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Der stille Sturm

 

Eine Gestalt schlich durch die leeren Straßen einer alten Stadt. Sie hielt sich im Schatten und mied das trügerische Licht der alten Laternen, die die Welt in einen beinahe träumerischen Schein tauchten. Der Mann verlor sich im Gewirr der Gassen, bis er schließlich vor einem alten Tor abrupt stehen blieb. Unruhig fuhr er sich mit seinen Händen durch das vom Nebel feuchte Haar. Langsam schlich sich ein hämisches Grinsen auf seine Lippen, bis er das Tor aufstieß und in der Dunkelheit des Hofes verschwand. Es war das letzte Mal, dass man den jungen Mann sah. An diesem nebligen Morgen in jener Stadt, die so unbedeutend ist, dass die wenigsten ihren Namen kennen, verlor sich die Spur eines Menschen, um dessen Schicksal sich niemand scherte. 


Bis eines Tages ein Junge eine heruntergekommene Buchhandlung entdeckte. Er war erst 13 und wusste nichts vom Leben und noch weniger über Bücher. Er war zu sehr beschäftigt mit diesem Gefühl der Bedeutungslosigkeit, das er mit wachsendem Alter immer tiefer in sich spürte. Er fühlte, dass diese Ohnmacht ihn eines Tages auffressen und völlig außer Gefecht setzen würde. Er brauchte etwas mit Bedeutung in seinem Leben und hoffte es in der alten Buchhandlung zu finden. Ein Buch mit Sinn, ein Buch mit Gewicht, das sein Leben verändern würde. Er hoffte auf eine Eingebung, oder wenigstens auf einen Schimmer.
Als er den Laden betrat, knarrte die Tür und das Glöckchen oberhalb der Tür läutete den Neuanfang seines Lebens ein. Bedeutungsschwer ging er gemächlich zu den vollgestopften Regalen und atmete den muffigen Duft der Bücher ein. Diese Buchhandlung musste deutlich älter sein als er und nach näherer Betrachtung der Staubschicht, die auf dem gesamten Laden lag, war auch der letzte Buchverkauf eine geraume Zeit her.
Langsam ließ er seine Finger über die Buchrücken gleiten und wartete auf den Moment der Erkenntnis. Eins der Bücher würde ihn zu sich rufen, um ihm in die Geheimnisse seines Inhaltes, seines Lebens einzuführen. Er ging die Reihen der Bücherregale ab, doch keins der Bücher schien sonderlich erpicht darauf mit ihm zu kommen. Keins erweckte seine Aufmerksamkeit oder strahlte die Bedeutung aus, die er so dringend suchte.
Ruckartig zog er seine Finger zurück und kämpfte mit der Enttäuschung, die ihn überrollte und seinen Geist lähmte. Wütend nahm er ein besonders dünnes Buch heraus und war bereit, es mit all seiner aufgestauten Empörung gegen die nächste Wand zu schmettern, bis er plötzlich bemerkte, dass er mit der entstandenen Lücke den Blick auf ein anderes Buch ermöglicht hatte. Offenbar war es dem Buchladenbesitzer so bedeutungslos erschienen, dass er es einfach mit anderen Büchern überdeckt hatte. Der Junge spürte ein Gefühl von Zärtlichkeit und Verständnis in sich aufkeimen. Er wusste genau, wie sich das Buch fühlen musste. Vorsichtig zog er es aus seinem Versteck und strich ehrfürchtig über den Band, um es vom Staub zu befreien.
Der Titel war völlig verblasst, der Autorname war durchgestrichen und zerkratzt worden. Das bedeutete, es war ein Buch ohne Titel und ohne Autor. Eine Sammlung von Papier und Wörtern, für die sich niemand interessierte. Er spürte Solidarität, denn dieses Buch schien nicht einfach nur ein Gegenstand zu sein, sondern es war wie ein Spiegel seiner selbst.
Er presste es an sich und schritt langsam zu dem Tresen, hinter dem ein alter Mann saß, der damit beschäftigt war die Tageszeitung zu durchblättern. Er hatte nicht einmal aufgeblickt, nicht einmal als der Junge den Laden betreten hatte, als würde er so sehr in einer Dauerschleife der Einsamkeit festhängen, dass keine Gestalt ihn daraus befreien konnte.
Der Junge räusperte sich und legte das Buch vorsichtig auf das abgenutzte Holz.
„Was soll das kosten?“, fragte er und starrte in die trüben Augen des Mannes.
„Das ist nichts, also kostet es nichts. Nimm es einfach und dann verschwinde!“, knurrte seine knarzige Stimme. Der Junge schnappte sich schnellstmöglich seinen neuen Freund und das Glöckchen verabschiedete ihn in eine neue geheimnisvolle Welt, mit seinem Buch.

 

Nachts gestattete der Junge es sich seinen neuen Schatz genauer anzusehen. Als seine Mutter schlief und er endlich die Ruhe der Nacht spüren konnte und der Mond sein karges Zimmer hell erleuchtete, zündete er seine Kerze an und zog das Buch unter seinem Kissen hervor. Vorsichtig klappte er es auf und versuchte den Titel auf der ersten Seite zu lesen. Da stand:

 

Der stille Sturm

 

Von so einem seltsamen Titel hatte er noch nie gehört. Was sollte das bedeuten? Wie sollte ein Sturm still sein? Ein Sturm war immer laut und furchteinflößend. Er hasste es, wenn der Wind den Regen gegen sein Fenster peitschte und die Bäume sich bogen, als führten sie einen mystischen Tanz auf, um die gesamte Menschheit zu unterwerfen, um sich endlich die Natur zurück zu erobern.
Irritiert blätterte er weiter und hoffte auf eine Erklärung, doch er fand nur eine kurze Widmung, die ihn noch mehr verwirrte.

 

Für A.

 

Du warst die Stille und ich war der Sturm.

Verzeih mir.

 

Das erschien ihm doch sehr sentimental. Wie konnte ein so bedeutungsloses Buch so eine Widmung haben? Sie erschien ihm tragisch und traurig zugleich. Als würde eine schreckliche Geschichte hinter diesen Worten stecken. Wer war A?
Ein seltsames Gefühl der Rastlosigkeit ergriff ihn, er spürte die Anziehung, die ein Geheimnis mit sich brachte. Er erhoffte das Geheimnis mit dem Inhalt des Buches lüften zu können. Gemächlich blätterte er auf die erste Seite und begann zu lesen:

 

Es war an einem warmen Frühlingsmorgen. Die Sonne erwärmte die Seelen und die Trostlosigkeit des langen Winters wurde aus den

Gedanken der Menschen geschwemmt. Das war der Morgen, an dem ich dich zum ersten Mal sah.

 

Die Kerze brannte immer weiter herunter, der Lichtkegel wurde immer geringer, genau wie die noch zu lesenden Buchseiten, doch als der Junge das Buch nach der letzten Seite zu klappte, wollte er dieses vermaledeite Buch am liebsten zurück zu dieser miefigen Buchhandlung bringen. Er verstand all diese Worte nicht. Er verstand die Handlung nicht und noch weniger verstand er, warum dieses Buch überhaupt existierte. Was sollte das mit dem Sturm? Warum wurde nie erwähnt, wer A war und was sollte die mysteriöse Person A dem unbekannten Autor verzeihen?
Er hatte sich schrecklich geirrt und nun die Quittung bekommen. Dieses bedeutungslose Buch, war so gar nicht bedeutungslos. Es war voll mit Bedeutung, die er einfach nicht erfassen konnte. Er erkannte, dass er die Bedeutungslosigkeit mochte. Sie bedeutete keine Arbeit, sie bedeutete einfach nur Leere. Doch Bedeutung hieß Ahnungslosigkeit, wenn man den Sinn nicht verstand und Ahnungslosigkeit war so viel schlimmer als Bedeutungslosigkeit! Doch nun konnte er nicht mehr zurück in sein bedeutungsarmes Leben. Dieses Buch hatte ihn gewählt und er würde nicht eher ruhen können, bis er verstand.
Er musste herausfinden, ob A verziehen hatte oder nicht.
Er überlegte sich, wie er an Informationen kommen konnte und entdeckte schließlich die Lösung. Auch wenn der Autorname nicht zu entziffern war, so war doch der Verlagsname klar und deutlich erkennbar.

 

Am nächsten Morgen stand er bereits vor der Tür eines heruntergekommenen Hauses, das den Verlag beherbergen sollte. Seinen Schatz unter der Jacke versteckt, betrat er das Gebäude und stieg die knarrenden Treppen hinauf in die erste Etage, um schließlich mitten in einem Büro zu stehen, das nur von einem Schreibtisch und einem kleinen Regal ausgefüllt wurde. Am Schreibtisch saß ein kleiner Mann, der so beschäftigt mit seinen Papieren war, dass er den Eindringling gar nicht bemerkte.
Der Junge räusperte sich und trat näher an den völlig überfüllten Tisch.
Der Mann starrte ihn erstaunt an und seine Finger verweilten mitten im Schreiben eines neuen Satzes.
„Was willst Du hier?“, fragte er ungläubig und stand kurz davor sich die Augen zu reiben, um zu prüfen, ob der Junge nicht einfach nur ein Trugbild war.
„Ich will meine Bedeutungslosigkeit zurück! Und dafür muss ich wissen, wer A ist!“
„Wie bitte? Junge, bist Du ganz bei Sinnen? Bist Du irgendwo ausgebrochen? Herr Gott, nur mir kann es passieren, dass plötzlich ein Kind im Büro steht, dass sie nicht mehr alle beisammen hat...“, murmelte er vor sich hin.
„Ich bin nicht doof! Hier! Das ist das Buch, das kommt von Ihnen. Sagen Sie mir, wer A ist und ich geh sofort wieder.“, der Junge zog das Buch aus seiner Jacke hervor und warf es vor dem Mann auf den Tisch.
Dieser nahm es ungläubig und durchblätterte die Seiten, bis er es schließlich zuklappte und vorsichtig auf einige Papiere legte.
„Wo hast Du das her? Das muss das letzte sein, das überhaupt existiert!“
„Aus einer Buchhandlung. Wer ist A?“, beharrte der Junge.
Der Mann seufzte und lehnte sich in seinem alten Drehstuhl zurück, der laut knarzte.
„Nun Junge, das kann ich Dir nicht sagen. Er wollte es mir nie verraten. Er kam eines Tages hier rein gestürmt. So wie Du stand er plötzlich vor mir und warf mir ein Manuskript auf den Tisch. Er sagte, dass es so schnell wie möglich veröffentlich werden müsse. Sie müsse es wissen. Er kritzelte die Widmung auf eine der ersten Seiten und verschwand. Er kam erst wieder, als die Bücher gedruckt waren, nahm sich eine Ausgabe und sagte, dass es ihm gleich wär, was mit den anderen passiert.“
„A ist also eine Frau?“
„Ja, das scheint ganz so zu sein. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Hab nur gehört, dass nach und nach die Bücher aufgekauft und vernichtet worden. Als wolle jemand, dass dieses Buch nicht mehr existiert, als würde er es und seine Geschichte auslöschen wollen, für immer. Doch scheinbar hat diese Person eins vergessen, denn nun liegt ein Exemplar auf meinem Schreibtisch. Mehr kann ich Dir dazu nicht sagen. Besser Du gehst jetzt, ich hab noch einiges zutun.“
Er schob dem Jungen das Buch zu und widmete sich dann wieder seinen Papieren, als hätte das Gespräch nie statt gefunden.

 

Abends im Bett dachte der Junge über die Geschichte nach. Ein Autor, der wollte, dass eine Frau ihm verzeiht und deswegen ein Buch für sie schrieb. Was für ein seltsamer Gedanke. Doch viel mehr verwirrte ihn die geheimnisvolle Person, die alle Bücher vernichtete. Warum? Warum kaufte man immer wieder das gleiche Buch, um es schließlich doch nur zu vernichten? All das machte für ihn keinen Sinn und er war ratlos. Wie sollte er jemals herausfinden, was wirklich dahintersteckte? Was hatte er jetzt noch für Möglichkeiten? Wem sollte er fragen?

 

Am nächsten Tag stand er erneut vor der Buchhandlung und wurde freudig von der Glocke begrüßt. Der Alte saß hinter seinem Tresen, mit seiner Zeitung, genau wie vor zwei Tagen. Erneut sah er nicht einmal auf, als der Junge den Laden betrat. Vorsichtig klopfte der 13 Jährige auf das morsche Holz des Tresens, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
„Hallo, ich bin es wieder!“, flüsterte er und versuchte sich an einem Lächeln. Er musste freundlich sein. Wenn man freundlich war, dann gerieten die alten Leute doch ins plaudern, oder nicht?
„Was willst Du, Bursche?“, knurrte der Mann und sah ihn finster an.
„Ich habe ein Buch bei Ihnen gekauft. Oder...ich wollte es kaufen und Sie sagten, dass es nichts kosten würde. Erinnern Sie sich?“ Seine Stimme zitterte leicht, der Blick des Mannes war angsteinflößend.
„Komm auf den Punkt“, knirschte dieser ungehalten und verschränkte seine knöchigen Arme vor der Brust.
„Hören Sie, ich möchte gerne die Widmung des Buches verstehen. Es lässt mich einfach nicht los. Ich war gestern bereits beim Verlag und hab herausgefunden, dass A eine Frau ist, doch was sollte sie ihm verzeihen? Und wie kann ein Sturm still sein? Ich hab mich gefragt, ob Sie etwas wissen und ob Sie so freundlich wären, mir weiter zu helfen?“, haspelte er.
Der Mann erhob sich abrupt und humpelte hinter seinem Tresen hervor, dabei starrte er die ganze Zeit den Jungen an und blieb schließlich direkt vor ihm stehen.
„Warum sollte ich Dir das erzählen? Meinst du, dass Du dieser Geschichte würdig bist? Dass Du die Reise verstehst, die diese Kreatur durchmachen musste?“, fragte er bedrohlich leise.
„Ich möchte es einfach wissen! Ich muss wissen, ob sie ihm verziehen hat. Ich will einmal im Leben den Sinn hinter etwas verstehen und ich weiß, dass dieses Buch nicht einfach nur eine bedeutungslose Aneinanderreihung von Worten ist! Es ist bedeutsam für jemanden gewesen und es bedeutet auch mir etwas.“
Der Mann knurrte noch einmal und zerrte den Jungen schließlich durch eine kleine Tür, in das Hinterzimmer des Ladens, wo er ihn zwang sich an einen alten Tisch zu setzen, bevor er zu einem Schrank humpelte, eine Schublade durchwühlte und schließlich mit einem kleinen Papier zurückkehrte, das er auf den Tisch warf.
Es war ein Foto. Der Junge nahm es in die Hand und betrachtete es genauer. Darauf erkannte man zwei Personen, ein junges Pärchen, das sich lachend im Arm hielt. Der Junge lachte aus vollem Halse, doch das Mädchen grinste nur geheimnisvoll in die Kamera. Er erkannte sofort den Gegensatz zwischen ihnen. Der Mann hielt sie zwar im Arm, doch es sah aus, als wäre der Moment festgehalten worden, bevor er sie in die Luft heben und drehen wollte und sie ließ es geschehen. Er war der Sturm und sie war die Stille, der Ruhepol. Er war sich sofort sicher: das waren der Autor und A.
„Es war vor einigen Jahren, da stürmte ein Mann hier herein. Er war gezeichnet vom Leben, dabei war er noch so jung. Er war vollkommen aufgelöst und fragte mich nach einem Buch. Du kannst dir sicher denken, welches er meinte. Er sagte, dass dieses Buch nicht mehr existieren dürfte, er müsse es zerstören, wie alle anderen auch. Ich sagte, dass er sich beruhigen sollte und schließlich saß er am gleichen Platz wie du jetzt. Er erzählte mir von seiner tragischen Liebe. Von seinem Mädchen, das er so sehr liebte. Doch sie war krank, sehr schwer krank und hatte deswegen immer diese Melancholie an sich, die nur die Sterbenden inne haben. Er war Feuer und sie Wasser, er war der Sturm und sie die Stille. Sie stritten und sie liebten sich. Er hoffte und sie war realistisch. Sie starb schließlich in seinen Armen und der Sturm seiner Gefühle verschlang ihn. Er konnte sich selbst nicht verzeihen, dass er sie nicht retten konnte. Er hat dieses Buch geschrieben und gedacht, dass er sie so konservieren kann, sie und seine Liebe zu ihr, doch es half nichts. Als sie starb, starb auch die Seele des Buches. Also machte er es sich zur Aufgabe die Bücher zu zerstören, wie das Leben seine Liebe zerstört hatte. Er hat sie alle verbrannt, bis auf das eine. Ich konnte ihn überreden, wenigstens das eine Exemplar existieren zu lassen. Ich sagte, dass ein Mensch kommen würde, der verstehen würde, der von A und ihm erfahren müsse. Damit die Liebe der beiden in einem anderen Menschen weiterleben könne. Er lachte nur höhnisch, denn er hatte bereits jeglichen Sinn für Romantik verloren, doch er willigte ein. Er zerkratzte seinen Namen im Buch und ging schließlich. Eine gebrochene Gestalt, die in der Nacht verschwand. Ich habe ihn nie mehr gesehen. Der Sturm seiner Gefühle wird ihn in die Tiefe gerissen haben. Er kannte keine Stille mehr.“
Der Junge hatte aufmerksam zugehört und weiter das alte Foto betrachtet.
Das war sie also, das war die Geschichte. Das war die Geschichte von A und dem Namenlosen. Die Last des Schmerzes, die dieses Buch in sich barg, erdrückte ihn beinahe. Es war die Tragik, die plötzlich jedem Buchstaben anhaftete, die ihn den Atem raubte. Doch gleichzeitig keimte in ihm die Hoffnung, dass er eines Tages einen Menschen so sehr lieben konnte, wie der Mann A. Eine solche Liebe war bedeutungsvoll und hoffnungsvoll, auch wenn sie in Tragik enden musste.
Der Junge stand langsam auf und gab dem Mann das Buch zurück.
„Stellen Sie es an seinen Platz. Die Reise dieses Buches ist noch nicht zu Ende, es wird wieder jemand kommen. Erzählen Sie der Person ebenfalls die Geschichte. Sie muss erzählt werden.“
Der Junge verschwand aus dem Laden und die Gassen der Stadt verschluckten schließlich seine Gestalt.


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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.05.2018

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