Abschied
Ein Blatt Papier, nur ein Wort darauf.
Nachruf
Nachdenklich strich sich Sarah eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie kaute an ihrem Kuli. Die Arbeit an diesem Text fiel ihr so schwer. Aber sie war eben der „Schreiberling“ der Familie. Und deswegen fiel ihr der Part zu, für die Verstorbene einen Nachruf zu verfassen. Einen Nachruf für ihre geliebte Großmutter.
Ihre Gedanken schweiften ab. Schnell war es am Ende gegangen. Noch vor zwei Wochen war die alte Dame rüstig und sehr lebendig gewesen. Sie interessierte sich für die aktuelle Politik, übte Ehrenämter aus und hatte eigentlich nie genug Zeit für all das, was sie im Alltag beschäftigte. Dann kam der Schlaganfall, wie aus heiterem Himmel. Und dann sehr schnell das Ende.
Sarah wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ihre Oma, die sie liebevoll durch stürmische und bedrohliche Zeiten gelotst hatte, sie war nicht mehr bei ihr. Es war noch immer unvorstellbar. Es konnte nicht real sein. Es durfte nicht sein. Viele Tränen hatte Sarah schon vergossen, sie war wütend und verzweifelt.
Sarah stand von ihrem Schreibtisch auf und ging in die Küche. Ein Blick aus dem Fenster zeigte einen herrlichen Sommertag. Sie wohnte am Stadtrand. Gleich hinter ihrem Küchenfenster erstreckten sich blühende Weizenfelder, in der Ferne war ein Wald zu erkennen.
„Ich brauche Sommerluft und einen Spaziergang“, dachte Sarah und schlüpfte in ihre Sandalen. Sie verließ das Haus und schlenderte über einen Feldweg in Richtung Wald.
Erinnerungen stiegen in ihr auf. Ihre Großmutter war Schneiderin gewesen, im Krieg nähte sie für Bauernfamilien, bezahlt wurde sie mit Milch, Eiern, Brot. Aus diesen Geschäftsbeziehungen entstanden Freundschaften, die auch nach Ende des Krieges noch Bestand hatten. Und so kam Sarah als Kind in den Genuss vieler wunderbarer Sommeraufenthalte auf Bauernhöfen. Dort hatte sie ein freies, unbeschwertes Leben.
Sarah lächelte bei ihren Gedanken. Immer, wenn sie an Kornfeldern vorbei kam, waren sie da, diese Erinnerungen. Die Farben, der ganz besondere Duft versetzten sie jedes Mal in die glücklichste Zeit ihrer Kindheit.
Inzwischen hatte sie den Waldrand erreicht. Die Sonne war auf dem Zenit ihrer Kraft und so war Sarah froh, sich im Schatten eines Baumes niederlassen zu können. Die dichten Blätter ließen nur wenig Strahlen durch, Sarah fühlte sich beschützt unter diesem lebenden Dach. Sie wurde schläfrig.
„Sarah“, hörte sie plötzlich eine Stimme rufen. „Kind, hörst Du mich?“
Sarah schaute sich um, sie sah niemanden. Aber die Stimme kam ihr bekannt vor.
„Oma“, flüsterte sie fragend. „Bist Du das? Wo bist Du?“
Im Blätterdach rauschte es. „Ja, ich bin es, spreche durch diesen Baum zu Dir. Ich bin so froh, dass Du mich hören kannst. Deine große Traurigkeit und Verzweiflung über meinen Tod habe ich gespürt und ich muss noch einmal mit Dir reden. Bevor ich wirklich diese Welt hier loslassen kann. Sarah, mir geht es gut. Es gibt keinen Grund, so traurig zu sein. Ich hatte ein langes, erfülltes Leben. Nun ist es an der Zeit, zu gehen. Es ist gut so.“
Sarah schüttelte den Kopf. „Aber Oma, Du fehlst mir so. Ohne Dich ist da eine so große Lücke. Wie soll ich die füllen?“
„Du tust es doch schon“, hörte sie die Antwort. „Bei dem Weizenfeld hast Du an mich gedacht, weil das Feld und ich für Dich zusammengehören. Und Du findest mich im Rauschen der Blätter. Denk an die vielen Waldwanderungen, die wir gemacht haben. In Deiner Erinnerung bin ich immer da, wenn Du es zulässt. Halt mich nicht fest mit Deinen Tränen. Lass mich gehen. Auf die andere Seite. Und trage die Erinnerung in Dir. Dann bist Du nicht allein.“
Sarah schreckte hoch. Eine Hummel war direkt an ihrem Ohr vorbeigebrummt. Etwas benommen rieb sie sich die Augen. Die Worte ihrer Großmutter hallten noch in ihrem Kopf nach. „Ich muss fest eingeschlafen sein und geträumt haben,“ dachte sie. „Aber es war ein schöner, tröstender Traum.“
Sie erhob sich und machte sich auf den Heimweg. Ihre Augen schweiften über das Kornfeld. „Es stimmt,“ flüsterte sie. „In jedem Halm ist ein Stück Erinnerung an Oma. Ich muss nur vor die Tür gehen und sie ist mir nahe.“ Dann pflückte sie einen kleinen Strauß aus Weizenhalmen. „Die kommen zu Hause neben das Bild von Oma“, dachte sie. "Und immer, wenn sie mir fehlt, immer, wenn die Tränen wieder kommen wollen, dann werde ich sie ansehen. Oma hat recht, ich muss loslassen. Aber loslassen heißt ja nicht, vergessen.“
Zuhause setzte sie sich gleich wieder an den Schreibtisch. Das Blatt mit dem Titel „Nachruf“ füllte sich schnell. Und beim Schreiben flossen keine Tränen mehr, sondern ein Lächeln lag auf Sarahs Gesicht. Sie schloss den Text ab mit einem kleinen Gedicht:
Nun bist Du drüben,
auf der anderen Seite.
Hier bleibt die Liebe.
Der Fluss des Lebens
steht still für einen Moment.
Aber ein Trost bleibt.
Nichts vergeht wirklich.
Rauscht Wind durch grüne Blätter,
dann sprichst Du zu uns.
Und im Wogen des Korns
da lebt die Erinnerung.
Nichts vergeht wirklich.
Texte: Bilder und Text:Regina Krause
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet meinen Großeltern. In der Erinnerung sind sie lebendig