Ich weiß auch nicht. Der Frühling hat immer einen eigenartigen Geruch. Es ist ein Gemisch aus ersten Sonnenstrahlen, wachsendem Gras und warmer Erde. Weichspüler-Luft eben.
Ich stehe auf meiner kleinen Terrasse und blicke gen Himmel. Er ist blau, mit dünnen zittrigen Kondensstreifen bemalt. Während ich mir meine erste Zigarette anstecke, höre ich die Spatzen von der Dachrinne aus streiten.
„Ja ja!“, denke ich bei mir. „Bei denen geht’s jetzt wieder ums Eingemachte! Vögeln, Nest bauen, Eier legen, brüten und Küken versorgen. Ich hasse den Frühling!“
Und ich hasse ihn wirklich. Frühling ist meiner Ansicht nach wie Alkohol. Mit einem Male benehmen sich alle bescheuert, grinsen und machen sich für die Paarung bereit. Bei den Tieren, wie bei den Menschen. Man könnte jetzt meinen, was ich für ein Idiot sei. Frühling ist das Erwachen neuen Lebens. Der Neubeginn. Für mich bedeutet Frühling nur, dass meine Frau neue Spinnereien beginnt.
Wir sind jetzt fünfundzwanzig Jahre verheiratet. Fünfundzwanzig Frühlingserwachen. Und fünfundzwanzig ‚neue Herausforderungen’ meiner Frau.
„Ist es nicht ein herrlicher Tag, Schatz?“
Aha, wenn man vom Teufel spricht. Meine Frau kommt auf die Terrasse, stellt sich neben mich und schaut in den Himmel. Sie fängt an zu lächeln. Ich weiß genau, dass dieses Lächeln nichts Gutes bedeutet. Jedes Jahr im Frühling spürt sie ‚diese neue Energie’. Tatendrang. Wunsch zur Veränderung.
„Ach schau mal, die Vögel haben angefangen ein Nest in unseren Kirschbaum zu bauen!“
Ich schaue zum Baum.
„Na klasse!“, denke ich. „Die kacken uns den Garten und die Terrasse voll und wer kann das wieder entfernen? Bestimmt nicht sie!“
„Ja ...“, sage ich kurz zu ihr.
Sie hat wieder diesen Blick und seufzt still.
„Schatz ...“, sagte sie zögern.
„Ja?“
„Ach nichts ...“
In mir macht sich ein seltsames Gefühl breit. Sie hat wieder einen ihrer berühmten Pläne ausgeklügelt.
In dem einen Jahr wollte sie mit dem Verkauf von Kosmetik reich werden, in einem anderen mit dem Verkauf von Plastikgeschirr. Sie schrieb ein Buch übers ‚Frau sein’, renovierte schon zwölf Mal das Haus, wechselte drei Mal den Arbeitgeber und trat einer spirituellen Glaubensgemeinschaft bei. Ich habe wirklich viel ausgehalten. Aber was mich jetzt erwarten sollte, übersteigt meine kühnsten Träume. Ihre Miene verfinstert sich ein wenig. Ich spreche sie auf keinen Fall an. Ich will gar nicht wissen, was sie diesen Frühling wieder ausheckt.
„Du bist ohnehin dagegen!“, schießt es aus ihr heraus.
„Manchmal bist du echt so ein destruktives Arschloch!“
Ich schaue sie an; unschuldig.
„Was ist? Du hast mir noch nicht einmal erzählt, was du von mir möchtest und beleidigst mich?!“
„Weil ich ohnehin weiß, dass du dagegen bist!“
„Wo gegen?“
„Ach vergiss es!“
Sie stampfte wieder ins Wohnzimmer. Ich weiß genau, dass wenn ich ihr jetzt nicht folge und sie in ihren Emotionen ‚auffange’, wird es zwei Wochen Streit geben.
‚In ihren Emotionen auffange’, hallt es in meinem Kopf. Vor zwei Jahren behauptete sie, dass wir eine Paartherapie machen sollten, wegen unserer unüberwindbaren Diskrepanzen. Ich sollte meine Emotionen suchen und sie meiner Frau spirituell übertragen, damit sie weiß, wie ich empfinde. Sie heulte den kompletten Rest der Sitzung. Und wer konnte das zu Hause wieder gerade biegen? Ich.
Ich drücke die Zigarette in den Aschenbecher und folge ihr durch das Wohnzimmer in die Küche, wo sie schon am Küchentisch sitzend und Zeitung lesend auf mich wartete. Frauen warten immer darauf, dass der Mann ihr hinterher kommt und ihr Recht gibt, sich entschuldigt und ihr das Gefühl von Macht überlässt. Also setze ich mich dazu.
„Was ist los, mein Engel?“, frage ich, innerlich uninteressiert.
„Was soll los sein?“
Keine dreißig Sekunden Stille.
„Ich meine ... Es ist Frühling, alles verändert sich. Ich habe das Gefühl, dass alle vorwärts schreiten und ich stehen bleibe.“
Die Therapie beginnt.
„Ich bin doch erst 45.“
Ich übersetze mal: Sie ist SCHON 45.
„Das kann doch nicht alles gewesen sein in meinem Leben! Unsere Tochter geht ihren eigenen Weg, hat ein aufregendes Leben und wir vergammeln hier!“
„Ach Schatz ...“
„Ach lass dein ‚Schatz’! Hast du denn keine Erwartungen mehr im Leben? Soll das für dich alles gewesen sein? Werden wir nun bis zu unserem Tod arbeiten, essen, fernsehen und schlafen? Hält das Leben für uns denn nicht mehr bereit?“
Es ist ernster als Angenommen. Sie hat einen unübertrefflichen Plan ausgeheckt. Eine Idee, die kein ‚Nein’ zulässt. Ihre Augen sehen überall hin, nur nicht zu mir. Ich denke, ich weiß schon, worauf es hinauslaufen wird. Sie will sich trennen und ‚Abenteuern’ hinterher jagen. Sie spielt nervös mit ihren Händen herum.
„Kann ich es dir sagen und du lässt es erst mal auf dich wirken? Ohne gleich ‚Nein’ zu sagen?“
Ich hätte ja ohnehin keine Chance und nicke.
„Holger, hör’ mal. Wir haben viel zusammen durch gestanden. Wir sind fünfundzwanzig Jahre miteinander verheiratet, haben eine erwachsene Tochter. Ich denke es ist Zeit für eine neue Herausforderung. Ich will nicht eines Tages im Sterbebett liegen und meinen verpassten Chancen hinterher trauern.“
Geduldig mache ich mich auf das, was jetzt kommt gefasst. Irgendwie schade. Nach all den Jahren und all den Frühlingserwachen hatte ich mich an sie und ihre verrückten Pläne gewöhnt. Liebe? Ich glaube, wenn man sich nach so vielen Jahren trennt – wir hätten diesen Sommer Silberhochzeit gefeiert – ist es wohl eher die Gewöhnung an den Partner, die den Abschied so schwer macht.
Genug der Trauer. Ich beginne innerlich schon den Hausstand aufzuteilen. Fernseher, mir. Telefon, ihr. Fernsehsessel, mir.
„Holger ...“, unterbricht sie mich in meinen Gedanken.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ja Schatz.“
„Wärst du denn zu einem so großen Schritt bereit?“
„Was soll ich denn machen? Die Entscheidung liegt bei dir ...“
„Da hast du wohl recht. Nun gut, dann lass es uns in Angriff nehmen!“
Ein Strahlen in ihren Augen. Sie läuft zum Telefon. Irgendwie lässt mich das Gefühl nicht los, dass ich meine Antworten mehr überdacht haben sollte. Ich weiß eigentlich immer noch nicht worum es geht.
„Schatz! Worum geht es eigentlich?“
Schnelle Aufklärung musste her. Ich folge ihr ins Wohnzimmer. Sie telefoniert.
„Hier ist Sager. Mein Mann und ich bräuchten einen Termin bei ihnen! Morgen um 9 Uhr, ich notiere. Danke. Tschüß!“
„Mit wem hast du telefoniert?“
„Warum? Ich dachte das Thema ist geklärt? Jetzt gibt’s keinen Rückzieher mehr!“
Stille.
Ich gehe auf die Terrasse. Draußen grinst mich der Frühling an. Die Spatzen lachen von den Dachrinnen. Und es riecht immer noch nach Weichspüler. Meine Frau kommt strahlend hinzu. Sie verschränkt ihre Arme und schaut in den azurblauen Himmel.
„Ist es nicht ein herrlicher Tag? Ich bin so froh, dass wir zwei noch Baby bekommen werden!“
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2009
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