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Der dicke Tom

Eine Horrorgeschichte

 

von Devon Wolters

 

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Der dicke Tom

 

Dominik stutzte, als der dicke Tom die Frage, ob er Sport machte, verneinte. Er sah ihn immer wieder an der Kasse, wie er sich tausende Dinge, Cola, Chips, Kekse, Kuchen, Eis kaufte, und doch nahm der Kerl immer mehr ab. Ohne Sport, wie es aussah. Was war sein Geheimnis?

Aber an solche Situationen war Dominik mittlerweile gewöhnt. Er hatte im alten Supermarkt schon zwei Jahre an Idioten über sich ergehen lassen, die die ungewöhnlichsten Dinge kauften und die dämlichsten Fragen stellten. Schonmal hinterfragt, warum jemand fünfzig Toilettendecken kauft, weil sie gerade im Angebot sind?

Im neuen Supermarkt, Danker Fanny, musste er sich mit demselben Mist rumschlagen. Der polierte Boden, die modernen Lichter und Glastüren hatten ihn kurz glauben lassen, es würden sich nur hochgebildete hier einfinden, aber nach zwei Monaten konnte er nun endlich wieder sagen: Fick dich.

Aber trotzdem gab er dem dicken Tom, der noch immer sehr, sehr dick war, obwohl er merklich abgenommen hatte, lächelnd sein Rückgeld. Er ließ schon vor seinem inneren Auge abspielen, wie er sich heute Abend mit all dem Zeug vollstopfen und in zwei oder drei Tagen wieder hier stehen würde. Eine neue Monatsration für die nächsten drei Tage.

Jede seiner Schichten sah so aus. Hier und da irgendein Idiot der zu wenig Geld hatte oder irgendeine Oma mit viel zu viel Geld, welches gleichzeitig viel zu klein war. Alle kauften sie sich Essen. Immer wieder. Immer mehr. Jeden Tag.

Dominik fand das immer wieder interessant zu beobachten. Essen hier. Essen da. Essen überall. Essen für die Mikrowelle. Essen aus der Dose. Irgendwelche Getränke mit Zucker oder Koffein vollgepumpt. Seit er Verkäufer war und das Verhalten des Schwarms in seinem natürlichen Lebensraum observieren konnte, distanzierte er sich davon. Er mochte es nicht, sich wie ein Teil der dummen Masse zu fühlen und wollte nicht einfach nur eines dieser Schafe sein, also kaufte er rein aus Prinzip nicht mehr in großen Supermärkten. Und ganz speziell nicht in seinem, das wäre ihm ohnehin zu peinlich gewesen. Er wusste immerhin, wie lächerlich sich alle anderen Kunden hier machten. Und er liebte es, das zu beobachten.

Ganz speziell auf den dicken Tom hatte er es nun noch mehr abgesehen, als damals in der Schule schon. Dominik merkte sich, wann er für gewöhnlich in den Laden kam, wie lange er einkaufte, was er kaufte. In einem Dorf kannte jeder jeden, also wunderte sich der dicke Tom wohl kaum, als Dominik ihm immer öfter auch außerhalb der Arbeitszeit über den Weg lief. Dominik kam sich schon ein wenig komisch dabei vor, aber er fand es wirklich interessant. Denn den dicken Tom konnte man beinahe kaum noch bei dem Namen nennen, den Dominik ihm vor so vielen Jahren in der achten Klasse gegeben hatte.

Der dicke Tom war nicht mehr der dicke Tom. Der Himmel war nicht mehr blau. Die Sonne drehte sich um die Erde, die Mondlandung war ein Fake und 9/11 eine Inszenierung seitens der USA. Er war einfach nur noch Tom. Tom, der keinen Sport machte. Tom, der mittlerweile jeden zweiten Tag einen ganzen Einkaufswagen voller Essen kaufte. Tom, der aß und aß. Tom, der trotzdem abnahm. Tom, der langsam eher der magersüchtige Tom wurde.

 

Dominik schreckte bei seiner Schicht auf, als er bemerkt, dass er sich zu sehr auf Tom konzentriert hatte. Viel zu sehr, er hatte all die anderen Kunden kaum wahrgenommen. Doch wenn er sie sich nun so ansah … Sie alle kauften mehr als früher. Viel mehr. Jeder kam nur mit absolut bis zum Rand gefüllten Einkaufswägen an Dominiks Kasse vorbei. Und sie alle wurden dünner. Immer und immer dünner.

Schon seit seiner Kindheit fand er Menschen absonderlich. Er beobachtete sie und ihre Gewohnheiten, war angeekelt und wollte nicht zu ihnen gehören. Aber das hier erreichte ein neues Maß. Und vor allem eines, das er nicht verstand. Es war nicht nur so, dass sie irgendwie schlanker wurden. Nein, ihre Kleidung begann, von ihren Körpern zu hängen, ihre Rippen traten hervor, Hautfalten überall, ausgezehrte Gesichter. Sie sahen immer mehr aus wie lebende Leichen. Aber kauften und kauften und kauften. Und Dominik lächelte nur und nahm ihr Geld entgegen.

Irgendwann begann er, den di- … Tom in jeder freien Minute zu verfolgen. Er ließ ihn nicht aus den Augen und fand heraus, dass er nur bei Danker Fanny Essen kaufte und nirgends sonst. Dominik schaute sich in der Gegend um und stellte fest, dass absolut jedes andere Lokal, jeder Supermarkt, Pleite ging. Alle kauften sie nur noch bei Danker Fanny.

Dominik wollte mit der Geschäftsleitung sprechen. Er hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen, wusste nicht mal, ob es ein Mann oder eine Frau war. Damals waren einfach alle Mitarbeiter vom alten Supermarkt übernommen worden, ohne Vorstellungsgespräche oder sonstwas. Er klopfte an die Bürotür im hinteren Teil des Supermarktes, an der alle anderen Mitarbeiter immer nur vorbeigingen. Niemand traute sich so recht, das Geheimnis um den mysteriösen Chef zu lüften.

Von innen ertönte ein »Herein« und Dominik öffnete die Tür.

Ein heller, annonymer Raum. Ein Mann in Anzug saß an seinem Schreibtisch. Unscheinbar. Er sah aus, wie ein typischer Geschäftsmann. Nichts besonderes. Nicht mal irgendein Pickel im Gesicht, durch den man ihn von all den anderen Irgendjemanden hätte unterscheiden können.

Irgendwie war er enttäuscht.

Dominik ging auf ihn zu und setzte sich. Der Raum roch nach nichts. Der Mann verzog keine Miene. In seinem Gesicht war absolut nichts abzulesen.

»Was ist ihr Anliegen?«, fragte er. Seine Lippen bewegte sich nur minimal.

Dominiks Mund war trocken. Dieser Mann übte eine unangenehme Ausstrahlung aus. Er war viel zu aalglatt. Augen zu und durch. »Was ist in dem Essen?«

Stille. Der Mann schaute ihm prüfend in die Augen. »Sie nutzen den Angestelltenrabatt nicht, oder?«

Dominik schüttelte den Kopf.

»Dann ist es Ihnen nur sehr schwer verständlich zu machen.«

»Versuchen Sie’s. Ich weiß, dass irgendetwas mit dem Essen nicht stimmen kann. Ich habe Beweise und kann jederzeit zur Polizei gehen. Natürlich in einer anderen Stadt, hier isst ja jeder dieses Zeug und ist irgendwie abhängig.«

Nun schüttelte der Mann den Kopf. »Nein, das wird nicht nötig sein. Ich werde es Ihnen nicht erklären, das ist nämlich unmöglich, aber …« Er schien kurz zu überlegen, doch das war seinem Gesicht nicht anzusehen. Es war perfekt symmetrisch. Viel zu perfekt. »Aber ich werde Ihnen eine Wahl lassen. Sie sind der einzige hier, der etwas weiß und erzählen könnte. Alle anderen Mitarbeiter nutzen den Rabatt und essen und essen und essen ebenfalls, sehe ich das richtig?«

Dominik nickte vorsichtig. »Natürlich sehe ich das richtig. Also sind Sie weder abhängig, noch blind, noch in irgendeiner anderen Art und Weise beschränkt. Ich könnte Sie nun dazu zwingen, ebenfalls blind zu werden und zu essen, einfach zu essen, einfach in sich reinzustopfen. Ich hätte die Mittel dazu und es wäre keine große Schwierigkeit, glauben Sie mir. Danach würden Sie mir folgen und ebenfalls einfach essen und essen und essen. Sie würden nichts lieber wollen als das, Sie würden verstehen. Das Problem dabei ist, dass es ein langwieriger Prozess ist. Sie könnten noch am selben Tag in die nächste Stadt gehen und die Polizei holen. Und das wollen wir ja nicht. Das alles wird auch nicht nötig sein, denn ich habe keine feindlichen Absichten, niemandem gegenüber.«

»Wenn Sie die Leute mit dem Essen nicht langsam umbringen, was dann? Die sehen alle nicht sehr gesund aus.«

Der Mann beugte sich vor. »Die Antwort ist dieselbe, wie auf die Frage danach, was in dem Essen ist und wo es herkommt. Das wollen Sie lieber gar nicht wissen. Das würden Sie gar nicht verstehen, es ist Ihnen gar nicht begreiflich zu machen. Aber Sie müssen es auch gar nicht verstehen. Wir denken ja scheinbar ganz ähnlich. Finden Sie es nicht auch widerlich, wie sie einfach essen und essen und essen? Auch vorher schon. Ich kann ihnen alles geben, was ich möchte und sie werden abhängig und fressen es weiter. Egal, ob es sie zugrunde richtet. Weil es einfacher ist, als sich Gedanken zu machen. Ich sage Ihnen eines. Vielleicht wiegt die Last schwer, dass Sie dieses Essen an die Leute verkauft haben, aber Sie können nun selbst anfangen zu essen, wenn Sie vergessen möchten. Einfach vergessen. Oder sie können weitermachen und über Ihnen stehen. Ich denke, das dürfte Ihnen gut gefallen. Sie können weiter für mich arbeiten und sich gut dabei fühlen. Sie möchten doch sicherlich leben und sich dabei besser als all die anderen Idioten fühlen, und ich möchte keinen Stress mit der Polizei oder irgendwem sonst. Und ein echter Mensch, mit Verstand und voller Kontrolle über sich selbst könnte wirklich nützlich sein.«

Der Gedanke war tatsächlich verlockend. Aus all seinen Beobachtungen hatte Dominik gelernt, dass die Menschen Idioten und Schwarmtiere waren. Er mochte es, nicht im Schwarm zu sein, sondern über dem Schwarm zu stehen und ihn zu überblicken. »Eine Frage: Auch, wenn Sie sagen, ich könne es nicht verstehen – wofür all das? Ich erkenne keinen Sinn.«

Der Mann verzog weiterhin keine Miene. Sein Gesicht wirkte glatt, fast schon poliert. Er wirkte viel zu makellos. Strahlend weiße Zähne, perfekt rasiert, gerade Striche als Augenbrauen. Viel zu sehr dem Klischee eines Menschens entsprechend, um wirklich ein Mensch sein zu können. Er fühlte sich nach irgendetwas Anderem an.

»Falls sie einwilligen, werden Sie das irgendwann vielleicht erfahren, aber für einen von hier ist das eigentlich gar nicht möglich. Doch mit der Zeit werden Sie vielleicht einer von uns werden. Wenn sie einschlagen, werden Sie über

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 12.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3583-0

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