihre Lippen von ihm entfernt nach ihrer Rückkehr, und schon spüre ich sie wieder. Dann ist es mir, als ob sie eine Blüte umschließt, sie hineintaucht in den in ihr köchelnden Göttertrank, sie umkost, belüftet.
»Mach langsam, Liebes.«
»Es wird mein Trunk. Ich werde ihn nehmen. Und dann ich werde Dich wieder erfüllen mit neue Leben.«
Nun umschließt sie mich fest, zieht mich hinein. Was ist schöner? Ich bin – nein, nicht mehr in ihr, sondern mit ihr. Sie möchte es. Sie soll es. Und es ist kribbelnd schön. Es ist ihr Verlangen. Sie soll es haben. Und mich friert heiß. Jetzt will ich es.
»Nun will ich erst unsere Pére von uns entkräften. Mon amour. Non. Gib Dich frei in mich. Gib es mir. Ich will es. Es ist meine Liebe. Lasse Dich gehen. Pas de contrôler. Ich nehme es gerne. Es ist mein erster Lebenssaft. Gib ihn mir. Mache Dich fest. Dann hinaus aus Dir. In mich.«
Fester noch umschließt sie mich. Noch tiefer zieht sie mich in sich hinein. Läßt kurz los.
»Gib Dich frei, Didier. Ich will Dein Blut von mir.«
Aus meinem Hals scheint es herauszuschießen. Sie trinkt mich leer. Sie hört nicht auf. Es endet nicht. Es kann nichts mehr in mir sein. Sie beugt sich zu meinem Gesicht.
»Hier nimm. Jetzt ich Dich und mich in Dich. Nehme es. Du schmeckst sehr gut.«
Sie öffnet weit den Mund zum Kuß. Sie läßt mich in mich hineinlaufen, was noch übrig ist vom Lebenssaft.
»Wir beide haben nun Dich und mich und mich und Dich zusammen. Es ist noch viel. Puh. Sie ist eine tobender Océan. Une géant. Sie will noch mehr von Dir. Sie will überhaupt Dich. Sie hatte ja noch nicht. Sie ist ein artère gigantique uniquement.«
Es ist enorm. Normalerweise bin ich nach einer solchen Ausfahrt ohne Sprit in der Garage. Doch nun scheint es auf der anderen Seite wieder hinauszugehen. Ein erneuter Sonnenstrahl wird spürbar. Ganz weit öffnet sie ihr Tor. Er läßt nicht nach. Er wird sogar noch immer mehr. Naziza drückt noch mehr nach. Und es scheint, als ob immer noch etwas Platz wäre. Sie füllt ihn aus mit ihrer Lust, die meine steigert. Nur noch Wonne.
»Didier?«
»Spürst Du sie?«
»Ja. Liebes. Ich spüre sie.«
»Oui-oui. Es ist so schön. Attention. Ich komme jetzt zu Dir. Dann brauche ich Deine Brust. Didier.«
Sie läßt sich auf mich sinken. Ihr Mund nähert sich dem meinen.
»Gib mir einen Kuß. Und dann schau mich an. Schaue, was in meinen Augen ist. Ich will sie geöffnet halten. Du sollst es sehen in meine Augen, was aus mir in Dich kommt.«
»Liebes! Schon wieder. In Dich.«
»Dann jetzt. Wir beide. Ja. Wir beide zusammen. Allez, Tireur. Gib mir Deine feu sacré. Allez, donne!«
Naziza ruft, ich schreie zurück. An Deines Schoßes dunkler Macht verblutet sich der Mann. Ich blute in ihm aus. Wir bluten gemeinsam unser weißes Blut in uns aus. Wir ruhen. Sie auf meiner Brust. Immer wieder spüre ich, wie es zieht und pumpt in ihr. Nur langsam läßt es nach.
»Ich habe nicht die Augen offen lassen können. Es ging nicht. Es war zu intensif. Maintenent ist etwas geschehen. Weißt Du es? Ich spüre es.«
»Ja. Liebes. Es war ein Traum. Ein schöner Traum. Nein. Es ist ein Traum.«
»Ja. Es ist. Spürst Du nicht, wohin Du gehst? Du gehst in mir. Du kannst es nicht spüren. Es ist aus Dir heraus. Aber ist in mir. Ich kann es Dir sagen. Es ist tief in mir. Ich spüre es. Sie bewegen sich. Es ist ein groupe de marche. Millions de éclaireuses ....«
»Pfadfinderinnen? Spinnst Du jetzt? Du tun ja nix. Die sind doch so brav!«
»Ah! Didier. Immer mußt Du mich unterbrechen! Ich war noch nicht zuende mit meine Sentence! Bien – millions éclaireuses für die Suche. Du weißt – Mädchen sind sehr gut für Suche. Sie sind voller Neugierde. Und sie sind behutsam. Et combattante pour combat décisif.«
»Alles Mädels. Klar. Du bist wirklich verrückt.«
»Oui. Non. Vrai. Ich fühle sie marschieren.«
»Du meinst?«
»Ich glaube es.«
»Aber es ist nicht die Zeit, hast Du gesagt.«
»Bon. Vielleicht eine, zwei Tage. Es geht gut davor – drei, manchesmal sogar fünf Tage, mon amour! Einmal mehr – einmal etwas wenig weniger. Mais – dafür ich bin eine gigantique fabrication für mucosité du vagin – pour la conservation du mon combattante du Didier ...«
»Entschuldige bitte. Das mit dem Latinum ist dann doch ein bißchen arg lange her. Mucos ...«
»Oui. Mucus. Mucosité. Wir heißt es noch – Schleim? Biologique. Mucus vaginal – ich weiß es nicht latin. Mucosité du vagin. Worin Du Dich so gut fühlst.«
»Schleim? Igitt. Außerdem bin ich kein Mediziner?«
»Igitt? Immer sagst Du – aaahh! Immer sagst Du – magnefique! Laut. Manchmal sehr.«
»Ach – diese herrliche glibberige Schweinerei in Dir. Gut. Nix mehr igitt. Nur noch magnefique.«
»Bon alors! Mein Herz hat Dein Ja gehört und es an die Biologie weitergegeben. Es geht ein wenig früher. Es kann sein nun, daß Du hast ein Amphitrite-Calypso getroffen. Ein Céleste – ou Célestine. Ich höre sie.«
»Céleste ist schöner. Himmelskörper. Und wieder ist's im Französischen sehr viel phantasievoller. Wollen wir noch ein wenig üben dafür?«
»Du glaubst es nicht. Ich spüre es. Sie werden kommen zu drei.«
»Drillinge?! Du Wahnsinnsbraut!«
»Non. Es ist eine. Ich höre sie sprechen ...«
»Du weißt aber schon, daß die Wahrscheinlichkeit der Mehrlinggeburt bei Älteren sehr viel höher ist und ...«
»Puh. Maintenent! Du hast es gesagt – ich bin alt. Ein alte Kuh.«
»Ach, Liebes – red doch nicht so'n dummes Zeugs daher. Außerdem gilt das bei künstlicher Befruchtung. Und das ist es wohl kaum, was wir hier machen.«
»Es ist viel fruchtiger als insémination artificielle. Oh! Und wenn wir bekommen zugleich drei? Für Dich. Trois fillettes! Naturelle!«
»Oh weh. Na gut. Wir nehmen sie alle. Allerdings – ich weiß nicht so recht. Ich hätte gerne auf meine alten Tage noch was von meiner jungen Frau.«
»Oh – ma poule mouillée. Non, Didier. Es ist Amphitrite-Calypso-Céleste. So wird sie heißen, die in mir gewartet hat die ganze lange Zeit und hat gewartet, daß ihr Papa zu ihr kommt und sie holt. Ich glaube, es ist geschehen. Ich glaube. Ich bin sehr, sehr glücklich. Alles in mir schwimmt. Die anderen gehen schon wieder. Papa Didier hat sein Tochter schon gefunden. Ich schwimme gleich hinweg. Ich darf jetzt nicht von Dir gehen. Es wäre, ein Faß voll mille litre zu öffnen. Es ist Dein Armée, die ich habe gemacht betrunken. Doch ich will sie noch bewirten eine Weile. Es ist so schön, Dich in mir zu haben. Dich und unsere Tochter. Mon Dieu. Gib es. Wir werden auch immer weiterüben. Ich verspreche es. Doch es darf nun sein. Es ist.«
Sie ist auf meiner Brust eingeschlafen. Sie wird mich nicht mehr freigeben. Es ist nicht nur gut so. Es ist auch schön so. Es ist wie im Traum. Ist es ein Traum? Ich träume traumlos.
Oder? Bin ich schon wieder am Étang de Berre. Es riecht so. Nein. Es ist Nazizas Duft, der mir entgegenkommt. Austernteich aus Süßem und Salz. Ich weiß gar nicht, ob ich geschlafen habe. Und wenn ja, wie lange? Es kann nicht lang gewesen sein. Es noch dunkel ist. Nein. Ein erster Schein. Oder? Trügt er mich? Hat mich die Erschöpfung lediglich zur Kurzerholung gegeben? Auf jeden Fall schnuppere ich Meer. Es rückt mir entgegen. Eben lag sie noch auf meiner Brust. Eben? Ich weiß es nicht.
»Schau hinein. Du wirst erwartet. Küsse Deine Tochter. Einmal nur. Sie hat es mir gesagt. Sie wünscht es sehr gerne. Dann ich werde machen einen Café. Doch erst mußt Du sie grüßen.«
»Wie? Soll ich hineinfahren?«
»Oui. Du mußt den Weg dorthin abfühlen. Daß Du nicht stößt Dich. Dann wirst Du es tun.«
»Ich mache doch gar nichts. Ich schnuppere nur ein wenig das Meer.«
»Oui. Es stimmt! Du machst nichts. Doch Deine Tochter ruft nach Dir. Und ich muß es spüren, ob Du den richtigen Weg nimmst dorthin. Gehe ihn! Ein wenig darfst Du Dich verirren. Wir mögen es sehr gerne, Deine Tochter und ihre Maman.«
Sie rückt lachend und berauschend duftend näher an mein Gesicht. Stück für Stück robbt sie auf dem Rücken heran
»Sie wird es gerne mögen. Sie ist ein Kind der Liebeslust. Du küßt Deine Tochter, und ich küsse ihren Papa.«
Ambrosia aus meinem Himmel. Sie singt. Ich werde kirre. Und überall die kleinen Wegweiser auf ihr schwarzes Sandblut. Das kann doch gar nicht sein. Ich bin noch nicht richtig wach und doch schon wieder munter.
»Didier. Magnifique – Du bietest mir ein magnificence. Ich habe Dich fast nicht berührt. Was ist mit Dir?«
»Wie bitte? Ich ersaufe in Dir Tiefenmeer. Und Du sagst, Du hättest mich nicht berührt.«
»Merde alors! Will Papa seine Céleste besuchen in ihre Nest? Non. Le premier donner un baiser. – Maintenant. Céleste wartet auf ihren Papa. Und er geht sie suchen. Jede cachette! Sie ist noch sehr, sehr klein. C‘est clair!«
Ich schwimme in Wurzelöl.
Detonation. Ihr Schrei übertönt mein Stöhnen. Ich fühle mich nicht mehr. Ich bin schwebende Hülle, die in sich zusammensinken will.
Sie windet sich in sich und mir herum, gibt mich vorsichtig frei und legt sich nahe an mich, legt ihren Arm um mich. Wir sind eins in dieser Zärtlichkeit, die ich mir immer ersehnt habe. Ich erhalte sie. Endlich. Nur mit dieser Zärtlichkeit verbunden ist es diese Wonne.
»Du hast zu mir gesagt, es ginge nicht. Angst hast Du gehabt ...«
»Ich hatte meine Befürchtungen.«
»Weshalb?«
»Ich dachte, ich sei sozusagen entsexualisiert. Offenbar bin ich resexualisiert. Oder überhaupt sexualisiert?«
Sie lacht hell. »Wie réinsérer.«
»Was ist das?«
»Ihr sagt resozialisieren. Du bist resozialisiert mit rapports sexuelles. Ein schönes Bild.«
»Und Du bist meine Therapeutin. Ganz offensichtlich.«
»Eine Thérapeute, die hat am meisten davon. Non – Didier. Du brauchst keine Thérapeute! Du bist meine. Du heilst mich ganz. Mais – ich war auch ganz krank. Non. Ich bin es noch. Du mußt noch viel Thérapie machen mit mir!«
»Jetzt sofort geht es wohl gerade nicht.«
»Non. Ich bin nicht féroce. Doch ich hab ein appétit féroce.«
»Was ist denn das nun wieder?«
»Féroce ist – grausam, ohne Gnade. Mais, appétit féroce ist große-große-große – schlimme Lust!«
»Oh je. Nun, da seid ihr Mädels nunmal ein wenig im Vorteil uns gegenüber. Wir können eben nicht immer nur.«
»Non. Ich spaße. Ich will nicht immer nur. Mais – Du hast mir gefehlt so sehr. So oft habe ich gedacht, es wäre schön, wenn Du nur wärest bei mir. Nicht einmal an Lust habe ich gedacht. Non. Es stimmt nicht, was ich sage. Ich habe oft gehabt Lust nach Dir. Auch nach Deinem Körper. Du verstehst, daß ich jetzt nicht werde satt?«
»Ach, mein Süßes. Klar. Und es ist zauberhaft.«
Einer Katze gleich schmiegt sie sich in alle Falten und Winkel meines Körpers. Sie umfängt mich, ohne daß ich atemlos werde.
»Du mußt jedoch wissen, mon amour – es ist magnifique. Doch es ist auch anders als früher.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Es ist wie alles mit Dir. Du bist insgesamt verändert. Du bist ruhiger. Du bist mehr Bedacht – wie ist das Adjectif?«
»Du meinst – bedächtiger?«
»Oui. Ich meine es. Wie in Deine ganze Wesen. Es gibt eine sanfte Ruhe in Dir. Und nun in der Sexualité Du bist es auch. Du bist noch mehr zärtlich als früher. Du warst es! Du warst es immer sehr. Doch nun ist es noch mehr in meiner Nähe.«
»Angenehmer? Schöner?«
»Oui ! Beaucoup. Und Du bist stark! Ich gebe ein Geständnis ...«
»Ein Geständnis? Wie soll ich das nun wieder verstehen.«
»Oh! Didier. Du mußt nicht sein mit Mißtrauen. Du weißt, ich liebe Dich. Mais – ich habe nicht erwartet Dein Kraft. Ein wenig habe ich gedacht an das, was Du hast gesagt.«
»Daß ich schwul bin?«
»Fou. Du glaubst, ich habe das geglaubt?!«
»Du bist aber ordentlich zusammengezuckt, als ich das gesagt habe! Wenn ich mich recht erinnere, hast Du noch gesagt, daß Du dann eben mit einer solchen Mutation leben müßtest.«
»Puh ! Du hast es gesehen? Du erinnerst das! Du bist eine Mistkerl. Getan hast Du zu diese Zeit, als ob ich Dir totale gleichgültig wäre. Non. Das ist nicht correct. Ich habe es gespürt. Du hast nach meiner Hand gefaßt.«
»Sagen wir mal so – ich habe die Deine gerne genommen. Die Du mir gereicht hattest.«
»Du verfügst über eine erstaunliche Erinnerung! Es wäre angenehm, es wäre auch für die Zeit weiter zurück. Eh bien. Ich habe mich bald erholt von meinem Schreck. Nicht wirklich habe ich das geglaubt. Es war nur in eine erste Moment. Etwas mehr habe ich gemeint Deine geäußerten Worte wegen Problemen mit Deine Sexualité.«
»Daß ich schlapp bin? Wenn es das ist, dann war ich davon überzeugt. Die größte Überraschung ist wohl am ehesten bei mir. Doch es liegt eindeutig an Dir. Und ich genieße Deine Gelöstheit. Es ist Deine Ungezwungenheit, die Du sonst auch trägst. Und ein bißchen erinnere ich mich auch daran. Und soweit es der Fall ist, meine ich auch, es wäre intensiver.«
»Didier – Du weißt nicht, daß ich Dich ausgesaugt habe in München?«
»Nun muß ich doch sehr heftig lachen. Und sehr vergnügt.«
»Du weißt es nicht? Du glaubst es nicht?«
»Doch. Ich glaube Dir. Aber ich meinte immer, es sei ein Traum gewesen. Na – das war‘s ja wohl auch.«
»Ich habe Dich – es war wie dégouster. Ich wollte wissen, wie der vin noveau schmeckt. – Du hast es nicht gemerkt? Vrai?«
»Nein wirklich nicht. Ich sag Dir doch – ich dachte, ich träume. Dann war das der Traum. Es ging ja um Dich darin. Aber jetzt wird mir einiges klar. Auch Austern kamen darin vor. Ich habe Austern gefangen, die in uraltem Champagner aufgelöst wurden. Schaum wurde daraus, und mit ihm habe ich Dir und unseren – es ist schon außerordentlich komisch! – Kindern wieder etwas Sterblichkeit geben können. Habe ich Dir das nicht erzählt?!«
»Non. Du hast gesagt von eine Traum. Oui. Und daß es schön war. Irgendetwas in diese Art.«
»Genau, meine Süße. Patricia Kaas. Nein. Du hast dieses eine Lied von Patricia Kaas in mein Ohr gesungen ...«
»Ah! Oui. Ich erinnere das. Patricia Kaas – terrible. Du hast es gesagt. Ich soll gesungen haben!«
»Ich weiß jetzt. Das warst Du. Da hieß es nämlich – ich erinnere mich. Du hast französisch gesungen, aber ich habe es genau – nämlich deutsch – verstanden. Und das warst nämlich dann Du, als es hieß – den Fluß ganz langsam übertreten lassen. Da bin ich wohl übergelaufen.«
»Bizarre!«
»Und dann hieß es noch – bleibe auf mir, damit ich mit Dir atme. Das warst eindeutig Du. Du hast mich ausgesaugt, und ich dachte, es ist ein Traum.«
»Es war wenig – ich weiß nicht, wie ich es soll sagen. Sonderbar?«
»Inwiefern? Vielleicht kann ich helfen. Andererseits war ich ja wieder mal nicht dabei.«
»Du warest nicht ganz bei Dir. Doch ich wollte Dich haben. Und es hat geschmeckt – wunderbar nach Sél.«
»Wie Du.«
»Oh, Didier. Du schmeckst manchmal eben auch so. Ich mag es sehr gerne. Doch dabei es war anders. Und dann ich hatte ein wenig Furcht. Doch nun nicht mehr.«
»Du meinst, daß ich impotent geworden bin.«
»Ein wenig? Dann hast Du auch noch so gesprochen.«
»Und was wäre gewesen, wenn?«
»Ich weiß es nicht. Durchaus hatte ich etwas Furcht. Mais – ich bin sicher, meine Liebe ist größer. Doch ich hätte viel Thérapie gemacht mit Dir. Et maintenent – Du machst es mit mir. Es ist sooo wunderschön. Ich werde geheilt von diesem Mann, der mir hat wehgetan.«
Sie legt mir augenblicklich die Hand den Mund, rückt an mein Gesicht, zieht die Hand wieder weg und schließt mit ihren Lippen die Lücke sofort wieder.
»Ich habe soeben wieder etwas Dummes – pardon.«
»Ist ja gut. Es ist nicht so tragisch. Und irgendwo stimmt's ja auch. Aber allzuoft möchte ich es tatsächlich nicht hören. Im Scherz – gut, Liebes. Da macht es mir nichts aus.«
»Es ist verziehen?«
»Ja, sicher doch. Ich war ja gar nicht böse. Wobei nichts gegen diese Entschuldigungen habe. Außerdem schmeckst Du wie der komplette Étang de Berre.«
»Du bist auch noch darin enthalten!«
»Ich sag doch – Süß- und Salzwasser. Es ist herrlich. Am liebsten würde ich darin baden. Wie in meinem Traum von gestern kommt mir das vor.«
»Es ist ein Gefühl wie Zauber, wenn Du es sagst. Es ist auch bei mir anders. Du weißt, daß ich nie war prude. Ich habe gerne mit Dir. Maintenent es ist mehr. Es ist viel mehr. Ich bin – jetzt muß ich diese deutsche Wort nehmen. Ich bin geil.«
»Es ist ja, da waren wir uns einig, ein Begriff aus der Biologie. Er ist also statthaft.«
»Oui. Er klingt mehr hart als unsere lubricité. Auch wenn es ist auch – schmieren.«
»Die Sprache ist eben insgesamt diskreter.«
»Bon. Auch acte charnel ou amour charnel.«
»Alles bumsen?«
»Oui.«
»Viel schöner.«
»Mais – ich muß es sagen – geil. Es ist énorme. Eine unglaubliche Lust. Und wenn ich sage, dann ich meine es so. Ich möchte es haben, daß wir alles machen. Ich weiß nicht, was es ist. Es ist anders. Und dieses Gefühl zu Dir. Es ist incroyable! Am liebsten ich möchte Dich haben überall in mir. Bis in mein Herz. Es ist eben nicht nur dieses Geile. Es ist eine énorme intensité. Auch dies war immer. Doch es ist mehr. Hoffentlich ich fresse Dich nicht.«
»Ich kann mir einen schlimmeren Tod vorstellen.«
»Ist es possible, daß es liegt an Dir? Es muß sein so.«
»Ich weiß es nicht, Liebes. Verändert habe ich mich sicher. Doch ob sich das so auswirkt? Wenngleich ich, wie gesagt, selbst schon sehr erstaunt bin über mich selbst.«
»Es gefällt Dir?«
»Weshalb fragst Du sowas überhaupt.«
»Ich möchte es gerne wissen. Ich möchte, daß es Dir gefällt. Und ich möchte auch gerne, daß Du es mir sagst. Daß Du mir sagst alles. Ich werde es auch tun. Es gefällt mir gut. Wollen wir es tun?«
»Aber sicher doch. Was spricht dagegen?«
»Ich meine es auch – darüber sprechen. Mit einem Mal es geht bei mir. Ich konnte es nicht zuvor. Du erinnerst es nicht?«
»Nein. Nicht so recht.«
»Es hat mich – ich war immer ein Blocage. Es war Hemmung. Und es ist weg. Es ist eine neue Freiheit für mich. Ich möchte es gerne genießen mit Dir.«
»Gerne. Sehr gerne. Wenn es Dir gefällt.«
»Es gefällt Dir nicht?«
»Warum denn nicht? Weshalb insistierst Du so.«
»Weil ich bin unsicher. Ich möchte nichts von dem tun, was Dir nicht gefällt. Ich möchte auch nicht haben, daß Du etwas begehst, daß mir nicht gefällt. Ich möchte nicht, daß Du mich noch einmal verläßt. Nie wieder möchte ich sein ohne Dich. Und ich habe Angst deshalb.«
»Naziza! Es beginnt gerade.«
»Du bist derjenige, der vor Anfängen immer große Angst hat. Es hat vor vier Jahren auch einmal begonnen. Und ich habe Dich sehr eng genommen.«
»Wie eben.«
»Ah! Didier. Du weißt, daß ich nicht so meine. Maintenent. Daß ich Dich habe beengt ...«
»Vermutlich meinst Du eingeengt.«
»Oui. Ich und die Famille. Das zuletzt kann ich unterbinden für die Zukunft. Ich werde es tun. Und ich weiß, daß die anderen sich diesem Wunsch unterordnen. Sie werden es müssen. Weil sie sonst ihre Tochter werden verlieren. Doch ich weiß es nicht, ob ich es kann unterlassen, Dich immer zu umfassen. Non. Zu umfliegen. Ich bin wie ein Vogel. Ich fliege. Du bist meine Luft, die ich brauche zu atmen ...«
»Dann wäre ich allerdings eher so etwas wie eine Volière. Und eine Volière ist ein Gefängnis. Ich will aber kein Knast sein.«
»Ich empfinde nicht so. Der Vogel fliegt in dieser kleinen Welt. Vielleicht bin ich ein Vogel, der ist geboren in eine Zoo. Ich kenne es nicht anders. Es gibt keine andere Freiheit für mich. Da Du mir gibst alle meine Gedanken frei, ist es noch mehr intensif. Du gibst mir alle Freiheit. Ich habe alles mit Dir. Ich kann mit Dir sprechen, hören, lauschen, schreiben, lesen, essen, trinken, gehen, wohin wir möchten. Wir reisen. Wenn wir es überhaupt möchten, weggehen aus unsere Paradis. Wir Marseillais reisen nicht. Ich bin geboren hier, und Du bist der geborene Marseillais. Wir haben alles. Wir haben das schönste Meer, das es gibt. Wir schwimmen in Schönheit. Ich kann mit Dir schwimmen auch in der Lust. Wir haben wunderbare Freunde. Wir haben Kinder ...«
»Aber ...«
»Un moment! Ich meine Anouk und Esther. Sie gehören zu uns. Und ich weiß, daß Du sie liebst. Wie sie Dich lieben ...«
»Aber Naziza ...«
»Didier! Es ist so. Ich weiß es. Wir gehören alle zusammen. Und wir werden selbst welche haben. Und diese werden gehören zu Esther und Anouk und ...«
»Aber doch nicht ...«
»Non, Didier. Ich habe es gesagt. Ich werde es unterbinden. Du wirst davor keine Angst mehr haben müssen. Wir werden unser Leben haben. Doch wir werden es in eine schöne Gemeinschaft führen. Auch dieses, das weiß ich, wünschst Du Dir. Sehr. Jedoch – unser Leben. Denn ich will nichts anderes als Dich. Mehr als drei Jahre ich habe Dich gesucht und nun gefunden. Und zuvor achtunddreißig Jahre. Nun ich möchte nur mit Dir sein. Ohne eine Ausnahme. Dieses ist es jedoch, was mir macht Angst.«
»Angst? Weshalb? Du meinst, daß Du mich zu sehr einengst mit Deinem Ausschließlichkeitsanspruch?«
»Puh ! Was ist das für eine Wort. Es ist kein Wort. Dieses Wort macht Angst. Es klingt wie ein Befehl zu eine Stérilisation. Oui, Didier. Das ist es, was ich meine. Es ist ein schrecklicher Gedanke, daß es sein könnte ein Grund ...«
»Das glaube ich wiederum nicht so sehr, Naziza. Es hat sich – wir haben ja nun oft darüber gesprochen –, es hat sich viel geändert. Diese Sehnsucht hat sich tief in mich gesenkt. Diese Sehnsucht nach Gemeinsamkeit. Hier hast Du völlig recht. Deshalb glaube ich auch nicht mehr, daß es so schlimm wird mit Familie. Vermutlich bin ich fünfundfünfzig Jahre schwanger gegangen mit dieser Sehnsucht. Nun ist sie angekommen. Sie ist raus. Über den Kopf, über eine körperliche Dysfunktion. In der ersten Etappe. Wobei ich sicher bin, daß sie mich zerfetzt hätte, wärest Du nicht aufgetaucht. Es war zu schlimm in der letzten Zeit. Kurzum, ich bin da eher guter Dinge. Wichtig ist nur, daß wir sofort darüber sprechen, wenn solche Anflüge wieder spürbar werden. Wichtig ist dabei vor allem, daß Du mich ansprichst. Meine Introversion ist zu ausgeprägt. Vielleicht wird es ja besser. Ich hoffe es. Nein, ich bin sicher, daß es besser wird. Alle positiven Anzeichen sind vorhanden. Denn Du kannst mich herrlich lösen, eben mit Deiner Gelöstheit. Die letzten Stunden haben das nachhaltig bewiesen.«
»Didier, es ist meine Freiheit, die Du mir gibst dabei! Meine Freiheit ist in Dir. Und ich wünsche mir, daß Deine ist in mir. Und wenn ich Dir wiedergeben kann, was verloren war, dann macht es mich noch mehr glücklich.«
»Doch nun fällt mir ein, was zumindest noch Ursache sein könnte für das, was Du als Freiheit empfindest.«
»Vrai? Sag es.«
»Es ist möglicherweise eine Sicherheit, die in Dir gewachsen ist.«
»Du glaubst es? Mais – wie meinst Du es genau?«
»Daß Du – Angst hin oder her – mehr Sicherheit spürst, was mich betrifft. Ich glaube schon, daß es sich so verhält. Und ein – entscheidender? – Faktor könnte dabei sein – daß wir uns einig sind, ein Kind haben zu wollen, meinetwegen auch zwei. Mit Adoption.«
»Ah – oui. Vielleicht es ist so. Non. Es ist ganz sicher so. Du hast recht. Es ist ein Entscheidung, die man nicht trifft ohne eine wirkliche, eine tiefe und feste Absicht. Doch wir hatten es bereits einmal beschlossen. Dennoch bist Du gegangen. Pardon, Didier. Ich muß weinen.«
»Naziza, bitte nicht. Weinen. Ja. Sicher doch. Weine, wenn Du magst. Mir ist es aber lieber, Du weinst vor Glück. Es wird nicht mehr geschehen. Ich weiß es. Alles in mir ist umgekehrt. Nein. Ich habe die Richtung gefunden. Auch das ist nicht richtig. Ich bin angekommen. Du hast es selbst gesagt, vorhin am Fenster. Ich bin gelandet. Ich bin an Land. Ich bin in Ithaka. In Massalia. Ich bin Protis und habe meine Gyptis und habe mit ihr Massalia gegründet. Nein. Odysseus, im Ithaka l'Estaque. Stimmt auch nicht. Ich bin Marius, und meine Jeannette hat mich vom Fabrikgelände geholt. Es ist so.«
»Du bist sicher? Wie wäre es mit Didier et Naziza?«
»Ja doch. Ja. Ich bin sicher. Deutlich. Und ich bin mir auch im klaren, daß ich Dir sehr wehgetan habe. Sehr. Und daß ich weggelaufen bin, könnte eine Komponente darin haben, daß ich noch nicht soweit war. Im Rückblick würde ich sagen, daß es das Endstadium war. Dessen letzte Station ich beinahe nicht erreicht hätte. Ohne Deine Suche nach mir.«
»Mon Dieu!«
»Doch nun ist es anders. Wir haben nicht gesagt, daß wir noch darüber nachdenken müssen – ich nehme jetzt Deine Worte. Wir werden unsere Tochter zurückbekommen. Und wir werden auf jeden Fall ein Kind adoptieren. Der Weg ist ja so wunderbar bereitet. Wir sind verheiratet. Ich bin Franzose. Es wäre zwar gleichgültig, aber es vereinfacht wohl einiges. Wir fahren nach Algerien oder nach Armenien oder sonstwo hin und packen ein Kind an Deine Brust. Zwischen uns. Am besten während Deiner Schwangerschaft.«
»Maintenent Du gehst hinauf über die Wolken! Und Arménien! Und Algérien! Was ist mit la Perse?! Willst Du gründen eine neue Stamm aus dem alten? Du glaubst es, daß Du es könntest, das alles?! So viel?«
»Ich bin fast sicher. Nein. Nicht fast. Ich bin sicher. Und ich empfinde die Idee tatsächlich als berauschend. Ich sehe die Bilder oft genug vor mir – diese Kinder ohne Eltern, in dieser schrecklichen Armut. Das ist ja der Hauptgrund dafür, daß ich immer eher für Adoption und weniger fürs Kindermachen bin. Nun tun wir eben beides. Auch schön. Sehr schön. Die Frage stellt sich jedoch: Würdest Du es denn schaffen? Diese Belastung?«
»Ah! Didier. Ich bin Nature. Ich bin Marathon. Dort bin ich glücklich, die Tochter von meiner Maman zu sein. Nie meine ich, daß mir etwas ist zu anstrengend. Ich bin sehr zufrieden mit diesem Zustand. Und wenn ich haben kann unsere gemeinsame Esprit als eine Ausgleich, es wird nie werden ein Problème. Mais, nicht nur Esprit, auch Deine Jus aus alle Deine Poren und in alle meine Poren. Und unser Gespräch über alles, wie ich vorhin gesagt habe. Volupté et esprit. Dann wird mir nichts schwer, dann bin ich frei wie ein Vogel.«
»Schön. Und tatsächlich. Ja. Es wird so sein, daß es damit zusammenhängt. Auch Deine neue Lust, Dich auszutoben. Ich meine damit auch, Deine Freude am Verbalen.«
»Oh oui! Hier hat sich etwas gelöst. Mit Dir. Das zuvor ist möglicherweise etwas mehr meine kleine arabische Erziehung und die kraal arménienne. Mein Maman und Papa sind nicht sehr geöffnet. Nun habe ich auch Lust über Lust zu sprechen.«
»Dann bist Du an einem entscheidenden Punkt angelangt. Ähnlich meiner Entwicklung. Dann machen wir's gemeinsam.«
»Es ist möglich. – Und es macht Dir nichts? Auch zu sprechen darüber?«
»Nein, Naziza. Laß es jetzt gut sein. – Ach Quatsch. Es tut mir leid. Es ist dummes Zeug, was ich da rede. Wenn Du mit mir sprechen möchtest, dann tue es. Über alles. Zu jeder Zeit. Also, ich habe ohnehin grundsätzlich keine Probleme damit. Ich hatte sie nie. Wenigstens das ist glücklicherweise etwas, das mir nie Schwierigkeiten bereitet hat. Aber ich habe es auch nicht gesucht.«
»Und Du wirst forschen in mir. In meine Körper? Überall. Wie ich gesagt habe?«
»Nur zu gerne. Glaub mir das, Liebes! Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.«
»So wie vorhin?«
»Warum denn nicht?«
»Es wäre das erste Mal. Non. Es war das erste Mal. Ich habe solche große Lust gehabt danach. Wir haben es nie gemacht.«
»Ich erinnere mich gar nicht. Weshalb nicht?«
»Ich habe es mich nicht getraut.«
»Lust hattest Du dazu, es zu tun?«
»Manchesmal. Ich hatte immer einmal Hoffnung, Du würdest es tun.«
»Tja. Das ist so ‘ne Sache. Ich habe wahrscheinlich immer geglaubt, Du würdest es nicht haben wollen.«
»Jetzt es war wie in die Himmel.«
»Ein bißchen erstaunt war ich schon. Ich hätte Angst gehabt, Dir wehzutun. Es ist ja nun der wohl intimste Bereich überhaupt.«
»Gibt es das – in der Liebe? Du sagst es immer, daß es gibt in der Liebe keine Tabou.«
»Der Meinung bin ich nach wie vor. Es muß allerdings beiden Spaß machen. Wenn es einseitig ist, driftet es aus dem Bereich der Liebe hinaus. Es gibt Menschen, die es nicht mögen.«
»Es war etwas, das ich mir habe nicht so vorgestellt. Ich kannte es nur von Erzählen.«
»Ich glaubte immer, es sei ein ausgesprochen männliches Verlangen. Deshalb war ich da immer zurückhaltend.«
»Es ist schön gewesen. Es war fou! Vielleicht es ist nicht immer so?«
»Das wird es sicher nie sein. Wie in anderen Bereichen auch.«
»Es war ein Explosion. Und dann ich habe Dich gespürt, wie Du geschossen hast in mich hinein. Deshalb ich habe gesagt, Du sollst es pressen. Weil ich habe es geahnt. Und es war so.«
»Didier. Gib mir ein Kuß. Einen tiefen.«
»Wo?«
»Tonnerre! Ich will eine Kuß. Und ich möchte, daß Du mein Brust streichelst. Es ist so wunderbar. Bin ich terrible? – Vielleicht, wenn wir hatten ein Frühstück?«
Ich ziehe sie nahe zu mir heran, auf die linke Seite. Leicht bewegt sich meine Hand über ihre tiefschwarzen Kräuselhaare, die wie ein leicht hingeworfenes und dann erstarktes Flaumbüschel in Richtung Nabel zeigen. Sie vergräbt sich kurz in meine Achselhöhle.
»Es ist verrückt. Beides zusammen! Nun ich weiß es, was es ist. Mon Dieu. Es ist Wonne. Es sind joies de l'amour. Bitte noch einmal. Dann ich lasse Dich in Frieden – für ein Stunde. Vielleicht.«
Und wieder dieser herrlich Anblick auf den nächtlichen Horizont mit Abendstern.
Es macht ihr Freude. So soll es denn sein. Einmal, zweimal. Dreimal. Dabei werde ich immer tiefer hineingesogen in diesen Schlund aus Lust. Die Lust verwirrt mich. Ich weiß nicht, ob ich will oder nicht. Lust ist schmerzhaft ohne Körperschmerzen. Ist es Verlustangst? Die Angst vor dem kleinen Tod, von dem ich einmal gehört habe, daß er nur den Mann beträfe.
Habe ich Angst? Angst, es irgendwann nicht mehr zu haben? Doch sie jagt mich weg von meinen Gedanken. Ihr ist nicht zu entfliehen. Als ich zurückwill, holt sie mich sofort wieder herein, stößt mich wieder zurück in sich. Ihre Hände krallen sich ins Laken. An den Knöcheln dieser filigranen Gebilde bilden sich weiße Schaumkronen. Ich lasse nach. Ich will keinen Kraftakt. Ich will in Ruhe zuhause sein. Anhalten mag ich, es nicht enden lassen. Und dann erreicht mich doch der Hymnus –
Et la lampe s’étant résignée à mourir,
Comme le yoyer seul illuminait la chambre,
Chaque fois qi’il poussait un flamboyant soupir
Il inondait de sang cette peau couleur d’ambre!
– Und als die Lampe dann verlöschend hinstarb,
erhellte der Kamin allein noch das Gemach;
so oft er auflodernd einen Seufzer schickte,
überschwemmte er diese Ambrahaut mit Blut.«
Unser Kamin ist die Heilige Flamme, die Naziza andächtig hereingebracht hatte. Sie muß es gewußt haben. Die Kerze flackert ihren Ambraschein leicht hüpfend, zärtlich aufgeregt über diese köstliche Ermattung. Das Blut ist das meine. Es ist weiß. Es ist alles, was in mir war. Langsam, so behutsam wie möglich lasse ich mich auf den glühenden Rücken sinken. Er kühlt mich, denn meine Brust befand sich eben noch in fließendem Glas. Aus flachem, aber dennoch fröhlich freiem Atem heraus finde ich ein wenig Kraft und murmele meiner Göttin in den Hals.
»Eine Armee weißer Soldaten – die jetzt hilflos herumirren, weil sie an die falsche Stätte entsandt wurden. Liebes, was machst Du da?!«
»Die andere war bereits erfolgreich. Und diese will auch beschäftigt werden. Es ist ihre Aufgabe.«
»Du saugst mich aus! Ich bin völlig fertig. Sag doch – was machst Du mit mir.«
»Ich mache Liebe mit Dir, mon Cupidon! Du gibst mir alles. Das ist nicht die Geilheit von Deinem Körper. Es ist Dein Herz, das sein Blut in mich hineinschießt. Es ist Liebe! Du machst mich glücklich. Es ist sehr Neues für mich. So war es nie zuvor. Es ist etwas geschehen, das ist incroyable. Ich habe es mit Dir. Es macht mich noch glücklicher. Du gibst Dich für mich.«
»Es ist unfaßbar. Das war früher nie! Sag mir, wie Du das machst?«
»Ich mache nichts. Es macht.«
»Was ist es?«
»Weshalb fragst Du das? Es ist! Ich spüre es in mir. Wir sollten das nicht fragen. Wir wissen es beide nicht. Es spielt ein große Rolle, daß sie keine spielt – diese Frage. Es ist viel mehr als eine Traum. Ich habe es gehofft ein wenig. Nun ist es größer geworden. Sag Du mir, wie Du es machst?«
»Eben hast Du gesagt, wir sollen nicht fragen.«
»Du weißt doch, wie es ist, wenn ein verliebte dumme Hühnchen spricht.«
»Hat das verliebte dumme Hühnchen Angina?«
»Was meint es – Angine? Angine poitrine?«
»Ja.«
»Mais – es tut nichts weh. In meiner Brust ist nur Freiheit. Es tut alles gut. Weshalb also ich soll haben angine poitrine?«
»Ortega y Gasset bezeichnet Verliebtheit als psychische Angina.«
»Es ist vielleicht lustig. Bien. Warum nicht? Aber es stimmt diese Bild nicht richtig. Und ich bin auch nicht verliebt. Je suis être fou! Non. Auch nicht. Ich weiß es nicht. Es ist Liebe. Dieses weiß ich. Große Liebe. – Tu ne serais pas malade, des fois? Hast Du angine poitrine?«
»Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht ist es ja ein Verliebtsein innerhalb der Liebe. Eine ständiger wonnewarmer Aufguß sozusagen.«
»Wie in eine Sauna? Nur mit warmem Wasser. Siebenunddreißig Grad? – Non, Didier. Was da aus Dir kam, waren hundertsiebenunddreißig Grad. Es war wie eine lance-flammes!«
»Flammenwerfer? Nein. Wieder so deutsch. Flammenlanze?
»Es machst alles Du. Du bist die Créateur davon. Überall. Ich habe gesagt, ich will es. Und es ist so herrlich eine neue Erfahrung.«
»Ich verstehe nur nicht, weshalb Du nie was gesagt hast.«
»Ah! Didier. Ich war nicht sicher. Und ich wollte nicht etwas tun, von dem ich nicht weiß, ob Du es magst.«
»Aber es tut doch einem Mann nicht weh.«
»Ich spreche nicht von einem Mann! Eine Mann pas de interessant pour moi! Ich spreche von Dir! Und ich weiß es auch nicht. Ich hatte Lust – oui. Mais – ich hatte auch Angst. Daß Du es nicht willst.«
»Aber jetzt nicht mehr?«
»Non! Contraire! Nun sage ich Dir ja – bitte oft. Oui! Mon amour. Und ich meine das. Wenn ich vielleicht habe eine so dicken Bauch, daß es nicht mehr geht. Ich weiß es nicht. Vielleicht es wird so sein. Doch ich will es! Und ich habe Dich gesagt, daß ich bin ausgetrocknet wie ein vieille rombière.«
»Immer noch?«
»Was glaubst Du?! Ich habe Dich gehabt vielleicht deux mois! Bevor ich fragen konnte, ob Du machst dieses oder das, warst Du verschwunden ...«
»Aber ...«
»Non, Didier. Ich meine das doch nicht böse! Ich sage nur – zu einem Zeitpunkt, daß ich Dich hätte fragen können, ob Du vielleicht ein wenig hier und auch ein wenig dort, da konnte ich es nicht mehr. Du bist der Mann, mit dem ich mache diese herrliche Sachen zum erste Mal!«
»Willst Du damit sagen ...«
»Du kannst mir in Ruhe glauben, was ich Dir sage. Ich habe Dir gesagt, daß es nicht hat gegeben viele Männer in meine Leben. Und ich habe Dir auch gesagt, daß ein wenig immer auch die civilisation, die culture de arabe in mir ist. Ich bin nicht wirklich aufgewachsen europäisch. Maman et Papa haben sich bemüht. Mehr noch Papa als Maman. Sie wollten mich sein lassen eine europäische Frau. Irgendwo doch immer hat Maman Allah seine Hand gehabt vor meine Entrée. Ich weiß nicht, ob es das war – es gab Männer. Mais. Es war nicht viel. Ein wenig hier einmal, und noch einmal dort. Eben zu Beginn das Probieren von einem jungen Hühnchen. Was eben tut ein junge Frau.«
»Liebes – Du bist eine junge Frau!«
»Deshalb ich tue es! Mit Dir.«
»Ich meine auch zuvor.«
»Oui ! Es war ja. Prude ich war nicht. Eine große Erlebnis es war jedoch nie. Das ist, ich glaube, entscheidend. Auch ist nicht zu vergessen – die Arabes, aussi les arméniens, sie wollen ein Frau für ihre Küche. Für ihre vielen Kinder. Für ihr dreimal Hin- und her. Nachdem sie geöffnet haben das Schloß vor der Pforte. Solches kam nie infrage für mich. Ich bin nicht geeignet dafür. Ich bin vielleicht eine dumme Kuh, aber nicht für élevage, ich habe keine Eignung für jedes Jahr eine Wurf an kleinen Tieren, die dann gehen mit Papa an der Leine spazieren an Dimanche zum terrain de football.«
»Du bist keine Kuh. Nicht mal eine schöne.«
»Oh! Vor ein paar Minuten Du hast noch gesagt zu mir, ich bin schön. Ich bin nun sehr enttäuscht.«
»Jetzt bist Du eine dumme Kuh! Eine schön dumme Kuh.«
»Partout ailleurs Du gibst mir nicht recht. Nie. Jetzt tust Du es. – Ich bin also ein schön dumme Kuh. Pardon – Du gibst mir doch recht.«
Bevor ich weiter protestieren kann, verschließt sie lachend alles an mir, was auch nur einen Laut von sich geben könnte.
»Du siehst, diese sind die Waffen von eine schön dumme Kuh. Das ist es, was die andere immer wollen, die andere, die schauen nach eine dunkle Frau, nach einer, die vielleicht so etwas könnte sein wie ein Negerweib – ich glaube, es sind diese, deren Gehirn ist unterwegs par avion vers Thaïlande. Der neue Guide heißt Michel Houellebecq. Sie wollen nur einen Körper. Meiner ist nicht dafür. Meiner ist für Liebe. Mit allem, was es gibt davon und dafür. Und es gehört dazu diese Geilheit. Mais – sie ist nicht nur biologique. Ich habe es mit Dir. Mit den anderen ich habe nicht viel gespürt.«
»Nicht einmal in später Jugend?«
»Wer kommt in diesem Alter? Ich habe sie genannt – die Arabes, die Arméniens. Sie sind dumme kleine – Garçons, die wollen ein wenig herummachen an einem Mädchen – alors, tu viens. Et la grand famille. Und ich wollte immer auch eine europäische Frau sein. Ich war es dann auch – ein wenig. Es war Berlin, Paris. Es waren andere Reisen. Vielleicht es hätte kommen können auch ein kluger, ein gebildeter Mann aus l'Arabie, aus dieser anderen Welt. Nach ihm gesucht habe ich nicht! Ich wollte eine Freiheit immer. Meine Autonomie! Doch nun es ist geschehen. Ich habe mir ein Freiheit geholt.– Ich habe Dir gesagt, daß ich immer habe gewartet auf Dich. Ich habe es nicht gewußt. Aber ich habe es getan. Nun habe ich nicht nur Dich, ich darf es auch leben mit Dir. Mit meiner Liebe! Deshalb möchte ich auch viel. Und dieses macht mich noch viel mehr glücklich. Und es macht mich jung. Sehr jung! Verstehst Du das nicht? Und vielleicht es ist ein wenig günstig, daß in mir ist immer noch eine Vestige von ...«
»Was ist Vestige?«
»Eine Reste, etwas, das ist übrig, eine Spur von temps passé.«
»Ein Relikt, meinst Du?«
»Oui. Bien – ein Relikt von eine Arabe-Arménien mit Blut von einem europäische Strand. Daß ich bin nicht so ein Mannequin auf diese Passerelle, das nur ihre Körper zeigt. Die immer sagt – nehme mich. Ich bin etwas timide. Ich kann nicht alles machen. Verstehst Du es nicht?«
»Doch. Ich verstehe es. Ich war mir nur nicht im klaren darüber ...«
»Aus diesen Gründen möchte ich ja sprechen mit Dir darüber. Über alles! Du gibst mir damit ein neue Freiheit. Du entläßt nicht nur Saft aus meinem Körper, wie ich es nicht kannte zuvor. Du gibst mir so auch eine Sprache, die ich nicht konnte sprechen! Mais – ich muß Dich fragen, ob Du es möchtest. Ich kann es nicht ablegen simplement. Es ist nicht sehr leicht zu sprechen über etwas – in Deiner neuen Sprache heißt es: Cela n'est pas très catholique. Wie unser Missionaire vor diese ‘hurones. Ist es treffend?«
»Etwas, das nicht mit rechten Dingen vor sich geht?«
»Oui. Deshalb – ich muß Dich das noch ein paarmal öfter fragen. Versteht Du das?!«
»Nun bitte ich Dich um Verständnis. Ich bin eben dann doch anders aufgewachsen als Du. Und ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der – anders kann ich es jetzt nicht sagen – ziemlich wild herumgevögelt wurde. Gesprochen wurde dabei allerdings weniger. Im Grunde wußten wir ja auch nichts.«
»Vögeln ist mehr hübsch als bumsen. Frei wie die Vögel. Im Deutschen es gibt soviel Wörter dafür. Mais – pareil. Wenn es schön ist. Baiser. Du hast es auch viel gemacht? Man mußte es tun in dieser Zeit von Deine Jugend?«
»Sagen wir mal – es gehörte zum Alltag. Wenn man aufeinandertraf, dann ergab es sich. Aber es ist nicht so, daß ich pausenlos gesucht hätte. Ich war nie ein Trophäensammler, wenn Du das meinst. Doch es hat sich eben oft ergeben – es war normal. Vor allem, wenn man losging, zum Tanzen etwa.«
»Alle wollten das?«
»Also, wer damals zum Tanzen, beispielsweise am Wochenende, ins Eurocenter ...«
»Berlin? Gedächtniskirche?«
»Ja. Wer da hinging, der ging nicht alleine zum Tanzen dahin. Vielleicht irre ich mich ja. Aber es gibt keinerlei gegenläufige Erfahrung. – Gegenläufig – läufig.«
»En chaleur, meinst Du?«
»Als Begriff, ja. Läufig, brünftig. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Bumsen war angesagt. Wochenendbeschäftigung. Keiner wäre auf die Idee gekommen, etwas dagegen zu haben. Vielleicht war es ja auch so, daß einige Mädels sich gar nicht getraut haben, nein zu sagen. Andererseits. Wer will denn nicht, wenn er mit einem Mann mitgeht oder ihn gar mit zu sich nach Hause nimmt.«
»Dies scheint mir deutlich. Oui. Wer es nicht will, der tut es nicht.«
»Ich bin nicht sicher. Möglicherweise hat manche junge Frau gedacht, sie kriegt so ihren Mann fürs Leben. Ich hab damals nicht darüber nachgedacht. Wobei ich natürlich auch vermute, daß es manchmal nicht leicht war für die jungen Frauen. Denn viele Männer – ach was, Jungs – sind doch sehr rasch zur Sache gegangen. Aber in einem Tanzlokal konnten die Mädchen sich ja noch wehren.«
»Es scheint schlimm gewesen zu sein.«
»Nein. Das klingt jetzt vielleicht so. Es war nur ein normaler Umgang mit der alltäglichen Sexualität. Und man darf nicht vergessen, daß es für alle neu war. Noch weit bis in siebziger Jahre haben viele Frauen die Pille nicht genommen – weil es Ärzte gab, die sie aus moralischen Gründen nicht verschrieben haben. Was glaubst Du, wieviel Kinder auf diese Weise zur Welt kamen. An Abtreibung war ja auch kaum zu denken. In den Niederlanden und in England gab's Möglichkeiten. Aber sehr teure! Als sich die ersten Wogen geglättet hatten, wurde alles sehr viel einfacher. Es gab für nahezu alle die Pille, und auch abgetrieben wurde preisgünstiger im Inland. Aber auch erst sehr viel später. Die Sorge hattest Du mit zehn oder elf oder zwölf Jahren noch nicht.«
»Es stimmt. Aber ich weiß auch nicht, ob ich würde abtreiben wollen. Würdest Du es? Wenn wir ...«
»Wenn wir was? Wir wollen doch eins! Also muß ich doch nicht über Abtreibung nachdenken, mit Dir darüber sprechen.«
»Wenn es wäre ein Handicapé?«
»Puh! Du stellst vielleicht Fragen. Wir haben hier gerade heftig herumgebumst, und Du kommst mit der Eventualität einer Behinderung. Gleichwohl die Frage natürlich berechtigt ist. Aber irgendwie mag ich nicht die Hand in Deinem über die Ufer getretenen Delta haben und dabei an behinderte Kinder denken.«
»Du hast recht. Wir sollten lieber ein wenig an die kleine Tod von meinem Geliebten denken und nicht an die große von uns allen. Non. Ich will es auch nicht.«
»Aber nun sind wir dabei. Seit ich weiß, was ich – und viele andere! – damals eben nicht wußten, nämlich, ab welchem Zeitpunkt ein Leben im Mutterleib ein eigenständiges Leben zu führen beginnt, habe ich allergrößte Probleme damit. Der Gedanke, ein sechs- oder gar achtwöchiger Embryo wird abgesaugt, schüttelt mich. Das würde ich heute nicht mehr packen. Außerdem denke ich ohnehin anders darüber. Mittlerweile.«
»Didier. Es tut mir weh. Wir hatten eine Tochter dans ma chair.«
»Scheiße. Es tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht. Bitte entschuldige.«
»D'accord. Wir müssen jedoch also keine Angst haben. – Ich würde es auch nicht machen.«
»Wir müssen darüber nicht diskutieren. Wir müssen nicht einmal darüber sprechen. Es steht völlig außer Frage. Selbst wenn es sich herausstellen sollte, daß es ein behindertes Kind wäre – und ich gehe mal davon aus, daß Du Angst hast aus einem altersbedingten Down-Syndrom ...«
»Es ist richtig.«
»Gut. Es kommt zwar bei Frauen über vierzig Jahren häufiger vor, aber eben nicht immer. Ich habe Dir davon erzählt, daß ich einige Frauen kenne, die älter waren und keine Probleme hatten. Es liegt sicherlich auch an der jeweiligen körperlich Konstitution. Und Du scheinst mir biologisch eher um einiges jünger ...«
»Merci, mon douce Monsieur le docteur!«
»Selber süß. Wie ein Teenager! Ernsthaft. Ich habe da nicht so ‘ne Angst. Außerdem ist die Medizin viel weiter fortgeschritten.«
»Wenn es kommt, es kommt!«
»Ja. Das ist aber der nächste Punkt. Eins nach dem andern. Also – ich sehe keine Gefahr, daß Du zu den fünfzig gehörst – wenn wir's überhaupt hinkriegen ...«
»Oh! Mon amour! Ich habe Dir gesagt, daß es –« Sie setzt sich auf und hält mir ihre zartbitteren kleinen Brüste vors Gesicht. »Nimm. En tout cas sie sind vernachlässigt. Nimm. Es ist Milch darinnen ...«
»Eben habe ich dabei eher noch an Schokolade gedacht.«
»Praliné erhält mein Mann später. Jetzt es ist chocolat au lait. Maintenent pour mon grosse bébé. Noch. Später für das kleine.«
»Naziza ...«
»Nimmst Du. Sie haben Sehnsucht auch!«
Nur zu gerne folge ich der Aufforderung. Es schmeckt wunderbar – nicht mehr Schokolade oder Milchschnitte. Eine Mischung aus salziger Lusthaut und dem Inneren meiner Geliebten. Eine lustvolle und lustmachende Mélange.«
»Sauge, Bébé. Es ist schön.«
Sie streift mir mit ihren Knospen übers Gesicht. Es ist nur Wonne aus Zartheit und Zärtlichkeit. Sie küßt mich. Wir küssen uns. Sie entzündet mit ihrer Zunge mein Brachfeld. Und wieder hält sie mir ihre fast zur Blüte aufsprengenden tiefbraunen, beinahe schwarzen Spitzen hin. Ich wühle mich hinein und nehme mal die eine, dann die andere. Nun sind es Pralinée.
»Es schmeckt Dir?«
»Ich kann gerade nicht antworten. Ich habe den Mund voll. Aber es schmeckt eher nach Dir als nach Nachkommenschaft.«
»Non. Ich habe es Dir gesagt! Du glaubst mir schon wieder nicht. Du kannst Deiner Naziza ruhig einmal etwas glauben!«
»Ach, Naziza. Jetzt aber.«
»Du wirst es sehen. Ich habe es gespürt.«
»Gehört habe ich es ja schon des öfteren, daß Frauen es spüren. Allerdings soll es sich immer nur im Zusammenhang mit tiefer Zuneigung, also einem ausgesprochenen Kinderwunsch ereignet haben. Nun gut, das wäre ja jetzt der Fall. Wer weiß? Der eher vom Denken geprägte männliche Gefühlshaushalt dürfte zu solchen Regungen kaum geeigneten Zugang haben. »Ich habe vorhin zunächst einmal an nichts anderes gedacht, als daß Du Dich mal wieder ein bißchen lustig machst über mich. Zumal Du mir ja noch vor ein paar Stunden erzählt hast, daß es nicht Deine fruchtbare Phase sei.«
»Und ich habe vorhin entgegnet, es kann sein zwei Tage dorthin oder nicht. Ich weiß es nicht genau. Ich messe nicht meine Temperatur, wenn nicht mein Mann anwesend ist, um mich zu füllen. Ich bin nicht sicher, naturellement. Ich spüre etwas sehr Schönes. Mais – es ist überhaupt voller Wunder alles das. Doch da bin ich nicht sicher, Du mußt Deine Blüte noch oft bestäuben in die nächste Zeit. Morgen und übermorgen es ist sehr zu vermuten. Dann ich darf Dich nicht aus meine Augen lassen – nicht nur aus meinen Augen.«
»Da steht mir ja einiges bevor.«
»Oui. Monsieur Papa futur. Auch einmal à la va-vite. Auf die Küchentisch. Oder darunter. Oder in die Schublade oder auf dem Téléviseur.«
»Jetzt kommst Du aber stramm in die billige Klamotte.«
»Ist es billig? Wenn ich Lust habe auf Dich? Wenn mein Fantaisie mich wirft auf ihren Rücken und geht in eine grand galop in Dich hinein?!«
»Nein. Du hast recht. Ich rede Unsinn. Ich sollte gelassen fröhlich sein über Deine Bilderwelten. Kurios oder was anderes, das ...«
»Je m'en contrebalance – ob es ist ein schlechter Film. Dann ist es eben ein schlechter Film. Liebe machen – c'est le principal! Mit eine Kind, mittendrin in uns, an uns, zwischen und. Auch ohne ein Kind. Mit allem. Hauptsache, es ist! Du hast entfacht die Lust in mir. Und diese süße Paar Liebe und Lust – c'est délice. Amour et volupté copuler. Es sind wunderschöne Erfahrungen, die Du mir gibst.«
»Ich Dir gebe? Es ist herrlich, was Du sagst. Dämlich geht ja schlecht in diesem Zusammenhang. Auch wenn's korrekter wäre ...«
»Ich bin kein Dame. Demnach auch nicht dämlich.«
»Dämlich hat seine Sprachwurzel nicht in Dame, sondern stammt aus dem lateinischen tēmētum bzw. tēmulentus und bedeutet berauschendes Getränk. Letztlich gehört die Wortgruppe wohl zur Wurzel tem(ə), das wiederum dunkel oder auch Dämmerung heißt. Demnach wärest Du doch dämlich, denn Du berauschst mich. Aber nun, genauso könnte ich erwidern: und ich bin kein Herr. Doch Du machst mir also eine sehr, sehr große, nazizaliche Freude damit. Denn letztendlich bist Du es, die mich wiederbelebt. Ich dachte nämlich, ich sei schon tot.«
»Petit sot. Ich will angefaßt werden von Dir. Fasse mich an. Das will ich. Ich will Dich immer sehen. Nie wieder möchte ich Dich verlieren, auch nicht aus den Augen.«
Da liegt sie, diese junge Göttin! Ist das ein Anblick. In der körperlichen Ertüchtigung sieht man das ja gar nicht richtig. Wie eine sanfte, leicht behauchte Dünenlandschaft liegt sie vor mir. Es fehlt nur noch der warme Sommerwind. Doch sie ist so fein, daß ich mich fast erschrecke, wie derb ich sie vorhin angefaßt habe.
»Ich spüre Dich nicht mit meinem Gefühl. Meine Augen des Gefühls sehen Dich nicht.«
»Ach, Liebes, ich habe gerade Deine Schönheit bewundert.«
»Das ist vielleicht schön für Dich. Mir fehlt etwas dabei.«
Meine Lippen streifen auf der Haut der Wirbelsäule hinauf zu ihrem Haaransatz. Ruckartig dreht sie sich um.
»Pardon, mon amour. Ich bin ohne Geduld. Ich möchte Dich doch sehen. Und ich möchte auch, daß Du diese Seite. Tonnerre – ich möchte überall. Verzeihe mir, ich weiß, es geht nicht alles zur gleiche Zeit.«
Ich küsse sie. Sie küßt zurück. Wir küssen uns in uns hinein. Sie küßt eine Kerbe in mich. Meine junge Rebe pfropft sich auf mich alten Weinstock. Ich werde veredelt. Meine verjüngten Lippen wandern wie auf Blüten über ihre Brüste, zum Nabel. In ihn hinein lege ich meine Zungenspitze und lasse sie dann kreisen. Sie windet sich wohlig. An der Taille setze ich meine Lippenzungenreise fort. Alles badet in diesem kostbar wässrigen, schimmernden Öl, in meinem Etui. Ich lasse mich treiben. Dann habe ich mit einem Mal den Anblick ihres filigranen, überall leicht schweißglitzernden Körpers. Gäbe es ihn nicht, Pygmalion mußte ihn meißeln. Nein. Das lassen wir lieber. Hier sitzt ja nun Aphrodite persönlich auf mir und rundet und beatmet. Sie kreist ihn sich hinein und überall hin. Er gehört ihr. Sie führt, ich lasse mich tanzen. Ein entzückendes, verzücktes Lächeln liegt in ihrem Gesicht. Da ist keine Geilheit mehr. Das ist dieser sanfte Mut, der sich hingibt, sich treiben läßt zu mir, sich selbst die Freiheit gibt.
»Mon amour, blicke in meine boulets noir. Was siehst Du darin außer meiner Liebe?«
»Ich weiß nicht, was sonst noch – außer vielleicht ein bißchen Glück.«
»Ah! Davon ganz viel. Liebe ist Glück. Es tritt etwas hinein in sie, das kommt ganz tief aus meinem Leib. Schaue hinein.« Sie beugt sich zu mir. Sie schaut mich warm lächelnd an. »Es zieht hinauf, es nimmt jede Punkt ein in meinem Körper. Ich möchte, daß Du es auch siehst. Mit Deinen Augen. Und spüren sollst Du es. Auch. Sehen mit allem. Mit Deinem Leib. Ich werde es nun in einen Kanal geben, non, ein Injection werde ich bereiten für Dein centre l'amour dort oben, sie wird alles löschen, was einmal war an Schmerz. Sie wird sich ausbreiten von dort wie eine nazizawarme Woge in Dir. Und dann gibst Du Dich noch einmal in mich. Dann bekomme ich den letzten Rest von Dir. Dann wirst Du alles abgegeben haben an mich. Dann bist Du nur noch ich. Fühle es, wie ich Dich hineinziehe in mich, Dich umfasse, bald dort, wo unsere Céleste Dich erwartet. Lasse Dich führen dorthin, in Dein erobertes Terrain, in Dein Heimat. Céleste nimmt Dich an ihre Wurzel. Sie nimmt ihren Papa zu sich, es erklingt ihm ein behutsames Lied. Nun bist Du angekommen. Nun gebe Dich frei. Gehe hinein mit mir und zu mir, zu unsere Tochter, die so lange hat gewartet. Nun werde ein Géant! Mache ein bombe crème pour la fillette et sa maman. Dann öffne sie, diese bouteille de champagner, diese Magnum. Wir werden sehr laut lachen über diese douche.«
»Liebes. Ich glaube, ich habe sie bereit. Soll ich sie ...«
»Oui, Didier. Nun wir beide. Ouvrier le feu!«
Mein nur noch beseelter Körper gibt sich allen diesen Wünschen hin. Er löst sich auf in Myriaden von schwebenden Gefühlen. Ich zwinge meinen Augen, sich zu öffnen. Ich will sie sehen, meine sich ausbreitende, sich eben erneut und doch noch intensiver als zuvor erfüllende Sehnsucht, in diesem friedlich-fröhlichen Lächeln, das schwarzleuchtend nicht nur zweimal Armenien zeigt, sondern rechts ganz oben, bei Aserbeidschan, leicht zuckt, als wolle es nach Georgien zurückwandern, während im linken Abbild dieser Geographie der Schönheit, fast noch innen, ein Träne lustig die Grenze zum Iran überfließt. Ich will sie sehen auf diesen leicht flatternden Flügeln unter dem sich mit einem Mal andeutenden tunesischen Nasenhäkchen, wo sie sich auch bewegt, diese Liebeslust, diese Lust aus Liebe, diese Liebe, die Lust gebärt. Ja, gebärt. Es kommt etwas in unser neues Neu-Griechenland. Denn nun spüre auch ich es. Überall, von meinen Fersen an in die Taille bis in die Schultern, in die Fingerspitzen. Über mein gänzlich entspanntes Hinterteil schwimmt eine sich vermehrende Armada an minuskulösen Seidenschiffchen hinauf zu meinem Rücken, breitet sich aus über meinen Hals, und ganz weit oben, an einem mir bis dahin unbekannten Ort schwappt Nazizas angekündigte Woge über diese Windwalze in mir und verebbt irgendwann am Strand der Île Ratonneau, in der kleinen Bucht, wo mein Leben gezeugt wurde, an der blau und türkis schwebenden Pforte zum Paradies. Und dann liegen wir eng nebeneinander, überlassen auch unseren außen über die Ufer getretenen Flüsse der Lust des Sichauflösens und schauen auf unserer Liebeswiese in den Meereshimmel.
»Didier. Ich möchte das alles sehen. Es muß wunderschön sein, es alles zu sehen.«
»Was zu sehen?«
»Was wir machen.«
»Was denn – machen.«
»Unsere Liebe. Ich würde es sehr gerne sehen. In eine Film.«
»Spinnst Du jetzt?! Willst Du ‘nen Porno drehen!?«
»Oui. Ich würde es gerne. Um uns zu sehen. Es muß grandiose sein.«
»Jetzt fällt mir aber nichts mehr ein. Da kriege ich aber Seiten von Dir zu sehen!«
»Oui. Du mich von alle Seiten und von oben und von unten und allem. Und ich Dich auch. Wir können hineinschauen in uns überall. Ich glaube, es macht neue Lust.«
»Du bist wirklich unglaublich.«
»Es ist schlimm? Ich habe ein schmutzige Fantaisie, Du glaubst?«
»Nee. Warum? Ich bin nur verblüfft.«
»Ich meine nur wir beide.«
»Das habe ich schon verstanden. Ich habe auch nichts anderes angenommen. Aber wer soll das drehen?«
»Es geht nicht alleine?«
»Puh! Du meinst, einfach eine Kamera laufenlassen?«
»Oui. So in ein Position, daß sie alles nimmt auf von uns.«
»Oh je – wir montieren eben einfach überall Spiegel hin.«
»Non. Ich möchte es festhalten. Wenn ich bin mit Dir, ich kann nicht zuschauen. Es geht nicht. Meine Augen sind in mir und in Dir. Es ist kein Platz für ein Selbstbetrachtung. Es ist nicht für Eitelkeit. Ich bin keine Mannequin. Oder ich bin auch nicht ein Actrice in eine film de pornographie.«
»Ist es etwas anderes?«
»Das ich glaube sehr wohl! Es ist nicht für andere bestimmt. Es ist für uns.«
»Es belustigt mich.«
»Oui – es ist belustigend. Lust. Unsere Lust für uns. – Didier. Excuse-moi. Ich weiß nicht, was ich rede.«
»Warum denn?! Es ist doch gut. Ich habe darüber nur noch nie nachgedacht.«
»Worüber? Über Pornographie?«
»Über Pornographie schon. Nur noch nicht, ob es dann keine mehr ist, wenn wir uns selbst belichten. Also nicht selbst befruchten, nicht masturbieren. Sondern im nachhinein unsere Befruchtung betrachten. Es ist ein völlig neuer Gedanke. Und so frisch, so unbeschwert, wie Du ihn vorträgst, kann er eigentlich gar keine Pornographie mehr sein. Das ist sie auch nicht, denn wenn ich es etymologisch betrachte, gehört es zu griechisch πορνογράφος (pornográphos) ›von Huren schreibend‹; aus πόρνη (pórnē) ›Hure‹. – Ich glaube allerdings, ich weiß nicht mal, ob ich weiß, was Pornographie tatsächlich bedeutet.«
»Es ist in der Histoire sicher in die Prostitution verankert. Es ist das Leben und die – wie heißt es? Usage – us et coutumes? Sitte und?«
»Meinst Du Sitten und Gebräuche?«
»Oui. Puh. Es ist schwierig mit meinem Deutsch von die Office de Tourisme, von diese bonjour et au révoir. Du siehst – alleine deshalb hast Du mir so sehr gefehlt. Nicht nur in meinem Körper ich bin ausgetrocknet, auch mein Geist ist verkümmert wegen diese Unterforderung in die deutschen Sprache. Ich kann nicht einmal ein wenig gehobene philosophische Gespräche mehr mit Dir führen über Pornographie. – Eh bien alors – es kommt zwar vor, daß eine Mann mich fragt nach ein maison de tolerance ...«
»Wahrscheinlich meint er damit Dich.«
»Es ist möglich. Vielleicht hast Du recht. Pareil. – Bon. Es ist socioculturel die Description von Sitte und Gebrauch der Prostitution. Mais – es hat sich sehr gewandelt. Es ist in die Gesellschaft akzeptiert. Ich glaube, es ist Alltag. In den westlichen Ländern.«
»Das ist anzunehmen. Aber deshalb weiß ich immer noch nicht, ob wir einen Porno drehen oder eher einen Liebesfilm.«
»Einen pornographische Liebesfilm? Es ist sicher ein pornographische Film. Er dient der Stimulation. Unsere Stimulation. Dann es kommt sofort die nächste Acte. Nach nu féminin et nu masculin ein neue Wiedervereinigung. Oder was meinst Du?«
»Auch wenn wir es als Dokumentarfilm unserer heiteren Vögelei sehen? Ein Dokumentarfilm ist ja etwas sehr Seriöses.«
»Es ist wunderbar. Wir machen ein Philosophie, non, ein thème de science daraus. Und ich kann sagen zu Maman und Papa – Didier und ich drehen gerade eine Documentaire. Mais – ihr wißt es ja, Didier und ich sind in unserem tiefen Inneren Wissenschafter des Geistes. Wir schauen in unsere Innerei. Eine Wissenschafter ...«
»Liebes – im Deutschen heißt es allenfalls Innenleben. Innereien, das hatten wir bereits, ist cuisine provencale oder Naziza von innen.«
»Das ist es doch, das ich meine!«
»Meintwegen. Irgendwie hast Du ja auch recht. Und es heißt außerdem: Wissenschaftler.«
»Merci, Cheri. Doch Du weißt, es ist eine Folge von consonnes, die wir nicht sprechen möchten. Nicht können. Nicht wollen. Wie Dein deutscher Name. Alors – Wissenschaft-l-er. Puh. Eine Wissenschaft-l-er, ein Paar Wissenschaft-l-er muß es alles ausleuchten, betrachten von alle Seiten und von innen, um zu einem Ergebnis objectif zu gelangen. En conséquence diese Documentaire de pornographie ist strict scientifique. Wollt ihr ihn sehen, cher parents, wenn er ist terminé? Didier hat eine hervorragende téléviseur – ihr könnt das alles anschauen en cinémascope.«
»Das würde sicherlich ein voller Erfolg.«
»Didier – maintenent ich muß sehr lachen bei diese Gedanke. Mais – quelle catastrophe! Es würde meine Maman umbringen. Oder vielleicht sie mich.«
»Aber die wissen doch auch, wie’s geht. Doch ich plappere mal wieder. Klar. Da ist zum einen die Generationsfrage. Und zum anderen haben wir den Kulturkreis. Doch was, soll’s – wir witzeln. Nur ist damit nicht die Frage beantwortet, die sich mir mit einem Mal ernsthaft stellt!«
»Du weißt es doch, daß es seriös diskutiert wird, dieses Dafür und Dagegen!«
»Ich weiß nicht, ob ich das weiß. Ich habe mich nicht damit beschäftigt. Mir hat sich die Frage nie gestellt.«
»Du hast nie eine Porno gesehen?! Ich kann es nicht glauben.«
»Das mußt Du auch nicht. Natürlich habe ich Pornos angeschaut. Nicht gerade im Übermaß, da ich das, was ich gesehen habe, nicht als sonderlich appetitlich empfinde. Fast alle sind öde. Männerpornos eben. Es geht immer nur ums eine.«
»Um was soll es sonst gehen dabei?«
»Nun überraschst Du mich aber ernstlich.«
»Wie meinst Du es?«
»Über die Freizügigkeit, mit der Du darüber sprichst. Sie steht im diametralen Gegensatz zu Deinen Äußerungen über Deine Zurückhaltung – von wegen timide.«
»Ist es schlimm? Meinst Du?«
»Nein. Überhaupt nicht. Wir handeln das ja streng wissenschaftlich ab.«
»Sot! Es hat mich durchaus interessiert. Ich weiß es nicht genau, weshalb. Vielleicht ist es doch verborgene Lust, die sich nicht hat getraut, aus mir hinauszugehen. Ich weiß es nicht genau. Deshalb ich bin sehr froh, darüber zu sprechen. Mit anderen getraue ich es mich nicht. Bien – mit zwei, drei Menschen habe ich es getan. Streng wissenschaftlich, naturellement. Vrai. Mais – es ist ein sehr interessante Phénomen, das ich empfinde – an mir.«
»Inwiefern?«
»Daß es mich interessiert. Während es mit die Sexualité per se nicht ist der Fall.«
»Ein Fall für die Psychologie vielleicht?«
»Idiot. Doch vielleicht hat meine liebe Idiot recht. Er kriegt eine Belohnung.«
Ich erhalte eine vielleicht etwas ungerechtfertigt große, intensive. »Gerne plappere ich weiterhin für solche Honorare für mich hin.«
»Es ist inzwischen die Pornographie auch in die Feminisme nicht mehr so sehr umstritten. Du weißt es?«
»Nein. Naziza. Ich sagte es. Ich habe mich damit nie beschäftigt. Das ist ein Stück Alltäglichkeit, das mich nicht zum weiteren Nachdenken veranlaßt.«
»Du hast keinen film de pornographie?«
»Daß Du die nicht entdeckt hast bei mir?!«
»Didier. Das ist impertinent! Ich bin kein Spion in Deiner Wohnung gewesen!«
»Nimm’s doch nicht so ernst! Ich mein’s ja nicht so, Liebes. – Ich hab Dir ja gesagt, daß ich die meisten eher mies finde. Ich hab mal welche gekauft. Drei, vier. Und da ist einer dabei, der ein bißchen was an Handlung hat, was über die monotone Fickerei, dieses Rein und Raus und Spritzen – was ich wirklich als unangenehm empfinde – et cetera hinausgeht. Ich find’s nur widerlich. Nein – fade. Und dann ist mein Interesse daran erlahmt. Ich habe andere Vorstellungen.«
»Es sind diese Filme, von denen Catherine Breillat das hat gesagt: Filmt man Sexualité pure, ist das nichts besonderes. Es ist wie Frankenstein. Nichts ist menschlich dabei. Ihm fehlt die Seele. Und da meine Didier-Cheri Seele benötigt, er mag das nicht.«
»Das mag sein. Catherine Breillat? Ist das die Frau, die diesen sogenannten Skandalfilm gemacht hat? Fick mich heißt er, glaube ich.«
»Non. Baise-moi ist von Virginie Despentes und Coralie Trinh Thi. Er gefällt mir nicht. Er ist Gewalt. Auch wenn es vorgibt, dagegen zu sein. Es sind zwei Frauen, die Männer morden, nachdem sie gebumst haben. Non. Ich mag diesen Film nicht besonders. Catherine Breillat – sie ist auch femme de lettres – hat Romance X geschrieben und gefilmt. Man hat diesen Film auch als eine scandale bezeichnet. Es ist sehr simple. Vielleicht auch dumm. Denn es ist eigentlich ein Liebesfilm. Mais très triste.«
»Liebe ist doch immer traurig.«
»Ist sie das?! Was wir hier machen, das ist traurig?!«
»Ach ja. Ich hab mal wieder geplappert. Und gemeint habe ich wohl, daß sie meistens traurig endet ...«
»Didier! Qu'est-ce qu'il y a?! Haben wir dieses traurige Ende nicht beendet mit einem neuen Anfang?! Das ist défaitisme! Protestation bruyante! Ich besteige sofort die Barricade, die heißt Didier.«
»Was Du fortwährend tust. Und es wäre kein unangenehmer Protest, ein wahrlich zu ertragender, im besten Sinne. Doch, ja. Du hast ja wieder mal recht. Es ist schrecklich mit meinem dummen Gerede. Entschuldige bitte. Ich hab's nicht so gemeint. Also, was hat es mit diesem Film auf sich? Was ist es? Doch kein Porno?!«
»Man hat es ihr vorgeworfen. Ich kann es nur wiederholen – dumm. Wer es sagt, kann nicht reflektieren die Inhalte. Oder ist diese Entgegnung obligatoire, nach der alles, was zu tun hat mit Sexualité, ist gegen Menschen gerichtet. Das ist noch mehr dumm. Ich empfinde ein Scène in einem film, das falsche amour d’romantique, eine angeblich reine Liebe zeigen soll, jedoch nur trivial ist und auch noch schlecht gespielt, viel mehr gefährlich für die Entwicklung eines – jungen? älteren? – Menschen als ein Film, in dem sehr frei zärtliche Sexualité gezeigt wird. Zärtlich! Hardcore – das ist anderes, über das gestritten werden kann. Es ist eine Frage nach der Weise der Interprétation. Oui, es gibt Sexualité. Denn es geht um Sexualité. Und fast ist es unsere Thema.«
»Hat am Ende etwa Pygmalion mitgespielt?«
»Sot! Doch vielleicht hast Du sogar recht. Platon und Circe und Sigmund Freud spielen auch kleine Rollen darinnen. Eh bien. Ein junger Mann liebt seine junge Frau so sehr, daß er nicht mit ihr schlafen möchte. Er sagt es so. Er sagt – alles unsere Thème, ein wenig –, er liebt sie geistig. Doch sie hat große Lust – wie ich. Allerdings schläft mein junger Mann mit seiner jungen Frau. Zum Glück. Für beide. Und für die Liebe. Mais – es ist ein gute, sensible Film.«
»Läuft der noch?«
»Vielleicht in irgendeine cinema en nuit, dernière seance. Wir müssen schauen. Doch wir können kaufen ein Video von diesem Film.«
»Nee, ‘n DvD. Dann haben wir alle Sprachen.«
»Du mußt Français haben! Die anderen kannst Du.«
»Das halte ich nun für leicht heftig übertrieben. Aber es ist doch ohnehin hinfällig, da alle Sprachen drauf sind auf diesen Scheiben. – Also, machen wir. Kaufen wir. Aber? Kein Porno? Oder weshalb kommst Du darauf? Jetzt, im Zusammenhang mit Deinen Pornographievorhaben.«
»Didier, ich habe mich zu korrigieren. Es stimmt nicht. Es ist kein guter Film. Non. Es ist eher ein schlechte. Die Personne sind zu sehr cliché, à une dimension. Vielleicht ist das Feminisme. Dann ist es diese Feminisme, die verhindert einen Dialogue. Der Mann ist extrême trivial formuliert. Er ist mehr ein Caricature von einem Mann. Er hat eine Vision von Liebe, die außerhalb der Sexualité liegt. Und sie ist eine Frau, die Sexualité benötigt. Sie liebt ihn sehr, doch sie möchte ihn auch matérielle. Er weigert sich in eine, wie ich das meine, façon pubertaire. Sie betrügt ihn deshalb. Als er es spürt – es spürt, er weiß es nicht! –, schläft er einmal mit ihr. Sie bekommt von einem Tropfen Sperma ein Kind. Das ist, wie ich es meine, eine extrème Réduction...«
»Weshalb meinst Du – extrem reduziert?«
»Tiré par les cheveux.«
»Haare hab ich verstanden. Aber ...«
»Puh! In deutsch? An die Haare ...«
»Herbeigezogen?«
»Oui. An die Haare herbeigezogen.«
»Weshalb denn? Ein Tropfen Sperma vermag ganze Armeen gegen die Pornographie zu zeugen.«
»Ouf! Das ist etwas zuviel. Ich bin nicht ganz dumm. Ich weiß um die Möglichkeit einer Multiplikation des männliche Sperme. Dieses jedoch halte ich für übertrieben.«
»Na ja. Da scheinst Du dann doch nicht so richtig informiert zu sein. Es entspricht der Tatsache. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Wie verstehe ich dieses? Du?«
»Ja.«
»Wer? Dein ...«
»Ich möchte darüber jetzt nicht so gerne reden. Nicht grundsätzlich nicht. Aber jetzt nicht. Ein andermal. Mich interessiert jetzt mehr die Geschichte. Bitte.«
»Bon alors. Er weiß, daß er Vater wird. Dann er betrinkt sich nur noch. Er wird Vater, das ist genug für ihn. Es ist so, wie – Du sagst es oft – Lieschen Müller sich das vorstellt. Banal. Oder vielleicht eine Stufe über diese Art von Banalité wie bei diesem Schauspieler, von dem Du hast erzählt – eine Art der Extraversion via ein Kind. Jedoch, wie gesagt, unsere Thème – der beseelte und der nicht beseelte Geist. Sie hat en fin de compte ein essai médiocre daraus gemacht. Der Mann will allein sein. Er möchte denken. Und jagen. Die Frau hat zu gebären. Sie tut es dann und ist – am Ende – zufrieden. Auch weil sie ihn hat getötet durch eine Gasexplosion. Sie hat ihr Kind, und er ist in seinen, wie Du es nennst, geliebte Jagdgründe. Es sind, wie heißt es – Versatz ...«
»Versatzstücke.«
»Oui, Merci. Es war das Thema, das mich hat sehr interessiert. Der Anspruch ist ein sehr hoher. Allerdings es bleibt bei diesem Anspruch. Denn sie hat die Philosophie – vielleicht ihre Philosophie? – nicht binden können. Und ihr Stand des Wissens ist nicht weit oben angesiedelt. Möglicherweise doch, aber sie hat es nicht hineinkomponiert. Es ist eintönig, nicht subtil. Es hat keine Töne dazwischen. Pareil. Der scandale nach außen vielleicht ist auch, daß ein Pornoschauspieler eine Hauptrolle hat. C‘est rien d‘extraordinaire. Es gibt auch nicht so viele Scènes der Sexualität, wie man kritisiert. Doch, es gibt Critique von eine junge actrice de Pornographie. Sie nennt sich Ovidie und studiert Philosophie. Sie sagte zu Romance X, es sei ideologisch gesehen noch mehr Sexismus als ein normale Porno, weil darin Sexualité als nicht gesund dargestellt werde. Ich habe das nicht so gesehen und finde auch dieses Argument nicht sehr intelligent. Doch mich hat es eben interessiert – weil es mich geschmerzt hat. Kurz, es geht als Thème darum, daß – puh, ich möchte es fast nicht sagen! – romantische Liebe Menschen kann voneinander entfernen. Oder trennen.«
»Etwa, weil er nicht mit ihr bumst?«
»Oui.«
»Was hat das mit Romantik zu tun? Das ist doch Quatsch. Allenfalls Psychoanalyse auf vorgestrigem Stand ist das. Vielleicht auch: der Mann auf dem Weg zum Verlust seiner Mitte. Das ist zur Zeit wohl das Thema schlechthin. Oder es ist – mal wieder – diese mißverstandene Romantik. Von mir aus – die Leiden der jungen Goethe-Ururur-Enkel. Der postpostpostmodernen.«
»In diese Richtung geht es. Oui. Ich habe zwei Interviews mit ihr gelesen. Sie haben mich inspiriert, den Film zu sehen. Doch ihre Worte sind mit mehr Aussage versehen als der Film. Sie sagt, par exemple: Man muß die Tabus hinter sich lassen, doch die anderen lassen einen das nicht tun. Sie zwingen dich in die Grenzen der Tabus, dorthin, wo sie stehenbleiben, dorthin, wo es häßlich ist, und lassen dich nicht zu dem Schönen vordringen. Ich habe erkannt, sagt sie, daß man völlig verschweigt, daß Sexualité uns überhaupt nicht beschädigt, sondern im Gegenteil ein Amorçage, eine Intitialzündung ist, die uns Zugang zu uns selbst gewährt ...«
»Das ist aber nun doch wirklich ‘ne Binsenweisheit.«
»Oui, Didier. Doch solche Worte können dazu beitragen, daß man ein Buch kauft oder in das Cinéma geht. Obwohl ich es alles weiß, hat es mich animiert. Sicher ich habe gehofft, zu einer neuen Erkenntnis zu gelangen. Mehr noch, wenn man hört, was Breillat sagt: Die Lust einer Frau trägt sie in einen Bereich des Wunderbaren, sie zieht sich totale vom Mann zurück. – Es gibt dazu im Film ein paar sentences metaphorique. – Also so sehr, daß der Mann bei die Sexualité aufhört, Mann zu sein – er ist nur noch érection. Sie sagt, der Orgasmus der Frau sei einer, der sie auf eine Art jenseits ihrer selbst bringt. Und es stimme, daß der Orgasmus des Mannes ein kleiner Tod sei. Vielleicht liege es daran. Vielleicht ist die körperliche Liebe keine Liebe. Vielleicht gibt es nicht diese verzweifelte Verschmelzung zweier Wesen zu einem einzigen. Vielleicht ist es nur ein weiteres Sichentfernen von Mann und Frau, da er stirbt und sie in ganz andere Gefilde sich entfernt. Das sei es, was so merkwürdig anmutet. Für die Frau. Für sie sei es ein Weg zur Transzendenz. In Folge versuche man, ihnen zu verbieten, diesen Weg zu nehmen. Eh bien. Vor ein paar Minuten zuletzt ich habe für ein lange Zeit zuvor das Gegenteil erlebt. Extactement. Und es war sicher auch früher mit Dir so. Wenn es nun auch noch schöner ist. Doch ich habe mit daran gedacht, ob es ein Grund gewesen sein könnte zu Deine Flucht vor mir. Ich habe daran gedacht, ob es könnte sein, daß ich Dir zuviel abverlange. Oder zu wenig? Und das ist es, was ich möchte vermeiden, mon amour!«
»Indem wir einen Porno mit uns als Hauptdarstellern drehen?«
»Fou! Indem wir es betreiben. Doch Du wirst es mir immer sagen, wenn es Dir zu viel wird! Ich bitte Dich darum! Keine Angst möchte ich haben müssen! Vielleicht es kann mir ja auch einmal geschehen, das mein Körper sie einmal nicht braucht für ein paar Minuten, die Liebe. Doch gerne immer, die Liebe. Mit Seele und Körper. Die Liebe benötigt es, weil wir es benötigen. Es ist die déclaration von Breillat. Non. Besser, es ist, wie sie sagt: Keine Liebe besteht lange ohne körperliche Liebe. Sexualité, sagt sie, ist mental! Denn das, was man dabei macht, ist die transfiguration totale dessen, was concrete geschieht und auch mit dem Körper. Ich wiederhole es – bis vor kurze Zeit ich habe es erlebt. Mit énorme Gefühle in Körper und Seele und Geist. Das möchte ich festhalten. Es besser machen. Eh bien – es ist ein Idée. Es gibt überhaupt seit einige Zeit pornographische Filme von Frauen. Vielleicht sie würden Dir besser gefallen. Vielleicht?«
»Wie bitte? Was Du alles weißt! – Ich habe davon gehört. Irgendwann kam mal was in einem Kulturmagazin im Fernsehen. Ich glaub, auf 3sat oder sogar in Arte. Ja, dort war's wohl. Ein Themenabend.«
»Du siehst. Es ist présentable. Wir befassen uns stricte wissenschaft – l –ich damit!«
»Ja ja. Der Beitrag hat mein Interesse geweckt. Er enthielt ein Portrait einer Regisseurin. Sie macht interessanterweise normal Spiel- und, ich glaube, Werbefilme. Leider habe ich den Namen vergessen.«
»Eine deutsche Frau?«
»Ja. Ich glaube es. Sicher sogar.«
»Dann es ist Corinna Rückert. Sie ist nicht aus die Publicité. Sie hat eine Dissertation geschrieben zu diesem Thema, zu Pornographie. Zur Rezeption von Pornographie. Und dann sie hat selbst einen Porno gedreht. Er ist jedoch unglaublich schlecht. Er operiert mit dieselbe Versatzstücke wie die andere. Mehr noch. Es ist auch in die Form eine misérable Porno. Doch da Corinna Rückert diese Film nach ihre wissenschaftliche Erkenntnisse gearbeitet hat, er mußte vielleicht so sein. Schlechte Bilder. Schlechte Licht. Schlechte Acteurs.«
»Meine Güte! Und was Du alles weißt und kennst. Ja, davon ist wohl die Rede gewesen. Was es alles gibt. «
»Ich habe gesagt, daß es mich interessiert. Ich habe mir diesen Film besorgt. Aus Deutschland.«
»Also, ich habe Quellenforschung betrieben, habe daraufhin auch danach gefragt. Aber niemand konnte mir Auskunft geben. Niemand ist falsch. Ich habe in zwei oder drei einschlägigen Läden danach gefragt. Aber dort wußte man nichts. Logisch. Dann habe ich’s gelassen. Doch, im Internet habe ich nochmal nachgeschaut. Null. Nur überall diese ganz üblen brunzdummen Fickgeschichten.«
»Wo hast Du geschaut? Es gibt sehr viel! Zu diesem Thème. Sogar über Corinna Rückert. ich habe einiges gefunden. Einiges! Und die Adresse, von dort ich konnte erhalten den Film.«
»Also, ich hab nix gefunden. Nur immer diese dämlichen Angebote.«
»Dann hast Du nachgesehen unter Porno. Wie ein Mann. Und nicht unter Pornographie. Wie ein Mensch. Ich bin sicher.«
»Oh je! So blöd bin ich. Siehst Du, Du hast einen lebensunfähigen Mann geheiratet. Keinen Menschen.«
»Non non. Du bist vielleicht nicht so sehr ein Expert dans internet. Doch Du bist sehr lebensfähig mit Deine Frau. Das ist wichtiger. Du nimmst mich. Du betreibst Deine Recherche in mir. Ich erledige das Internet. Bon?«
»Wunderbar. Du übernimmst den ganzen Mist. Geld, Buchhaltung und Internet. Wie Du angeboten hast. Und ich darf endlich leben. Mit dem Rest, der mir noch übrigbleibt. Wenn's mir zu schlimm wird, ziehe ich den Stecker raus oder schmeiß den Computer in den Müll und ich mich auf Dich.«
»Du wirst nicht wegwerfen müssen den Computer. Es wird nicht notwendig sein. – Lasse mich zurückgehen. Es gibt ein Gruppe von Frauen, die in der Pornographie eine neue Möglichkeit der Entfaltung von Sexualité sehen. Gegen diese spröde, non, gegen diese menschenfeindliche Politik der Verbote. Auch. Schon für Lust. Doch auch, um damit Gewalt zu reduzieren.«
»Also, ich muß Dir ganz ehrlich sagen, Liebes, daß dies nicht eben eines der vordringlichsten Denkprobleme meines Lebens darstellt. Ich mach’s lieber. Sehr lange hab ich’s gar nicht mehr gemacht. Und jetzt um so häufiger und schöner. Jawoll!«
»Wie? Nicht mehr gemacht?«
»Na – Liebe gemacht. Wir haben doch darüber gesprochen. Ich hatte meine Sexualität abgeschaltet ...«
»Wie ich meine auch.«
»Ja. Wahrscheinlich war das eine telepathische Gleichschaltung unserer Hirne. Irgendwer oder irgendwas teilte ihnen mit, daß es erst dann wieder gehen darf, wenn wir übereinander herfallen können. – Aber ich bin schon sehr erstaunt über Deine Insistenz.«
»Ich bin für mich selbst ein wenig erstaunt. Nun es bricht aus mir heraus. Doch ich fühle es als angenehm, zu sprechen darüber. Vielleicht es liegt tief in mir. Nicht unbedingt wissenschaftlich. Verborgen. Es darf nun hinaus.«
»Kommt daher Deine Vorstellung von einem Film?«
»Ich weiß es nicht. Es ist eine Ahnung. Es ist möglich. Ich erfahre Neues. Es ist ein Austausch mit Dir, der mich macht offenbar sehr mutig, auch es macht mich voll mit Neugier. Es ist intimité, faire l’éxpérience de sexualité aus einer Liebe. Es ist wie Leben in die Fantaisie. Es ist mächtig. Und ich glaube, daß es mir würde Freude machen, einen Beweis zu führen über eine bessere, andere Qualité. Andere! Für uns. Ich muß mich nicht beweisen vor oder für andere. Ich möchte es gerne mit uns für uns machen. Ich glaube, es wäre ein gutes Gefühl, das zu wissen, daß wir es können. Es sprengt, so glaube ich, auch ein Fessel.«
»Also, ich hab nix dagegen. Wenn Du möchtest. Warum sollten wir ausgerechnet das nicht tun? Es ist alles erlaubt. Es ist alleine unsere Affaire. Doch es wird an unseren finanziellen Möglichkeiten scheitern.«
»Weshalb dieses. Wir können immer.«
»Den Eindruck habe ich mittlerweile selbst. Es ist schon erstaunlich, was Du aus mir herausholst. Im wahrsten Sinn des Wortes. Nein. Ich meine das Equipment. Ich bin Perfektionist. Zumindest Perfektionist des Mittelmaßes. Und ein solcher benötigt eine entsprechende technische Ausrüstung. Wenn ihm das Improvisationsvermögen fehlt.«
»Didier! Nun Du sprichst wieder coquette. Oder dumm.«
»Ach was. Naziza, was soll's. Es ist eine Tatsache. Ich kann das eine, andere können das andere. Ich bin kein großartiger Kreativling. Das tangiert mich aber auch nicht. Nicht mehr, sagen wir mal so. Es macht mir auch nichts aus, Mittelmaß zu sein. Solange es ein gutes Mittelmaß ist. Anhebung des Niveaus. Ortega y Gasset. Es macht mir auch Freude, wenn andere Leistungen erbringen, die ich – meinetwegen – als gut beurteilen kann, weil ich über ein gewisses Maß an Bildung und über ein – eben mittlerweile geschultes – Unterscheidungsvermögen verfüge. Und an denen ich auch noch Spaß habe. Aber deshalb muß ich doch nicht auch noch ein Genie sein. Ich bin's nicht. Es mag früher kokett gewesen sein, wenn ich sowas geäußert habe. Heute ist es das nicht mehr. Und es geht mir gut bei dieser Erkenntnis. Und auch das mit dem Perfektionismus – gut, das klingt ein bißchen dümmlich. Aber ich meine es ernst damit. Ich versuche schon, daß richtig zu machen, was ich mache. Gleichgültig, ob Porno oder kunsttheoretische oder kulturjournalistische Abhandlung. Wenn jemand anderer kommt und macht heitere Improvisationsverschläge – dafür bin ich immer offen. Das war ich aber immer. Also. Für meine Vorstellungen von Qualität brauchen wir entsprechendes Filmgerät. Ich will das auch selber anschauen können, ohne zu würgen. Wegen der miesen Qualität. Der technischen, meine ich. Du hast es gerade angesprochen. Das Gerät haben wir aber nicht. Und es ist teuer. Sehr teuer. Und unsere Filmmenschen können wir schlecht bitten, uns mal eben sechs – sex! – Kameras zur Verfügung zu stellen, um unseren Heimporno drehen zu können.«
»Was sagst Du? So viele Kameras? Man benötigt es nicht.«
»Die Ansprüche, die wir stellen – na gut, die ich stelle – erfordern dies wohl. Oder aber auch, nachdem Du Kritik an dieser Frau Doktor als Pornoregisseurin angemeldet hast, stellst Du sie auch. Denn da wir keinen Kameramann oder auch keine -frau wünschen und die Kamera auch nicht selber zu führen in der Lage sind, da wir uns als Akteure im Getümmel befinden, brauchen wir mehrere Kameras. Eine für Naziza von unten, eine für Naziza von oben, eine für den Zauberhintern und sein Umfeld. Und drei für mein Naziza-Gesicht. Das schönste von allem. Compris?«
»Du bist eine Fou! Wollen wir es nicht einmal versuchen nur mit eine? – Ah – und ich habe ein Idée!«
»Die da wäre?«
»Wir können eine Film machen von meine Bauch, wie er wird größer!«
»Du kommst auf Ideen. Ein Porno mit Folgen. Mit mehreren. Ein Seifenporno. Nee. Wie heißt das jetzt. Ah! Docu-Soap. Eine ganze Woche täglich Arte-Vorabendprogramm für zuhause. Oje. Außerdem bist Du Deiner Sache aber sehr sicher!«
»Ich habe es gesagt. Und auch, daß wir haben zu eine Sicherheit nun zwei Tage.«
»Au weh! – Doch nun, mir ist gerade was eingefallen – écoute.«
»Oui. Ich bin zwei Ohren!«
»Mir fällt ein, daß ich vermutlich nach Dir geforscht habe auf meiner damaligen Suche nach einem Porno, der mir gefällt.«
»Si je comprends bien – Du hast mich gesucht nicht auf dem marché de esclave du Jacques Prévert, sondern auf dem Pornomarkt? Bist Du verrückt geworden? Hast Du gedacht ...«
»Ach! Naziza! Nein doch. Ich meine damit, daß ich – jetzt bin ich fast sicher, daß es tatsächlich so war – auch so nach einem ganz bestimmten Bild, sprich nach einer ganz bestimmten Frau gesucht habe. So, wie es mich immer gerissen hat, wenn eine in meine Nähe kam, die Dir auch nur entfernt ähnlich sah. Wie gesagt – ohne es zu wissen. Und danach hatte ich, neben meinen Herz-, auch sexuelle Gelüste.«
»Du meinst, Du hast gesucht nach einem Abbild von mir?«
»Genau das meine ich. Wenn ich jemanden gesehen habe, der Dir vom Typ her nahekam, hat es mich immer ziemlich durchgeschüttelt. Ich kann das anders nicht erklären. Gewußt habe ich es jedenfalls nicht. Es muß aus meinem Unterbewußtsein, aus dieser verschütteten Erinnerung hochgekommen sein. Zumindest bruchstückhaft. Ich bin mittlerweile völlig sicher.«
»Nun weiß ich nicht – soll ich lachen oder weinen.«
»Ach, ich doch auch nicht. Am besten, wir machen’s mit unserer mittlerweile bewährten Methode – beides. Auf jeden Fall ist es so – ich habe ein Video, bei dem eine Frau mitwirkt, die alleine dadurch – schon wieder im besten Wortsinn – ausgezeichnet ist, daß sie diese schönen schwarzen Sterne auf der Haut hat. Auf dem Hintern. Auch.«
»Und Du hast ...«
»Ja. Das habe ich. Es ging nur mit ihr. Gut, in diesem Streifen geht es insgesamt sanfter zu. Nicht gerade zärtlich, aber behutsamer. Und die Gesichter sind nicht ganz so dümmlich. Deshalb werden sie wohl auch gezeigt. Nicht ausnahmslos Geschlechtsorgane. In diesen Gesichtern spielt sich sogar etwas ab. Ein wenig. Offenbar also schon ein Porno für gehobenere Ansprüche.«
»Du sprichst wie Corinna Rückert. Es sei dieses, was Frauen sich wünschen von einem Porno – mehr Gefühl, mehr Handlung, mehr Gesicht, exact, wie Du es sagt. Dies sei primaire das Résultat von ihre Forschungsarbeit. In der Praxis ist ihr das nicht gelungen.«
»Nun gut. Wie auch immer. Ich kenn das Ding ja nicht, kann es nicht beurteilen. Mir scheint allerdings, je länger ich darüber nachdenke – ich habe damals Dich gemeint. Und jetzt frage mich bitte nicht, ob Du schöner bist!«
»Bin ich es?«
»Oh! Naziza. Erstens ist das eine Pornodarstellerin. Wobei mir das völlig wurscht wäre ...«
»Vrai?!«
»Wenn Du so direkt fragst, bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher, ob ich das aushalten würde. Also, zweitens bist Du das nicht. Drittens bist Du eine Liebende, womit Du viertens schon von Hause aus schöner bist. Und fünftens bist Du meine Naziza. Was sechstens erschwerend hinzukommt.«
»Und zum siebten?«
»Charogne! Weil ich Dich, mein Rabenaas, liebe.«
»Und wo ist dieser Hintern von diese andere Frau?«
»Wie? Ich verstehe Dich nicht?«
»Ich will ihn auch sehen.«
»Was willst Du sehen?«
»Diese Frau. Mit der Du ...«
»Jetzt spinnst Du aber ernsthaft!«
»Non. Didier. Es ist nicht schlimm. Es ist kein Eifersucht. Wenn Du dieses meinst. Ich bin nur voller Neugier. Es interessiert mich.«
»Na, wo wird der sein?«
»In die Karton mit den Büchern?«
»Das vermute ich jetzt dann doch wohl eher nicht, daß die beiden auch noch die drei Pornos eingepackt haben.«
»Ich will nur diesen einen sehen. Diese Hinterteil, mit dem meine Mann hat sich vorgestellt, es sei sein Frau, und dann hat masturbiert darüber.«
»Liebes, ich muß Dich desillusionisieren. Ich habe nicht an meine Frau gedacht! Zu diesem Zeitpunkt wußte ich ja nicht, daß ich eine so wunderschöne Ehefrau habe mit einem noch viel entzückenderen Hinterteil. Ich habe mir vorgestellt, daß dies die Frau sein könnte, die in meinem Kopf herumspukt. Sag ich mal – der Körper dieser Frau. Meine Vortraumphase beschäftigte sich dann jeweils eher mit bekleideten Damen.«
»Mit mir?«
»Eben nicht. Naziza, mach's mir doch nicht so schwer. Sie wechselten. Mein Vortraum befand sich immer auf der Suche nach Dir. Ohne Dich zu kennen. Deshalb war er wohl geistig promiskuitiv, einseitig weiblich philantropisch. Ein bißchen. Aber die Damen sahen Dir schon immer sehr ähnlich. Endlose Gespräche habe ich mit ihnen geführt. Und sie waren Dir vor allem – das ist sicher! – alle wesensähnlich. Und das ist ja das Verrückte daran. Und ab und zu, eher selten, hatte ich dann Lust, mir diesen Körper anzuschauen.«
»Ich muß ihn sehen!«
»Du bist unglaublich! Er ist hübsch, aber die Wirklichkeit ist sehr viel schöner. Denn nun weiß ich ja, daß diese luftige, innen bis unmittelbar unter dieses zarteste Obergewebe saftstrotzende Birne in meinem Garten Eden eben nicht nur blüht und glüht, daß sie in meiner Wirklichkeit noch um einiges reizvoller ist als dieses virtuelle Dings da. Hätte ich gewußt, daß ich einen so zauberhaften Arsch mitgeheiratet habe, hätte ich mir den schicken lassen.«
Es stehen etwa einhundertfünfundsechzig Zentimeter auf und posieren, als ob es die Münchner Oktoberfestwalküre wäre. Sehr bedrohlich. »Du hast also einen Arsch geheiratet, den Du Dir hättest schicken lassen – par poste comme paquet?!«
Glücklicherweise lacht diese Rachegöttin dabei. Ich kann sie also mühelos an der zarten Fessel packen, ihr das Bein leicht einknicken und sie wieder zu mir herunterziehen. Vorsichtshalber küsse ich sie ein wenig hinauf und hinunter.
»Es war nun auch très pressant, Dich auf diese Weise zu entschuldigen bei diesem Rest von diesem Arsch. Doch nun mußt Du ihm auch ein wenig geben. Diese echte Hinterteil. Und bei diesem mußt Du nicht masturbieren.«
»Das ist wohl zutreffend. Da kann mir Moravia gestohlen bleiben mit seiner Feststellung, die Selbstbefriedigung sei der einzige Sexualakt, der etwas mit Kultur zu tun habe, weil er ganz aus der Phantasie komme. Ich komme somit herrlich ohne Kultur aus, weil ...«
»Schau ihn an.«
»Eben habe ich gerade gedacht, daß ich den nun wirklich nicht nur anschauen muß, sondern ihn ...«
»Doch! Schaue ihn an! Du sollst ihn nie wieder aus Deinem Kopf verlieren!«
Ich begrabe sie nun unter mir und versuche, ihr über alle möglichen neckigen Frivolitäten wenigstens ein kleines Etwas dieser Unbeschwertheit zurückzugeben, die sie mir vermittelt. Nie bleibt sie mir auch nur ein bißchen was schuldig. Ich kann machen, was ich will – ich erhalte es zurück.
»Cheri. Darf ich ihn trotzdem sehen – diesen Hintern?«
»Ich dachte, wir filmen Deinen ab!«
»Es ist etwas anderes!«
»Er ist ein anderer. Richtig. Doch sag mir, was Dich daran so brennend interessiert? Du weißt doch, wie ein abgefilmter Hintern und sein Drumherum aussieht.«
»Es ist nicht irgendeiner. Es ist derjenige, der meinem Mann Lust verschafft hat. Und ich will sehen, wie es geht.«
»Jetzt wird's absurd. Du bist es doch, die mir Lust verschafft. Dein Fleisch, Dein Blut, Dein Saft. Der meinen Saft fließen läßt. Meinen Lebenssaft. Das andere ist eine Möglichkeitsform. Von der ich mir einfach nicht vorstellen kann, daß Du Dir wünschst, daß ich sie mir wünsche.«
»Vielleicht möchte ich im Bild sehen, wie Du in mich hineingehst.«
»Aber das ist Dein Hintern. Und der im Bild ist der einer anderen Frau. Dann müssen wir Deinen Hintern abfilmen und mich dazu, wie ich in ihn oben und unten ...«
»Didier. Vielleicht ich bin doch eifersüchtig und getraue mich nicht, es zu sagen.«
»Und dann willst Du Dich mit diesem Anblick selbst kasteien? Ich versteh Dich nicht. Wirklich nicht. Du bringst mich völlig aus dem Lot damit. Ich kann mir eher weniger oder es als nicht sonderlich vorteilhaft vorstellen, daß es ein lustvoller Anblick für mich wäre, Filmaufnahmen anschauen zu müssen, in denen ein anderer Mann meine Naziza begattet. Oder anders – den Teufel würde ich tun. Es würde mich zerreißen. Ich würde mich weigern, weil ich genau wüßte, es ließe mich durchdrehen. Also wirklich nicht. Je heftiger ich darüber nachdenke – allein der Gedanke daran macht mich wahnsinnig.«
»Wie wäre es, wenn Du Dich im Bild sähest bei eine Einfahrt in mich?«
»Das läge schon eher im Bereich meiner Vorstellungskraft. Möglicherweise wäre es sogar schön. Und daran habe ich ja auch eher gedacht bei Deinem Vorschlag. Wenn ich überhaupt richtig darüber nachgedacht habe. Vielleicht wäre es sogar lustfördernd. Allerdings schaue ich mir, so glaube ich, schon eher das lebende Objekt an.«
»Je crois, mon amour, daß ich will diesen anderen sehen, um zu wissen, daß ich meinen Didier zurückerobert habe. Ich möchte mich nicht selbst peinigen. Mais, es sehen, gemeinsam mit Dir. Alleine ich würde es nicht sehen wollen. Dann müßte ich daran denken, Du würdest masturbieren bei dem Anblick dieser Frau. Doch wenn wir es sähen gemeinsam, und ich könnte anfassen und streicheln dabei und ich würde spüren ...«
»Du bist ungeheuerlich kompliziert. Dabei bestünde doch die Gefahr, daß mich dieser andere Körper stimuliert, und Du wüßtest es nicht.«
»Du hast recht. Es wäre dieses eine Gefahr. Doch vielleicht will ich auch nur Pornographie sehen gemeinsam mit Dir. Gute Pornographie. Und alles von mir ist nur ein Ausrede. Vielleicht habe ich dann nicht ein so schlechtes Gewissen. Puh! ich weiß es nicht. Ich bin schrecklich. Nicht böse sein mit mir. Ich bitte Dich.«
»Nein, ich bin Dir nicht böse. Du verstörst mich nur. Wenn dem so sein sollte – warum nicht?! Was spricht dagegen. Was willst Du sehen? Andere Männer beim Vögeln?«
»Non! Non! Auf keinen Fall ich will das. Ich will den Akt sehen.«
»Also nur Geschlechtsteile? – Außerdem! Gute Pornographie. Ich weiß nicht, ob es sie überhaupt gibt. Kennst Du denn welche.«
»Non. Ich denke daran, daß es gut ist, wenn es Dir gefällt. Ich will sehen, was so schön ist daran, was mir so wohltut. Und Dir. Das ist es. Während wir zusammen sind, ich sehe es nicht. Ich sehe nichts. Doch ich glaube, daß es ein sehr schönes Bild ist, es auch zu sehen. Deshalb ich will ja das machen. Und ich will schöne Pornographie. Ich möchte solche, in der das zu sehen ist, was uns kennzeichnet ...«
»Was meinst Du genau damit?«
»Ich wollte es gerade zu Dir sagen.«
»Pardon.«
»Diese émotion, diese tiefe sensibilité, le sentiment. Dieses, das ich nur spüre. Im Bild ich möchte es sehen.«
»Das ist ein hehrer Anspruch für einen Porno. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so einen wirklich gibt, bei dem man übers Geilwerden hinaus noch an andere Wärmegefühle kommt.«
»Im Cinéma es geschieht auch! Weshalb auch nicht dabei?«
»Gerade im Kino mag ich es eben nicht, wenn gebumst oder gevögelt wird. Das sieht immer so unsäglich dümmlich aus. Es wirkt auf mich unwirklich, künstlich. Ich glaube einfach nicht, daß es gelingt, solche Gefühle, solche sexuellen Gefühle zu spielen. Das Nirwana ist nicht abzufilmen. Niemand kann das. Das glaube ich zumindest. Wirkliche Gefühle auf die Leinwand zu kriegen, dürfte kaum möglich sein. Vielleicht bin ich naiv, wenn ich sage, daß ich mir einfach nicht vorstellen kann, daß man beim Drehen eines Pornostreifens diese schiere Geilheit ausschaltet und Gefühle spielt. Dann müßten es ja schon außerordentlich gute, nachgerade exzellente Schauspieler sein. Gut, einem Paar könnte es gelingen. Aber Gefühle? Liebesgefühle?«
»Wenn wir uns filmen? Unsere Liebe?«
»Das ist es ja doch, was ich Dir sage, Naziza. Wir können das doch nicht drehen. Wir sind doch Akteure, und Betrachter wollen wir keine haben. Deshalb meine ich ja, daß es allenfalls mit mehreren Kameras ginge. Doch selbst dabei habe ich meine Zweifel. Selbst bei zehn Kameras. Und der nächste Punkt – das müßte alles geschnitten werden. Es ist etwas anderes, als sich einen fertigen Film in seiner – möglichen – Schönheit anzuschauen. Das wäre ungeheuerlich harte Arbeit. Du müßtest beim Schneiden mich, sag ich mal so, fünfzigmal aus Dir herausholen und wieder hineinschieben, um die Szene so zu schneiden – Schnitt – Gegenschnitt – Umschnitt et cetera –, daß es eine sehens- und lustmachende würde. Doch Du wünschst Dir ein Vergnügen dabei. Das hast Du nur bei einem geschnittenen Film.«
»Du bist ein schrecklicher Realist. Doch es ist gut so. Wie kann man es also machen, daß es schön wird? Für uns.«
»Das kannst Du nur machen lassen.«
»Wie? Von eine andere?«
»Ja. Wie denn sonst? Also, ich sag's Dir ganz ehrlich – ich möcht's nicht machen. Es würde mir alle Freude vergällen. Anschauen, den fertigen Film – ja, vermutlich gerne und mit viel Freude. Also machen und dann lachen. Freude haben daran. Aber möglicherweise mehrere Stunden Material schneiden. Nee. Da vergeht einem ja die Lust.«
»Puh! Didier, darüber habe ich nicht nachgedacht. Ich war wieder einmal sehr voreilig mit meine Idée. Mit meine Fantasme. Doch ich möchte nicht davon lassen. Auch wenn ich, wie Du es hast gesagt, immer nur die fertigen Bilder habe in meine Vorstellung. Die fertige Bilder von einem wunderschönen pornographischen Film. Der dann nicht mehr ist Pornographie, weil er ist für nur uns. So sage – wie geht es? Ohne daß ich mich ängstigen muß.«
»Ich fänd's nicht so dramatisch, das jemanden schneiden zu lassen. Man kann es einem Profi geben, am besten wahrscheinlich einer Frau, der man die Intentionen vorgibt. Und die schneidet ihn dann. Wir sind ja nicht dabei. Wir erhalten das fertige, das kunstgewerblich handgefertigte Produkt. Und das mit dem Drehen, das könnten wir ja zumindest mal versuchen. Aber eben mit mehreren Kameras. Sonst geht's eben nicht. Beim Bumsen mit Dir jemanden dabei haben – nein, beim besten Willen nicht. Das ist nichts für mich. In diese Intimität will ich niemanden hineinlassen.«
»Es ist nicht so weit von mir dieser Gedanke. Vielleicht ist das eine sehr gute Idée von Dir, die Montage machen zu lassen. Wir machen es jedoch? Unsere Film?«
»Ich hab nichts dagegen. Vielleicht macht's ja richtig Spaß. Das Ergebnis zu sehen. Wenn's denn ein gutes ist. Wir müssen nur sehen, wie wir das hinkriegen, ohne großartig Geld hinlegen zu müssen dafür. Wir können's ja tatsächlich mal als Probelauf mit einer dauerlaufenden Videokamera ausprobieren. Dann seh'n wir ja, wie das aussieht.«
»Und Du wirst auch andere anschauen mit mir? Auch diese eine?«
»Von mir aus. Warum denn nicht. Ich weiß aber nicht, wie ich jetzt an diesen Hintern kommen soll. Und Isaac anrufen und sagen, sie soll mir einen Porno schicken – nee, das traue ich mich dann nun doch nicht.«
»Weshalb? Du schämst Dich?«
»Ja.«
»Puh. Ich hätte es nicht ...«
»Da siehste mal. Ich bin doch verklemmt.«
»Vrai?«
»Ja, sicher doch. Es gibt Dinge, die gebe ich nicht so gerne zu.«
»Weshalb? Aber es ist nicht Scham wegen Pornographie?«
»Nein. Das sicher nicht. Aber daß ich sie habe – dafür schäme ich mich wohl.«
»Das ist ein wenig seltsam.«
»Das finde ich auch. Aber es ist so. Ich wollte deshalb auch mal ganz besonders mutig sein und die Pornos offen hinstellen. Dann bin ich mir aber doch wieder sehr blöd vorgekommem und hab es sein lassen.«
»Das – maintenent –, es würde mich nicht schrecken.«
»Da siehst Du mal den Unterschied. Ich glaube unterm Strich ohnehin, daß Du weitaus weniger verklemmt bist als ich. Nein. Du bist überhaupt nicht verklemmt. Alles andere als das. Im Gegenteil – Du lockerst mich.«
»Das setzt mich zwar in Staunen. Doch es würde mir gefallen, wenn es so wäre. Es würde mir sehr gut gefallen. Vielleicht wir erleben noch etwas Neues gemeinsam. Doch sage mir – worin könnte es eine Ursache haben – dafür, daß Du Dich schämst?«
»Pah! Wenn ich das wüßte. Vielleicht ist ja auch so etwas in mir, von dem Du im Zusammenhang mit Dir gesprochen hast ...«
»Was sollte dies sein?«
»Das doch so etwas wie Erziehungsrudimente durchschlagen.«
»Es könnte sein, glaubst Du?«
»Ja. Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch Eitelkeit.«
»Eitelkeit? Das verstehe ich nicht. Welche Art von Eitelkeit, mon Dieu!?«
»Das einer wie ich es nötig hat, sich Pornos anzuschauen. Wie es in den späten sechziger, auch den siebziger Jahren unter Intellektuellen, und zu denen zählten wir uns Studenten selbstverständlich, auch wenn wir von – ach, du meine Güte, welch ein Bild! – von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten, daß es damals also sogar verpönt war, sich Fußball anzuschauen.«
»Es liegt nahe. Ich habe gelesen, daß man Corinna Rückert gemieden hat an der Universität, nachdem sie ihren pornographischen Film gedreht hatte. Und darüber hinaus sie hat gearbeitet auch noch bei Beate Uhse!«
»Typisch für unsere Gelehrtenrepublik. Da sind wir wieder bei Milan Kundera – die Scheiße nicht sehen wollen. Das ist wirklich Kitsch hoch drei. Diese verlogene Gesellschaft. Und zuhause ziehen sie sich dann einen Porno nach dem anderen rein. Aber ich muß ruhig sein. Im Grunde bin ich ja nicht besser.«
»Didier – toute monde schaut Pornographie. Vielleicht nicht meine Eltern. Mais – weiß man es?«
»Ja. Es ist schon seltsam mit mir. Es ist mit Sicherheit so eine Art Schamgefühl. Oder Scham aus Eitelkeit eben. Auf jeden Fall möchte ich nicht gesehen werden, wenn ich in einen sogenannten Sexshop gehe.«
»Didier – Du gehst in eine Spielplatz für Männer, in ein maison de tolerance, in eine Puff. Dort Du schämst Dich nicht! In eine Sex-shop zu gehen, dafür Du tust es. Tust Du es denn?«
»Eigentlich eher nicht. Ein paarmal habe ich es getan, als ich nach besagtem Video gesucht habe. Da war es mir allerdings schnurz. Und dann hat‘s mich eher nicht mehr interessiert.«
»Gehst Du mit mir dorthin«
»Sag mal – was ist mit Dir bloß los?!«
»Ich will nicht gehen allein dorthin. Und es ist interessant. Ich möchte es einmal sehen, diese Umgebung. Nicht nur Du weißt, wie man Frauen sieht, die dort hingehen. Alleine. Das will ich nicht. Und wir müssen schauen nach diese Cul.«
»Ob wir diesen Hintern wohl hier kurz vor Afrika finden. Weißt Du, wie groß das Angebot ist?«
»Ich vermute, ein paar Millions. Doch wir werden ein paar kaufen? Oui?«
»Warum denn nicht. Aber es interessiert mich schon, weshalb Du dabei so drängst? Du weißt doch wie das aussieht.«
»Es hält sich in Maßen.«
»Wie? In Maßen? Du ...«
»Ich habe, Didier, meinen Mund noch mehr voll gehabt als mit Dir in mir. Ich habe gelogen. Ich habe noch nicht viel gesehen. Immer wollte ich mehr. Diesen Film von Rückert ich habe gesehen. Er war nicht gut. Und Baise-moi. Jedoch dieser ist kein Porno. Auch Romance X ist es nicht. Ich möchte einmal mehr sehen, es wissen, wie es ist. Ich habe mich immer ein wenig geschämt. Ich bin doch mehr verklemmt als Du. Ich schäme mich jetzt sehr. Sehr schrecklich ist das. Puh! Mon Dieu!«
»Wenn er das jetzt gehört hat, Dein Gott, dann wird er laut schallend lachen. Nicht weil Du Dich schämst. Das wird ihm egal sein, wenn er Dein Gott ist. Dann ist er nämlich in Ordnung. Sondern er wird sich kringeln über Deine Manöver, die Du fährst. Meine Güte, ist das komisch.«
»Lachst Du mich nun aus?«
»Nein. Überhaupt nicht. Aber es ist komisch. Die Situation ist komisch. Vor ein paar Stunden hätte ich den noch für völlig bekloppt erklärt, der mir solches ankündigt. Und nun liege ich mit der Frau im Bett, mit der ich seit Jahren verheiratet bin, mit der Frau, die ich mir mein Leben lang ersehnt habe, habe ein lustvolles Gestöbere nach dem anderen – und höre mir an, wie eben diese Frau mich bittet, mit mir Pornos einkaufen zu gehen wie andere Konsumgüter, ja, was denn, ein Halstuch, für mich eine Krawatte oder Chanel Nummer 5. Oder, die mit mir Pornos einkauft, mit deren Hilfe sie beider erlahmente Sexualität wiederbeleben will.«
»Sot! Salaud! Ordure! Mais, alle meine schlimmen Kerle in einem. Du bist wunderbar. Ich weiß, weshalb ich Dich immer geliebt habe. Doch was machen wir? Ich möchte es. Nun darf ich auch das haben. Und nun bin ich sehr froh, daß ich es Dir gesagt habe und Du mich nicht verhauen wirst.«
»Ich Dich verhauen ...«
»Ich weiß es doch. Didier, ich sage es nur, wie Du es sagst. Ich bin Dir sehr dankbar, daß Du alles dieses mit mir machen wirst. Es sind Erfahrungen, die ich auch mit Dir machen darf. Das macht mich glücklich. Gerne möchte ich auch hierbei offen werden, um diese Offenheit weitergeben zu können. Unser Kind, vielleicht auch andere. Nicht nur so tun, als ob ich das alles würde kennen. Es geht nur, wenn ich es selbst erlebe, selbst sehe. Vielleicht macht es auch noch Lust.«
»Da habe ich, wie gesagt, so meine Zweifel. Denn das, was ich bislang gesehen habe, war mehr als dürftig, eher unangenehm. Alles sozusagen auf der Suche nach Dir, denn früher hat mich das überhaupt nicht berührt. Pornos waren mir völlig gleichgültig. Und eigentlich müßten sie es mir jetzt auch wieder sein. Aber wenn Du meinst. Nun gut, wie auch immer – ich glaube nicht, daß es welche gibt, die Deinen Vorstellungen entgegenkommen.«
»Was ist mit diesen, die Du hast? Sie müssen doch gut sein.«
»Nur weil ich sie besitze!? Es sind drei, die ich behalten habe. Ich habe eben immer wieder mal welche gekauft. Die meisten habe ich dann weggeschmissen. Man sieht ja nicht, was man kauft. Auf die Verpackungen kann man sich nicht verlassen. Außerdem steht da ohnehin nur Schwachsinn drauf, eher abstoßender zudem – der allerdings auch ein exaktes Bild vermittelt von den Ansprüchen, die dabei gefordert werden. Und in einem Fall war's dann tatsächlich so, daß sie, wie ich gesagt hatte, geistig nicht ganz so tiefergelegt waren. Wenn die Hülle auch nicht eben einen intellektuellen und gleichermaßen lustigen Höhenflug versprach. Ich habe halt ein bißchen Glück gehabt in dieser Lotterie des schlechten Geschmacks. Es sind nicht gerade hinreißende Dialoge, auch die Handlungen an sich sind eher dürftig. Denn es geht eben immer nur um das eine. Wie auch anders, hattest Du ja zu recht bereits angemerkt. Und diese drei. Nun denn. Der besagte Film hält einen formalästhetisch höheren Anspruch. Es sind durchweg hübsche, gepflegte Frauen, auch ihre Köpfe, ihre Gesichter. Auch die Männer sind zu ertragen. Bis auf einen, den ich gar nicht mag. Aber es ist eher der Typ, der mir zuwider ist, nicht sein Äußeres. So ein türkischer Macho. Die scheinen ja hoch im Kurs zu stehen. Wie im Kino eben auch. Wurscht. Es sind sogenannte Spielszenen, die aber eben immer mit dem enden: das Ejakulieren des Mannes ins Gesicht der Frau oder der Frauen. Das ist es eben, was ich so widerlich finde. Wenn sie mal in den Frauen blieben und Orgasmen in den Gesichtern abfilmten! Das wär's, vermutlich. Für mich. Überhaupt schaue ich mir am meisten Gesichter an, auch die Körper, aber überwiegend außerhalb der primärerotischen Zonen. Ich bin also im Sinne der sogenannten Philosophie der Pornographieproduzenten offensichtlich ein perverser Konsument, da ich mir die Fickerei meistens gar nicht so richtig anschaue. Ich will immer nur Gefühle sehen. Womit wir bei Deinen Worten oder Deiner Intention wären. Und wahrscheinlich mehr. Und vergessen darfst Du dabei auch nicht, daß diese Fickfilmchen ja überwiegend wohl länderspezifisch produziert werden.«
»Du meinst für den unterschiedlichen Geschmack der Régions?«
»Sicher. Die Amis mögen dicke Titten. Die Italiener und Franzosen eher kleine Brüste.«
»Ich glaube es nicht. Wir mögen die goût americaine sehr.«
»Dabei wohl kaum. Aber ich weiß es nicht. Es kann ja sein, daß auch der Porno globalisiert wird. Vielleicht gibt es ja schon einen europäischen Porno. Wie die europäische Kartoffel.«
»Ich traue ihnen das zu in Bruxelles et Strasbourg.«
»Siehst Du – auch hier wird eingeebnet. Bald wird's dann sozusagen eine Gegenbewegung geben – den okzidentalischen, den bretonischen oder den umbrischen Porno.«
»Deshalb müssen wir machen unsere eigenen – exact für unsere Geschmack, einen à la marseillaise.«
»Mit dem Journal La Marseillaise als Schirmherrin und Werbeträger, als Sponsor. Für den Geschmack unserer kleinteiligen Kunstwelt. Du scheinst vor nicht zurückzuschrecken.«
»Fou. Mais. Oui. Didier. Ich möchte es gerne einmal versuchen. Es ist etwas, das kommt aus mir heraus, das ich möchte gerne leben. Und wenn ich es darf maintenent – es ist vielleicht ein neue Welt, die ich kann mit Dir gehen. Es ist ein gutes Gefühl, etwas zu probieren, das ist neu. Mon Dieu – ich bin über vierzig Jahre. Es ist an die Zeit, zu leben! Davor ich habe Angst gehabt.«
»Wirklich?«
»Würde ich es sagen sonst?! Es hat vieles gegeben, an das ich habe gedacht. Mais – oser faire, es ist eine Unterschied ...«
»Es zu tun? Meinst Du?«
»Oui! Nun ich spüre, es ist diese Zeit gekommen. Ich möchte nicht mehr discrètement, unter den Tisch meiner Vorstellung und vielleicht auch Wünsche damit umgehen. Mit Dir kann ich es tun. Es ist wunderbar. Es macht mich frei.«
»Und mich mit dazu!«
»Dann eben! Es ist viel besser. – Es hat schon einen Grund, Didier, daß ich immer wußte, daß Du bist mein Mann. Seit einundvierzig Jahren.«
»Madame belieben mal wieder zu scherzen.«
»Ah! Didier. Es ist etwas daran. Es ist nicht so weit weg. Wir sind pareil – prés identique. Wir haben einen Esprit, über den wir gefunden haben zueinander. Dort beginnen diese Wellen, die schwingen parallèle. Wir mögen viele Objets, Dessins, es gibt viele Gemeinsamkeit bei Musique, Bilder, Bücher. – Wir lieben Sprache ...«
»Die ich nicht kann.«
»Sot! Du kannst großartig. Du bist un mâitre! Und Français wirst Du bald sehr gut können. Et Didier – wir vögeln gerne – ein schönes Wort! Wie freie Vögel. Es kommt davon?«
»Ich weiß es nicht genau. Sicher schon. Ach was, ich weiß es genau.«
»Dann sage es mir.«
»Du hast doch Germanistik studiert.«
»Germanistik! Sot. Wie Du auch. Nicht Sprachwissenschaften. Etymologie.«
»Ist ja gut. Ich weiß es auch nur, weil ich so klug bin wie Herr Kluge.«
»Mon Dieu! Wer ist das wieder – un moment. Ich weiß es. Es ist diese Etymologe. Ich glaube, wir haben dieses Buch auch benutzt. Puh. Didier. ich muß mich schämen ...«
»Warum denn nun wieder? Doch nicht, weil wir vom Vögeln sprechen!«
»Non, weil Herr Vögel – merde. Weil Herr Kluge ebenfalls steht in der rue de l’Évêché.«
»Na bitte – jedem seinen klugen Herrn Kluge. Also – Monsieur Kluge weiß auch nur, daß das Vögeln vermutlich eher neuzeitlich und weniger betulich, also nicht so sehr in unserem Sinne, vom Begatten des Federviehs kommt.«
»Eh bien. Federvieh ist auch Vögel. Wir flattern erst ein wenig in unsere schöne neue Bett, und dann fliegen wir frei wie Vögel. Wir haben viel Lust. Wir machen mit diese Lust und Liebe eine douce fillette pour papa et maman...«
»Oh je. Womit wir vom Huhn auf das Ei gekommen wären. Bist Du mittlerweile sogar sicher, daß wir eine Tochter gelegt haben?«
»Ich habe mein Biologie eine Befehl gegeben, daß mon amour nicht kann leben mit einer Frau alleine, weil er ist ein wenig ein Musulman. Er liebt Frauen. Er braucht sie. Er kann nicht leben ohne sie. Er braucht seine Zweitfrau – la chanteuse. Er braucht eine Drittfrau, die wird ablösen seine Erstfrau – zu dem großen Leid von dieser Erstfrau. Es ist Befehl. Mein Biologie hat anzunehmen diese Ordre. Et – es wird sein, daß Dein Kopf gegeben hat Deiner armée de sperme auch ein Ordre, nur zu entsenden einzelne Kämpfer für das X-chromosome. Es muß ein douce Céleste-Célestine geben. Und diese Maman von diese möchte, daß sie wachsen wird ohne alle Blocage. Daß sie immer kann leben alle Lust und wird haben jede Freiheit. Sie wird sich nicht schämen wie maman et papa. Sie wird frei sprechen über faire l‘amour. Wenn sie möchte sein eine réalisatrice de pornographie, sie wird es werden ...«
»Auch Darstellerin?«
»Bonté divine! Würde sie es machen wollen – würden wir es verhindern? Didier. Wir machen eben hier einen Versuch, zu schaffen einen guten Mensch. Dazu ist es notwendig, daß die Eltern von diesem gute Mensch auch werden gute Menschen. Sie suchen ihre Liberté! Und sie werden sie finden. Dann muß diese Tochter können gehen zu ihre Maman et Papa und sagen, sie will machen eine Porno. Als eine Actrice. Dann werden nehmen Maman et Papa einen tiefen Schluck Luft – ouf ! Mais – sie werden dann zu ihre Tochter sagen, vielleicht wir können helfen. Wir haben eine gewisse, quasi – mais oui – eine bestimmte Erfahrung. Das alte, ganz klapprige Paar von Eltern kann zu seine Tochter sagen – möchtest Du sehen die schönste Porno von alle Zeiten? Wir haben ihn gemacht. Dann wird nehmen unsere Tochter un très-très grand ballon Luft. Wir werden sehr lachen darüber. Das wird sie machen zu einem gute Mensch. Entre autres – auch. Compris?«
»Donnerwetter. Ich glaube, ich habe die beste Frau von Welt geheiratet.«
»Non, Didier. Ich glaube, es ist ein wenig mehr complex! Wahrscheinlich es haben sich zwei Menschen gefunden, die haben eine ganz gute Disposition. Diese tuen sie nun zusammen. Dann wird daraus ein gute Frau und ein guter Mann und eine gute Tochter und vielleicht noch ein gute Sohn, dem man kann geben ein gutes Zuhause mit Liebe. Dann wirst Du haben die beste Frau und ich den besten Mann toutes monde. Und wir sind ein neue Famille. Véritable – d‘un noveau genre! Das ist eine große Wunsch von mir. Du weg von Deine terrible enfance und die ganze Maladie. Ich von diese Bustier, das ich trage trotz alle Liebe, die mir gegeben haben meine Eltern. Es ist vielleicht pathetique – mais, es erfüllt mich mit eine große Freude zu schaffen Neues. In diese Weise. Und ich glaube, wir haben eine Anfang geschaffen.«
»Es klingt ein bißchen träumerisch. Aber ich mag es. Und deshalb ist es wahrhaftig verheißungsvoll, was Du da zum besten gibst.«
»Oui, mon amour. Das Beste. Nicht das meiste Geld. Das Beste! Ich will lieber haben Kinder, die gehen für Geld – sage ich es nun so rude – ficken, als daß sie gehen für Geld Geld machen auf die Kosten von andere – oder für Geld Menschen töten. Ich brauche Menschen, die gehen auf die Straße für andere Menschen. Das ist das Beste. Merde pour la patrie et cetera! Pour le paix! Par amitié pour amitié! Wenn wir nicht machen diesen Fehler von anderen, wir können vielleicht es vollbringen, gute Menschen wachsen zu lassen. Wenn unsere Fillette kommt und fragt nach dem, was Papa hat zwischen die Beine, wir werden es ihr zeigen! Es kann ein wenig spielen damit. Und Maman auch. Maman wird es küssen. Auch die Tochter. Und wenn ...«
»Liebes – das sind die Ideale der Achtundsechziger.«
»Merde! Ich weiß es. Doch Ihr habt gemacht so vieles kaputt! Das hat – Du hast es gesagt, wir haben darüber gesprochen mehrere Male! – richtig geschrieben Houellebecq. Houellebecq ist meine Generation. Auch Finkielkraut – er ist etwa die Deine ...«
»Cherie – er ist um einiges jünger.«
»Oh! Didier. Er ist doch Deine Generation. Du zitierst ihn doch als eine Contemporain von Dir! Von ihm und Bruckner stammt diese désordre amoureux!
»Ach ja. Die neue Liebesunordnung.«
»Siehst Du. Du bekommst noch immer leuchtende Augen. Was sind also ein paar Jahre?!«
»Ja. Du hast recht.«
»Und eben diese Finkielkraut von Le nouveau désordre amoureux, diese soixante-huitard, diese destructeur de valeurs de mai 1968, dieser Finkielkraut hat es gesagt vor ungefähr einem Jahr: Sollte ich eines Tages noch einmal ein Buch über die Liebe schreiben, wäre es wirklich ein Buch über die Liebe – kein Buch über das Liebesleben der Menschen von heute. Damals habe man gehabt Vertrauen in die Zukunft, immer das Neue, le dernier cri sei das Bessere gewesen, auch in der Liebe. Als wir über die Liebe geschrieben haben, sagt er, habe man gewußt, daß die Liebe sich nicht auf eine Suite von historische Formen reduzieren läßt. Nun er glaubt nicht mehr daran, daß das Neue immer gut ist. Es sei keine Verklärung des Alten, er sehne sich vielmehr nach einem Contact zur Vergangenheit. Dabei wirft er den Deutschen vor, sie hätten – haben wir nicht darüber gesprochen, hast Du es nicht gesagt?«
»Was denn bitte?«
»Daß Alain Finkielkraut meinte, die Deutschen seien sehr problematisch, nicht weil sie Auschwitz verdrängen, sondern weil sie permanent daran denken. Und er gibt eine Hinweis auf Hannah Arendt, die gesagt hat: Auschwitz sei nicht der Gipfel, sondern die Zerstörung der deutschen Tradition. Warest es nicht Du?«
»Das ist gut möglich. Ich sehe es so. Ich gebe ihm absolut recht.«
»Bon alors! Heute kriminalisiere man die Vergangenheit und könne deshalb nicht mehr mit ihr kommunizieren. Eh bien – er sieht es. Er sagt, er bekämpft diesen Ethnozentrisme der Gegenwart, so gut er kann. Wie Du auch ...«
»Irrtum. Ich kämpfe nicht.«
»Ah! Didier – sage nicht so Dummes. Naturel Du kämpfst! So viele Texte von Dir habe ich gelesen, die sind Combat! Sie haben sich über die Zeit geändert in ihrer Argumentation, in ihre Raisonnement. Manchmal haben wir gesessen und haben gelacht über Altes, das Du hast geschrieben, über den combattante de bureau. Doch immer hast Du geschrieben für Besseres ...«
»Ich habe lediglich gesagt, mehrfach, daß ich nicht mehr kämpfe.«
»Ah! Du schreibst anders. Das ist alles.«
»Woher willst Du denn das wissen?«
»Auf Deinem Tisch in Deiner Wohnung, in Deine Bibliothèque liegt und steht herum – des masses de articles. Ich habe lange gewartet auf Dich dort. Ich habe viel Zeit gehabt. Es ist normal, daß ich bin neugierig? Daß ich will wissen, was macht diese Mann, der mich hat geheiratet, mit dem ich sehr viel habe gesprochen über das, was wir müssen aufschreiben. Der mir hat gegeben Motivation, es ebenfalls zu tun. Und Isabelle hat mir gesendet zwei neue Essais von Dir über Künstler. Du schreibst complet anders als früher. Die paroles politique sind nicht mehr. Deine Sprache ist opulent geworden, doch auch viel mehr sensible. Manchmal sie ist vielleicht ein wenig zu sehr complexe, mit zu viel Deutung in einem Wort, für Leser, die sind nicht geübt. Es ist jedoch auch die deutsche Sprache, die diese Möglichkeit gibt. In français es ist schwieriger. Doch für gute Leser es ist viel Plaisir. Plaisir du texte! Oui. Doch es ist noch immer Kampf! Zwischen jeder einzelnen Zeile lese ich es. Es ist simplement eine andere Melodie.«
»Es ist schön, was Du da sagst. Es tut mir sehr gut.«
»Ich sage es gerne. Und es macht mich ein wenig stolz, mit diese Auteur als mein Mann. Du bist in Deiner Diction ein ganz anderer als diese neue Auteurs dynamique. Früher einmal hast Du ein wenig auch diese Diction gehabt. Es ist auch anders als das unserer heutige Journalistes. Ich spüre ein Nähe zu, im Esprit, par exemple zu Finkielkraut. Es gibt dumme Menschen, die machen ihm eine Vorwurf, er sei conservatif. Wird man Dir auch diese Vorwurf machen? Ich glaube es nicht. Du wühlst – non, wie heißt es deutsch? Wenn das Schwein – pardon, ich meine nicht Finkielkraut!«
»Wenn Finkielkraut, das Schwein, sich suhlt?«
»Nicht Finkielkraut. Oui. Merde. Ich meine nicht, daß er ist ein Schwein. Jedoch ich meine das Schwein, das sich, oui ! suhlt in diesem Schlamm. Dieses ist richtig. Ich meine in diesem warmen Schlamm der Histoire. Er möchte nicht mehr hinausgehen. Du trittst manchmal vor dieses Loch. Du gehst auf festen Boden.«
»Meine Güte, Naziza. Es wird immer peinlicher für mich!«
»Weshalb Du meinst das?«
»Ich will und kann mich doch nicht mit Finkielkraut vergleichen. Er hat einen völlig anderen Ansatzpunkt! Er kommt aus der Philosophie. Ich bin Journalist. Allenfalls einer, der sich mit kulturellen Phänomenen auseinandersetzt. Doch nie und nimmer habe ich diese Tiefe. Ich bleibe damit viel mehr an der Oberfläche.«
»Doch wieviele Menschen lesen Finkielkraut?«
»Ach? Und wieviele meine Texte? Mit Sicherheit noch sehr viel weniger.«
»Es ist nicht correct. Du erreichst mit Deine Radioprogramme an einem Tag weitaus mehr Menschen, als er in einem Jahr Bücher verkauft! Und es ist damit nicht sicher, daß diese Menschen sie auch lesen.«
»Ach, Liebes. Ich mach' doch kaum mehr was. Früher, ja. Aber heute nicht mehr. Und nun hab' ich ohnehin keine Lust mehr.«
»Weshalb sagst Du es? Morgen wirst Du wieder einen Radioessai zubereiten.«
»Das ist ein Interview!«
»Es ist ähnlich. Auch dieses ist wichtig. Und ich weiß es, daß Du wirst weitermachen. Du wirst es Deiner Frau zuliebe tun! Sie hat auch Sehnsucht danach! Sie möchte diese Discussion. Gerne möchte ich, daß Du es weiterführst. Ich habe sie früher gehabt mit Dir. Wir sind uns auf diese Weise nähergekommen. Wir beide, Du und ich, man kann es sagen, wir beide Generationen sind uns entgegengewachsen. Das hat geschaffen diese Austausch. Auch die Gespräche mit Raymond. Mit Maman et Papa. Alter? Ne joue aucun rôle. Nicht mehr. Und wir beide sind uns individuell entgegengekommen auf unserer Brücke von unsere Romantique. – Und wieder zurück – damals Ihr euch nur habt gesorgt um eure libéralité. Wie heute, wie diese deutsche Partei des Geldes – scheißliberal! –, nur gegeben hat Freiheit des Scheins ...«
»Du meinst sicherlich Scheinfreiheit.«
»Oui. Ich meine das. Pardon. Sie haben nur das bekommen, diese Kinder. Sie haben nicht von euch bekommen diese Humus, diese Terreau! Es heißt Liebe. Didier. Ich muß meine Kind schon sagen, daß es diese Freiheit nur kann geben, wenn ich bin befähigt, sie zu geben. Man bekommt sie tout d'abord im Haus von Maman et Papa. Sie sagen zu ihren Kindern – Du kannst nicht machen alles zu Lasten der anderen. Und nicht – Du hast es gesagt! – in dieses Mißverständnis laisser-faire pure. Ohne es zu wissen, wo es seine Wurzel hat. Du sprichst so oft davon, daß diese Kinder so schrecklich unfrei geworden sind wegen alle dieser sogenannte Freiheit, die man ihnen gegeben hat und sie daraus Consumtion mißverstanden haben! Ich nehme Deine Worte – Éros heißt Liebe. Éros ist nicht séxualité seulement. Séxualité ist ein Teil von Éros. Das ist dieser Unterschied. Dieser große! Ich glaube an diese meine Idéalisme! Ich habe bekommen Liebe. Ein bißchen verklemmt bin ich, weil Maman et Papa doch sind zu extrême verwoben sind mit ihre Civilisation, ihre Culture, principalement die arabische, Papa, die Musulman, Maman, die noch größere. Du bist es vielleicht, weil Dein Mutter war verklemmt. Du bist es vielleicht, weil Dein Entwicklung nicht hat diese Geschwindigkeit gehen können, die diese Gesellschaft hat genommen. Doch wir beide sind gute Menschen. Und wir werden gute Menschen machen. Es ist doch nur möglich in diese herrliche Copulation von amour et liberté. Ou bien – die Liebe gibt ein Kind, das heißt Freiheit, und die Freiheit gibt ein Kind, das heißt Liebe. Diese beide dann machen Kinder. Wir sind es, die sie machen. – Et maintenent ich muß ein wenig liebevoll sein mit meine Acteur de pornographie futur.«
»Ach, bin ich glücklich bin, bei Dir angekommen zu sein. Aber nun kommt das Sandmännchen zu Besuch zu mir.«
»Dann nimm mich bitte mit. Wir wollten es probieren gemeinsam! Auch dieses möchte ich mit Dir gemeinsam tun. Und vielleicht können wir nach dem Erwachen ein wenig üben für unsere Film!«
»Ouf !«
Aus weiter Entfernung, als ob extremer Nebel in einem Moos alle Höhen und Tiefen nivelliert, höre ich Rufe. Langsam kommen sie näher, wie Schritte. Sie beginnen zu hallen. Aha, denke ich, das kommt mir bekannt vor. Ich bin im Krankenhaus. Es ist so schön wie damals. Das war wieder einer dieser Orgasmen im Kopf. Bis in den Körper hat es hineingestrahlt. Aber jetzt bin ich ein bißchen alle. Es war wohl doch zuviel. Ich höre ich Rufe, die zunehmend lauter werden. Weshalb muß es im Krankenhaus eigentlich immer so laut sein? frage ich mich. Angenehm ist es nicht. Ich schwitze. Ich kenne das. Gleich wird diese Eiseskälte kommen. Aber bis dahin werden sie mir einen ordentlichen Schub Pharmazie verpaßt haben. Am nächsten Morgen die freundlichen, zudem hübschen Krankenschwestern. Dann werden wieder alle Gerätschaften der Klinik amortisiert. Ach ja, ich werde weitermachen müssen. Ich glaube, mir wäre wohler, wenn der weiße kalte Fließenweg endlich ein Ende hätte. Ich werde demnächst einfach die Medikamente nicht mehr nehmen und das Saufen wieder anfangen. Vielleicht klappt es ja dann. Anders wird es ja nichts mehr. Aber immer diese Rufe. Jetzt rüttelt auch noch jemand an meinem Kopf, an meinen Schultern. Ein Gesicht ist über mir. Oder bin ich doch im Elysium? Vermutlich eher weniger. Aber die Krankenschwestern sind noch hübscher geworden. Und sie haben extra für mich mal ihre Blonden gegen so etwas feines Dunkles ausgetauscht. Ach ja, mittlerweile kommen sie ja aus Spanien, aus Südfrankreich. Dort haben sie keine Arbeit, und hier werden sie gebraucht. Man sieht es an mir. Meine Güte, hat die schöne Augen. Der würde ich noch viel eher einen Heiratsantrag machen als dieser netten Blondine beim letzten Mal. Meinen Namen kennt sie auch schon, tief in die Augen schaut sie mir und spricht mich an. Jetzt fährt sie mir auch noch mit einem nassen Lappen übers Gesicht. Ich versuche, ein bißchen mehr zu erkennen. Ach du liebes bißchen, kommt die aber nahe an mich heran. Es ist angenehm. Es sind halt andere Menschen, die aus dem Süden. Sie wird den armen Kranken guttun hier, diese menschliche Wärme, die Freiheit, jederzeit jemanden anfassen zu können. Berührungsängste kennt man dort eben nicht so wie hier. Und sanft ist die. Da mache ich die Augen gleich wieder zu, auf daß es anhalte. Noch eine Weile wenigstens. Und jetzt überkommt mich wieder die Dunkelheit. Hoffentlich wird's wieder so schön.
Betrachtete ich mich selbst, ich sähe mich in einem dieser Werbefilme, in denen die Männerwelt noch in Ordnung ist. Zumindest die des materiellen Mittelstandes. Ich liege in einer sogenannten Wirklichkeit – in einem lichtdurchfluteten sogenannten Designerbett, inmitten eines großen, nahezu dekorationsfreien, in der Sprache der klitternden Werbetexter und ihrer journalistischen Nachplapperer also minimalistischen Zimmers, das folglich lediglich von hochwertiger Unterhaltungselektronik illustriert ist und auf dessen gleißend weißen Wänden sich eindeutig die Mittelmeersonne bricht. Wie die Gestalter diese symbolhafte Ausleuchtung zuwege gebracht haben, ist mir quasi nicht ganz einleuchtend. Und als Eyecatcher haben sie noch eine riesige, halb heruntergebrannte, umbrafarbene Kerze installiert, die zweifelsohne den sakralen Charakters dieses Raumes betont. Sehr publikumswirksam. Und es ist ein Duft, den man meiner leicht bewegten Nasenspitze ansieht und der sehr langsam, aber mit ausreichender Geschwindigkeit, demnach kosten- und zuschauergerecht mein linkes Augenlid nach oben fahren läßt. Der verbale Spot kommt von einer zauberhaft französisierenden Stimme, die engelgleich, aber dennoch mit dem erdennahen Ton der zumindest Polyglotten, also vermutlich Stewardess oder Fremdenführerin, in deutscher Sprache verkündet, er sei fertig. Das Werbefilmchen endet mit dem Eintreten der Person, die zu den Flötentönen gehört, denen ich etwas entgegensetzen muß.
»Le soleil de l‘amour darde ses rayons!«
Selbstverständlich ist sie mit einem weißen Slip und einem T-Shirt gerade noch gewandet. Hierbei muß dem Requisiteur allerdings ein Fehler unterlaufen sein, der ihn den Job kosten könnte. Es sei denn, eine andere Firma hat sich an den Produktionskosten beteiligt. In unübersehbaren Kapitälchen auf den augenfängerischen leichten Wölbungen des bis zum Bauchnabel reichenden Hemdchens wird in einer Variation der Immunschwächenwarnung verkündet: ›Gib GATES keine Chance!‹. Wie auch immer – es muß sich um eine unvergleichliche Nacht gehandelt haben. Der Fernsehzuschauer kann gar nicht anders denken. Und ich nicht minder.
»Möchten Sie ein Infusion de menthe, Monsieur? Ich sehe, es geht Ihnen wieder besser. Und französisch sprechen Sie auch. Soeben haben Sie es zumindest getan. Sie klingen angenehm heimatlich in meinen Ohren.«
Diese Töne. Es freut mich sehr. Ist das ein Hotel?! Hier servieren die Abteilungsleiterinnen persönlich den Morgentee. Wie im Kino.
»Meine Güte! Kaum hat man die Augen auf, wird man schon wieder auf den Arm genommen. Das nenne ich wahrhaft paradiesische Zustände. Ich werde mich erheben und in den sonnenfreien, nordseitlichen Kinderhüteinnenhof unseres Traumpalastes schauen und den neuen Nachbarn in die Töpfe und dann persönlich hinüberschwimmen zur Île Pomegues. Vielleicht schwimmst Du mit, und wir machen unsere Tochter dort, wo Du auch gemacht worden bist. Wir können ja auch das Bateau von Raymond nehmen, damit uns nicht zuviel Energie durch die Muskulatur entschwindet. Auf daß wir sie anders einsetzen können.«
»Oh! Es geht Ihnen tatsächlich besser. Sie scherzen. Gerne würde ich mit Ihnen schwimmen. Doch dieses mit der Tochter? Vielleicht sollten wir uns doch noch etwas näher kennenlernen. Allerdings sollte das in einem anderen Hôtel stattfinden. Hier wollen wir Sie doch wieder hinausbefördern. N’est-ce pas? Maintenent, es geht Ihnen besser. Das ist sehr angenehm. Für uns. Jedoch primaire für Sie. Nun, möchten Sie einen Tee?«
»Naziza! Was ist los? Willst Du mich vergiften? Oder ist unser Garten so fruchtbar wie wir und über Nacht wie wir übers Ziel hinausgeschossen, daß ich jetzt schon die Früchte saufen muß, die er überproduziert hat?«
»Pardon Monsieur. Es geht Ihnen offenbar doch nicht so gut. Sie haben geträumt. Sie dürfen keine andere – oder möchten Sie lieber Wasser trinken?«
Sie kommt auf mich zu, rückt ganz nah an mein Gesicht heran, schaut mit ihren Eierbriketts in mein rechtes Auge und faßt nach meinem Puls.
»Ach, Naziza, jetzt ist’s gut. Hör auf mit dieser Merde. Was soll das? Das ist mir zuviel am frühen Morgen. Oder soll ich besser laut Scheiße brüllen?! Du willst mich quälen. Ich hab doch Café in der Nase. Oder soll ich Schwester Naziza sagen?«
»Non, Docteur Benadiel. Pardon, Monsieur. Samia Benadiel. Sie erkennen mich nicht? – Warten Sie. Ich werde die Türe schließen. Sie haben recht. Es ist nicht angenehm, wenn man riecht, was man nicht genießen darf. Es verwirrt die Sinne.«
Sie geht zur Tür. Und ich sehe mich mit einem Mal in einer anderen Umgebung. Das gleißende, mittelmeerische Sonnenlicht kommt von der Decke, von breiten Neonleisten. Die Fenster sind mit Rollos verschlossen, und dahinter sieht es sehr grau aus. So grau kann es vor Marseille nie ausschauen, nicht einmal im Dezember oder frühen Januar. Was ist los? Die halb heruntergebrannte umbrafarbene Kerze erweist sich als eine häßliche Thermoskanne, die auf einem computerähnlichen, tischartigen schwarzen Untersatz steht. Elektronik, ja. Aber keine zur Unterhaltung. Und sakral ist der Raum überhaupt eher weniger. Das T-Shirt von Naziza hat sich in einen Kittel verwandelt, und es steht auf den Wölbungen auch nichts von Bill Gates drauf, sondern irgendein anderer Name. Es duftet auch nicht nach Café, sondern es ist übelriechende Sauberkeit, die mein Hirn verunreinigt. Mein Hirn? Was ist mit meinem Hirn? Ist es weg? Bin ich weg? Oder wo bin ich? Angstzustände schleichen in mich. Mein Herz beginnt wie wahnsinnig zu pumpen. Ich schaue zu Naziza hin, die von der Tür zurückkommt, die sie geschlossen hat. Mein Gott! Das ist ja nicht Naziza. Das ist?
»Wer sind Sie denn? Was machen Sie denn hier? Und wo bin ich überhaupt?«
»Ach, Monsieur Aubertin. Ich sagte es – Samia Benadiel. Ich bin Ihre Stationsärztin. Sie hatten leider wieder einen – ja, leider. Doch es geht Ihnen – Dieu merci! – wieder besser. Oder doch nicht? Oui, Sie sind sehr blaß. Soll ich – warten Sie, ich hole die Schwester, wir müssen Ihren Blutdruck.«
Sie dreht ab.
»Nein!« brülle ich. »Hiergeblieben! Wer auch immer Sie sein mögen. Wer sind Sie? Wo ist Naziza?«
»Naziza?«
»Ja. Wo bist ...«
Meine Stimme wird dünner. Ich spüre eine Flutwelle auf mich zukommen. Sie kommt von innen. Das Wasser steigt. Ich schließe meine Augen. Trotzdem tritt der Strom über die Ufer. Die Quelle in mir übergibt sich. Bis in die Ohren drückt das Meer der Traurigkeit. Aus der Ferne höre ich eine Männerstimme. Was macht ein Österreicher hier in Marseille? Na ja, die sind ja überall. Ich pumpe das Nasse aus meinen Gehörgängen, um ihn zu verstehen. Es fällt mir schwer. Die Melancholie legt einen schwarzen Schleier auf mich. Léo Ferré! Komm und hilf mir.
»Mein Gott, Frau Kollegin. Gut, daß' mich g’rufen haben. Wir müssen aufpassen, daß er uns nicht abtritt. Schock. Der muß in einer ganz andern Welt gewesen sein. Hätt ich ned ‘dacht. Gestern hat‘s so gut ausg‘schaut. Irgendwas ist da passiert. Wir erhöhen besser die Dosis. Auch Carbamazepin. Vorsichtshalber Neuroleptika. Besser ist besser. Lieber wieder ins Traumland als in unsrer gleißenden Scheiß-Kölner Schreckenswelt. Mein Gott, der arme Kerl. Bleim Sie mal a Weile bei ihm und halten Sie‘s Händchen.«
»Er hat Naziza zu mir gesagt. Es hat mich berührt.«
»Was’n dös?«
»Berühren?«
»A gehn’s. Hörn’s doch auf. Machen’s mich doch nehd depperter als i eh scho bin. I berühr‘ doch den ganzen Tag unsre Abgänger. Wer i net wissen, was des is?! Aber Nasis – wie. Was’n dös. Hat er Hunger? Dann machen’s eam a Infusion. Sag’ns der Schwester ...«
»Ouf! Cher collègue. Naziza ist ein arabischer Mädchenname. Wie der meine. Ein sehr schöner. Etymologisch entstammt er vermutlich einer Blume, die zu lähmen vermag. Diese scheint es bewirkt zu haben. Sie sollten Ihren Urlaub einmal nicht in Ihren geliebten Bergen bei innerer und äußerer Anwendung des Enzian verbringen, sondern in einer anderen Welt, in der es etwas anders duftet. Vielleicht in dieser, aus der unser Patient offenbar gekommen war. Und in die wir ihn wieder schicken sollten. Dort wird es ihm besser gehen als hier.«
»Sag ich doch. Halten's Ihr arabisches Mädchenhändchen an seins. Da haben Sie auch gleich den Puls im Griff. Is‘ ja nix los. Schwester Susanne kann Sie dann ablösen, wenn sie aus dem CT zurück ist. Ach ‘ne, die ist ja drüben in der Kardio. Na ja, sie kommt wohl bald. Trotzdem, den wer‘n wir vorsichtshalber auch nochmal ins Röhr‘l schieben. Auf jeden Fall die Aufnahmen no‘mal g‘nau anschauen. Nicht, daß uns was entgangen ist! Und daß er uns abgeht. Wär schad‘. Is ja’n ganz netter Kerl. Red a bisserl vui. Na, jetzt nimmer.«
Ich spüre, wie Naziza mir ihre Hand in meine Hand und dann ins Herz schiebt. Ach, sie ist einfach zauberhaft liebevoll. Und diese zarte Zärtlichkeit. Mein Traum. Er ist da. Ich bin doch noch müde. Es war wohl doch ein bißchen heftig. Na ja, ich mußte ja auch dreieinhalb Jahre nachholen. Meine Güte, ist das angenehm – eine kühlende heiße Hand im Herz und eine liebende auf der Stirn. Wie sie das bloß immer macht.
»Ach, Naziza. Du bist so lieb zu mir. Maintenent – la marchand de sable est passé. Je t’aime, mon amour, ma vie!«
Ende
La fleur bariolée – un voyage sentimentale ist 2003 in französischerSprache erschienen.
© Thierry Portulac 2016: Die bunte Blume – eine sentimentale Reise
Lizenz: by nc nd (Namensnennung, nicht kommerziell, keine Bearbeitung)
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Und einiges mehr, das sicherlich vergessen wurde anzuführen.
Soweit nicht anders angegeben entstammen die Übersetzungen vom Autor.
Texte: La fleur bariolée – un voyage sentimentale ist 2003 in französischerSprache erschienen. © Thierry Portulac 2016: Die bunte Blume – eine sentimentale Reise Lizenz: by nc nd (Namensnennung, nicht kommerziell, keine Bearbeitung)
Bildmaterialien: Cover-Photographie: Martin Schwab
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2016
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