Inhalt:
Prolog
Die erste Heldentat
Der Aufbruch
Kater Harlekin, genannt der Kugelblitz
Prolog:
Tagebucheintrag von Aniger Esuark
21.März 2010
Eine Meise sammelte am Balkon fleißig Nistmaterial. Sie fand genug, da wohnen Kaninchen. Eine begeisterte Meise pendelte also hin und her. Ich fands nett, Balkontür war offen, ich konnte alles beobachten. Dann aber entdeckte sie den kleinen Bastteppich in meinem Zimmer. Scheinbar bestes Nistmaterial. Meise hinein in mein Zimmer. Ui, ich erschrak, weil ich weiß, dass Vögel in Wohnungen schnell die Orientierung verlieren. Meise erschrak, weil ich erschrak. Kurzer Augenkontakt. Ich gerade in ihr "Gesicht", sie vogelmäßig von der Seite. Ich stellte fest, ja, auch so eine kleine Meise hat durchaus was von ihren Vorfahren, den Flugsauriern. Bevor ich das Bild weiterspinnen konnte, rupfte sie kurzentschlossen einen Faden aus meinem Teppich und entfloh Richtung Balkon.
Ich will ja gar nicht wissen, was sie ihren Jungen im Nest erzählte. Vielleicht von dem riesigen Ungeheuer mit Augen mitten im Gesicht, dem sie todesmutig einen Nestfaden stahl? Vielleicht werden ja noch in der nächsten Meisengeneration Balladen über diese mutige Meise gezwitschert.
Die erste Heldentat
(Anmerkung des stillen Beobachters: Es begann alles ganz normal, ein Nestbautag in der Meisenkolonie. Nichts wirklich Spannendes, nein, eher langweilig. Aber da kannte Schnelle Feder mich noch nicht. Greifen wir jedoch nicht zu sehr vor. Beobachten wir)
Schnelle Feder ruht sich auf einem Ast über dem halbfertigen Nest aus. Er ist müde, den ganzen Vormittag schon sammelt er Baumaterial. Stolz schaut er auf sein Werk. „Das wird sicher das beste Nest in der Kolonie!“ denkt er. Seine Materialquelle ist ja auch vom Feinsten. Auf einem Balkon hatte er ein Kaninchengehege entdeckt. Sägespäne, getrocknetes Heu, eine wahre Fundgrube.
Als Krönung für sein Nest liebäugelt er aber mit einer ganz besonderen Trophäe: In dem Zimmer hinter der Balkontür liegt ein Bastteppich. Geflochten aus soliden, sehr stabilen Fasern. „So eine Faser einbauen, dass wäre die Krönung.“ träumt er. „Damit könnte ich sogar der Baumeister dieses Frühlings werden und alle Meisendamen würden mich anhimmeln.“
„Hört, hört!“ Plötzlich entsteht Aufregung in der Kolonie. Scharfe Kralle, sein ärgster Konkurrent, sitzt aufgeplustert vor seinem Nest. Vier der schönsten Meisenmädchen umflattern ihn. „Dieses Jahr werde ich wieder Baumeister!“ verkündet Scharfe Kralle. "So mutig wie ich ist keiner hier. Schaut her, ich habe einer schlafenden Katze ein Schnurrhaar ausgerissen. Das werde ich einbauen!“ Zunächst herrscht fassungslose Stille ob dieser tapferen Tat. Dann donnert überall in den Ästen des Baumes Applaus auf. Flügel schlagen und Schnäbel hacken auf Holz.
Schnelle Feder zuckt zusammen. Er merkt, wie die altbekannte Wut sich wieder in ihm aufbaut. Dieser Scharfe Kralle war all das, was er sich eigentlich für sich selbst erträumte. „Angeber“ schimpft er zu seinem Konkurrenten hinüber. „Bist Du sicher, die Katze schlief? Tot war sie sicher und dann ist es keine Heldentat, ihr etwas auszurupfen“.
(Empörte Anmerkung des stillen Beobachters. Tot? Unverschämtheit. Lebendig,sehr lebendig! )
Scharfe Kralle lachte: „Schnelle Feder ärgert sich! Wir wissen doch, woher Dein Name kommt: Immer schnell weg, wenn’s brenzlig wird! Ich zeige Dir die Katze gern. Komm doch mit!“ Herausfordernd richtete er sich unter den bewundernden Blicken der Meisenmädchen auf.
„Pah“, Schnelle Feder versuchte verächtlich zu blicken, war aber jetzt doch verunsichert. „Ich habe Besseres zu tun. Mit Deinen Lügenmärchen gebe ich mich nicht ab.“ Und er schwang sich vom Ast und flog davon. Hinter sich hörte er noch lange das höhnische Gelächter von Scharfe Kralle. „Und wieder mal schnell weg!“
Wütend und verärgert sitzt Schnelle Feder auf dem Gitter des Kaninchenkäfigs.
Der Stachel, den Scharfe Kralle pflanzte, sitzt tief. Denn es stimm ja, Schnelle Feder ist nicht mutig und obendrein noch eine Unglücksmeise. Fällt im Baum eine Kirsche herab, sie landet auf seinem Kopf. Rüttelt der Sturm am Baum, es bricht garantiert der Ast ab, auf dem er sitzt.
Im letzten Jahr hat er bei dem Versuch, einen Faden aus einem Wollknäuel zu ziehen, sich selbst gefesselt. Und wer hat ihn befreit? Scharfe Kralle. Haha.
Er erinnert sich an seine panische Flucht vor dem Katzenungeheuer im Garten. Was war es wirklich? Eine Spielzeugstoffkatze, auf der Scharfe Kralle dann lachend herumstolzierte.
(Anmerkung des stillen Beobachters: Eine Stoffkatze mit einer echten verwechseln, ts,ts,ts)
Ein Geräusch schreckt den Meisenmann auf. Die Balkontür wird geöffnet. Aber niemand kommt heraus. Mit wild klopfendem Herzen späht Schnelle Feder in das Zimmer. „Soll ich, soll ich nicht“? flüstert er. Da wäre sie, die Chance, den Bastfaden vom Teppich zu holen.
„Hihi“, kichert eins der Kaninchen. „Traust Dich eh nicht, traust Dich eh nicht!“
Jetzt reicht es der Meise. Ein schneller Flug ins Zimmer, ein großer Schreck, denn dort sitzt ein Mensch. Flaches Gesicht, die Augen mittendrin, nicht hübsch auf der Seite. Hässlich und bedrohlich. Aber der Mensch bewegt sich nicht, schaut nur. Also rupft Schnelle Feder einen Faden aus dem Teppich und dann macht er triumphierend den Abflug. Dem hämischen Kaninchen setzt er dabei schnell noch einen Klecks auf den Kopf.
Der Aufbruch
Schnell hat sich der mutige Einbruch in das Menschennest in der Kolonie herumgesprochen. Schnelle Feder sonnt sich in der Bewunderung. Er steht im Mittelpunkt.
„Und wer sagt, dass der Teppich wirklich in einem Zimmer lag und nicht auf dem Sperrmüll? Wir haben nur Dein Wort." höhnt eine wohlbekannte Stimme. Grinsend sitzt Scharfe Kralle auf dem Ast eines Nachbarbaumes. Jetzt sieht Schnelle Feder rot.
Wütend stürzt er sich auf seinen Widersacher und bald tobt ein wilder Luftkampf. Johlend feuern die anderen Meisen die Kämpfer an.
Plötzlich jedoch wird es still. „Was soll das denn?“ ertönt eine barsche Stimme. Sie gehört Silberfeder, dem Bürgermeister der Kolonie. „Hört ihr wohl sofort auf, ihr beiden!“
Schnelle Feder ist diese Aufforderung nur zu recht. Erschöpft lässt er sich auf der Erde nieder. Allgemeines Gekicher setzt ein. Oh, nein! Schnelle Feder möchte im Boden versinken. Zielsicher ist er mitten in einer Hundehinterlassenschaft gelandet.
„Schaut, schaut, unser Held!“ spottet Scharfe Kralle, der sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen lässt.
„Spar Dir Deinen Spott, Scharfe Kralle“ ertönt die Stimme des Bürgermeisters. „Ich bin es schon lange leid, dass überall da, wo Du auftauchst, Ärger entsteht! Du wirst zur Strafarbeit abkommandiert. Flieg zu meinem Nest und hilf meiner Frau, es auf Vordermann zu bringen.“ Ein Raunen geht durch die Menge. Der scharfe Schnabel der Frau Bürgermeister ist sehr bekannt. Man sagt, sie hat Krallen auf der Zunge.
„Und Du, Schnelle Feder“ wendet er sich dem Meisenmann zu, der verzweifelt versucht, seine Federn zu säubern, „Du machst unsere Kolonie nur zum Gespött. Weißt Du, wie man Dich hinter Deinem Rücken nennt? Hasenfeder oder Schneller Tolpatsch!“
(Anmerkung des stillen Beobachters: Nur gut, dass der Bürgermeister nicht weiß, wie er hinter seinem Rücken genannt wird. Aber ich kann schweigen)
Großes Gelächter. Schnelle Feder erwidert zunächst nichts. Aber dann geht ein Ruck durch seinen Körper. „So soll es sein, ich verlasse die Kolonie. Und ich werde als Held zurückkehren.“ Und ohne sich noch einmal umzusehen, fliegt er hinauf in den Abendhimmel.
Kater Harlekin, genannt der Kugelblitz
(Anmerkung des stillen Beobachters. Die ersten Tage des Exils verlaufen ereignislos. Die Sonne geht unter, sie geht auf. Schnelle Feder tappt in Fettnäpfchen, das ist nichts Neues und er hangelt sich wieder heraus. Er fliegt mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe und verschluckt sich fast an einem Regenwurm. Das alles hilft ihm nicht viel weiter auf seiner Suche nach Heldenruhm.
Aber dann, in einer Vollmondnacht…)
Schnelle Feder sitzt unter einem Gebüsch. Er überlegt noch, ob er weiterziehen oder hier sein Nachtquartier aufschlagen soll. Plötzlich hört er ein leises Fauchen. Erschrocken späht er auf die Lichtung vor sich. Da sitzt ein gewaltig runder roter Kater, wackelt wild mit den Ohren und macht dabei kleine Luftsprünge. Trotz des Schreckens über die Ansicht dieses Todfeindes muss Schnelle Feder leise lachen. Der Anblick ist zu drollig.
Der Kater hält in seiner seltsamen Gymnastik inne und sieht die Meise.
„Ah, Bruder! Komm her. Klasse, dass ich Dich treffe. Du kannst mir weiterhelfen.“ schnurrt er. Schnelle Feder weiß nicht so recht, was er davon halten soll. „Ein Held fliegt nicht davon“ flüstert eine innere Stimme.“ „Aber er ist auch kein Dummkopf!“ eine andere. Während die Meise noch die inneren Gedanken abwägt, spricht der Kater schon weiter.
„Brauchst echt keine Angst zu haben, Bruder. Ich fresse keine Meisen. Habe gute Gründe dafür. Darf ich mich vorstellen? Harlekin, genannt Kugelblitz. Befinde mich in meinem letzten Leben und treffe Vorbereitungen für die Zeit danach.“
Vorsichtig hüpft der Meisenmann näher und setzt sich auf ein Stück eines alten roten Pfahls, der auf der Lichtung liegt.
„Ich bin Schnelle Feder“ beginnt er, wird aber sofort unterbrochen. „Weiß ich, weiß ich“ meint der Kater ungeduldig „Und jetzt hilf mir. Wie kann eine Meise fliegen?“
Verdutzt schaut Schnelle Feder ihn an: “Indem sie mit den Flügeln schlägt.“
„Habe keine Flügel, habe nur meine Ohren. Aber damit kann ich wackeln und wedeln, soviel ich will, ich hebe nicht ab!“ knurrt Harlekin
"Aber warum willst Du denn überhaupt fliegen und warum frisst Du keine Meisen?" Der Meisenmann ist mehr als erstaunt.
Harlekin beginnt wieder mit seiner Hopserei, wild bewegen sich seine Ohren.
"Weil ich Erik Esot gelesen habe. Also, eigentlich nennt er sich Esoterik, aber ich bin ihm auf die Schliche gekommen. Das ist nur ein Pseudonym. Vom alten Erik habe ich viel gelernt. Z.B., wo der Sinn des Lebens ist, wie man sich selbst findet und dass man nach dem Tod wiedergeboren wird."
Schnelle Feder ist verwirrt. Er hat ja schon viel Dummes erlebt, aber er hat sich selbst noch nie suchen müssen. Muss ja schlimm für den Kater gewesen sein, wenn er das schon mal erlebt hat. Die Stimme Harlekins reißt ihn aus seinen Gedanken.
"Und ich weiß jetzt, dass ich als Meise wiedergeboren werde. Deswegen will jetzt und hier schon das Fliegen lernen. Sonst blamier ich mich ja im Leben nach dem Tod."
„Woher weißt Du denn das mit der Meise?“ Schnelle Feder ist verwirrt.
„Weil eine Meise das erste Lebewesen war, das mir nach meiner Wiedergeburtlektüre begegnete. Sag mal, fressen Meisen Mäuse?“ Harlekin schaut den Meisenmann bei seiner Frage skeptisch an. Der schüttelt sich. „Nein, auf keinen Fall!“
„Aber vielleicht lecker Dosenfutter, zarte Fleischhäppchen in Gelee?“ fragt der Kater hoffnungsvoll.
„Auch nicht“ antwortet Schnelle Feder. Der Kater wirkt plötzlich sehr nachdenklich. Dann verabschiedet er sich ganz überraschend von der Meise: „Mach‘s gut Kumpel. Ich muss weiter. Die Suche nach sich selbst und nach dem Sinn des Lebens duldet keinen Müßiggang“.
Schnelle Feder bleibt noch äußerst verwirrt einige Zeit auf dem Pfahl sitzen. Dann schwingt er sich auf, um einen Schlafplatz zu finden. Als er es sich auf einem Baum gemütlich einrichtet, sieht er, wie der Kater versucht, auf zwei Beinen zu laufen und dabei immer wieder hinfällt.
„Verrückter Kerl“, denkt er. „Nur weil er was von einem Erik liest, denkt er, er wird eine Meise.“
Plötzlich hält er inne. Jetzt wird es ihm erst bewusst. Der Kater kann lesen! Behauptet er jedenfalls. Schnell fliegt der Meisenmann los und ruft den Kater: „Harlekin Kugelblitz, warte! Sag mir, wieso kannst Du lesen?“
Der Kater richtet sich gerade wieder mühsam auf zwei Beinen auf. „Kannst Du es denn nicht?“ fragt er grinsend.
„Nein, kann ich nicht“ antwortet Schnelle Feder.
„Klar kannst Du es. Alle Tiere können es. Nicht immer, aber immer in Vollmondnächten. Du kannst dann auch Maschinen bedienen, Z.B. Computer, oder Du kannst Kühlschränke öffnen. Naja, Du weniger mit Deinen kleinen Krallen, aber ich kann’s dann. Heute habe ich mir zum Abendessen z.B. Camembert mit einem Schlag Sahne gegönnt“. Harlekins Blick wird verträumt bei der Erinnerung an die Schlemmerei.Allerdings wird er jäh in die Wirklichkeit zurückgeholt, als er wieder einmal umfällt und wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken landet.
Mühsam rappelt er sich auf. „Flieg los und probier es aus! Diese Nacht. Such ein offenes Fenster, setz Dich an einen PC und Du wirst sehen, es ist kinderleicht und Du findest Lesestoff ohne Ende. Mich lass jetzt aber weiterziehen. Ich muss üben. Weißt Du, ich glaube, ich habe mich geirrt. Von der Meise habe ich nur geträumt. Als erstes Lebewesen sah ich einen Menschen! Ich werde als Mensch wiedergeboren. Passt gut, kann ich Dosen öffnen. Und jetzt wird das Laufen weiter geübt. War schön, Dich kennengelernt zu haben. Aber jetzt verschwinde besser. Bin ja nicht mehr Dein zukünftiger Bruder, also könnte ich Dich auch verspeisen wollen.“
Schnelle Feder lässt sich nicht zweimal auffordern. Er hebt sich in die Luft und steuert auf ein Dorf zu. Vielleicht findet sich dort ein offenes Fenster. Und ein Computer.
Lächelnd schaut der Kater ihm nach.
(Anmerkung des stillen Beobachters: Endlich kommt Bewegung in die Geschichte. Hat ja lange genug gedauert, bis Schnelle Feder dort war, wo er hin sollte. Jetzt lassen wir ihn erstmal alles in Ruhe verarbeiten. Demnächst geht es weiter. Mit dem Kapitel: Vollmondmagie, oder wie eine Meise den PC bedient. Bis dahin verabschiedet sich Ihr ergebener Beobachter,)
Texte: Text und Bilder: Regina Krause
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich einer kleinen Meise, die eines Tages mutig in mein Zimmer flog, einen Faden aus meinem Bastteppich zog und Richtung Nest verschwand ;-)