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Das Geheimnis im Wald

Wir haben einen kleinen Schatz in der Familie, ganze fünf Jahre jung, neugierig und ziemlich selbstbewusst. Sie ist in einem Ort in Brandenburg unweit von Berlin geboren, das hört man auch, wenn man mit ihr spricht. Aber sie kann trotz ihres Alters auch schon perfekt französisch quasseln. Das liegt daran, dass sie vor zwei Jahren mit ihren Eltern in die französische Schweiz ziehen musste, da ihr Vater eine gute Position bei seiner Firma angenommen hatte. So wächst sie nun zweisprachig auf. Das nur als Einleitung...

 

Nun war es wieder mal soweit. Wie jedes Jahr konnte sie für ein paar Tage vor Weihnachten wieder ihren Geburtsort besuchen, und wie immer sollte sie mal bei der einen und dann bei der anderen Oma wohnen. Das ging diesmal nicht, weil eine zur Kur war und die andere im Ausland Urlaub machte. So fiel die Wahl auf den Großonkel, der für ein paar Tage Kindermädchen spielen sollte, nämlich auf Peter. Der freute sich, denn ein wenig Abwechslung konnte er als Drehbuchautor gebrauchen. Außerdem hatte er den kleinen Blondschopf in sein Herz geschlossen.

Und so besorgte er alles Notwendige für den Kühlschrank, Weihnachtsschmuck und noch ein Kinderspiel als Geschenk, ein Quiz mit 3300 Fragen. Man konnte ja nie wissen, wie das Wetter so mitspielt, etwas Schnee lag ja schon, und Peter wollte alles so gestalten, dass es der Kleinen gefiel.

Die Tage bis zur Anreise vergingen schnell, und hastenichgesehen stand er auch schon in der Empfangshalle des Flughafens. Die Maschine aus Genf war pünktlich. Zwei hübsche Blondinen winkten ihm von weitem lachend zu und Sekunden später begrüßten sie sich herzlich. Peter hob die Kleine lachend hoch. „Salut, mein Schatz, wenn du weiter so wächst, kann ich dich bald nicht mehr hochheben.“ Jasmin sah ihn mit ihren großen blauen Augen an, drückte ihren Lieblingsonkel und strahlte. „Komm, wir gehen ins Restaurant und trinken in Ruhe einen Kaffee.“, sagte ihre Mutter, „Unsere Maschine fliegt in anderthalb Stunden. Das ist dann ein Abwasch.“ Oh, dachte er, ist ja ein schneller Wechsel. Jetzt viel ihm erst auf, dass sie ziemlich elegant gekleidet war.

Im Café saß schon das Familienoberhaupt. Bei Kaffee und Kuchen erzählten sie, dass sie für vier Tage zu einem Treffen der beiden Tochterfirmen in New York eingeladen sind. Und für die Kleine wäre das zu stressig. Ja, dachte Peter, ständig Cocktails und Essen, das geht natürlich nicht. Er nickte lächelnd: „Wir werden uns die Zeit schon vertreiben.“ Jasmin nickte verschmitzt und stimmte dem zu, schließlich kannte sie das schon. Die Zeit verging recht schnell bei den vielen Neuigkeiten, die man erzählte.

Und schon standen sie wieder in der großen Halle und winkten den Beiden zum Abschied zu. „Wir sind am zweiten Weihnachtsfeiertag bei euch!“, rief noch ihre Mutter und schon waren sie verschwunden. Es dauerte auch nicht all zu lange, bis die Maschine los rollte und schließlich ganz aus dem Blickfeld verschwand. „Komm Spatz, dann wollen wir mal.“ Vergnügt verließen die Beiden den Airport.

Mit der Schwedenkarre, einem Volvo, der schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, fuhren sie durch die Märkische Schweiz, die seit einigen Tagen mit Puderzucker überzogen war, vorbei an etlichen kleinen Seen, bis sie schließlich vor Peters Haus standen. Jasmin war gern hier, auch wenn der naheliegende See nicht so groß war wie in Genf. Außerdem wohnte gleich in der Nachbarschaft ihre Freundin Annelie, und sie konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Immerhin hatten sie sich seit einem halben Jahr nur ab und zu über das Internet begrüßt.

Im Haus war es angenehm warm und es roch schon ziemlich weihnachtlich. Selbst ein kleiner beleuchteter Tannenbaum stand am Fenster. Die Beiden redeten über die letzten Ereignisse, bis es an der Haustür klingelte und Annelie erschien. Natürlich war die Freude groß und es gab viel zu berichten und auch zu besichtigen. Da das abzusehen war, hatte Peter sie vorsorglich zum Mittagessen eingeladen. Die warme Kartoffelsuppe schmeckte, und so verging die Zeit heiter und fröhlich. Dann aber war die Müdigkeit doch größer als der Wille, und Jasmin gab sich ihren Träumen bis zum Kaffee hin. Draußen begann es schon dunkel zu werden.

 „Darf ich noch ein bisschen zu Annelie rüber gehen?“, fragte sie. Peter war gerade intensiv mit den Hühnerschenkeln für das Abendbrot beschäftigt und erwiderte knapp: „Klar, aber spätestens in drei Stunden bist du wieder zum Abendbrot hier.“ Man hörte nur noch ein fröhliches „Oui c'est bon“, und schon klappte die Haustür zu.

Die Abendluft roch nach Schnee und winzige Flocken versuchten tanzend ihren endgültigen Liegeplatz auf der gefrorenen Erde zu finden. Alle Häuser am See waren festlich beleuchtet und die bunten Spiegelungen auf dem See bildeten in der Dämmerung eine romantische Silhouette. Es waren nicht viele Schritte zum Ziel, und Annelie war auch schon wintermäßig eingepackt. „Was wollt ihr denn machen?“, fragte ihre Mutter, „Bleibt bitte in der Nähe, maximal bis zum Pilz und nicht weiter. Ihr wisst, dass es hier Wildschweine gibt.“ Beide nickten, bekamen noch jeder einen Dominostein in die Münder gedrückt und wurden freundlich entlassen.

Natürlich wollten sie zum Pilz, der nichts anderes war, als eine kleiner Rastplatz aus Holz. Ein runder Tisch mit Bänken, der mit einem Pyramidendach überdeckt war. Sie brauchten nur über eine nahe Brücke zu gehen, und schon waren sie im Wald an ihrer Lieblingsstelle. Dort konnten sie Geheimnisse und Neuigkeiten austauschen, Tiere beobachten, im Sommer heimlich angeln oder einfach nur Federball spielen.

Diesmal sahen sie aber von weitem schon, dass dort etwas war, was ihnen unbekannt vorkam. Viele kleine Lichter waren zu sehen und ab und zu leise helle Glockentöne zu hören.

Seltsam, irgendwie unheimlich und doch interessant. Neugierig, aber vorsichtig schlichen sie sich näher heran. Was sie dann sahen, war kaum zu glauben. Da stand ein großer Schlitten, der mit vielen kleinen Lämpchen geschmückt war, davor waren unbekannte kleine Hirsche angespannt, die alle goldene Glöckchen am Hals hatten. Auf der Bank saß ein stämmiger Mann mit weißem Bart, der wohl gerade etwas aß, und aus einem dampfenden Becher trank. Auf dem Tisch stand eine Laterne, die sein Gesicht anstrahlte. Er war wohl sehr nachdenklich.

Die Mädchen sahen sich erstaunt an. Jasmin flüsterte ganz leise ihrer Freundin ins Ohr: „Der sieht aus wie der Weihnachtsmann...“ „Geht doch nicht“, kam als Antwort zurück, “den gibt´s doch gar nicht.“ „Ich weiß, aber die Tiere und der Schlitten, dann noch sein roter Mantel.“ Ungläubig schauten beide mit großen Augen auf den Rastplatz, ziemlich bewegungslos und fast ohne zu atmen, um ja nicht aufzufallen. Ein kleiner Busch gab ihnen Deckung. Dennoch bemerkte sie der Mann. Er blickte in ihre Richtung und rief mit ruhiger tiefer Stimme: „Hej Mädels, kommt ruhig näher, ihr braucht keine Angst zu haben!“ Er winkte ihnen freundlich zu.

Wie konnte das sein? Sie waren doch mucksmäuschenstill gewesen. Ganz vorsichtig kamen sie hinter dem Busch hervor. Der Alte lachte: „Na, kommt schon. Ich beiße genauso wenig wie meine Rentiere.“ Die Neugier war einfach zu groß, trotzdem hielten sie sich an den Händen fest und gingen langsam auf ihn zu.

„Na also. Wer ist denn von euch die Jasmin und wer die Annelie?“ Die Mädchen konnten es nicht glauben. Wieso kannte der Fremde ihre Namen? Das brach das letzte Eis zwischen ihnen. Jasmin winkte mit der Hand: „Salut, ich bin Jasmin und das meine Freundin Annelie.“ „Freut mich“, kam die Antwort, “ich heiße Jultomte und bin der Weihnachtsmann aus Schweden. Ich bin wohl aus Versehen zu schnell geflogen und über das Ziel hinaus geschossen. Wollt ihr heiße Schokolade? Setzt euch zu mir, ich merke doch, dass ihr Fragen habt.“

Annelie stutzte: „Gibt es denn mehrere Weihnachtsmänner auf der Welt?“ Jultomte lachte: „Natürlich, meinst du denn, einer könnte alles allein machen? Die vielen Geschenke heutzutage und alles an einem Tag. Selbst die Post könnte das nicht...“ Diese Antwort war sogar für kleine Mädchen logisch.

Sie tranken die leckere Schokolade, die ihnen wie von Geisterhand hingestellt wurde. Annelie überlegte und nickte: „Bei uns spielt mein Opa immer den Weihnachtsmann. Kennst du den vielleicht?“
Der alte Mann lachte laut, sah sie mit verschmitzten hellblauen Augen an: „Nein. Das muss ich auch nicht, ich kann ja nicht alle Kinder persönlich besuchen. In Schweden habe ich zwar noch meine drei Kobolde Tomtebisse, Tomte und Nisse, die mir helfen, aber trotzdem macht das sehr viel Arbeit. Da freuen wir uns immer, wenn jemand aus den Familien für uns einspringt.“ Dabei zwinkerte er mit einem Auge.

Einen langen Moment schauten die beiden Mädchen Jultomte mit großen Augen an, denn sie begriffen wohl immer noch nicht das kleine Wunder, dass sie gerade erlebten. Der alte Mann war sichtlich begeistert, dass er zwei ahnungslose Kinder vor sich hatte, die wohl nicht so recht an den Weihnachtsmann glaubten. Dabei lächelte er sie an.

Die Schokolade schmeckte köstlich und die Tasse wärmte die Finger. Jasmin fragte schließlich etwas mutiger: „Sag mal, kannst Du alle Wünsche erfüllen?“ Der Mann lächelte: „Vieles schon, aber nicht alles. Es gibt manches, was man nicht verschenken kann, kleines Fräulein.“ „Und was nicht?“, fragte Annelie neugierig zurück.

Sein Gesicht wurde etwas ernster und nachdenklicher: „Liebe zum Beispiel oder Freundschaft und auch Glück. So etwas liegt nicht in meiner Macht. Das können die Menschen nur von ganz allein finden oder verschenken. Das seht ihr ja bei euch. Ihr zwei seid schon lange eng befreundet. Das ist ein sehr schönes Geschenk, und das habt ihr euch gegenseitig gemacht. Und das ist mehr wert, als alles Geld der Welt, das dürft ihr niemals vergessen...“
Jasmin und Annelie nickten, dachten eine Weile nach und umarmten sich. „Nein, lieber Jultomte, das werden wir auch nicht.“

Der Alte lachte: „Schön, so muss und soll es sein! Und damit ihr diesen Augenblick noch lange in Erinnerung behaltet, habe ich hier zwei kleine Geschenke für euch.“ Gespannt schauten die Mädchen auf zwei kleine Silberdosen, die Jultomte auf den Holztisch stellte. Auf jedem Deckel war eine goldene Sonne zu sehen.

„Nun weiß ich ja, dass ihr beide weit auseinander wohnt und euch nicht immer sehen könnt. Diese Dosen werden euch helfen, wenn ihr mal einsam seid und an den anderen denkt. Und das geht ganz einfach: Sobald die Sonne scheint, öffnet ihr die Dose und fangt damit einen Sonnenstrahl ein. Dann schließt den Deckel und lasst ihn solange verschlossen, bis ihr mal traurig seid oder vielleicht Kummer habt. Wenn eine von euch dann den Deckel öffnet, wird euch beiden der Sonnenstrahl das Herz wärmen, damit es wieder vor Glück lacht...“

Er gab jedem Kind eine Dose und sagte dann: „Passt gut darauf auf! Sie funktionieren ein Leben lang, aber nur bei euch.“ Beide Mädchen staunten und waren ganz sprachlos. Sie konnten nicht einmal ein „Dankeschön“ rausbringen. Der Alte lächelte: „So, ich muss jetzt wieder zurück nach Schweden, ihr wisst ja, übermorgen ist Weihnachten. Es war mir eine große Freude, dass ich euch getroffen habe. Habt gemeinsam ein fröhliches Fest!“

Mit diesen Worten erhob sich Jultomte und gab jedem Mädchen lächelnd die warme Hand. Dann stieg er in den Schlitten, winkte ihnen zu, rief laut: „Hej då!“, was in etwa „Tschüss“ bedeutet, und im Nu war er so schnell wie eine Sternschnuppe in Richtung Norden verschwunden.

Annelie und Jasmin winkten ihm noch nach, sahen sich dann schweigend an, betrachteten ihre kleinen kostbaren Geschenke und blieben noch einen Moment auf der Bank nachdenklich sitzen. Dann liefen sie Hand in Hand nach Hause, und Jasmin sang ihrer Freundin ein französisches Weihnachtslied vor. "Petit Papa Noël", hallte es dabei über den stillen See.

 Peter erwartete Jasmin schon. „Na, das war aber knapp, dein Lieblingsgericht wartet schon auf dich.“ Er half ihr beim Auskleiden und beide aßen dann gemütlich ihre leckeren Hühnerkeulen. „Sag mal Onkel Peter, glaubst du an den Weihnachtsmann?“, fragte sie ihn zwischendurch. Peter zwinkerte ihr zu: „Aber sicher mein Spatz, je älter ich werde, um so mehr. Und du?“

Jasmin nickte: „Ja seit heute, wir haben ihn nämlich vorhin am Pilz gesehen“. Peter überlegte und lächelte: „Ach ja, der ist bestimmt zur Weihnachtsfeier der Freiwilligen Feuerwehr gegangen. Hat bestimmt eine Menge schweres Zeug geschleppt, der arme Kerl.“ Dabei klopfte er sich vor Lachen auf die Schenkel.

Jasmin antwortete: „Er sagte aber, er muss schnell wieder nach Schweden zurück...“ Sie erschrak, das war ein Fehler, hatte sie jetzt etwas verraten? „So so, nach Schweden. Wieso eigentlich nicht zum Nordpol? Na, wenn er sich beeilt, ist er vielleicht übermorgen dort“, grinste Peter und strich ihr schelmisch mit dem Zeigefinger über die Nasenspitze. Jasmin lachte erleichtert und dachte dabei an die silberne Dose. Sie drückte unterm Tisch heimlich ihre kleinen Daumen, weil sie sich für den morgigen Tag unbedingt Sonnenschein wünschte. Und schön, dass sie jetzt mit Annelie zusammen ein kleines Geheimnis hatte.

Und als sie im Bett lag und glücklich einschlief, träumte sie von Jultomte und davon, wie sie am nächsten Tag zusammen mit ihrer Freundin heimlich Sonnenstrahlen einfing.

 

Jörg Wernicke, Dezember 2013

Impressum

Texte: Jörg Wernicke
Bildmaterialien: Weihnachtsmann: Freie Clipart-CD, Erde: Screenshot Google Earth, Mond: Jörg Wernicke :-)
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Jasmin, unseren Spatz in Genf

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