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"Frankee James!", rief Mr.Willkins, der Lehrer des diesjährigen Literaturkurses auf.
Nichts, außer der gewöhnliche Geräuschpegel wurde ihm entgegnet. Er führ sich stöhnend durch sein pechschwarzes Haar, ließ das dicke grüne Buch, das er in seiner rechten Hand hielt auf den Pult fallen und rief erneut, diesmal lautstärker aus: "FRANKEE JAMES!"
Die Schüler verstummten für einen Augenblick beim Aufprall des Buches und starrten ihren Lehrer etwas entgeistert an.
"Wenn dieser Frankee hier wäre, hätte er sich doch gemeldet, oder nicht?", kommentierte ein Schüler der letzten Reihe in einem bitteren Unterton.
Mr.Willkins schnaubte genervt. "Es hätte ja auch sein können, dass Frankee gegen diese Geräuschkulisse nicht entgegenkommt, oder nicht?"
Belustigtes Gelächter ging durch die Klasse.
"Ich hoffe nur für sie, dass dieser Frankee nicht annähernd so heiß ist wie Sie, Derek.", sagte Carylinne Phorbes provozierend, während sie kaugummikauend an ihrem goldblonden Zopf rumspielte und vermutlich versuchte in dem Moment verführerisch zu wirken.
Doch Derek Willkins ließ dies mittlerweile kalt. Schon als er erfahren hatte, dass Carylinne das Jahr wiederholen würde, hatte er damit gerechnet, dass er einer der wenigen Opfer ihres anzüglichen Verhaltens sein würde.
Ihm blieb ohnehin keine weitere Möglichkeit über das eben gesagte nachzudenken, denn im nächsten Moment öffnete sich quietschend die Tür des Unterrichtsraumes und ein Mädchen trat ein.
Das erste was auffiel war ihre enorme Löwenmähne, die man auch als Afrolocken bezeichnen hätte können. Verwirrt schaute diese mit ihren großen, kastanienbraunen Augen um sich herum. Wie ein verschrecktes Reh sah sie aus.
Resigniert zog sie die orange-rote Wollmütze zurecht, die sie vermutlich zwanghaft über ihre nahezu explosiven Haarpracht gezogen hatte.
Frankee James war also ein Mädchen. Ein ziemlich hübsches Mädchen, musste Derek Willkins sich eingestehen als er sie überrascht musterte.
Sie war kaum größer als 1,65 m und hatte eine schlanke Figur. Je länger er ihr Gesicht betrachtete, desto interessanter fand er dieses vor Nervosität kaugummikauende Mädchen, das im Sekundentakt von einem Fuß zum anderem tappte.
Ihr Gesicht war ovalförmig, symmetrisch abgestimmt mit ihrer kleinen Stupsnase und den schwungvoll geformten Lippen ihres Mundes.
Ihr Kleidungsstil war lässig. Eine, wahrscheinlich absichtlich, zum Teil zerrissene, breite Jeans in hellblau und ein enges, türkis-weiss kariertes Holzfäller-Hemd, dessen Ärmel sie bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte.
Mr. Willkins besann sich so langsam wieder, als das neugierige Getuschel sich nun im Klassenzimmer breit machte.
Er räusperte sich verlegen. "Du musst Frankee sein, nicht?"
"Jap.", lautete die präzise Antwort.
Dem jungen Lehrer entging es nicht, dass ihr Blick nervös durch den Raum schwirrte. Ihr war diese Situation vermutlich unangenehm. Verständlich.
Es war nie angenehm die Neue zu sein.
"Gut. Ersparen wir uns das ganze Kennenlern-Ding.", er wollte die Situation so gut wie möglich überspielen. "Wer etwas über Frankee wissen möchte, kann sie doch gern nach dem Unterricht in der Pause ansprechen. Ich würd jetzt gern mit dem Unterricht beginnen."
Frankee atmete erleichtert aus und war ihm mit ihrem Blick allein schon dankbar.
"Am besten du setzt dich dort hinten auf dem freien Platz neben Marques."
Dieser Marques schien recht erfreut zu sein über die Aussicht, das nächste Schuljahr neben einem hübschen Mädchen zu sitzen, das noch kein Opfer seiner meist vergeblichen Anmachen zu sein.
Sein breites Grinsen war kaum zu übersehen.
Frankee ließ sich nicht beirren und zwängte sich mit gesenktem Blick zwischen Tische und Stühle, um zu ihrem Platz zu gelangen. Die Blicke, die auf ihr hafteten ignorierte sie erfolgreich.
Derek Willkins verschwendete keine weitere Minute und begann sogleich mit dem ersten Akt aus Shakespeares Othello.

Florida war alles andere als eine Bestrafung, dachte sich Frankee. Sie ging von nun ab dort zur Schule, wo andere Urlaub machten. Sie lebte nun auch dort, wo andere Urlaub machten.
Was auch immer sich ihre Mutter dabei gedacht haben mochte, es hatte bei Frankee garantiert nicht die Reaktion ausgelöst, die sie ausgelöst haben sollte.
Die Aussichten auf die kommenden Monate, sie wollte noch nicht von Jahren sprechen, schienen ihr durchaus .. sonnig?
Bis jetzt hatte sie noch nie einen Ort so sehr geliebt, wo sie gelebt hatte, wie Manhattan, aber Miami schien ihr ein guter Ersatz.
Sie konnte sich noch an das Telefonat mit ihrer Mutter erinnern, als es hieß: "Frankee, ich denke es würde dir gut tun, wenn du mal lernst was es heißt, hart für etwas zu arbeiten wie jeder normale Mensch. Um nach oben zu kommen muss man auch mal unten gewesen sein und nicht so wie du, die sich das Leben zu leicht nimmt…"
Das fiel ihr jetzt ein, hatte sich Frankee gedacht, nach einem 16-Jährigen Verwöhnungsprogramm?
Frankee war es gewohnt immer all das zu bekommen was sie wollte. Nie war sie in ihre Schranken gewiesen worden.
Ihr rebellisches Verhalten, das sie sich die letzten Monaten angeeignet hatte konnte man vermutlich in psychologischer Hinsicht als Versuch interpretieren, ihre Grenzen auszutesten.
Gab es denn Grenzen? Hatte es jemals welche gegeben?
Sie tat was sie wollte und wie sie wollte, denn schließlich gab es auch niemanden, der sie kontrollieren konnte.
Ihre Mutter war schließlich Dreah Sullivan. Und Dreah Sullivan war eines der bekanntesten und erfolgreichsten Models und Werbeikonen der Welt.
Während sie durch die Welt pendelte, ihren Beruf eifrig nachging, hinterließ sie ihre nun fast erwachsene Tochter allein daheim, was dazu geführt hatte, dass Frankee mit ihren 16 Jahren selbstständiger war, als so manch anderer in ihrem Alter.
Frankee seufzte.
Das einzige Negative an diesem Umzug zu ihrer Tante war die Tatsache, dass sie ihren Vater nicht mehr besuchen konnte.
Ihm jeden Freitag seine versprochenen Sonnenblume bringen. Helianthus annuus.
Seine Lieblingsblume, nach der sie auch benannt war. Frankee Helia James.
Das einzige was ihr jetzt noch von ihm übrig geblieben war. Sein Name. Frank James.
Es war hauptsächlich ihre Entscheidung gewesen den Nachnamen ihres Vaters anzunehmen.
Sie fühlte sich so rücksichtslos, als würde sie seinen Grab verwahrlosen lassen.
Es gab ja sonst niemanden, den Frank James kümmerte.
Ihre Mutter vermied es seinen Grab zu besuchen, wenn sie mal in Manhattan war und einst hatte sie es Frankee versucht auszureden dorthin zu gehen. Sie würde sich doch nur selbst wehtun, hieß es.
Aber Frankee liebte ihren Dad. Sie hatte ihn schon immer geliebt. Schon damals als kleines Kind, als ihre Mutter ihr noch Geschichten von ihm erzählt hatte und seine Persönlichkeit beschrieben hatte.
Sie hatte ihn selbst noch nie gekannt. Aber geliebt.
Vielleicht auch nur, weil sie immer das Gefühl vermittelt bekommen hatte, dass sich niemand um ihn sorgte, außer sie.
Niemand besuchte sein Grab. Niemand pflegte es. Und mittlerweile sprach auch niemand mehr über ihn.
Er war schon immer solch ein Geheimnis gewesen. Und Frankee hatte sich ihn immer so zurecht gemalt, wie es ihre Fantasie erlaubt hatte.
Er wäre bestimmt ein liebender Vater gewesen.
Doch nun war sie hier. In Miami. Und er dort. In Manhattan.
Innerlich lachte sie. Hatte ihre Mutter sich das Ganze etwa so vorgestellt?
Nach der Schule ab und an in dem Surfshop ihrer Tante aushelfen?
Welch Ironie des Schicksals aber auch, dachte sie amüsiert.
Das einzige, was hier hart werden würde, dachte sie sich, wäre vermutlich den richtigen Lichtschutzfaktor ihrer Sonnencreme zu erkunden.
Sie konnte sich bei dem Gedanken das verstohlene Grinsen nicht entziehen.
"Hey Traumtänzerin.", Marques rieß sie abrupt aus ihrer Gedankenwelt. "Der Unterricht ist zu Ende. Oder möchtest du hier die Pause verbringen?"
Etwas beschämt und verwirrt zugleich schaute sie ihn einen Augenblick lang an. Außer einem "Oh" fiel ihr nix ein.
Ehe sie samt ihrer Bücher unter dem Arm den Klassenraum verlassen konnte, rief Mr.Willkins sie zu sich.
Seufzend schlenderte sie zurück zum Pult. Sie war alles andere als interessiert jetzt ein Lehrer-Schüler-Willkommens-Gespräch zu führen.
"Frankee ist ein außergewöhnlicher Name.", sagte er.
Frankee nickte dezent. "Jap."
Und sie war genauso wenig daran interessiert, ihn jetzt zu erklären wovon der Name abgeleitet worden war. Das würde nur zu weiteren Fragen führen und ehe sie sich versah, hätte sie die Pause im Klassenzimmer mit ihrem Lehrer verbracht.
Die Tatsache, dass er nicht viel viel älter als sie sein konnte und auch zudem auch noch ein recht ansehnlicher Mann war, beunruhigte sie umso mehr.
Wieso das so war, konnte sie sich selbst nicht erklären.
" ... gefällt es dir denn hier auf der Miami Beach Senior High?"
Bis jetzt hatte sie nicht gerade die Möglichkeit gehabt viel davon zu sehen und dieser Mr.Willkins war nicht grad unschuldig dran. "Jap."
Ehe er noch eine weitere Frage stellen konnte, die sie so oder so mit einem weiteren "Jap." beantwortet hätte, platzte Marques erneut ins Klassenzimmer.
Er grinste. "Hey Frankee Dee, kommst du?"
Frankee Dee? Wie auch immer, er war ihre Rettung und sie war dankbar.
Es war völlig irrelevant wie er sie nannte in diesem Augenblick, obwohl sie Kosenamen hasste.
Zufrieden nickte sie, warf Mr.Willkins noch einen letzten Blick zu und folgte daraufhin Marques hinaus.
"Danke.", sagte sie erleichtert, als sie den Klassenraum verlassen hatten.
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ach, kein Problem, Frankee Dee. Der Typ hat irgendwie den Drang sich für seine Schüler zu sorgen, vor allen für solche hübschen wie dich."
Sie zweifelte es nicht mal eine Sekunde an, dass dies ein versuchter Flirt sein sollte, entgegnete aber nichts.

Sie hatte die Schnauze voll. Sie hatte die Schnauze endgültig voll von seinen Allüren, Attitüden … von ihm halt!
Es konnte so einfach nicht mehr weitergehen. Das war schlecht für sie. Und vor allen Dingen schlecht für ihn, natürlich.
Ihm stieg sein Fame bestimmt zu Kopf, denn er war ja so toll und konnte sie immer wieder abwimmeln und abblitzen lassen, wenn er wollte.
Es gab kaum einen Jungen auf der Miami Beach Senior High School, der nicht von ihr schwärmte.
Der nicht davon träumte, einmal mit Erica Foster auszugehen.
Aber er anscheinend nicht. Schnaubend fuhr sie sich durchs kurze, struppige blonde Haar.
Nein. Es konnte unmöglich an ihr liegen. Und auch unmöglich an einem anderem Mädchen.
Was war nur los mit ihm? War er schwul?
Eine andere Erklärung gab es für sein Verhalten nämlich nicht. Oder doch?
Er ließ reihenweise Mädchen abblitzen, die auch nur versuchten sich ihm anzunähern.
Sein kühler Blick allein reichte schon nur, um jemanden abzuschrecken oder abzuwimmeln in dem Falle. Er war halt kein Mann großer Worte.
Erklärte auch die Tatsache, warum man ihn immer nur isoliert und vertieft in seine Gedanken zu sehen bekam.
Vermutlich fielen ihm so am besten seine Songtexte ein.
Auf Schulbällen gab es für ihn nur eine Begleitung. Immer dieselbe.
Sie. Lola.
Er ließ sie nie aus den Händen oder Augen. Stets an seiner Seite.
Seine Gitarre, mit der Aufschrift "Lola".
Er kam. Er sang. Er ging. Und hinterließ natürlich eine rosarote Wolke hinter sich.
Nahezu jede Schülerin umschmachtete ihn.
Während er sang, war es praktisch unmöglich sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf seinen Gesang. Seine Präsenz.
Ein faszinierender Augenblick, immer wieder.
Seine grellleuchtenden, grauen Augen, immer zum Boden gesenkt. Seine tiefe und jedoch zarte Stimme, die bei jedem Lied zeigte, wie sehr er seine Worte lebte.
Sehnsucht. Trauer. Und immer dieses eine Mädchen, von dem er sang. She.
Wer war dieses Mädchen, die er suchte? Laut seinen Texten, war sie irgendwo dort draußen und wartete darauf, gefunden zu werden.
Erica zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie gemeint war. Wer denn sonst?
Wer konnte ihr denn vom Aussehen, vom Wesen her denn das Wasser auch nur annähernd reichen?
Selbstbewusst grinste sie in sich hinein. Es konnte zumindest niemand der Miami Beach Senior High sein.
Und dass er sich in seiner Freizeit mit einem Mädchen traf, war ihrer Meinung nach, sehr unwahrscheinlich.
Also gut. Er wollte dieses Spiel, also würde er es kriegen.
Und sie würde ihn kriegen. Erica Foster bekam immer all das, was sie sich in den Kopf setzte zu kriegen.
Sie zog ihr grünes trägerloses Oberteil zurecht und schlenderte, mit Mut getankt, in den Probesaal.
Es war keine Überraschung ihn dort am Rande der Bühne sitzen zu sehen. Er packte grad seine Sachen zusammen.
"Hey Dante!", ihr Aussehen war ihr Kapital, also setzte sie sich in Szene und lächelte. "Bist du schon fertig für heute? Brauchen den Saal nämlich gleich."
Was für eine Dumme Anmache, sie hatte doch gesehen, dass er grad packte. Sie biss sich dezent auf die Zunge.
Dante wandte seinen Blick nicht mal zu ihr, als er an ihr vorbeiging. "Bin fertig."
Ehe sie sich noch schnell etwas einfallen lassen konnte, hatte er schon den Raum verlassen und auch die Tür hinter sich geschlossen.

Die Tage kamen und gingen. Die Wochen verstrichen nur so vor sich hin und ehe Frankee sich versehen konnte waren auch schon zwei Monate vergangen, seitdem sie nach Miami gezogen war.
Mittlerweile war sie nicht mehr nur noch "Die Neue".
Man konnte es als Glanzleistung betiteln, dass sie es geschafft hatte sich innerhalb von insgesamt acht Wochen nur einen großen Bekanntenkreis zu erarbeiten.
Auf den Schulfluren wurde sie regelmäßig gegrüßt anstatt umgangen zu werden, wie die meisten Neulinge an der Miami Beach Senior High. Und auch im Sportunterricht war es keine unangenehme Problemsituation mehr, wenn die Mannschaften geteilt wurden, von irgendeinem Schüler gewählt zu werden.
Präzise, Frankee war zwar nicht das beliebteste Mädchen auf der High School, aber sie wurde gemocht.
Trotz alledem verbrachte sie ihre Pausen meist nur Marques und Jenna Hawks.
Jenna war die Redakteurin der Schülerzeitung und ein helles Köpfchen. Man konnte sagen, sie besaß eine überdurschnittliche Intelligenz und stellte dies auch nur zu gern zur Schau, sobald sich die Möglichkeit ergab. Also immer.
Sie war klein, niedlich und um keine Worte verlegen. Journalistencharakter, pflegte Marques immer zu sagen.
Jenna, auch Jen genannt, war ziemlich quirlig, hatte einen dauerhaft bestehenden nervösen Zustand und saß nie still. Frankee war der Meinung, dass es schon an Hyperaktivität grenzte.
Falls sie nicht mal aus Langweile oder trübselig am Ende ihres Bleistifts kaute, einen Artikel schrieb oder mit ihrem Blackberry irgendetwas bloggte auf ihrer Homepage, dann spielte sie sich gern in ihren mittellangen, braunblonden welligen Haaren. Dabei verdrehte sie tagträumend ihre grünen Augen und wirkte dabei, wider willens, kindlich und süß.
Trotz all ihrer Macken hegte Frankee große Sympathie für Jenna. Sie verstanden sich einfach.
Als sie da so da stand, gedankenverloren, fiel ihr auf, anhand eines Blickes auf ihre Armbanduhr, dass sie schon seit zehn Minuten vergebens auf Jenna wartete.
Sie schnaubte genervt. Die Locke die soeben noch in ihrem Gesicht hing flatterte brav zurück.
"War ja klar, Jen.", seufzte sie kaum hörbar, während sie ihr Fahrradschloß öffnete.
Das war typisch Jenna. Vermutlich hatte sie sich schon längst in ihrer Redaktion verbarrikadiert, um irgendwelche Artikel zu korrigieren und somit vergessen ihr Bescheid zu geben, dass sie nach Schulschluss nicht heimfahren würde.
Ein Hoch auf die Telekommunikation, dachte sich Frankee pragmatisch und stieg auf ihr Rad. Benutzte sie ihr Blackberry etwa nur für das Bloggen?
Ehe sie losfahren konnte spürte sie einen kalten Luftzug und bekam schlagartig Gänsehaut, was ziemlich ungewöhnlich war bei den hitzigen Graden.
Ihre überaus fürsorgliche Tante Theresa packte ihr jeden Morgen, in diesem Fall zum Glück, ein leichtes Jäckchen ein, für jeden Fall.
Wer hätte je gedacht, dass man in Miami eine Jacke anziehen musste?
Sie stützte sich ab und wandte sich um, um in ihren Rucksack zu greifen, der im Korb lag, als sie schlagartig den Atem anhielt. Erschrocken klammerte sie sich an ihren Fahrradsitz.
Er stand da einfach hinter ihr. Sie hatte ihn weder kommen sehen oder hören.
Von nichts war er einfach aufgetaucht und stand jetzt mit einem ihr nicht definierbaren Blick vor ihr.
Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie anschaute, was aber nicht ganz unwahrscheinlich war, da er direkt vor ihrer Nase stand.
Sie konnte wahrnehmen, wie er seinen Zeichenlock unterm Arm fester griff und im nächsten Augenblick lief er, ohne ihr eines Blickes zu würdigen, an ihr vorbei.
Der Gedanke allein war schon lächerlich, aber sie hätte meinen können, dass mit ihm diese Kälte gekommen war..
" … uh uh, Frankee, der ist ‘ne andere Liga. Nichts für dich. Nichts für mich. Für niemanden eigentlich … haha.", Jenna’s Worte fielen ihr wieder ein, von der allerersten Begegnung mit Dante Craig.
"Dante Craig ist ein mit sieben Siegeln geschlossenes Buch.", hatte sie damals gesagt."Den knackt keiner."
Jeder der von Dante Craig sprach, lobte ihn in den höchsten Tönen oder sprach von ihm als sei er das achte Weltwunder in menschlicher Gestalt.
Es schien ihr so, als sei der geheimnisvolle Schulschwarm. Er sah ja nicht schlecht aus, im Gegenteil.
Sein pechschwarzes, kurzes Haar und seine auffallend hellgrauen Augen, die im Kontrast zueinander standen, sprachen schon allein für sich. Und die Tatsache, dass er solch ein guter Sänger war, war nur ein weiterer Punkt für ihn.
Nein, dass ließ sich nicht verleugnen. Das wusste Frankee nur zu gut.
Doch trotz alledem – nein, sie fuhr nicht auf ihn ab.
Wer war er schon, dass soviele Menschen ihm Aufmerksamkeit schenkten?
Er war nicht introvertiert, sondern schlichtweg arrogant und überheblich, was kein Wunder war bei der Anzahl von Verehrinnen.
Je mehr sie von ihm zu hören bekam, desto mehr Antipathie entstand ihrerseits. Dante hier. Dante dort.
Anfangs war er ihr noch gleichgültig gewesen, doch mittlerweile konnte sie seinen Namen nicht mehr hören. Dante wer?
Wutentbrannt durch das Geschehnis soeben stieg sie auf ihr Fahrrad und machte sich auf dem Heimweg.
Es war nichts außergewöhnliches, dass Dreah Sullivan sich tagelang nicht meldete. Frankee war es gewohnt. Aber nun waren mittlerweile schon besagte acht Wochen vergangen seit ihrem letzten Anruf, der grade mal fünfzehn Minuten lang gedauert hatte.
"... ich möchte, dass du Tante Theresa mit Respekt behandelst, Frankee.", waren einer ihrer letzten Worte gewesen.
Sie wusste nicht wie sie mit ihrem mulmigen Gefühl im Magen umgehen sollte, als sie grad hereinkam und es erneut hieß: "Sie hat noch nicht angerufen."
Trotz der Distanz, die sie von ihrer Mutter trennte und trotz der Tatsache, dass sie nie ein typisches Mutter-Tochter-Verhältnis gehabt hatten, konnte sie innerlich nicht verleugnen, dass sie sich sorgte.
Ihre Mutter war eine schwer beschäftigte Frau, die von einem Werbedreh zum nächsten Fotoshooting jetete, also war es nicht wunderlich, dass sie nicht ständig die Möglichkeit hatte sich zu melden.
Aber es waren noch nie drei Tage vergangen, wo sie ihre Tochter nicht telefonisch oder per Mail kontaktiert hatte, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen.
Und acht Wochen waren ein gewaltiger Unterschied zu drei Tagen.
War irgendetwas geschehen?
"...mach dir keinen Kopf, Schatz!", Theresa strich ihr sanft übers Haar und küsste mütterlich ihre Stirn. "Du kennst deine Mom – sie hat viel um die Ohren und wenn etwas passiert wäre, hätte sich das Management es uns sicher schon längst wissen lassen."
Sie verstand es sehr gut, jemanden zu beruhigen und sie hatte Recht.
Frankee wollte jetzt nicht hysterisch werden. Wozu denn auch?
Es war nichts passiert, außer der Tatsache, dass ein paar neue Spots gedreht werden mussten für sämtliche Kosmetikartikel.
"Hast du Hunger? Ich habe heute einmal ausnahmsweise gekocht."
Der 16-Jährigen entging es nicht, dass ihre Tante dieses überbreite, spitzbübische Grinsen aufgesetzt hatte. In der Küche roch es leicht verbrannt und Frankee wusste ganz genau, dass die Symbiose Tante Theresa und Kochen erneut gescheitert war.
Sie konnte sich nicht dran erinnern, jemals solch einer schlechten Hausfrau begegnet zu sein.
Schien wohl in der Familie zu liegen. Ihre Mutter hatte sie auch noch nie bei Hausarbeiten oder beim Kochen erlebt, was schon für sich selbst sprach.
Sie versuchte so rücksichtsvoll wie möglich zu wirken. "Ich bin ziemlich müde, weißt du? Ich denke, werde mich ein bisschen hinlegen und später etwas essen."
Ihre Tante lachte auf. "Hast wohl Angst vor einer Lebensmittelvergiftung, was? Ach Schätzchen, wenn du nur so gut schauspielern könntest wie deine Ma‘... also gut, ich werde gleich mal zum Surfshop rübergehen und Kendra unter die Arme greifen. In der Tiefkühltruhe sind noch ein paar Tiefkühlpizzas, die du dir aufwärmen kannst. Ich will dir ja nichts zumuten."
Mit diesen Worten, einem schallenden Gelächter und noch einen leichten Klaps auf Frankee’s Schulter verließ sie die Küche.
Kopfschüttelnd griff Frankee ihren Rucksack, den sie vorhin leichtsinnig auf den Küchentisch geschmissen hatte und wanderte nach oben in ihre Zimmer.
Ihr Zimmer. Ihr Reich.
Es war ein geräumiges, helles Dachbodenzimmer mit schrägen Wänden und großen Fenstern.
Das Zimmer teilte sich in zwei Ebenen somit auch in zwei Bereiche auf.
Die niedrige Ebene, auf der man sich befand, wenn man die zweiflüglige Holztür öffnete und das Zimmer betrat, diente als Wohnraum.
Dort befanden sich Fernseher, Couch, Schreibtisch mitsamt Laptop und auch die Tür zu ihrem begehbaren Schrank, den sie bis heute noch nicht eingerichtet hatte.
Dann führten drei breite Stufen in ihren Schlafbereich. Abgetrennt wurden die Bereiche und Ebenen durch eine leichte Holzbalustrade.
Ihr Bett befand sich genau in der Mitte vor dem großen Fenster, das zu ihrer eigenen Terrasse führte.
Stöhnend ließ sie sich auf das Bett fallen und schloss ihre Augen.
Wie erschöpft sie war, merkte sie erst jetzt.
Tante Theresa hatte Recht. Wenn ihrer Mutter etwas zugestoßen wäre, wären sie die ersten gewesen, die es erfahren hätten.
Das mulmige Gefühl ließ sich trotz alledem nicht abschütteln.
Gähnend wandte sie sich zur Seite und zog ihre Arme an ihren Oberkörper. Sie war eindeutig zu müde, um sich jetzt Gedanken beispielsweise Sorgen zu machen.
So war es auch kein Wunder, dass sie innerhalb der nächsten Minuten nicht mehr Herrin ihres Körpers war und einschlief.


Valentine

Es war eine kühle Nacht. Kälter als alle anderen Nächte und irgendetwas lag in der Luft.
Der Vollmond schwebte so nah und doch so fern im sternenlosen Himmel und schien angsteinflößend zwischen Nebel und Schauer.
Irgendwo im Nirgendwo tropfte es im Sekundentakt. Ein defektes Rohr?
Es hatte nicht geregnet und es hatten sich keine Regentropfen auf irgendwelchen Oberflächen verfangen, von denen sie nun im nachhinein runter tropfen hätten können.
Und diese Stille. Kein Lärm. Alles schien so verlassen.
Keine Autos. Keine Menschen. Keine kläffenden Hunde oder Katzen, die vor sich hinmiauten.
Der Ort, an dem er sich befand glich einem Friedhof. Nur dass keine Gräber vorhanden waren.
Vermutlich ein kleiner Wald, abgelegen von allem.
Mit Vorsicht gewappnet zog er die mit weißem Fell gefütterte Kapuze seines dunkelbraunen Umhangs tiefer ins Gesicht.
Wie ein Stückchen Elend, das vor sich hinkauerte, hockte er nun da seit einer Stunde, angelehnt an einem mit Efeu überwuchten Denkmal, das einst eine Harfe spielende Jungfrau darstellen sollte.
Vermutlich war es schon mehr als eine Stunde. Vielleicht zwei oder drei?
Ihm war es gleichgültig. Er hatte Zeit und war in dem Sinne geduldig.
Sie würde kommen. Sie musste kommen.
Die Kälte, vermutlich Minusgrade, machte ihm nichts aus. Ihm doch nicht.
Im Gegenteil. Dieses Miami tat ihm nicht gut. Die Sonne und die Wärme.
Nein, es ging ihm gut hier. Und wenn er bis zum Morgenkrauen hier kauern musste.
Sie würde kommen. Sehr bald. Das spürte er. Er spürte sie.
Er atmete erleichtert auf, als er sich erhob und es wagte seinen Blick zu erheben.
Sie war da, auch wenn er sie nicht sah. Sie war tatsächlich gekommen.
Sein Herz pochte wie wild und drohte in jenem Augenblick aus seinem Brustkorb zu springen.
Fast hatte er vergessen, dass er ein Herz besaß.
In der Ferne hörte er Schritte. Das Klacken von Schuhen, die bei jedem Schritt lauter wurden.
Und nun konnte er auch tief in der Nebelschicht einen Umriss erkennen.
Doch sie gebar ihm nicht, sie zu erkennen und blieb in sicherer Entfernung stehen, sodass ihr weiß-silbernes schimmerndes Haar nur in seiner Erinnerung haften konnte.
Sein Körper zitterte, bebte. Er konnte sich selbst nicht mehr kontrollieren und auch das versteifen half ihm nichts.
Ohne auch nur einen Ton von sich zu geben kniete er nieder und ließ seinen Kopf gesenkt.
Sie hatte ihm signalisiert, dass es ihm nicht erlaubt war, sie anzusehen.
"Valentine.", sagte sie in einer Flüsterlautstärke.
Er spürte ihre Hände auf seinem Kopf, auf seinem Umgang.
Sie zog ihn, wie eine Mutter es seinem Kind gleichtat, an ihren Körper.
"Valentine...", sagte sie erneut. Sie rang nach Worten, doch ihre Stimme versagte.
Langsam sackte ihr Körper zu Boden, sodass sie mit ihm auf gleicher Augenhöhe war.
Es kam unverhofft, als sie vorsichtig seine Kapuze nach hinten zog, doch noch auf seinem Kopf ließ.
Ihre schwarzen Augen. Diese leeren schwarzen Augen, die keine Pupillen hatten, schauten in seine.
Er schämte sich seinerseits. Bei dem Anblick könnte sie ihn nicht lieben.
Er war nicht mehr er. Er war nur noch eine Missgestalt, ein Schatten seiner selbst.
Sie zog seine kalten Hände an sich, griff sie feste, als ob sie befürchtete, er könnte verschwinden im nächsten Augenblick, als sei er ein Traum.
Ihr Blick blieb trotzdem auf ihm haften.
Valentine.
Der Begriff blass war für ihn mehr als untertrieben, er war weiß wie unberührtes Porzellan.
In seinen Adern konnte kein Blut mehr fließen.
Sein einst hübsches Gesicht war kaum erkennbar mehr durch diese Veränderung.
Und seine Lippen. Blau. Marineblau.
War das denn möglich?
Sie ließ nicht ab von seinen Augen.
Eine nahezu undefinierbare Farbe. Eine Mischung aus kaltem Grau, Blau und Grün.
Mit zitternden Händen umschloss sie fürsorglich sein Gesicht.
"Valentine.", Tränen quollen über ihre Wangen."...was ist bloß mit dir geschehen? Was haben sie mit dir getan? Was ist mit meinem Valentine nur passiert?"
Während sie diese Worte fassungslos vor sich hinstammelte, überkam ihm ein geniertes Gefühl.
Es war ihm unangenehm. Er wollte sie nicht so sehen.
Er wollte nicht, dass sie ihn so sah. Mitleid bekam.
Abrupt schob er ihre Hände fort und zog den Umhang wieder tief ins Gesicht. Er hätte sich ihr nicht offenbaren sollen.
Das letzte was von ihm übrig geblieben war.
Ihr leises Schluchzen hörte im Nu auf und obwohl er sie nicht ansah, wusste er, dass ihr Blick auf ihn gerichtet war.
"Ich habe gewartet.", sagte er monoton, ohne auf sie einzugehen.
Er spürte ihre Nähe nicht mehr, obwohl sie noch da war.
Nun war sie wieder so, wie er sie kannte. Kalt und ließ ihn ihre Nähe nicht spüren.
Aber es war ihm recht. Besser als Mitleid.
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Vermutlich überlegte sie, wie sie ihren Emotionsausbruch am besten überspielen konnte. "Ich weiß. Du hast lange gewartet. Zu lange, Valentine…"
Ihre Worte klangen so sachlich, oberflächlich. Distanziert. Und doch ernst gemeint.
"Das was sie dir angetan haben muss gerächt und bestraft werden-"
"-nein!", unterbrach er sie und ihm war es gleichgültig, ob er ihr in dem Moment den ihr gerechten Respekt nicht gab. "Ich meine, nein, das ist nichtig. Wichtig ist nur das Grimoire."
Es überraschte ihn im nächsten Augenblick, als sie antwortete, ohne auf seinen mangelnden Respekt, sein Fehlverhalten ihr gegenüber einzugehen. "Die Seherin sagt, dass die Prophezeiung nicht wahr ist. Wozu brauchen wir es?"
Valentine wagte es aufzustehen, sein Blick jedoch immernoch gesenkt. "Jeder will das Grimoire. Es ist klar, dass die Seherin es sagt, denn das Grimoire wäre auch für sie zum Vorteil."
Sie lachte. Sie lachte ihn aus, gehässig wie sie war. So kannte er sie.
"Valentine, Valentine … ihr lasst euch alle durch solch Verheißungen irre führen.", sagte sie. "Es ist ein neues Zeitalter, mein Lieber. Die Chance für uns alles neu zu beginnen … wer weiß, ob das Grimoire nicht schon damals zerstört worden ist. Ohne es gäbe es kein Unheil, sagte er doch damals."
Valentine war für seine Geduld und Ruhe bekannt, so kam er selbst jetzt nicht aus der Fassung.
Er wusste wer sie war und er kannte seine Position und Macht.
"Das Grimoire kann nicht zerstört werden."
Erneut lachte sie auf. "Gut dieses blöde Buch, an dem ihr alle einen Narren gefressen habt kann also nicht zerstört werden, nicht? Man nehme an, die Prophezeiungen erhalten einen Wahrheitsgehalt … dann heißt es doch gleichzeitig auch, dass das Equilibrium zurückkehrt, nicht?"
Er wusste, dass sie versuche ihn zu schikanieren und sich über ihn zu mokieren. "Wenn es nicht schon zurückgekehrt ist-"
"-VALENTINE!", ihre Stimme bebte und echote noch weitere Sekunden.
Doch er hielt nicht inne. Sie wollte die Wahrheit nicht wahrhaben. "Seht den Tatsachen doch ins Auge. Wir haben noch eine Chance, solange wir nicht sicher wissen, dass das Equilibrium schon besteht. Und auch wenn dies der Fall sein sollte – das Grimoire ist nicht gefunden."
Er blickte erneut auf und sah sie.
Auch sie war in einen Umhang verhüllt. Einen weißen, leuchtenden Umhang.
Ihr wunderschönes Gesicht verbarg sich in diesem Umhang und trotz alledem schauten ihre langen glatten, weiß-silbernen Haare, die ihr bis zur Hüfte reichten, raus.
Ihr Gelächter verwandelte sich in ein Schluchzen. Obwohl sie im nächsten Augenblick wieder erneut in sich einsackte, blieb er frostig stehen.
Vermutlich realisierte sie gerade eben, was er gesagt hatte.
"Wir müssen dieses Grimoire finden, bevor es zu spät ist.", mahnte er.
Flüsternd stimmte sie in ihr eigenes Schluchzen ein: "Oh Valentine … was haben sie nur aus dir gemacht? Was ist mit meinem Valentine geschehen?"
Doch Valentine antwortete nicht mehr.
Leise wandte er sich um und verschwand in der Dunkelheit, aus der er vorher erschienen war.
Er hörte noch eine Weile ihr leises Schluchzen, doch irgendwann verstummte auch das.
Irgendwann war sie fort. Und auch Valentine.
Ein mulmiges Gefühl verfolgte sie und woher dieser eklige Geschmack in ihrem Mund kam, konnte sie sich bei weitem einfach nicht erklären.
Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas lag in der Luft.
Sie konnte keinen ruhigen Gedanken fassen, ihre Seele, nein ihr ganzes Wesen war so unruhig. Ob man diesen Zustand als nervös titulieren konnte, wusste sie nicht.
Ihr Kopf war überall, nur nicht hier im Unterricht. Was zur Hölle war nur los?
Für die Tatsache, dass ihr nun plötzlich so kalt war, fand sie auch keine Erkärung.
Gab es für ihr momentanes Befinden überhaupt eine einzige Erklärung, eine Rechtfertigung?
Es schien ihr so, als ob jemand versuchte mithilfe eines Presslufthammers ihre beiden Gehirnhälften zu trennen, der Druck in ihrem Kopf war unerträglich.
Alles um sie herum schien lauter zu sein, als es war. Oder war es ihr nur noch nie aufgefallen was für eine unnormale Lautstärke ein Klassenzimmer produzierte?
Vielleicht sollte sie ihre Augen schliessen, nur ein paar Minuten ...

Es war kalt und grau.
Sie befand sich in einem Zustand, den sie sich selbst nicht hätte definieren können.
Ob ihr Umfeld, das was sie sah, real oder fiktiv, womöglich ein Traum war, konnte sie nicht sagen. Alles erschien ihr so verschwommen. Nichts was sie sah, sah sie klar. Nur Umrisse.
Sie stand inmitten einer Lichtung im Walde. Es musste geregnet haben, es lag ein feuchter Geruch in der Luft. Dies konnte sie, trotz der dicken Nebelschicht, die sich in der Luft gebildet hatte, erkennen.
Es schien ihr verrückt, aber sie musste taub sein. Sie hörte nichts. Keine Vögel und auch der Wind, die die Bäume hin- und herwackeln lassen ließ, gab keinen Mucks von sich.
Sie versuchte einen Laut von sich zu geben, scheiterte dennoch. War sie jetzt auch noch stumm?
Es war, als ob sie nicht Herrin ihrer selbst war. Bewegen wollte sie sich, doch ihr Körper wich nicht von der Stelle.
Wie zur Hölle war sie nur hierhin gekommen?
Sie konnte die Panik in ihrem Inneren aufsteigen spüren.
Irgendwer oder irgendwas war hier. Sie war nicht allein. Und genau das versetzte sie in Panik.
Wenn sie doch nur etwas klarer hätte sehen können.
Frankee lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als sie einen Luftzug hinter sich spürte.
Wäre sie doch nur in der Lage gewesen, sich umzudrehen. Nein, sie war wie festgenagelt.
Vor Furcht?
Im nächsten Augenblick wurde ihrem Körper auf einmal bewusst, wie kalt es doch war. Frostige Kälte spürte sie auf ihrer nackten Haut. Sie war sich sicher, dass sie zittern musste wie verrückt.
Sie spürte, wie ihr Kopf sich anhob und sie aufblickte.
Und dann sah sie ihn.
Ja, alles um ihn herum war verschwommen, doch ihn sah sie glasklar.
Sie sah ihn und er sah sie. Doch keiner von beiden war in der Lage irgendeine Gestik oder Mimik von sich preiszugeben.
Auch er war nackt. Seine Pupillen waren tiefschwarz und wirkten so leer und verloren, wie er selbst auch.
Dante Craig.
Sie wollte schreien, ihn rufen. Doch das ihr Körper protestierte war nichts neues.
Ehe sie sich versah, verdrehten sich ihre Pupillen und ihr Körper sackte belanglos in sich ein.
Ihr Puls gab nach.

*
Ein warmer, zärtlicher Kuss auf ihre Stirn entriss sie aus ihrem Schlaf.
Langsam öffnete sie ihre Augen und nahm ihre Tante Theresa wahr, die fürsorglich über ihre Haare strich.
„Du hast soviel geschlafen, dass ich mir schon Sorgen gemacht habe.“, sagte diese.
Geschlafen? Verwirrt schaute sie sich um und erkannte ihr Zimmer wieder.
Sie hätte schwören können, dass sie in der Schule eingeschlafen war. Wann war sie denn nach Hause gekommen?
Ihrer Tante entging es nicht, dass sie leicht zerstreut war. „Alles okay bei dir, Liebling?“
Frankee nickte schnell und war sich im gleichen Moment nicht sicher, ob dies stimmte.
„Wie lange hab ich geschlafen?“
Theresa zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Als ich von der Arbeit kam, lagst du bereits hier. Warscheinlich warst du so geschafft von der Schule.“
Genau das musste es sein, versuchte Frankee sich selbst einzureden.
Ihre Tante stand auf, ging zum Fenster und zog die orangefarbenen Vorhänge zur Seite, die das Zimmer abgedunkelt hatten.
Die Sonne verschwand langsam am Horizont. Es war später Abend.
„Es ist noch was vom Mittagessen übrig, falls du Hunger haben solltest.“
Frankee setzte sich auf. „Irgendwas von Mom gehört?“
Abrupt wandte Theresa sich um. Ihr Blick war voller Bedauern. Sie schüttelte den Kopf.
Enttäuscht senkte die 16-Jährige ihren Blick. Ihr Herz fühlte sich schwer an.
Sie hatte in den letzten Wochen versucht sich nicht allzu in Sorge zu vertiefen. Hatte sich wider Willen eingeredet, es würde ihrer Mutter schon gut gehen.
Es musste ihr gut gehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich schon jemals hatte Sorgen gemacht um ihre Mutter. Bisher war dies nicht nötig gewesen.
War jetzt der Augenblick sich Sorgen zu machen?
Diese Ungewissheit verhieß nichts Gutes und sie wollte sich nicht länger etwas vormachen. „Ich muss Ray anrufen.“
Ray Davids war der Manager ihrer Mutter. Wenn einer etwas wusste, dann wohl er.
Wieso war sie denn nicht vorher darauf gekommen?
„Hab ich bereits getan, mehrmals sogar.“, entgegnete Theresa kleinlaut. „Mailbox.“
Frankee’s Augen wurden auf einen Schlag groß.
Jetzt war eigentlich normalerweise der Zeitpunkt, in dem ihre Tante irgendetwas getan hätte, um sie zu beruhigen. Doch Frankee wusste bei Gott nicht, welche Worte sie jetzt in dieser Lage hätten beruhigen können. „Da stimmt was nicht.“
Ihre Tante setzte sich vorsichtig an den Bettrand. „Ach was. Bestimmt sind sie gerade an einer großen Kampagne dran und demtentsprechend zu busy. Kein Grund gleich in Panik auszubrechen.“
So überzeugend, wie sie versuchte es darzustellen, klang es nicht.
Frankee schüttelte den Kopf. „Nein, du kennst Mom. Sie meldet sich immer. Sie vergisst das nicht einfach. Und Ray’s Handy ist nie aus, Tante Theresa! Da stimmt was nicht.“
Es gab kein Argument der Welt, das ihr jetzt widersprechen hätte können und dennoch erwiderte ihre Tante: „Hm. Wir können nichts machen außer abwarten.“
Diese Antwort war so vorhersehbar gewesen und ihrer Meinung nach nicht zufriedenstellend. „Wie lange denn noch?“
Im selben Augenblick läutete das Telefon im Untergeschoss. Die Unterhaltung wäre so oder so an dieser Stelle zu Ende gewesen. Man hätte fast meinen können, dass ihre Tante sich freute über diesen Zufall.
Sie sprang auf und eilte aus dem Zimmer ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren.
Auch Frankee sprang auf. Sie hastete hinterher, in der Hoffnung, es sei jemand, dessen Anruf relevant wäre. Ihre Mutter. Ray. Oder vielleicht irgendjemand, der ihr Auskunft über das Wohlbefinden und den Aufenthaltsort ihrer Mutter preisgeben könnte.
Ihr Hoffnung war so groß, dass sie sich in Gedanken vornahm demnächst ein Ticket zu buchen, um ihre Mutter dort zu besuchen, wo diese sich gerade befand.
Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht.
„..ich komme sofort!“, waren die letzten Worte, die sie mitbekam, als sie die letzten Stufe zur Küche hinunterkam.
Hastig irrte ihre Tante herum. Sie war nahezu in Panik versetzt und zitterte so sehr, dass ihr viermal der Autoschlüssel aus der Hand entglitt. Ihre Augen waren glasig, sie war den Tränen nahe.
Als sie Frankee sah, wischte sie sich schnell mit den Ärmeln ihres Sweatshirts die Tränen aus dem Gesicht. „Ich muss schnell in den Shop. Bleib hier.“
„Was ist los?“, fragte Frankee.
Noch nie hatte sie ihre Tante weinen sehen. Noch nie.
Irgendetwas schlimmes musste passiert sein.
Gerade wollte ihre Tante die Küche durch die Hintertür verlassen, als sie sich nochmal umdrehte. „Schließ die Tür ab, wenn ich weg bin und bleib hier, Frankee.“
„Nein, ich komme mit. Du kannst doch nicht in deinem Zustand-„
„-Frankee, ich sagte du bleibst hier!“, fauchte sie und knallte die Tür hinter sich zu, nachdem sie das Haus verlassen hatte.
Frankee zuckte beim Türknall kurz zusammen.
Sie hörte draußen den Motor aufheulen und kurz drauf die spritzenden Kieselsteine in der Garageneinfahrt, als das Auto die Garage verließ.
Sie spähte noch einmal vorsichtshalber aus dem Küchenfenster, um sicher zu gehen, dass ihre Tante wirklich gefahren war und verließ anschließend das Haus.
Entschlossen sprang sie auf ihr Fahrrad und fuhr Richtung Strand.
Der Surfshop war eine kleine Holzhütte direkt am Strand.
Sie wunderte sich, nach einer zwanzigminütigen Fahrt, warum denn kein Licht im Shop brannte.
Weit und breit war auch nicht der rote Pick Up ihrer Tante zu sehen.
Sie stieg vom Fahrrad und ließ es im Sand fallen.
Kendra’s pinker BMX war an der Hütte angelehnt.
Mit schnellen Schritten umkreiste sie die Hütte. Schaute hin und wieder in die Fenster rein, um was zu erkennen, doch es war eindeutig zu dunkel.
Ihre Tante war nicht hier.
Doch was war mit Kendra’s Rad? Warum war es noch hier, wenn der Shop doch geschlossen war?
Ihre Neugier war einfach viel zu groß, als das sie jetzt einfach unbekümmert hätte nach hause gehen können.
Wieso hatte ihre Tante gesagt, sie müsse zum Shop, wenn sie doch gar nicht hier war?
Ihre Intuition signalisierte ihr, dass sie lieber heimfahren sollte, doch Frankee hätte jetzt alles andere getan als das.
Erst recht nicht, als sie merkte, dass die Tür einen spaltweit offen war.
„Hallo?“, rief sie und drückte die Tür etwas weiter auf, sodass sie quitschte.
Keine Antwort. Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch nichts erwartet. Und dennoch rief sie nach Kendra. Wieder nichts.
Vorsichtig tastete sie sich durch den Laden. Sie erkannte die Umrisse, von den Surfbrettern, die an der Wand hingen.
An der Theke, wo die Kasse stand, musste irgendwo der Lichtschalter sein.
Sie war fast angekommen, als sie unverhofft über einen Gegenstand stolperte, dass sie gleich zu Boden fiel. Fluchend rieb sie ihre schmerzenden Knie und versuchte im Dunkeln zu erhaschen über welchen Gegenstand sie gestolpert war, erkannte jedoch nichts.
Aus reiner Faulheit stand sie nicht gleich auf, krabbelte sondern auf allen vieren zur Theke und schaltete das Licht an.
Ihr Blick wanderte direkt in die Richtung, wo sie gestolpert war.
Sie öffnete fassungslos den Mund, war jedoch nicht imstande einen Laut von sich zu geben. Es war, als ob ihr die Luft weggeblieben war.
Frankee fasste sich an den Hals und rang nach Luft, doch es schien ihr so, als drücke ihr jemand die Kehle zu.
Jetzt wusste sie, worüber sie gestolpert war. Kendra.
Regungslos lag diese auf dem Boden. Ihr Mund war sperrangelweit offen, sowie ihre Augen.
Sie trug nur einen Turnschuh, der andere lag neben ihrem Kopf auf ihren goldblonden Haaren.
Ihre einst so klargrünen Augen waren schwarz.
Frankee war sich nicht sicher, ob sie tot war, traute sich aber keineswegs näher ranzutreten, um den Puls zu fühlen.
Sie musste tot sein. Nach Ohnmacht sah dies nicht aus.
Irgendwie musste sie ihr Herz dazu bringen, langsamer zu schlagen. Es pochte so stark und schnell gegen ihr Brustkorb, dass sie fast befürchtete, dass es gleich rausspringen müsste.
Kraftlos sank sie zu Boden, obwohl sie sich bei Gott nicht in einem Raum mit einer nicht lebenden Person befinden wollte. Doch ihr Körper wollte nicht so ganz, wie sie das wollte.
Sie zitterte, sodass ihre Zähne klapperten.


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Tag der Veröffentlichung: 18.07.2011

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