Der Zaubergarten
Ohne ein Wort des Grußes stürmte Petra zur Tür herein, pfefferte ihren Ranzen in die Ecke und verschwand in ihrem Zimmer. Ihre Mutter schaute ihr nachdenklich hinterher. Solche Auftritte geschahen in der letzten Zeit öfter. Etwas schien ihre Tochter sehr zu belasten, aber sie wollte nicht reden. Sie wollte nur allein in ihrem Zimmer sein. Petras Mutter seufzte. Lange konnte sie das nicht mehr mit ansehen. Aber was sollte sie tun? Petra schwieg beharrlich, wenn sie zur Rede gestellt wurde. Ein Gespräch mit Petras Lehrerin hatte auch keine Ansatzpunkte gezeigt.
In ihrem Zimmer hatte sich Petra bäuchlings auf das Bett geworfen. Tränen rannen über ihre Wangen. „Mistzicken, blöde!“ schluchzte sie. „Warum lassen sie mich nicht in Ruhe? Ich hab ihnen doch nichts getan.“
Ihre Gedanken schweiften zurück zu ihrem Heimweg von der Schule. Zunächst hatte es so ausgesehen, als wenn sie ungeschoren davon käme. Aber dann, in der letzten Seitengasse vor ihrer Wohnung, hörte sie ihre Stimmen. Die beiden hatten in einem Hauseingang auf sie gewartet.
„Ja, wen haben wir denn da?“ säuselte Doris mit zuckersüßer Stimme. „Hast Du nicht was vergessen?“. Petra zitterte, aber sie versuchte, das große, starke Mädchen tapfer anzuschauen. „Ich habe kein Geld mehr“ stammelte sie. „Ich hab euch schon alles gegeben. Sogar meine Spardose ist leer.“ Doris lachte gehässig. Und Ines, viel kleiner als Doris, aber ungeheuer schnell und immer mit einem Taschenmesser unterwegs, meinte nur lakonisch: „Deine Mutter hat aber doch sicher Geld. Gehst Du halt an ihre Geldbörse. Du weißt, was passiert, wenn Du es nicht tust.“ Spielerisch wirbelte sie dabei mit dem Messer. Petra zuckte zusammen. „Besorg uns bis morgen Geld. Und wehe, Du redest mit jemandem. Wir nehmen Dich auseinander, wenn Du uns verrätst.“
Petra nickte wortlos. Dann gaben die Mädchen ihr den Weg frei und gingen lachend davon.
Während Petra in Gedanken noch einmal die Situation erlebte, überkam sie eine große Müdigkeit. „Wer kann mir helfen?“ murmelte sie noch leise, dann versiegten die Tränen und sie schlief ein.
„Petra“ hörte sie plötzlich ihren Namen leise rufen, „Petra, komm her. Wir wollen Dir etwas zeigen.“ Verschreckt setzte sie sich auf. Alles um sie war ihr fremd. Sie lag nicht in ihrem Bett, sondern sie war auf einer kleinen, sattgrünen Insel. Leise und beruhigend plätscherten Wellen an den Strand. Sie schaute sich um. „Petra, sieh zum Felsen. Da bin ich!“ hörte sie wieder die Stimme. Sie folgte der Aufforderung. Und dann sah sie ihn. Wie ein Wächter thronte er auf einem felsigen Hügel. Ein saphirblauer, wunderschöner, riesiger Drache. Petra verspürte keine Angst. Sie war einfach fasziniert. „Wo bin ich?“ fragte sie.
„In Deinem Zaubergarten, tief in Dir.“ antwortete der Drache. „Hier wohnen wir, Deine Beschützer und Helfer. Wir haben darauf gewartet, dass Du uns rufst.“
„Wir?“ Petra sah sich bei ihrer Frage um. „Ich sehe außer Dir niemanden.“ Der Drache lachte leise. „Sie werden sich Dir zeigen, bitte habe etwas Geduld. Lass mich erst erklären, wer wir sind.“
Er breitete die Flügel aus, schwang sich hoch in die Luft. Das Sonnenlicht ließ seine Schuppen aufleuchten wie Diamanten. Er landete neben Petra im Sand. „Wir sind Deine Kraft, Dein Mut, Deine Zuversicht. Mit uns an der Seite kann Dir nichts passieren. Nicht hier im Zaubergarten, aber auch nicht in der anderen Welt, in der Du lebst.“
„Warum habe ich euch dann bisher nicht kennen gelernt?“ entgegnete Petra.
„Weil Du uns nicht brauchtest. Du konntest Deine Probleme alleine lösen. Aber jetzt wird es Zeit, dass wir Dir helfen. Wir haben Deinen Ruf gehört, Deine Verzweiflung gespürt.“
Es raschelte zwischen den Bäumen, die etwas entfernt vom Strand einen kleinen Wald bildeten. Petra schaute sofort hin. Aus dem Wäldchen trat eine majestätische Erscheinung. Ein geflügelter Löwe, purpurrot. Er war prächtig anzusehen. Wieder verspürte Petra keine Angst. Im Gegenteil, sie wäre am liebsten auf den Löwen geklettert und mit ihm davon geflogen.
Während Petra ihn noch staunend musterte, hörte sie Hufgeklapper. Und über den Strand trabte ein weiteres Wundertier auf sie zu, ein schneeweißes Einhorn. Es stoppte kurz vor Petra und senkte anmutig seinen Kopf .
„Hier sind wir“, schnaubte es. „Der Drache ist Dein Mut, der geflügelte Löwe Deine Kraft, ich bin Deine Zuversicht. Wir sind ein Teil von Dir, sorgen dafür, dass dieser Zaubergarten in Dir beschützt wird, damit Du aus seiner Kraft schöpfen kannst.
Petra streckte zögernd ihre Hand aus. Das Einhorn senkte seinen Kopf tiefer und ließ sich streicheln. Der Löwe schmiegte seinen starken Körper an sie.
Hoch oben am Himmel sah sie einen feuerroten Vogel kreisen. "Ist das auch ein Beschützer von mir?" fragte sie staunend.
"Oh ja", antwortete der Löwe. "Es ist der Phönix. Er erscheint immer, wenn Du uns rufst. Denn dann bist Du bereit, aufzustehen und für Dich zu kämpfen."
Petra ließ sich in den warmen Sand fallen. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Sie fühlte sich sicher, getröstet. Ach, könnte sie doch für immer hier bleiben!
Lautes Klopfen schreckte sie auf. Die Stimme ihrer Mutter ertönte: „Petra, willst Du den ganzen Tag in Deinem Zimmer hocken? Du musst doch essen! Komm bitte in die Küche.“
Petra rieb sich die Augen. Sie war wieder in ihrem Zimmer. Der Wecker zeigte ihr, dass sie vier Stunden geschlafen hatte. An den Traum von der Zauberinsel, an deren Bewohner, konnte sie sich gut erinnern. Sie hörte noch die Stimmen ihrer Beschützer, das Plätschern des Wassers. Und fühlte den Warmen Sand, die Sonnenstrahlen.
„Ich komme gleich“, rief sie. Schnell nahm sie ihren Zeichenblock zur Hand, ihre Buntstifte. Und malte eine Skizze des Zaubergartens und seiner Bewohner. Das Bild hing sie über ihr Bett. Sie fühlte sich leicht. Und zuversichtlich.
Dann ging sie in die Küche. Petra aß mit Heißhunger das bereitgestellte Mahl. Ihre Mutter musterte sie. „Petra“, setzte sie an. „Gibt es da etwas, das Du mir erzählen solltest?“ Petra führte sich genüsslich die letzte Gabel mit Spagetti zu. „Nein, im Moment nicht.“ antwortete sie. „Nein, es ist alles ok. Jetzt ist alles ok.“
Ihre Mutter schüttelte resigniert den Kopf. „Ich komme an dieses Kind nicht mehr heran.“ dachte sie.
Am nächsten Morgen wurde Petra ausgeschlafen und entspannt wach. Das hatte es schon länger nicht gegeben. In den letzten Wochen hatte sie Angst vor dem Schlaf gehabt. Angst davor, dass die Nacht enden würde und ein neuer Tag mit ihren Plagegeistern begann. Ihr Blick fiel auf die Traumgartenskizze. Sie nahm sie von der Wand und packte sie in ihre Schultasche. „Drache, Löwe und Einhorn sind bei mir.“ dachte sie. „Doris und Ines werden sich wundern.“
Nach der Schule machte sie sich zuversichtlich auf den Heimweg, sie meinte zu spüren, wie das Einhorn neben ihr trabte, vernahm ein leises Schnauben neben ihrem Ohr. Und bald sah sie auch schon ihre Quälgeister. Ines und Doris lümmelten wieder in dem Hauseingang. Feixend traten sie hervor. Ines hatte ihr Taschenmesser in der Hand.
„Hey, Kleine“ Doris war wieder die Wortführerin, „so geht es aber nicht. Gestern kein Geld von Dir, heute keins. Ich glaube, wir müssen Dir mal wieder eine Abreibung verpassen.“
Petra rief sich das Bild des Drachens vor ihr inneres Auge. Spürte sein Feuer. Es hüllte sie ein wie ein unsichtbares Schild. Mutig, stolz aufgerichtet ,ging sie einen Schritt auf ihre Widersacherinnen zu. Die trauten ihren Augen nicht. Und bald auch nicht mehr ihren Ohren. „Macht Platz“, fauchte Petra. „Von mir bekommt ihr gar nichts mehr. Das Spiel ist aus. Ihr seid feige, wenn ihr zu zweit auf ein kleines Mädchen losgeht. Und mit Feiglingen werde ich spielend fertig! Denn ich habe Mut! Im Gegensatz zu euch.“
Ines erholte sich als erste von ihrer Überraschung. „Nana,“ erwiderte sie. „Wer spuckt denn da so große Töne?“ Ihr Taschenmesser funkelte im Sonnenlicht. „Jetzt krieg Dich mal wieder ein und rück brav Geld heraus. Du hast doch keine Chance gegen uns.“
Petra dachte an den Löwen. Und schneller, als Ines reagieren konnte, rammte sie dem Mädchen ihren Kopf in den Bauch. Ines schnappte nach Luft und krümmte sich zusammen. Das Messer fiel ihr aus der Hand. Doris wollte eingreifen, aber Petra war schon herumgewirbelt und schleuderte ihr die Schultasche entgegen. Doris geriet aus dem Gleichgewicht. Schnell hob Petra das Messer auf. „Haut ab, bevor ich ernst mache“, drohte sie. Ihre grünen Augen funkelten wütend.
Die beiden Angreiferinnen schauten sich verunsichert an. Dann nickten sie sich zu und gaben Fersengeld. „Gut gebrüllt, Löwe“, hörte Petra eine Stimme in ihrem Kopf.
Sie grinste und ging dann eilig nach Hause.
Zum Erstaunen ihrer Mutter setzte sie sich gleich in die Küche. Mit großem Appetit nahm sie ihr Mittagessen zu sich. Und dann erzählte sie. Nicht vom Zaubergarten und seinen Bewohnern. Das war ihr großes Geheimnis. Aber von Ines und Doris.
Ihre Mutter erstattete Anzeige und es stellte sich heraus, dass Petra nicht das einzige Opfer der beiden war. Der Mut von Petra sprach sich herum und auch andere Mädchen trauten sich, gegen Doris und Ines auszusagen.
Die beiden würden so schnell keine Gelegenheit mehr haben, jüngere Mädchen abzuziehen.
Und im Zaubergarten, bei einer hell sprudelnden Quelle, trafen sich Löwe, Drache und Einhorn. Sie waren zufrieden. Für dieses Mal war ihre Arbeit getan. Aber sie würden weiter wachen über Petra. Ihr Mädchen würde noch oft einer Doris oder Ines begegnen. Und vielleicht ihre Hilfe ein weiteres Mal brauchen.
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2009
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Widmung:
Text und Bilder: Regina Krause