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Bram Stoker: Draculas Gast

Als wir uns zu unserer Spazierfahrt anschickten, Strahkte die Sonne hell über Münschen, und die Luft war erfüllt von frühsommerlicher Wonne. Kurz vor der Abfahrt eilte Herr Delbrück, der Direktor des Hotels ›Vier Jahreszeiten‹, in dem ich abgestiegen war, ohne Kopfbedeckung heraus zur Kutsche. Nachdem er mir einen angenehmen Ausflug gewünscht hatte, wandte er sich, die Hand noch immer am Griff der Wagentür, an den Kutscher: »Denke daran, bei Anbruch der Nacht wieder hier zu sein. Der Himmel ist zwar klar, aber der Nordwind scheint mir auf einen baldigen Sturm hinzudeuten. Ich darf wohl annehmen, dass du nicht zu spät kommen wirst.« Bei diesen Worten lächelte er und fügte hinzu: »Denn du weißt ja, welche Nacht heute anbricht.«

Johann antwortete mit einem eindringlichen »Ja, mein Herr«, tippte sich an die Hutkrempe und fuhr rasch los. Als wir die Stadt verlassen hatten, gab ich ihm ein Zeichen zum Halten und fragte ihn: »Sagen Sie, Johann, was hat es denn mit der heutigen Nacht auf sich?« Er bekreuzigte sich bei seiner lakonischen Antwort: »Walpurgisnacht. « Dann nahm er seine Taschenuhr zur Hand, ein riesiges, altmodisches deutsches Ding aus Silber von der Größe einer Zwiebel, und blickte mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem ungeduldigen Achselzucken darauf. Ich spürte, dass dies seine Art war, höflich gegen die unnötige Verzögerung zu protestieren, und nachdem ich ihm bedeutet hatte, er könne nun weiterfahren, ließ ich mich wieder in die Polster fallen. Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit an, als wolle er die vergeudete Zeit wieder einholen.

Dann und wann rissen die Pferde die Köpfe Bram Stoker Draculas Gast hoch und witterten argwöhnisch in die Luft. In diesen Momenten schaute ich mich oft voller Unruhe um. Die Umgebung war recht öd, da wir über eine hochgelegene, vom Wind gepeitschte Ebene fuhren. Als ich hinausblickte, sah ich einen Nebenweg, der nur wenig benutzt wirkte und durch ein kleines, gewundenes Tal zu führen schien. Dieses Tal wirkte so einladend, dass ich das Risiko einging, Johann zu verärgern: Ich rief ihm zu, er solle anhalten. Als wir standen, sagte ich ihm, dass ich gern auf dem anderen Weg weiterreisen würde. Er reagierte auf meine Bitte mit allen möglichen Ausreden und Entschuldigungen und bekreuzigte sich häufig beim Sprechen. Dadurch reizte er meine Neugierde nur umso mehr.

Ich stellte ihm einige Fragen, doch er antwortete nur ausweichend. Wiederholt sah er, um seinen Unmut zu verdeutlichen, auf die Taschenuhr. Schließlich sagte ich: »Nun, Johann, ich möchte aber gern auf diesem Weg fahren. Ich will Sie nicht weiter darum ersuchen, wenn Sie es wirklich nicht wollen, aber dann erklären Sie mir doch wenigstens, weshalb Sie es ablehnen. Mehr verlange ich nicht von Ihnen.« Zur Antwort schien er sich förmlich vom Kutschbock zu stürzen, so schnell stand er auf dem Boden. Dann streckte er mir beschwörend die Hände entgegen und ersuchte mich, nicht auf die andere Seite zu wechseln. Es mischten sich gerade genügend englische Worte in sein Deutsch, dass ich den Sinn seiner Rede verstehen konnte.

Er schien mehrmals zu einer Erklärung anzusetzen – doch allein schon die Vorstellung verängstigte ihn offensichtlich. So richtete er sich jedes Mal nur auf, bekreuzigte sich und sagte: »Walpurgisnacht!« Ich versuchte, mit ihm zu sprechen, doch es ist schwer, mit einem Mann zu diskutieren, dessen Sprache man nicht beherrscht. Er war mir gegenüber eindeutig im Vorteil, denn obwohl er jedes Mal auf Englisch anfing – wenn auch mit einem sehr kruden und gebrochenen Englisch –, regte er sich immer so sehr auf, dass er wieder in seine Muttersprache verfiel – und dauernd sah er auf die Uhr. Die Pferde wurden nun unruhig und begannen zu schnauben. Daraufhin wurde er sehr blass und sah sich verängstigt um – und plötzlich sprang er vor, griff die Pferde an den Zügeln und führte sie ungefähr sechs Meter vorwärts.

Ich folgte ihm und fragte, was denn los sei. Zur Antwort schlug er ein Kreuz, wies auf die eben verlassene Stelle und zog die Kutsche in Richtung der anderen Straße. Dann machte er mit den Händen ein Kreuzzeichen und sagte erst auf Deutsch, dann auf Englisch: »Begruben ihn dort – der sich umgebracht hat.« Ich erinnerte mich des alten Brauches, Selbstmörder an Kreuzwegen zu bestatten: »Ah, ich verstehe, ein Selbstmörder. Wie interessant!« Doch um nichts in der Welt konnte ich begreifen, weshalb die Pferde so verängstigt waren.

Mitten im Gespräch vernahmen wir ein Geräusch – einen Laut wie eine Mischung aus Heulen und Bellen. Es kam von ferne, doch die Pferde wurden wieder sehr nervös, und Johann vermochte sie nur mit Mühe und Not wieder zu beruhigen. Er war blass und sagte: »Das hörte sich an wie ein Wolf – doch um diese Zeit gibt es hier keine Wölfe.« »Nein?«, fragte ich. »Trieben sich die Wölfe denn nicht unlängst noch in nächster Nähe der Stadt herum?« »Im Frühjahr und Sommer kommen sie schon lange, lange nicht mehr her«, entgegnete er, »doch mit dem ersten Schnee gibt es hier oft Wölfe.« Derweil er die Pferde streichelte und zu beruhigen suchte, zogen am Himmel rasch finstere Wolken auf. Die Sonne wurde verdeckt, und ein kalter Windhauch wehte uns an. Es war jedoch nur ein Lüftchen und diente wohl eher zur Warnung vor dem Kommenden, denn gleich darauf erstrahlte die Sonne wieder.

Johann beschirmte die Augen mit der Hand, spähte zum Horizont und sagte: »Der Schneesturm kommt viel zu früh.« Dann blickte er wieder auf die Taschenuhr und stieg unverzüglich auf den Kutschbock. Damit machte er deutlich, dass es an der Zeit sei, die Fahrt fortzusetzen. Er musste die Zügel fest in der Hand halten, denn die Pferde scharrten noch immer unruhig mit den Hufen und warfen die Köpfe hin und her. Ich war an jenem Tag ein wenig halsstarrig und stieg nicht sofort wieder in die Kutsche. »Erzählen Sie mir doch, wohin dieser Weg führt«, bat ich ihn und deutete in die Richtung des Tals.

Erneut bekreuzigte er sich und murmelte ein Gebet, ehe er mir antwortete: »Es ist unheilig.« »Was ist unheilig?«, fragte ich. »Das Dorf.« »Also existiert dort ein Dorf?« »Nein, nein. Seit Hunderten von Jahren lebt dort kein Mensch mehr.« Meine Neugierde war entfacht: »Aber Sie sagten doch gerade,dort sei ein Dorf?« »Dort war früher eines.« »Und was ist damit geschehen?« Daraufhin sprudelte eine lange Geschichte auf Deutsch und Englisch aus ihm heraus, so verworren, dass ich ihn nicht genau verstehen konnte. Ich entnahm seiner Rede jedoch, dass vor langer Zeit, vor mehreren Hundert Jahren, Menschen dort gestorben und beerdigt worden seien. Danach habe man unter der Erde Geräusche gehört, und als man die Gräber wieder öffnete, fand man darin Männer und Frauen mit rosig frischer Gesichtsfarbe – ihre Münder verschmiert mit rotem Blut.

Um ihr Leben zu retten (und ja, auch ihre Seelen! – bei diesen Worten bekreuzigte er sich wieder), flohen die restlichen Bewohner des Dorfes in aller Eile. Sie flohen dorthin, wo die Lebenden lebendig und die Toten tot sind und nicht – nicht irgendwie anders. Offensichtlich hatte er Furcht, die letzten Worte auszusprechen. Je weiter er mit seiner Erzählung kam, desto mehr erregte er sich. Es schien, als habe seine Fantasie von ihm Besitz ergriffen, und als er ans Ende gelangte, übermannte ihn die Angst vollends – sein Gesicht war inzwischen kalkweiß, er schwitzte und zitterte und sah sich um, als erwarte er hier auf der Hochebene, im strahlenden Sonnenschein, die Erscheinung von etwas Grauenhaftem. Schließlich rief er voller Qual und Verzweiflung »Walpurgisnacht! « und bedeutete mir energisch, wieder in die Kutsche zu steigen.

Mein englisches Blut geriet in Wallung, und ich trat zurück und sprach: »Sie haben ja Angst, Johann – Sie haben Angst. Fahren Sie nur nach Hause, ich werde alleine zurückkehren. Der Spaziergang wird mir guttun.« Die Tür der Kutsche stand offen, ich nahm meinen Spazierstock aus Eichenholz, den ich bei Urlaubsausflügen immer bei mir trage,vom Sitz und schloss die Tür. Dann wies ich in Richtung München und sagte: »Fahren Sie nur heim, Johann – einen Engländer kann die Walpurgisnacht nicht erschrecken.« Die Pferde waren nun nervöser als je zuvor, und Johann versuchte, sie im Zaum zu halten, während er mich bestürzt ersuchte, doch nicht eine solche Torheit zu begehen. Ich bedauerte den armen Kerl, dem es so tiefernst war, dennoch konnte ich ein Lachen nicht unterdrücken. Sein Englisch war ihm mittlerweile ganz entfallen, vor lauter Angst hatte er vergessen, dass er sich mir nur in meiner Heimatsprache verständlich machen konnte. Er plapperte aufgeregt auf Deutsch daher.

Es fing an, mich zu langweilen. Nachdem ich ihn erneut aufgefordert hatte, nach Hause zu fahren, wandte ich mich ab und ging den Weg hinab ins Tal. Mit einer Geste der Verzweiflung wandte Johann die Pferde in Richtung München. Ich lehnte mich auf meinen Stock und sah ihm nach. Eine Zeit lang fuhr er die Straße ziemlich langsam entlang, dann tauchte auf einem Hügelkamm ein großgewachsener und dürrer Mann auf. So viel konnte ich aus der Entfernung erkennen. Als dieser Mann sich den Pferden näherte, bäumten sie sich auf und traten um sich, dann wieherten sie laut vor Angst.

Johann konnte sie kaum noch halten. Wie wahnsinnig schossen die Tiere die Straße entlang. Ich sah ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren, und suchte dann nach dem Fremden, doch er war auch verschwunden.
Leichten Herzens schritt ich den Weg durch das tiefer werdende Tal entlang, vor dem Johann sich so gefürchtet hatte. Es gab, soweit ich sah, nicht den geringsten Anlass zu dieser Haltung, und ich schlenderte wohl mehrere Stunden umher, ohne auf Zeit oder Entfernung zu achten, und ich sah weder Mensch noch Haus. Was die Umgebung an sich anging, so bot sie ein Bild vollkommener Isolation. Doch fiel mir das erst auf, als ich nach einer Biegung der Straße auf einen versprengten Waldausläufer stieß.

Erst da wurde mir der tiefe Eindruck bewusst, den die Unwirtlichkeit jener Gegend in mir hinterlassen hatte. Ich setzte mich, um etwas auszuruhen, und blickte mich um. Inzwischen war es erheblich kälter geworden als zu Beginn meines Spaziergangs – und eine Art von leisem Seufzen schien mich zu umgeben, und dann und wann vernahm ich hoch über mir so etwas wie ein gedämpftes Brausen. Als ich nach oben sah, bemerkte ich die mächtigen, dichten Wolken, die in großer Geschwindigkeit von Norden nach Süden zogen. In den höheren Luftschichten deutete alles auf einen aufkommenden Sturm hin. Mir war ein wenig kühl, und da ich glaubte, es läge am Stillsitzen nach dem langen Marsch, setzte ich meinen Weg fort. Das Gelände, das ich nun durchquerte, war wesentlich anmutiger.

Nichts ragte hervor, das dem Betrachter sogleich ins Auge gefallen wäre, doch lag über allem eine zauberhafte Schönheit. Ich gab kaum Acht auf die Zeit, und erst als die Abenddämmerung schon voranschritt, überlegte ich versonnen, wie ich nach Hause gelangen konnte. Das helle Tageslicht war vergangen, die Luft kühlte ab, und über mir zogen sich immer mehr Wolken zusammen. Begleitet wurde das von einem weit entfernten Geräusch, das klang wie ein Rascheln, durch das in regelmäßigen Abständen jener rätselhafte Schrei drang, den Johann einem Wolf zugeschrieben hatte. Einen Moment lang zögerte ich. Doch ich hatte mir geschworen, das verlassene Dorf zu besichtigen, und so ging ich weiter und gelangte alsbald auf ein offenes Feld, das in jeder Richtung von Hügeln umsäumt war. Ihre Hänge waren mit Bäumen bewachsen, die sich bis hinab in die Ebene erstreckten und sich in vereinzelten Senken zu dichten Hainen zusammenschlossen.

Mein Blick folgte der Windung der Straße, und ich sah, dass sie sich einem der dichtesten Haine näherte und darin verlor. Noch als ich mich umsah, wurde die Luft mit einem Mal eiskalt, und Schnee wirbelte herab. Ich dachte an die vielen Kilometer öder Landschaft, die ich durchquert hatte, und suchte eilends den Schutz der Bäume vor mir auf. Der Himmel verfinsterte sich immer mehr, schneller und schwerer fiel der Schnee, bis die Erde um mich her ein glitzernd weißer Teppich geworden war, dessen äußerster Saum wie Nebel verschwamm. Der Weg war hier sehr verwildert und es dauerte nicht lange, da war mir klar, dass ich vom Weg abgekommen sein musste, denn ich sank immer wieder tief ins Gras und ins Moos. Dann wurde auch der Wind stärker und blies mit immer größerer Heftigkeit. Die Luft wurde kalt wie Eis, und ungeachtet meiner körperlichen Ertüchtigung litt ich bald darunter. Der Schnee fiel nun so dicht und umwirbelte mich so heftig, dass ich kaum die Augen aufzuhalten vermochte.

In regelmäßigen Abständen wurde der Himmel von wütenden Blitzen aufgerissen. In deren Licht erkannte ich die unzähligen Bäume vor mir, vorwiegend Eiben und Zypressen, alle dick mit Schnee bedeckt. Bald trat ich unter das schützende Dach der Bäume und lauschte in der verhältnismäßigen Stille dem Rauschen des Windes hoch über mir. Alsbald verschmolz die Schwärze des Sturmes mit dem Dunkel der Nacht und ganz allmählich ließ der Sturm nach, bis nur noch einzelne heftige Böen durch die Äste fuhren. In diesen Momenten schien der sonderbare Ruf des Wolfes seinen Widerhall in vielen ähnlichen Lauten um mich her zu finden. Durch die dahinjagende Masse schwarzer Wolken drang gelegentlich ein vereinzelter Strahl des Mondlichtes, der die Umgebung erhellte, und ich sah, dass ich mich am Rande eines dichten Zypressenwaldes befand. Der Schneefall hatte nachgelassen, und so verließ ich meine Zuflucht und sah mich etwas genauer um.

Mir kam der Gedanke, ich könnte nach einem noch stehenden Haus des alten Dorfes suchen, das mir, auch wenn es vielleicht nur eine Ruine war, für eine Weile Unterschlupf bieten mochte. Als ich den Rand des Wäldchens abschritt, entdeckte ich, dass es von einer niedrigen Mauer umgeben war, und deren Verlauf folgte ich, bis ich bald darauf auf eine Öffnung stieß. Hier bildeten die Zypressen eine Allee, die zu einem rechteckigen, klobigen Gebäude führte. Just in diesem Moment schoben sich Wolken vor den Mond, und ich musste den Pfad im Dunkeln zurücklegen. Der Wind musste kälter geworden sein, denn ich zitterte beim Gehen. Mich trieb jedoch die Hoffnung auf ein Dach über dem Kopf an, und so stapfte ich blindlings voran.

Ich hielt inne – mit einem Schlag war alles still geworden. Der Sturm hatte sich gelegt und, womöglich in Eintracht mit dem Schweigen der Natur, schien auch mein Herz stehen geblieben zu sein. Doch dies währte nur einen Augenblick, denn plötzlich brach das Mondlicht durch die Wolken, und ich sah, dass ich auf einem Friedhof stand. Das rechteckige Bauwerk vor mir war ein großes, massives Grabmal aus Marmor, so weiß wie der Schnee, der es bedeckte. Mit dem Mondlicht erklang ein wildes, langes Heulen, als wolle der Sturm wieder sein Werk aufnehmen – es klang wie das Geheul von unzähligen Hunden oder Wölfen. Ich war entsetzt, erstarrt, die Kälte schien von mir Besitz zu ergreifen, mein Herz zu umklammern. Noch während das Licht des Mondes auf das marmorne Grab flutete, schickte der Sturm sich an, mit voller Wucht zurückzukehren.

Von einer unerklärlichen Faszination getrieben, näherte ich mich dem Grabmal. Ich wollte es mir anschauen und herausfinden, weshalb es so abseits an diesem Ort stand. Ich stapfte darum herum und las über der dorischen Pforte die deutsche Inschrift: GRÄFIN DOLINGEN ZU GRAZ IN DER STEIE RMARK
                                         SIE SUCHTE DEN TOD UND FAND IHN.
                                         1801

Oben auf dem Grab befand sich ein großer eiserner Stachel oder Pfahl, allem Anschein nach durch den festen Marmor getrieben – das Bauwerk bestand aus nur wenigen großen Steinblöcken. Als ich die Rückseite erreicht hatte, sah ich Folgendes in großen kyrillischen Lettern in den Stein geschnitten: Die Toten reisen schnell. All das war derart eigenartig und unheimlich, dass ich erschrak und mich ganz benommen fühlte. Zum ersten Male wünschte ich, Johanns Ratschläge nicht verschmäht zu haben. Rätselhafterweise fiel mir wieder etwas ein, das mich nun zutiefst entsetzte: Heute begann ja die Walpurgisnacht! Walpurgisnacht, dem Glauben vieler Millionen zufolge die Nacht, da der Teufel umgeht – und die Gräber sich öffnen und die Toten auf Erden wandeln. Die Nacht, in der alle bösen Wesen der Erde, der Luft und des Wassers ausgelassen feiern. Der Kutscher hatte besonders diesen Ort gefürchtet, dieses vor Jahrhunderten entvölkerte Dorf. Hier lag eine Selbstmörderin begraben!

Und an diesem Ort befand ich mich jetzt – allein und unbewaffnet, zitternd vor Kälte in einem Leichentuch aus Schnee! Es bedurfte all meiner philosophischen Grundsätze, all des Glaubens, den man mir beigebracht hatte, und all meiner Courage, um dem Ansturm der Angst nicht zu erliegen. Jetzt brach auch noch ein regelrechter Wirbelsturm über mich herein. Der Boden bebte, als würden Tausende von Pferden darüber hinwegdonnern. Dieses Mal trug der Sturm auf seinen eisigen Schwingen nicht Schnee mit sich, sondern große Hagelkörner, die mit solcher Gewalt herabprasselten, dass sie aus Steinschleudern hätten stammen können – Hagelkörner, die Blätter und Zweige abschlugen und vor denen die Zypressen nicht mehr Schutz zu bieten vermochten als ein Getreidefeld.

Zuerst war ich zum nächsten Baum geeilt, sah mich aber bald gezwungen, zu der einzigen Stelle zu fliehen, die Schutz zu bieten schien: der tief gelegene dorische Türsturz des Marmorgrabes. Dort kauerte ich mich gegen die massive Bronzetür und fand ein wenig Schutz vor den einschlagenden Hagelkörnern, die mich jetzt nur noch als Querschläger vom Boden und von den Marmorwänden trafen. Als ich mich gegen die Tür lehnte, gab sie ein Stück nach und öffnete sich nach innen. Angesichts dieses unbarmherzigen Sturms war mir sogar ein Grab als Schlupfwinkel willkommen. Ich wollte gerade eintreten, da erhellte ein gewaltiger Blitz das gesamte Himmelszelt. Bei meinem Leben schwöre ich, dass ich in diesem Augenblick in der Dunkelheit des Grabmals eine wunderschöne Frau mit frischen Wangen und roten Lippen sah.

Sie lag auf einer Totenbahre, als schliefe sie. Der Donner tobte und mir war, als packe mich die Hand eines Riesen und schleudere mich hinaus in den Sturm. Das geschah so plötzlich, dass die Hagelkörner auf mich niederprasselten, noch ehe ich reagieren konnte. Zugleich spürte ich auf seltsame, aber eindeutige Weise, dass ich nicht allein war. Ich richtete den Blick auf das Grabmal. Im selben Moment blendete mich erneut ein Blitz, der in den Eisenstab auf dem Dach des Monuments einschlug und bis hinab in die Erde abgeleitet wurde. Eine flammende Explosion zerschmetterte den Marmor. Die vom Feuer umhüllte Tote richtete sich mit einem Ruf der Qual auf, und ihr trauriger Schmerzensschrei wurde vom Donnerschlag ertränkt.

Das Letzte, was ich vernahm, war die Vermählung dieser zwei grausigen Laute, dann packte mich erneut der Griff des Riesen und riss mich fort, und der Hagel schlug auf mich nieder und die Luft ringsum vibrierte vom Heulen der Wölfe. Als Letztes sah ich eine nebelhafte weiße Masse, als hätten alle Gräber um mich her die Geister ihrer Toten ausgesandt, die mich nun im weißen Gewölk des Hagelschauers umzingelten. Nach und nach stellte sich mein Bewusstsein wieder ein. Das Gefühl der Erschöpfung war furchtbar. Eine Zeit lang vermochte ich mich an nichts zu erinnern, doch allmählich kehrten meine Sinne zurück. Meine Füße schienen vor Schmerzen zu vergehen, doch war es mir nicht möglich, sie zu bewegen – sie schienen abgefroren zu sein.

Mein Nacken und Rückgrat waren eisig kalt, und meine Ohren waren, gleich den Füßen, wie abgestorben, doch alles tat mir weh. In meiner Brust jedoch breitete sich ein Gefühl der Wärme aus, das im Vergleich dazu angenehm war. Es glich einem Alb – einem körperlichen Alb, wenn ich diesen Begriff verwenden darf, denn eine große Last auf der Brust machte mir das Atmen schwer. Dieser Zustand zwischen Wachen und Dahindämmern schien eine ganze Weile anzudauern, dann muss ich eingeschlafen sein oder die Besinnung verloren haben. Dem folgte ein Gefühl des Ekels, gleich jenem, das die Seekrankheit einleitet, und ein unbändiges Verlangen, mich von etwas zu befreien – ich weiß nicht wovon. Absolute Stille hüllte mich ein, als sei die ganze Welt eingeschlafen oder tot.

Diese Stille wurde nur gestört durch das leise Keuchen eines Tieres, ganz in meiner Nähe. Ich spürte etwas Warmes und Raues an meiner Kehle, und dann wurde mir die fürchterliche Wahrheit bewusst. Ich erschauerte bis ins Mark und das Blut stieg mir zu Kopf. Ein großes Tier lag auf mir und leckte an meiner Kehle. Ich hatte Angst davor, mich zu regen; eine instinktive Besonnenheit riet mir, still liegen zu bleiben. Die Bestie jedoch schien zu bemerken, dass eine Änderung in mir vorging, denn sie hob neugierig den Kopf. Durch meine leicht geöffneten Wimpern sah ich die großen, flammenden Augen eines riesigen Wolfes über mir. In seinem weit geöffneten, roten Maul schimmerten weiß die scharfen Zähne, und ich spürte heiß den beißenden Hauch seines Atems. Ich muss wieder bewusstlos geworden sein. Ein leises Knurren, dem ein Heulen folgte, brachte mich wieder zu mir.

Dann hörte ich aus einiger Entfernung ein »Hallo! Hallo!«, als würden viele Menschen im Einklang rufen. Vorsichtig hob ich den Kopf und blickte in die Richtung, aus der die Rufe kamen, doch das Grabmal versperrte mir die Sicht. Der Wolf heulte noch immer seltsam, und rotglühende Augen schienen sich im Zypressenhain zu bewegen, als folgten sie dem Geräusch. Ich fürchtete mich zu sehr, um mich zu bewegen oder einen Laut von mir zu geben. Das rote Glühen kam näher, schwebte über der weißen Schneedecke, die sich rings um mich her bis in die Dunkelheit erstreckte. Dann trat auf einmal eine Gruppe von Reitern mit Fackeln in den Händen aus den Bäumen heraus. Der Wolf sprang von meiner Brust und raste über den Friedhof. Ich sah, wie einer der Reiter – den Mützen und langen Militärmänteln nach zu urteilen waren es Soldaten – einen Karabiner hob und zielte. Einer seiner Kameraden schlug ihm zum Glück den Arm nach oben, und ich hörte, wie die Kugel über meinen Kopf hinwegsauste. Der Schütze hatte offensichtlich meinen Körper mit dem des Wolfes verwechselt.

Ein anderer Soldat sah, wie das Tier sich gerade davonstahl, und schoss. Dann ritt der Trupp im Galopp los – einige von ihnen in meine Richtung, und die anderen folgten dem Wolf, der zwischen den schneebedeckten Zypressen verschwand. Ich versuchte mich zu bewegen, was mir aber nicht gelang. Zwei oder drei der Soldaten sprangen von ihren Pferden und gingen neben mir in die Knie. Einer der Männer hob meinen Kopf an und legte die Hand auf mein Herz. »Gute Nachricht, Kameraden!«, rief er. »Sein Herz schlägt noch!« Daraufhin flößte er mir Branntwein ein. Das verlieh mir etwas Kraft und ich konnte die Augen ganz öffnen und mich umsehen. Zwischen den Bäumen bewegten sich Lichter und Schatten, und ich hörte Männer einander zurufen. Sie versammelten sich vor mir und flüsterten verängstigt, dann loderten die Fackeln auf, als einige Hals über Kopf wie von Dämonen verfolgt den Friedhof flohen. Irgendwer fragte: »Na, habt ihr ihn gefunden?« Die Antwort wurde überstürzt gegeben: »Nein, nein! Kommt rasch, fort von hier – schnell! Hier können wir nicht bleiben, und vor allem nicht heute Nacht!«

»Was ist denn los?«, lautete die Frage. Mehrere Stimmen antworteten wild durcheinander und verstummten sofort, als würden die Männer plötzlich alle von der gleichen Angst abgehalten, sich mitzuteilen. »Es – es – tatsächlich!«, stotterte einer, dem es für einen Moment völlig die Sprache verschlagen hatte. »Ein Wolf – und plötzlich keiner mehr!«, fügte ein anderer erschaudernd hinzu. »Ohne die geweihte Kugel brauchen wir ihm gar nicht nachzusetzen «, bemerkte ein Dritter mit ruhigerer Stimme. »Geschieht uns ganz recht, wenn wir in dieser Nacht ausreiten! Die tausend Mark Belohnung haben wir uns wirklich verdient!«, gab
ein Vierter von sich. Nach einer Weile sagte jemand: »Auf den zerbrochenen Marmorblöcken klebt Blut, das kommt gewiss nicht vom Blitzschlag.

Und er – wie geht es ihm? Seht euch bloß seine Kehle an! Seht, Kameraden, der Wolf hatte sich auf ihn gelegt und sein Blut warm gehalten.« Der Offizier besah sich meine Kehle und entgegnete: »Er ist in Ordnung; die Haut ist nicht verletzt worden. Was mag das alles nur bedeuten? Ohne das Geheul des Wolfes hätten wir ihn niemals gefunden.« »Wo ist das Tier denn hin?«, fragte der Mann, der mir den Kopf hielt und der vom ganzen Trupp am wenigsten der Panik erlegen war, denn seine Hände waren fest und zitterten nicht. An seinem Ärmel erkannte ich das Rangabzeichen eines Unteroffiziers. »Es ist zurück in seinen Unterschlupf gekrochen«, antwortete der Mann, dessen langes Gesicht kreideweiß war und der vom Grauen geschüttelt schien. Er blickte sich ängstlich um. »Hier gibt es ja genug Gräber, in denen es ruhen kann. Kommt, Kameraden – kommt schnell! Lasst uns von diesem verfluchten Ort verschwinden.« Der Offizier half mir beim Aufstehen, während er den anderen einen Befehl erteilte.

Mehrere Männer hoben mich hoch auf ein Pferd und der Offizier nahm hinter mir auf dem Sattel Platz, schloss die Arme um mich und gab Befehl zum Aufbruch. Wir kehrten dem Zypressenwäldchen den Rücken und ritten schnell und in militärischer Ordnung davon. Notgedrungen musste ich schweigen, da meine Zunge immer noch ihren Dienst versagte. Ich schlief während des Rittes ein und wachte erst auf, als man mich vom Pferd hob und ich aufrecht stand, zu jeder Seite von einem Soldaten gestützt. Es war schon fast helllichter Tag, und im Norden reflektierte der Schnee einen roten Streifen des Sonnenlichtes – wie eine Blutspur. Der Offizier schärfte seinen Männern ein, nicht zu viel zu sagen, sie hätten den englischen Touristen gefunden und er sei von einem großen Hund bewacht worden. »Hund! Das war doch kein Hund«, fiel ihm der Mann ins Wort, der zuvor solche Angst gezeigt hatte. »Ich erkenne doch wohl einen Wolf, wenn ich einen sehe.«

Der junge Offizier entgegnete mit ruhiger Stimme: »Ich habe gesagt, es war ein Hund.« »Hund!«, wiederholte der andere ironisch. Offenbar kam mit der Sonne auch sein Mut wieder zum Vorschein. Er wies auf mich und sagte: »Sehen Sie sich doch seine Kehle an. Ist das etwa das Werk eines Hundes, Herr Offizier?«Instinktiv fasste ich mir an die Kehle, und als ich sie berührte, schrie ich auf vor Schmerz. Die Männer scharrten sich um mich, um einen Blick darauf zu werfen, manche beugten sich sogar aus dem Sattel herab. Wieder erklang die ruhige Stimme des jungen Offiziers: »Es war ein Hund, wie ich schon sagte. Falls wir irgendetwas anderes sagen, dann wird man uns nur auslachen.« Dann wurde ich hinter einem Soldaten in den Sattel gesetzt, und wir ritten in einen Münchner Vorort. Dort fanden wir eine leere Kutsche, in die man mich setzte, und dann ging es weiter zum Hotel ›Vier Jahreszeiten‹ – der junge Offizier begleitete mich, und ein Reiter folgte uns, derweil die anderen zurück in ihre Kaserne ritten.

Bei der Ankunft eilte Herr Delbrück schleunigst die Treppe hinab und uns entgegen – er hatte wohl schon am Fenster gewartet. Er ergriff meine beiden Hände und geleitete mich mit übertriebenem Eifer hinein. Der Offizier verabschiedete sich von mir und wollte schon davonreiten, als mir seine Hilfsbereitschaft bewusst wurde. Ich bestand darauf, dass er mich auf mein Zimmer begleitete. Bei einem GlasWein dankte ich ihm und seinen tapferen Kameraden von ganzemHerzen für meine Rettung. Er erwiderte bloß, er habe es gern getan und Herr Delbrück habe von Anfang an dafür gesorgt, dass derSuchtrupp diesen Einsatz nicht bereuen würde. Bei dieser vieldeutigen Äußerung lächelte der Hoteldirektor, derweil der Offizier auf seine Pflicht verwies und sich verabschiedete. »Aber, Herr Delbrück«, fragte ich, »wieso haben die Soldaten denn nach mir gesucht?« Er zuckte die Achseln, als würde er die eigene Tat gering schätzen, und antwortete: »Ich hatte das Glück, den Befehlshaber des Regimentes, in dem ich selbst gedient habe, um Freiwillige bitten zu können.« »Aber woher wussten Sie denn, dass ich mich verlaufen hatte?«, fragte ich. »Der Kutscher kam mit den Resten seines Wagens hier an, der umgekippt war, als ihm die Pferde durchgingen.«

»Allein deswegen würden Sie doch wohl kaum einen Suchtrupp losschicken?« »Nein, das nicht!«, antwortete er. »Aber noch ehe der Kutscher zurückkam, erhielt ich dieses Telegramm von dem Edelmann, dessen Gast Sie sind.« Er nahm aus seiner Tasche ein Telegramm, das er mir überreichte, und ich las: Bistritz. Geben Sie gut acht auf meinen Gast – seine Sicherheit ist mir überaus kostbar. Sollte ihm irgendetwas zustoßen, sollte er vermisst werden, lassen Sie nichts unversucht, um ihn zu finden und seine Sicherheit zu gewährleisten. Er ist Engländer und daher abenteuerlustig. Es gibt viele Gefahren in der Nacht – der Schnee und die Wölfe. Verlieren Sie keine Sekunde, sollten Sie ihn in Gefahr wähnen. Ich werde Ihren Eifer fürstlich entlohnen. – Dracula. Das Zimmer schien sich um mich zu drehen, während ich das Telegramm in den Händen hielt. Hätte der aufmerksame Hoteldirektor mich nicht aufgefangen, wäre ich wohl zu Boden gestürzt. Diese ganze Geschichte war so überaus sonderbar, so unheimlich und unerhört, dass in mir das Gefühl erwuchs, der Spielball übernatürlicher Mächte zu sein – allein der Gedanke ließ mich erstarren. Ohne Zweifel stand ich unter einem geheimnisvollen Schutz. Zur rechten Zeit war aus einem fernen Land eine Botschaft gekommen, die mich vor dem Tod im Schnee bewahrt und den Zähnen des Wolfes entrissen hatte.

J. Wesley Rosenquist Rückkehr in den Tod

Grosse Traurigkeit herrschte in dem kleinen transilvanischen Dorf Rorfernberg - Herr Feldenpflanz war tot. Wenn man über die Kopfsteinpflastersteine lief, sah man hier und da in den Augen von Vorrübergehenden plötzlich Feuschtigkeit aufsteigen, sobald sein Name erwähnt wurde. Jedermann spruch von ihm, lobte seine Tugenden, beklagte seinen frühen Tod; und in den Augen so manchen Fräuleins war mehr als nur eine Spur von Tränen zu erkennen. Er war in der Tat bei allen im dorf dehr beliebt. »Armer Herr Feldenpflanz«, sagte der Schneider traurig, »er war ein feiner Mann, und auch eine ehrliche Haut. Und außerdem ein gelehrter Mann. Er hat vier Jahre die Universität von Berlin besucht und wusste mehr als jeder andere in Rotfernberg.

In der Tat ein sehr feiner Mann.« Der Schneider schnäuzte sich nachdrücklich, und seine Zuhörer taten es ihm nach. »Und das arme Fräulein Feldenpflanz! Die junge Frau liebte ihren Bruder von Herzen. Sie hat sonst niemanden auf der Welt. Was wird sie jetzt tun?« Der Schneider und seine Zuhörer schüttelten alle traurig den Kopf.»Gerade jetzt sitzt sie bei ihm. Zwei Tage schon hat sie bei ihm gewacht und für seine Seele gebetet. Wir alle wissen, wie er von Gott abfiel. Diese Zauberdinge, die er in seinem großen weißen Raum getan hat! Gläser voller fremdartiger Dämpfe und Lichter gab es da, und Blitze in Glaskugeln. Er behauptete immer, dass es sich dabei nicht um Magie handle – als ob wir nicht selbst Augen im Kopf hätten!«

»Ja«, meinte der Gemischtwarenhändler traurig, aber mit Schärfe, »als hätten wir keine Augen im Kopf!« Der Dorfpfarrer saß ebenfalls dort, etwas außerhalb der Gruppe. J. Wesley Rosenquist Rückkehr in den Tod Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben, und jedes Mal, wenn einer der Leute von dem offensichtlichen Verkehr des armen Herrn Feldenpflanz mit Luzifer sprach, überzog ein Ausdruck tiefen Schmerzes sein sanftes und gütiges Antlitz. Er war ein kleiner, stämmiger, dunkelhaariger Mann und trug sein Messgewand. Sehr still saß er da. Doch schließlich konnte er nicht länger zuhören, ohne das auszusprechen, was er dachte. »Bitte, bitte«, meinte er leise, »sagen Sie nichts weiter über unseren guten Freund.

Er weilt nun, wie ich hoffe, unter den Heiligen, und wir dürfen nur gut über die Toten sprechen. Erinnern Sie sich, er war ein guter Mann. Vielleicht ist er vom rechten Pfad abgekommen, ohne zu wissen, dass er von den Gaukelspielen des Feindes verführt worden war. Falls es so sein mag, wird er erlöst werden. Lassen Sie uns nicht über Herrn Feldenpflanz reden, lassen Sie nicht unser menschliches Urteil sprechen. Lassen Sie uns lieber gemeinsam mit Fräulein Feldenpflanz beten, die gerade jetzt neben dem Sarg ihres Bruders betet.« Mit diesen Worten stand er von seinem Stuhl auf und bedeutete den Männern, die dort in der Schneiderei versammelt waren, ihm zu folgen. Sie gehorchten: der Gemischtwarenhändler, der Schneider, der Hufschmied, der Metzger und der Bürgermeister.

Die Männer erklommen den steilen Bergpfad schweigend, voller Tatkraft und schnaufend. Der Abendtau lag schwer auf den langen Halmen des wilden Grases und kühle Tropfen fielen von den Blättern der dicken alten Eichen herunter, die am Berghang wuchsen. Die kühle Stille der Berge hatte sich mit der Dämmerung herabgesenkt. Es war, als sei eine große blaue, mit Sternen besprenkelte Schüssel umgedreht und auf die Erde gesetzt worden, wobei der Gipfel des Berges ihre glitzernde Mitte berührte. Plötzlich richtete der Pfarrer das Wort an seine Kameraden: »Sehen Sie, meine Freunde, da liegt das Feldenpflanz-Haus. Wenn wir eintreten, müssen wir uns schicklich benehmen, mit Würde und Anstand. Wir dürfen das trauernde Fräulein nicht ansprechen, wenn wir eintreten, sondern müssen uns um den Sarg versammeln und gemeinsam beten. Wir dürfen nicht stören.«

Und so wurde es gemacht. Das große Giebelhaus, das weiß gestrichen und von einer Gartenanlage umgeben war, lag direkt vor ihnen. Davon herab hing ein bedeutungsvolles schwarzes Band, das das reine Erscheinungsbild der Mauern und der großen Vordertür verunzierte. Die Stille war hier sehr ausgeprägt. In einem Fenster in der Nähe der Vordertür funkelte ein einzelnes elektrisches Licht, das einzige in Rotfernberg. Die einfachen Dorfbewohner hatten schon immer über die elektrische Beleuchtung und Geräte im Haus und Laboratorium des Herrn Feldenpflanz gestaunt. Völlig lautlos erreichte die Gruppe der Männer das Ende des Weges und versuchte die Tür zu öffnen. Sie war unverschlossen und die Männer traten leise ein, Pater Josef an der Spitze. Sie durchquerten einen langen dunklen Gang, an dessen Ende es eine Tür gab, die in den Salon führte.

Als sie sich dem Raum näherten, vernahmen sie den gedämpften Klang eines Gebetes, unterbrochen von Schluchzern. Pater Josef öffnete die Tür und schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer, gefolgt von den fünf anderen Dörflern. Die Männer bekreuzigten sich gleichzeitig. An einem einfachen schwarzen Holzsarg kniete Fräulein Feldenpflanz. Unter ihren Knien lag ein Kissen, das lange Totenwachen ermöglichen sollte. Ihr Gesicht wurde von ihrem langen schwarzen Haar verdeckt, und ihren Kopf hielt sie dicht über die Totenbahre gebeugt. Ihre bleichen Lippen bewegten sich unablässig. Am Kopfende des Sarges brannte trotz des elektrischen Lichtes eine Kerze, und der gesamte Sarg selbst war mit Bergblüten bedeckt. Jedoch hing kein schwerer, süßlicher Geruch, der typische Todesgeruch, in der Luft.

Die kniende Frau warf einen ausdruckslosen, tränenreichen Blick auf die eintretenden Männer und nahm dann wieder ihre frühere Haltung ein. Die sechs Männer traten nahe an den Sarg heran und warfen einen Blick auf den Mann in dessen Inneren. Dort lag Herr Feldenpflanz, ruhig und gut aussehend und tatsächlich sehr lebendig wirkend. Er war mit einem Anzug bekleidet, den der Schneider selbst angefertigt hatte. Sie alle knieten sich um die Totenbahre herum und beteten ... Während Feldenpflanz dort lag, verängstigt in seiner Notlage, konnte er nur an eines denken – Flucht. Und ein Wort hallte ständig in seinem Kopf wider – Katalepsie, Katalepsie! ... Nun war er schon seit Stunden gezwungen gewesen, den Gebeten und Tränen seiner Schwester zuzuhören; zahlreiche Stunden hatte er zugehört, wie man seinen Tod betrauerte, und war nicht imstande, sich zu bewegen.

Er spürte seinen eigenen Herzschlag, sehr langsam und sehr leise, sodass niemand in der Lage sein würde, ihn zu entdecken. Aber das leichte Pochen seines Herzens ließ das Blut durch sein betäubtes Gehirn fließen und erhielt sein Bewusstsein aufrecht, sodass er alle Dinge bemerkte, die geschahen, und imstande war, die schmerzlichen Gefühle der Todesangst und der bittersüßen schwachen Hoffnung zu erleben. »Hilfe! Hilfe!«, versuchte er zu schreien, aber die Worte wurden nur in seinem Kopf gebildet; seine Lippen versagten ihm den Dienst. Als gebildeter Mann kannte er die Gefahr seines Zustandes. Es existierte die Möglichkeit, dass er die Kontrolle über seine Glieder wiedererlangte, bevor er begraben wurde – lebendig begraben wurde. Bewusstsein war ein gutes Zeichen, das wusste er.

Wenn er nun seinen Körper dazu bringen konnte, seinem Willen zu gehorchen, was die Endphase der Genesung von dieser furchtbaren Krankheit bedeuten würde, so wäre er gerettet; er würde in die Welt zurückkehren, die er liebte, ins Leben und zu den Lebenden, zu seiner Schwester Maria. Und dann zuckte ihm ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf. Ihm wurde klar, dass zwangsläufig, wenn nicht sogar bald, die Luft im Sarg verbraucht sein würde! Der Sauerstoff in der Luft wurde allmählich aufgebraucht; denn obwohl er seine Brust nicht bewegte, nicht atmete, strömte die Luft durch Diffusion in seine Lungen und wieder hinaus. Wenn er sich nur bewegen könnte, würde ein Klopfen gegen die Sargwand Aufmerksamkeit bei den anderen erregen und seine Freilassung bewirken. War er dazu verdammt, hilflos herumzuliegen und lebendig begraben zu werden?

Das arme abergläubische Volk von Rotfernberg, einschließlich seiner Schwester, würde wahrscheinlich vor Entsetzen fliehen. Dann wäre es hoffnungslos, selbst wenn er wieder in der Lage sein würde, seine Glieder zu benutzen. Sie würden ihn in seinem mit Blumen geschmückten Gefängnis seinen vergeblichen Bemühungen überlassen. Oh, warum nur waren diese Leute nicht gebildet? Warum mussten sie sich auf ein Haus und einen Berghang beschränken? Unmerklich glitt er in einen Zustand der Träumereien und des Nachdenkens hinüber, in dem die ersten schmerzhaften Qualen der Angst sich allein durch die Erschöpfung aufgelöst hatten. Nur zwei Hoffnungen blieben in seinem Verstand zurück, wie leuchtende Schmetterlinge, die einen Moment Rast auf einer vertrockneten Blume machten. Erstens musste er sich bewegen, und zweitens durfte seine Schwester keine Angst haben; sie musste ihn aus seinem engen Gefängnis befreien. Und diese beiden Hoffnungen, bitter durch ihre Unwahrscheinlichkeit und süß durch ihre Möglichkeit, waren alles, wofür er existierte ... Noch immer drang die gedämpfte Stimme von Maria an sein Ohr, heiser und müde von langem Gebrauch, und durch seine Augenlider hindurch schien das Totenwachenlicht.

Plötzlich hörte er in dem Raum, in dem er lag, das Geräusch von Schritten. Er horchte aufmerksam. Es waren Männer, wie er vermutete, etwa ein halbes Dutzend. Nun gab es neue Hoffnung! Wenn er sich bewegte oder einen Ton von sich gab, dann hatte vielleicht einer der Männer genügend Verstand und Mut, um ihn zu befreien. Dann vernahmen seine Ohren den Klang von Stimmen, die einstimmig beteten. Also beteten auch sie nun für ihn! Mehrere Minuten wurden zu einer Stunde; dann verstummten die Stimmen, auch die seiner Schwester. Ein schmerzhafter Stich der Besorgnis durchdrang seinen Körper wie ein glühendes Schwert. Wollten sie ihn verlassen? Aber nein. Er hörte Lärm, der von kratzenden Stühlen herrührte, und das Rascheln von Kleidung. Man setzte sich hin. Als er aufmerksam lauschte, hörte er eine Stimme, die ihm vertraut war. Sie klang tief, wenn auch aus Respekt vor dem Toten, und gedämpft durch die hölzernen Wände, die ihn einschlossen. Es handelte sich um Pater Josef.

»Bitte, Fräulein Feldenpflanz«, sagte er sanft, aber bestimmt, »Sie müssen nun zu Bett gehen. Sie sind sehr erschöpft, und morgen müssen Sie für das Begräbnis Ihres Bruders früh aufstehen. Bitte gehen Sie schlafen.« Es war keine Antwort zu vernehmen, aber Feldenpflanz hörte den Klang von Schritten auf der Treppe. Offenbar ging Maria nach oben. »Lassen Sie uns hoffen«, sagte Pater Josef, »dass unser guter Freund unsere Gebete nicht braucht. Inzwischen befindet er sich im Himmel oder in der Hölle. Möge es nicht Letzteres sein.« Die sechs Männer saßen schweigend da und nickten. »Oder im Fegefeuer«, fügte der Schneider hinzu und blickte den Pfarrer an, um sich seiner Zustimmung zu versichern. Der unbewegliche Mann im Sarg verspürte einen Anflug von Belustigung.

»Nach dem Begräbnis wird das Fräulein ohne Zweifel die unheiligen Dinge in dem großen weißen Raum ihres Bruders im Keller vernichten «, ergriff der Schmied das Wort, ein großer Mann, der nur selten sprach. »Ich glaube«, fuhr er fort, »dass Keller grundsätzlich nur Weine enthalten sollten.« Also wollten sie sein Labor zerstört sehen! Und das, nachdem er beerdigt worden war ... Verzweifelt unternahm er jede Anstrengung, sich zu bewegen, aber er war nicht dazu imstande. Bildete er es sich nur ein, oder wurde die Luft wirklich schlechter? Ihn schwindelte, und er hatte das Gefühl, dass sein Herz ein wenig schneller schlug.

»Das ganze Dorf Rotfernberg wird herkommen, um der Beerdigung des Herrn Feldenpflanz beizuwohnen«, meinte der Bürgermeister, ein großer dünner Mann, »und ich werde die Prozession anführen. Er war einer meiner besten Freunde, folglich ist das nur angemessen. Ach, ich erinnere mich so gut an seinen fröhlichen Gutenmorgengruß und seine guten Weine. Außerdem war er ein großzügiger Mann, der immer Almosen gegeben hat, und er bezahlte die höchsten Steuern im Ort. Und niemand war ehrlicher. Er war ein sehr guter Mann.« Der Bürgermeister schnäuzte sich, gedämpft wegen der Gegenwart des Toten. Alle nickten zustimmend, abgesehen von Pater Josef, der in ein Gebetbuch vertieft war. Seine blassen Hände hoben sich gegen seinen schwarzen Talar ab, und seine Lippen bewegten sich leicht. Es vergingen mehrere Minuten, bevor er aufblickte.

»Lieber Gott, lieber Gott«, betete Feldenpflanz wieder und wieder, als er den wahren Tod herannahen fühlte. Aber was war das? Er spürte, wie ein Zittern über seinen Körper lief. Sein Herz schlug schneller, und ein warmer Schauder durchströmte seine tauben Glieder. Er spürte, wie sein Wille allmählich seine schlafenden Nerven bezwang und in seine Glieder kroch. Nun hoffte er, dass er sehr bald wieder befreit sein würde. »Lassen Sie uns jetzt gehen«, sagte der Pfarrer, und Entsetzen ergriff den Mann im Sarg. Er vernahm das Schaben von Stühlen und das Schlurfen von Füßen. Nun war der Moment gekommen! Nun musste er sich bewegen. Sein Herz pochte aufgeregt, seine Fingerspitzen kribbelten, sein Gesicht fühlte sich heiß an und sein Kopf war voller Blut. Er hörte, wie die Schritte aufhörten. Offensichtlich hatten sie bei ihm innegehalten. Er hörte das Rascheln von Kleidung. Dann ergriff der Metzger das Wort, und seine Stimme klang angestrengt. »In der Tat, wie ungeheuer lebendig! Sein Gesicht wird rot!« Feldenpflanz nahm all seine Kräfte zusammen. Die Dunkelheit schien zu erbeben – und seine Augen waren offen!

Über sich sah er sechs Gesichter, die wie auf einem Gemälde erstarrt waren. Pater Josef trug einen Ausdruck äußersten Entsetzens zur Schau. Das Gesicht des Schneiders, das lang, bleich und abgespannt war, drückte Furcht und erschrockenes Misstrauen aus. Der Metzger riss Augen und Mund weit auf. Der Gemischtwarenhändler bekreuzigte sich immer wieder, indem sich seine Lippen hektisch im Gebet bewegten. Der Hufschmied, der sich mehr vor dem Übernatürlichen fürchtete als der Rest, schloss die Augen, keuchte auf und taumelte zurück. Der Bürgermeister starrte ihn einen Moment lang mit hervorquellenden Augen an. Dann schrie er ein einziges Wort: »Vampir!« Und dann war Lärm zu hören, der vom Herumrennen und Schreien stammte, und Feldenpflanz sah, wie die Gesichter über seiner ausgestreckten Gestalt verschwanden, außer dem von Pater Josef, der ein lateinisches Bittgebet aus seinem Gebetbuch vorlas.

Das Opfer der Katalepsie hörte nun verzweifelt das Geräusch zahlreicher Füße, die in seine Richtung rannten. Dann tauchten unvermittelt die Gesichter des Schmiedes und des Metzgers über ihm auf. An der Seite des Sarges war ein tastendes Geräusch zu vernehmen, und dann – wurde der Deckel geöffnet. Er war gerettet! Aber was war das? Der Metzger hielt ihm ein Messer gegen seine linke Körperseite, und der Hufschmied hob seinen Hammer hoch über den Kopf. Der monotone Vortrag von Pater Josefs lateinischem Gebet drang an sein Ohr. Feldenpflanz gab unverständliche Laute von sich. »Nein, n’, Hilfe, nein!« Der Hammer hob sich und sauste herab. Eins! Zwei! Drei! Herr Feldenpflanz hörte auf, an Rettung zu denken.

Graham Masterton Der Laird von Dunain

Der Schneider fiel durch`s Bett, mit Fingerhut und all `, die Decken waren dünn, und die Lagen waren schmal, der Schneider fiel durch`s Bett, mit Fingerhut und ll

Im ersten goldenen Nebel des Morgens trat der Laird von Dunainauf den Rasen, gekleidet in Kilt mit Ledertasche und dicken, haferfarbenen Pullover, das Gesicht bleich, knochig und ästhetisch, der Bart rot wie eine Flamme, das Haar struppig und Distelgestrüpp. Ein archetypischer Schotte; die Art von Schotte, wie man sie auf Keksbüchsen und Flaschen von Single Malt Whisky sieht. Nur sah er so verhärmt und hager aus. Nur wirkte er so spirituell ausgehungert. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass Claire ihn sah, und sie tippte Duncan mit dem Griff ihres Pinsels auf den Arm und sagte: »Schau, da ist er! Sieht er nicht einfach fantastisch aus?« Alle neun Teilnehmer des Malkurses drehten sich um und starrten den Laird an, wie er gewissenhaft den Kiesweg patrouillierte, der hinter Dunain Castle verlief. Zuerst schien er sie nicht zu bemerken, hielt die Hände hinterm Rücken verschränkt und den Kopf hoch, als atmete er die würzige Sommerluft ein und betrachtete seine Ländereien und dachte dabei an die Dinge, an die ein Highland-Laird nun einmal so denkt: wie viele Hirsche zu schießen seien und wie er das Highlands Development Board überzeugen könne, ihn mit einer
Stromhauptleitung zu versorgen. »Ich frage mich, ob er uns Modell stehen würde?«, sagte Margot, ein rundliches Mädchen aus Liverpool mit krausen Haaren. Margot hatte Claire gestanden, dass sie den Malkurs belegt hatte, weil der Kittel ihre Hüften verbarg. Graham Masterton Der Laird von Dunain »Wir könnten ihn ja mal fragen«, schlug Claire vor – Claire mit ihren zum Bubikopf frisierten, glatten, dunklen Haaren und dem
ernsthaften, schön geschnittenen Gesicht. Ihr Mann, ihr Ex-Mann, hatte immer gesagt, sie sähe aus »wie eine sinnliche Schulleiterin«. Malkittel, Haarreif und eine mondrunde Brille verstärkten diesen Eindruck noch. »Er sieht so furchtbar romantisch aus«, sagte Margot. »Wie Rob Roy. Oder Bonnie Prince Charlie.« Duncan durchsuchte seinen Kasten mit den Wasserfarben, bis er eine halb abgebrannte Zigarette gefunden hatte. Die zündete er mit einem Feuerzeug aus Plastik an, auf dem ein verkratztes Bild von einem halb nackten Mädchen zu sehen war. »Das Problem mit der Malerei in Schottland ist«, sagte er, »dass alles so scheißromantisch aussieht. Du steckst Leib und Seele in ein Bild von Glenmoriston, und zu guter Letzt sieht es aus wie ein Platzset von Woolworth.« »Trotzdem hätte ich ihn gern als Modell«, sagte Margot. Die Teilnehmer des Malkurses hatten ihre Staffeleien auf dem abfallenden südlichen Rasen von Dunain Castle aufgestellt, in unmittelbarer Nähe zum Kräutergarten mit der Steinmauer. Jenseits des Kräutergartens erstreckte sich ein grasüberwachsenes Gelände
bis zu den Ufern des Kaledonischen Kanals, der sich seinen Weg zwischen dem nordöstlichen Zipfel von Loch Ness und der Stadt Inverness bahnte und in die Nordsee mündete. Gestern waren während einer Regatta den ganzen Tag lang Segelschiffe über den Kanal geglitten, und es hatte so ausgesehen, als segelten sie wie Schiffe in einem surrealistischen Traum oder Albtraum durch die Felder und Hecken. Mr Morrissey rief: »Achten Sie ganz besonders auf das Licht; es ist jetzt goldfarben und sehr gleichmäßig, aber es wird sich bald ändern.« Mr Morrissey (kahlköpfig, rundschultrig, hektisch, pedantisch) war der Kursleiter, der Mann, der sie bei ihrer Ankunft auf Dunain Castle begrüßt und ihnen ihre Zimmer gezeigt hatte (»Sie werden es lieben, Mrs Bright ... eine wunderbare Aussicht in den Garten ...«) und der ihnen nun Lektionen in der Landschaftsmalerei erteilte. Auf seine Weise war er sehr gut. Seine Skizzen waren streng, er malte monochrom, und er duldete keinerlei Sentimentalitäten. »Sie sind nicht in Schottland, um Landseers ›Monarch of the Glen‹ zu reproduzieren«, hatte er ihnen gesagt, als er sie am Bahnhof von Inverness abgeholt hatte. »Sie sind hier, um das Leben und die
Landschaft festzuhalten, in einem unvergleichlich klaren Licht.« Claire wandte sich wieder ihrer Kohleskizze zu, doch aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Laird von Dunain langsam über den Rasen auf die Gruppe zukam. Aus irgendeinem Grund war sie aufgeregt und fing an, schneller und unruhiger zu zeichnen. Ehe sie sich versah, stand der Laird etwa einen halben Meter vor ihr, die Hände nach wie vor hinterm Rücken verschränkt. Seine Ausstrahlung war prickelnd und elektrisch, beinahe so, als würde er schon mit seinem dichten, ingwerfarbenen Bart über die Innenseite ihrer Schenkel streichen. »Nun, nun«, sagte er endlich mit einem starken Inverness-Akzent. »Sie haben wirklich Talent, würde ich sagen. Sie sind nicht eine von Gordons üblichen Mädels.« Claire wurde rot und bemerkte, dass sie nicht mehr weiterzeichnen konnte. Margot kicherte.
»Ach«, sagte der Laird, »das war nicht als Schmeichelei gemeint. Sie sind wirklich gut.« »Nicht wirklich«, entgegnete Claire. »Ich male erst seit sieben Monaten.« Der Laird kam näher. Claire roch Tweed und Tabak und Heide und noch etwas anderes, widerstrebend und süß, das sie noch nie zuvor gerochen hatte. »Sie sind gut«, wiederholte er. »Sie können gut zeichnen; und ich wette darauf, dass Sie auch gut malen können. Mr Morrissey!« Mr Morrissey blickte auf; sein Gesicht war ziemlich blass. »Mr Morrissey, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich dieses Fohlen aus Ihrem Stall entführe?« Mr Morrissey blickte skeptisch drein. »Heute Morgen steht eigentlich Landschaft auf dem Plan.« »Ja, aber ein klein wenig Portraitmalerei kann ihr auch nicht schaden, oder? Und ich hätte für mein Leben gern ein Portrait von mir.« Sehr zögernd sagte Mr Morrissey: »Nein, ich glaube nicht, dass es ihr schadet.« »Dann wären wir uns ja einig«, erklärte der Laird, und kurzerhand klappte er Claires Staffelei zusammen und ordnete ihre Wasserfarben. »Moment mal –«, sagte Claire und lachte beinahe über seine Unverfrorenheit. Der Laird von Dunain starrte sie an mit Augen, die so grün waren wie Smaragde, die man in einem Mörser zerstoßen hatte. »Tut mir leid. Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?« Claire konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Nein. Es macht mir nichts aus.« »Nun denn«, sagte der Laird von Dunain und ging ins Schloss voran. »Hmph«, machte Margot entrüstet. Er saß ihr Modell in einem trüben Zimmer in einem der oberen Stockwerke, mit hoher Decke und ganz mit dunklen Eichenpaneelen ausgestattet. Hauptlichtquelle war ein Oberlichtfenster aus Bleiglas, durch das das Licht fast wie durch einen Scheinwerfer fiel. Der Laird von Dunain saß auf einer großen, eisenbeschlagenen Truhe, den Kopf nach oben gerichtet; es gelang ihm, völlig bewegungslos zu bleiben, während Claire ihre Skizzen machte. »Sie sind noch aus einem anderen Grund hier, nicht nur zum Malen und Zeichnen«, sagte er nach einer Weile. Claire umriss mit ihrem Kohlestift rasch seine linke Schulter. »Ach ja?«, fragte sie. Sie wusste nicht, was er meinte. »Sie suchen hier nach Seelenfrieden, nicht wahr, und nach einem Weg, um alles in Ordnung zu bringen?« Sie dachte kurz an Alan und an Susan, an zugeschlagene Türen. Sie dachte daran, wie sie kilometerweit durch Shepherds Bush ging, im strömenden Aprilregen. »Darum geht es in der Kunst doch, oder?«, entgegnete sie. »Alles in Ordnung zu bringen.« Der Laird von Dunain lächelte schief. »Das pflegte mein Vater immer zu sagen. Mein Vater glaubte absolut daran.« Irgendwas an seinem Tonfall brachte Claire dazu, ihre Zeichnung einen Moment lang zu unterbrechen. Etwas sehr Ernstes; etwas Suggestives; als wolle er ihr mitteilen, dass seine Worte mehr als nur eine Bedeutung haben. »Ich glaube, ich mache besser morgen damit weiter«, sagte sie. Der Laird von Dunain nickte. »In Ordnung. Wir haben alle Zeit der Welt.« Am nächsten Tag fuhr der Rest der Kursteilnehmer mit einem Minibus nach Fort Augustus, um die Schleusen des Kaledonischen Kanals zu malen, während Claire mit dem Laird von Dunain in seinem hohen, finsteren Zimmer saß und begann, sein Portrait zu malen. Sie benutzte lieber Designfarben als Ölfarben, weil man damit schneller arbeiten konnte; zudem nahm sie am Laird von Dunain etwas Unstetes wahr, das sie mit Ölfarben nicht hätte einfangen können. »Sie können sehr gut Modell sitzen«, sagte sie, als der Morgen schon halb verstrichen war. »Möchten Sie denn keine Pause machen? Vielleicht könnte ich Kaffee aufsetzen.« Der Laird von Dunain rückte um keinen Zoll von seiner starren Pose ab. »Mir wäre es lieber, hiermit fertig zu werden, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Sie fuhr mit dem Malen fort, drückte eine halbe Tube roter Farbe aus. Sie hatte Schwierigkeiten damit, seinem Gesicht Farbe zu verleihen. Für Gesichter verwendete sie normalerweise wenig mehr als eine Palette aus gelbem Ocker, Terra verte, Alizarinscharlach und Kobaltblau. Doch gleich wie viel Rot sie auch in die Farben mischen mochte, sein Gesicht schien immer blutarm zu bleiben – fast wie das eines Toten. »Es ist sehr schwierig, Ihren Teint hinzubekommen«, gestand sie, als die Uhr in der Halle unten zwei schlug. Der Laird von Dunain nickte. »Über die Dunains von Dunain wurde immer behauptet, wir seien eine blutleere Familie. Bei Culloden allerdings haben wir das Gegenteil bewiesen. Das war der Tag, als der Laird von Dunain von einem halben Dutzend Soldaten des Herzogs von Cumberland gefangen und umstellt wurde; sie fügten ihm so schlimme Schnittwunden zu, dass er einen Viertelmorgen des Bodens mit seinem Blut tränkte.« »Das klingt ja furchtbar«, sagte Claire, während sie mehr von dem Alizarinscharlach aus der Tube drückte. »Das ist lange her«, antwortete der Laird von Dunain. »Am 16. April 1746. Das ist fast 250 Jahre her, und wessen Erinnerungsvermögen reicht schon so weit zurück?« »So wie Sie es erzählen, klingt es wie gestern«, sagte Claire, die mit Mischen beschäftigt war. Der Laird von Dunain wandte zum allerersten Mal für heute den Kopf ab. »Als er an diesem Tag blutend auf dem Boden lag, schwor der Laird, er wolle für jeden Tropfen Blut Rache an den Engländern üben. Er würde es sich zurücknehmen, sagte er, und zwar in vieltausendfacher Menge.Seine Leiche wurde nie gefunden, wissen Sie, obwohl es in den Glens viele Geschichten darüber gibt, dass die Dunains und Macduffs sie eilends entfernt hätten. Das war einer der Gründe, warum der Herzog von Cumberland die Highlands mit solcher Brutalität heimsuchte. Er hatte sich geschworen, nicht eher nach England heimzukehren, ehe er die Leiche des Dunain von Dunain mit eigenen Augen gesehen und an die Hunde verfüttert hätte.« »Grausige Zeiten«, merkte Claire an. Sie lehnte sich zurück. Das Gesicht des Lairds war noch immer abstoßend weiß, obwohl sie beinahe zwei ganze Tuben Scharlachrot in die Gesichtsfarbe gemischt hatte. Sie konnte es einfach nicht begreifen. Sie strich sich mit der Hand durchs Haar und sagte: »Ich muss morgen daran weiterarbeiten.« »Natürlich«, sagte der Laird von Dunain. Auf dem Weg zum Abendessen traf sie im eichengetäfelten Gang auf Margot. Die wirkte ungewöhnlich hektisch und böse. »Du hast uns gestern nicht begleitet, und du hast uns heute nicht begleitet. Heute haben wir Schafe gezeichnet.« »Ich habe –«, setzte Claire an und neigte den Kopf in Richtung der Zimmer des Laird von Dunain. »Oh ja«, sagte Margot. »Das ist mir schon klar. Das ist uns allen klar.« Und dann stapfte sie mit hin- und herschwankendem Hinterteil davon. Claire war entgeistert. Aber dann kam ihr blitzartig der Gedanke: Sie ist eifersüchtig. Sie ist wirklich eifersüchtig. Den ganzen nächsten Tag saß der Laird von Dunain gefasst und reglos vor Claire, die mit dem Portrait kämpfte. Sie brauchte sechs Tuben helles Rot und acht Tuben Alizarinscharlach auf, und dennoch blieb sein Gesicht so bleich wie zuvor. Sie wurde immer verzweifelter, weigerte sich aber, klein beizugeben. Auf eine sonderbare Weise, die sie nicht verstand, war ihr Gemälde ein Schlachtfeld, auf dem sie mit dem Laird von Dunain einen stummen Kampf auf Leben und Tod ausfocht. Vielleicht rang sie aber auch nur mit Alan und mit allen anderen Männern, die sie mit derartiger Verachtung behandelt hatten. Der Nachmittag war halb verstrichen, das Licht im Oberlichtfenster erstarb nach und nach, und es fing an zu regnen. Sie hörte das Prasseln der Regentropfen auf dem Dach und das leise Glucksen in den Abflüssen. »Sind Sie sicher, dass Sie noch gut genug sehen können?«, fragte der Laird. »Ich sehe noch gut genug«, antwortete sie, während sie verbissen einen weiteren dicken, glänzenden Wurm roter Gouache aus der Tube presste. »Sie können auch einfach aufgeben.« Seine Stimme klang fast hinterhältig. »Ich sehe gut genug«, beharrte Claire. »Und ich bringe dieses verfluchte Portrait zu Ende, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.« Sie nahm ein Messerchen, um die Zellophanhülle einer weiteren Packung Designfarben zu öffnen. »Es tut mir leid, dass ich ein so merkwürdiges Motiv bin«, lächelte der Laird. Es klang, als würde es ihn so recht amüsieren, merkwürdig zu sein. »Kunst muss eine Herausforderung sein«, entgegnete Claire. Sie war immer noch damit beschäftigt, die Packung mit den neuen Farben zu öffnen. Ohne jede Warnung krachte ein ohrenbetäubender Donner so nahe am Dach des Schlosses, dass Claire fühlte, wie die Dachsparren bebten. Ihre Hand glitt an der Packung ab, und das Messerchen schnitt ihr in die Fingerspitze. »Au!«, schrie sie, ließ die Packung fallen und hielt ihren Finger. Blut tropfte in schneller Folge auf das Gemälde, ein Tropfen nach dem andern. »Stimmt etwas nicht?«, fragte der Laird, der aber keinerlei Regung zeigte, sich von seiner eisenbeschlagenen Truhe zu erheben. Claire wimmerte leise, als sie das Blut aus der Wunde sprudeln sah. Sie wollte ihm gerade sagen, dass sie sich geschnitten habe und nicht weitermalen könne, als sie bemerkte, dass ihr Blut sich mit der nassen Farbe auf dem Gesicht des Lairds vermischt hatte und diesem eine unnatürlich gesunde Röte verlieh. »Sie haben sich doch nicht etwa verletzt, oder?«, fragte der Laird. »Oh, nein.« Claire drückte mehr Blut heraus und trug es mit ihrem Pinsel auf. Nach und nach wirkte das Gesicht des Lairds rosiger und wesentlich lebendiger. »Mir geht’s gut, ganz wunderbar.« Und bei sich dachte sie: Jetzt hab ich dich, du heimtückischer Hurensohn. Jetzt zeig ich dir, wie gut ich malen kann. Ich werde dich hier für alle Zeit einfangen – so wie ich dich gesehen habe; so wie ich dich haben will. Der Laird bewahrte seine Haltung und sagte nichts, sah ihr aber mit einem eigentümlichen Ausdruck der Befriedigung und Genugtuung zu, wie jemand, der gerade von einem ausgezeichneten Wein gekostet hat. In dieser Nacht, in ihrem Zimmer mit Aussicht auf den Garten, träumte Claire von Männern in zerrissenen Umhängen und federgeschmückten Mützen; Männern mit hageren Gesichtern und hohlen Augen. Sie träumte von Rauch und Blut und Schreien. Sie hörte einen scharfen, aggressiven Trommelwirbel – Trommeln, die sie durch einen Traum in den nächsten verfolgten. Als sie erwachte, war es erst fünf Uhr morgens, und es regnete, und der Fenstergriff klapperte und klapperte im gleichen Takt wie die Trommeln in ihren Träumen. Sie zog ihre Jeans und ihre blaukarierte Bluse an und stieg dann leise die Treppe zu dem Zimmer hinauf, wo sie das Portrait des Lairds malte. Irgendwie wusste sie, was sie dort vorfinden würde, und doch war sie darüber schockiert. Das Portrait war wieder so bleichgesichtig wie zuvor, ehe sie die Farben mit ihrem eigenen Blut vermischt hatte. Wenn irgend möglich, war es sogar noch weißer. Auch der ganze Gesichtsausdruck schien sich verändert zu haben – zu einem starren Blick voll stummer, ausgezehrter Wut. Claire sah das Portrait mit einer Mischung aus Grauen und Faszi- nation an. Dann setzte sie sich langsam hin, öffnete die Kiste mit den Farben und fing an, einen Hautton zu mischen. Weiße Flocken, Rot und gelber Ocker. Als sie damit fertig war, nahm sie ihr Messerchen und hielt ihr Handgelenk über die Palette. Sie zögerte nur einen Moment. Der Laird von Dunain starrte sie viel zu zornig, zu unversöhnlich an. Sie hatte nicht die Absicht, sich von einem solchen Mann übertrumpfen zu lassen. Sie schnitt sich das Handgelenk in einer langen Diagonale auf, und sogleich pumpte die Arterie das Blut auf die Palette, wo das volle, klebrige Rot die Wasserfarben beinahe ertränkte. Sobald die Palette von Blut gesättigt war, knotete sie ihren Farblappen so fest es ging um ihr Handgelenk, nahm dabei ihre Zähne zu Hilfe. Zitternd und atemlos ging sie daran, Blut und Farbe zu mischen, und dann fing sie an zu malen. Sie arbeitete fast eine Stunde lang mit dem Pinsel, doch so schnell sie die Mischung aus Farbe und Blut auch auftrug, es schien umso schneller wieder aus dem kreideweißen Gesicht des Lairds zu verschwinden. Schließlich lehnte sie sich, beinahe hysterisch vor Frustration, zurück und ließ den Pinsel fallen. Der Laird starrte sie an – höhnisch, anklagend, ihr Talent und ihre Weiblichkeit schmälernd. Genau wie Alan. Genau wie jeder andere Mann. Man gab ihnen alles, und sie behandelten einen dafür mit völliger Verachtung. Aber nicht dieses Mal. Nicht dieses Mal. Sie erhob sich, knöpfte ihre Bluse auf und stellte sich mit nackter Brust vor das Portrait des Laird von Dunain. Dann nahm sie das Messerchen in die Faust und hielt die Klinge über das volle, fahle Fleisch direkt unter ihrem Nabel.
»Das schläfrige Mädchen, es fürchtet kein Unbill; das Wetter war kalt, und das Mädchen lag still. Es meinte, vom Schneider droht ihr kein Unbill.« Sie schnitt sich in den Bauch. Ihre Hand zitterte, doch sie war ruhig und bei Sinnen. Sie schnitt durch die Haut und die Schichten weißen Fetts, und tiefer noch, bis ihre Eingeweide einen dunklen, süßen Duft ausatmeten. Sie war enttäuscht, dass kein Blut kam. Sie hätte gedacht, sie würde wie ein Schwein bluten. Stattdessen schimmerte die Wunde bloß feucht, und eine gelbliche Flüssigkeit folgte. »Jemand ist’s müde, allein zu liegen bei ihr; manche sind schlapp und, ich glaub, voller Gier ... dass der Schneider wieder hüpfen kommt hier.« Claire schlitzte nach oben, bis hin zu ihrem Brustbein, und das Messerchen war so scharf, dass es in ihrer Rippe stecken blieb. Sie zog es heraus, und dieses Gefühl war schlimmer als der Schmerz. Sie wollte das Blut, doch sie hätte nicht geglaubt, dass es derart wehtun würde. Der Schmerz war so verheerend wie es der Donner gewesen war, überwältigend. Sie dachte daran zu schreien, war sich aber nicht sicher, ob das etwas helfen würde; außerdem hatte sie vergessen, wie man schreit. Mit blutbesudelten Händen griff sie in ihren aufgeschlitzten Bauch und umfasste all die heißen, glitschigen, schweren Dinge, die sie dort fand. Sie zerrte sie hervor, auf das Gemälde des Laird von Dunain, und wischte mit ihnen immer wieder über die Leinwand, bisdiese von Blut übertüncht und das Portrait des Lairds beinahe völlig unkenntlich war. Dann fiel sie zur Seite, schlug mit dem Kopf auf den Eichendielen auf. Das Licht aus dem Oberlichtfenster wurde heller und schwächer, heller und schwächer, und dann verblasste es für immer. Man brachte sie ins Riverside Medical Centre, doch sie war bereits tot. Massives Trauma, Blutverlust. Duncan stand auf dem Parkplatz, sog heftig an einer Zigarette und rieb sich die Arme. Margot saß auf einem Kunstledersitz im Wartezimmer und weinte. Sie fuhren zurück nach Dunain Castle. Der Laird stand auf dem
Rasen hinter dem Schloss und beobachtete das Spiel des Lichtes im Tal. »Dann ist sie also tot«, sagte er, als Margot auf ihn zustapfte. »Schreckliche Sache, ganz ohne Zweifel.« Margot wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie konnte nur vor ihm stehen und vor Zorn zittern. Er schien so selbstgefällig, so ruhig, so zufrieden; die grünen Augen wie Smaragde, doch mit roten Sprenkeln. »Sehen Sie«, sagte der Laird von Dunain und wies auf die Vögel, die über ihnen kreisten. »Die Nebelkrähen.Die wissen immer, wannder Tod kommt.« Margot stürmte hinauf in das Zimmer, wo sie vor nur zwei Stunden die sterbende Claire gefunden hatte. Dort war es hell wie in einer Kirche. Und dort auf der Staffelei stand das Portrait des Laird von Dunain, strahlend sauber, ohne auch nur einen einzigen Blutflecken darauf. Der lächelnde, siegesgewisse Laird von Dunain mit seinen rosigen Wangen. »Eingebildeter, chauvinistischer Dreckskerl«, sagte sie und ergriff die Leinwand, um sie entzweizureißen, von oben nach unten. Vor lauter Wut. Vor lauter zornigem Feminismus. Aber vor allem: vor lauter Eifersucht. Warum war sie nie einem Mann begegnet, für den sie sich hätte umbringen wollen? Und draußen im Garten, auf dem abschüssigen Rasen, hörten die Teilnehmer des Malkurses einen Schrei. Es war ein so widerhallender und entsetzlicher Schrei, dass sie kaum glauben konnten, dass er von einem einzigen Mann kommen sollte. Vor ihren Augen platzte der Laird von Dunain – im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Gesicht explodierte, sein Unterkiefer fiel heraus, seine Brust sprengte in einer Detonation von Rippen und eimerweise Blut seinen Pullover. Es gab so viel Blut, dass es bis auf die Mauern von Dunain Castle spritzte und die Fenster hinunterrann. Da saßen sie, mit weit offenen Mündern, die Pinsel in den Händen,
während er auf dem Kiesweg zusammenbrach, zuckte und still dalag, während überall das Blut floss und die Nebelkrähen kreisten und schrien und wieder schrien, denn sie wissen immer, wann der Tod kommt.
»Gib mir den Groschen zurück, junger Mann; der Tag ist kurz, die Nacht ist lang; das liebste Silber, das ich je gewann. Der Schneider fiel durchs Bett, mit Fingerhut und all’.«

Simon Clark Vampir-Abschaum

Du bist wie die Dunkelheit der Nacht, berührt vom bleichen Licht des Mondes.

Die Kleinstadt Leppington lag schlafend im mitternächtlichen Mondschein. Zwanzig Stunden lang strömender Juliregen hatte auf den Strassen silbern glänzende Pfützen hinterlassen, und in jeder spiegelte sich der Mond. Eine harte, kalte Scheibe, weiß wie Knochen, auf der ganz schwach tote Mondmeere zu erkennen waren. Barfuß lief das Mädchen die menschenleere Straße entlang, ihre Zehen tauchten in die Pfützen und zerstörten diese glitzernden Abbilder einer weit entfernten Welt. Ich komme zu spät, sagte sie sich. Ich komme VIEL zu spät. Sie sind sicher ohne mich fortgegangen. Diese hastigen Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie
beschleunigte ihre Schritte: eine einsame Gestalt in der Abgeschiedenheit einer Stadt in Yorkshire, die um diese Nachtzeit trostlos und furchterregend wirkte. Die Dächer schimmerten noch feucht, silberne Streifen des Mondlichts glommen darauf. Dahinter erspähte sie die dunkle, bedrohliche Hügelkette, die eine undurchdringliche Mauer bildete, so als wollte sie Leppington für immer und ewig gefangen halten. Wild überstürzten sich ihre Gedanken, trieben sie an zu rennen. Ich werde von hier weggehen. Ihr könnt mich nicht ewig hier festhalten. Wenn ich sie erst gefunden habe, werden sie mich mitnehmen. Dann werde ich nie wieder zu diesem gottverdammten Friedhof von einer Stadt zurückkommen müssen. Simon Clark Vampir-Abschaum Sie bog um eine Ecke und blieb dann stehen. Dort stand, wie ein riesiger Grabstein, der aus der feuchten Erde ragt, das Bahnhofshotel und ließ alle Gebäude in der Umgebung zwergenhaft erscheinen. Kein Lichtschein drang durch die Fenster in der gotischen Fassade. Es war unwahrscheinlich, dass sich Hotelgäste dort aufhielten … wer möchte schon gerne freiwillig in so einem düsteren Gebäude übernachten, mit all diesen morbid verzierten Wasserspeiern und den grimmigen Steingesichtern über dem Türsturz? Falls wider Erwarten doch Gäste im Hause waren, so hätten sie es vermutlich vorgezogen, sich dieser Umgebung durch den Schlaf zu entziehen. Eine Gestalt erschien im Schatten einer Gasse zu ihrer Rechten. Sie sah blass schimmernde nackte Arme. Die Haut eisblau und von dicken schwarzen Venen durchzogen. Da war kein Gesicht – zumindest
konnte sie keines erkennen, denn die Gestalt war tief in Dunkelheit gehüllt. Wer auch immer dieser Fremde sein mochte, sie wurde von ihm beobachtet. In kalten Wellen strömte die Angst durch ihren Körper. Sie wich zurück, als die Gestalt auf sie zukam. Das Hotel war nur etwa hundert Schritte entfernt. Ich könnte hinrennen. Vielleicht könnte ich ihm entkommen … Während sie alle Muskeln für die Flucht anspannte, hörte sie den Mann sprechen. Die Stimme klang krank, so als seien die Stimmbänder verfault wie vom Wundbrand. »Geh zurück dahin, von wo du herkommst! Du gehörst nicht hierher. Geh … Geh …« Als sie sich umdrehte um fortzulaufen, stolperte sie und fiel auf Hände und Knie in eine Regenpfütze, die die halbe Straße bedeckte. Für einen kurzen Augenblick erstarrte sie vor Schreck über den Sturz und den abscheulichen Fremden. Wie betäubt schaute sie ins Wasser. Die klare, schimmernde Mondscheibe spiegelte sich darin. Und sie sah noch ein anderes bleiches Ding, das daneben zu schweben schien. Sie sah ein Gesicht – ein fürchterliches Gesicht, das ihr den Atem stocken ließ. Die Haut sah aus wie Kerzenwachs, blaue Flecken sprenkelten die merkwürdig hohe Stirn. Und die Augen … Dieses Starren ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie riss ich aus der Umklammerung des hypnotischen Blickes los, sprang auf und rannte auf das Bahnhofshotel zu. Der raue Straßenbelag riss ihre nackten Fußsohlen auf, aber sie durfte nicht stehen bleiben. Er folgt mir, dachte sie. Ich weiß es. Ich darf mich nicht umdrehen. Ein Zugang führte an dem bedrohlichen gotischen Gemäuer vorbei in den Hinterhof. Dort rannte sie entlang und ihre Füße traten entweder in aufspritzende Pfützen oder klatschten über Kopfsteinpflaster aus dem neunzehnten Jahrhundert. Bitte lass sie da sein. Bitte geht nicht ohne mich … Erst als sie um die Ecke des Hotels bog, schaute sie zurück. Der Hof war leer. Die Pflastersteine glänzten im Mondlicht. Im Geiste sah sie sich über den schuppigen Rücken eines Urzeitmonsters laufen. Selbst als sie den Hof überquerte, hin zu einem beleuchteten Fenster auf der Rückseite des Hotels, hatte sie das Gefühl, dass es unter ihren Füßen zuckte, als würde das imaginäre Monster nur leicht schlummern und jeden Moment aufwachen, wild brüllend vor Zorn wegen ihrer Störung. Der Mann aus der Gasse wird mich hier bald finden. Oh Gott, diese Augen … Ihr Magen krampfte sich zusammen, als kröche eine Handvoll Würmer durch ihre Gedärme. Diese boshaften Augen. Ganz farblos waren sie – nur ein schimmerndes Weiß wie bei einem hart gekochten Ei. Und noch schlimmer, in der Mitte jeden Auges blitzte eine kleine schwarze Pupille mit solcher Bösartigkeit, dass ihre Beine fast versagt hätten. Sie spürte, wenn sie noch einmal in diese Augen blicken müsste, würde sie ihrer Gewalt nicht mehr entkommen. Sie schaute sich in dem in Dunkelheit getauchten Hof um. Noch immer keine Spur von der Gestalt, die sie so sehr verängstigt hatte. Aber Schatten krochen über den Boden, wie sich ausbreitende Blutlachen kamen sie ihr immer näher. Entgegen jeder Vernunft dachte sie: Diese Schatten dürfen mich nicht berühren. Sie sind Gift … Nein … Sie taumelte benommen. Nein, das ergibt keinen Sinn, das ist ein verrückter Gedanke. Aber … Sie drehte den finsteren Flächen, die über den gepflasterten Boden krochen und dabei helle Flecken reflektierten Mondlichts verschlangen, den Rücken zu.
Schon allein der Anblick dieser Schatten beunruhigte sie. Wichtig war jetzt nur, ins Hotel zu gelangen. Welch eine wunderbare Vorstellung: Sie steht in der hell erleuchteten Hotelküche, die Tür fest hinter ihr verschlossen, überall vertraute Gesichter. NICHT MEHR ALLEIN. Das ALLEINSEIN konnte sie nicht mehr ertragen. Das ALLEINSEIN ist ein Krebsgeschwür für den Geist. Das ALLEINSEIN zehrt an den Kräften … Einsamkeit hat die unbarmherzige, zersetzende Kraft, jegliche Zuversicht und körperliche Energie zunichtezumachen. Für einen Augenblick brach die Erinnerung an die Einsamkeit, die sie ertragen hatte, wie eine große schwarze Flutwelle über ihr zusammen. Ihr unerbittlicher Sog brachte einen diffusen, aber beständigen Schleier des Entsetzens mit sich. Bei jedem Erwachen befürchtete sie, von der grauenvollen Vorahnung verschlungen zu werden, dass ihr etwas Schreckliches drohe. Sie wäre dann völlig hilflos, und niemand stände ihr bei, wenn das Unheil über sie kommen würde. Vielleicht habe ich mich gerade davor gefürchtet? Vielleicht sollte mich die Vorahnung vor dem Unbekannten warnen, der mir in der Gasse aufgelauert ist? Ich habe immer gewusst, dass ich mich eines Tages – eines Nachts! – ganz allein hier wiederfinden würde und dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe, der mich töten wird.
Ein plötzliches, kratzendes Geräusch ließ sie zusammenfahren. Sie schaute hinter sich. Sah aber nichts außer den Schatten und der Finsternis im Durchgang, der von dem Hof zum Flussufer hinunterführte. Jetzt konnte sie das zischende Brausen des Flusses hören. Der ununterbrochene Regen hatte das Gewässer zu einer reißenden Flut anschwellen lassen. Aber jetzt klang das Rauschen des Flusses wie eine Stimme, die sie zu sich rief. Nein. Nein! Sie hielt sich die Ohren zu. Das ist diese merkwürdige kleine Stadt. Die wirkt so auf dich ein. Je länger du bleibst, desto mehr Hirngespinste pflanzt sie dir ein. Aus unerfindlichen Gründen sah sie bei geschlossenen Augen ein Labyrinth von Tunneln vor sich, das sich unter den Häusern erstreckte. Und in diesen Tunneln wimmelte es von bleichen, madenartigen Männern und Frauen, die es nach menschlichem Blut gelüstete – und nach der Wärme eines menschlichen Körpers, um den sie ihre mit knotigen Venen durchzogenen Arme schlingen konnten. Blut und Körperwärme – unter der Haut sind sie wie Geschwister. Die konkrete Verkörperung dieser unfassbaren Sache, die wir Leben nennen … Nun hatte sie dieAugen geschlossen und tastete sich vorwärts, bis sie an der Hotelmauer lehnte und das Gesicht gegen die kalten Ziegel drückte, die sich so feucht und klamm anfühlten wie die Berührung einer toten Hand. Bilder von bleichen, nackten Formen in tiefem Wasser schossen ihr durch den Kopf. Hinter der Hofmauer toste der Lepping River. Und sie stellte sich Hunderte von Gesichtern vor, die durch die wirbelnden Fluten trieben und sie anschrien. Wütende Stimmen, die sie aufforderten zu verschwinden, bevor es zu spät sei. Nein. Ich werde nicht zulassen, dass mir diese Stadt solche Gedanken einflößt. Ich bin bei Verstand, ich bin vernünftig. Ich werde nicht an Vampire denken. Vampire? Wenn sie nur an das Wort dachte, riss sie schon die Augen weit auf. VAMPIRE? Warum habe ich dieses Wort verwendet? Sie zitterte wie Espenlaub. Wenn sie nicht augenblicklich ein anderes menschliches Wesen zum Reden fände, verlöre sie ganz sicher bald den Verstand. Über ihr zogen die Wolken spinnwebenartige Fäden über einen gespenstischen Mond. Selbst das wenige Licht, das noch in den Hof geschienen hatte, erlosch jetzt. Siemusste ins Hotel gelangen. Sie musste menschliche Gesellschaft haben. Sie tastete sich an der Wand entlang bis zu dem Fenster, das ein leuchtend gelbes Rechteck in die unnachgiebige Membran aus Ziegelstein schnitt. Und wieder brachte ihr Hirn seltsame Gedanken hervor: Ja, die Wand ist eine Membran. Auf der einen Seite Licht, Leben, Geselligkeit und Sicherheit, auf der anderen dagegen … Dann war sie beim Fenster. Im ersten Moment wurde sie von dem
grellen elektrischen Licht geblendet. Sie kniff die Augen zusammen, presste die Nase gegen die Scheibe und spähte hinein. Auf einer Anrichte stapelten sich blaue Teller. Ein antiker Ofen. Ein schwarzer gusseiserner Yorkshire-Herd. Einige Messingkessel. Ein Porzellan-Spülstein. Die Wanduhr zeigte eine halbe Stunde nach Mitternacht. Aber wo waren … ah dort! Wenn sie den Kopf zur Seite neigte, konnte sie den riesigen Küchentisch sehen, der den Raum dominierte. An ihm saßen fünf Männer und Frauen. Sie waren sehr in ein Gespräch vertieft. Diejenigen, die gerade nicht sprachen, hörten aufmerksam zu. Dort drinnen war alles hell erleuchtet, ein wunderbares, leuchtendes Feiertagslicht. Es hielt die Schatten fern. Es beugte sich nicht den Dingen, die aus der Nacht herangekrochen kamen. Drinnen war es sicherlich warm, duftete es angenehm nach Seife und frisch zubereiteten Speisen. Sie sah Weinflaschen. Dann und wann nippten die Männer und Frauen
an ihren Gläsern. Es sah wundervoll aus. Sie wünschte, sie könnte in ihrer Gesellschaft sitzen und ebenfalls diesen Rotwein trinken – er war von einem herrlichen Rot. Sie konnte sich vorstellen, wie er wohl schmeckt: ein samtig weicher Geschmack. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Oberlippe und ließ den Blick über die Menschen am Tisch schweifen. Eine elegante Dame in Schwarz. Sie hatte lange, schwarzblaue Haare. Ihre Haltung ließ auf adelige Herkunft schließen. Der Mann an ihrer Seite war in den Dreißigern. Sein Blick war gefühlvoll, besorgt und ein wenig melancholisch. Ihm gegenüber saßen drei andere Personen um die zwanzig.
Plötzlich hörte sie, wie sich Schritte näherten. Das musste der Unbekannte aus der Gasse sein. Er muss es sein. Er ist mir hierher gefolgt. Sie schaute zur Ecke des Gebäudes hinüber und rechnete damit, dass die abscheuliche Gestalt dort jeden Moment erschien. Noch war da nichts. Aber die langsamen Schritte kamen näher. Hastig klopfte sie mit den Fingernägeln gegen die Fensterscheibe. Die Gesellschaft drinnen redete immer noch. Ein ernstes Thema nahm sie sehr gefangen. Sie klopfte noch einmal. Warum hören sie mich denn nicht? Sie warf einen Blick zur Hausecke. Die Schritte wurden lauter. Oh nein, sie konnte schon einen merkwürdig gebückten Schatten erkennen, der sich auf dem Pflaster abzeichnete. Ihr Verfolger musste
jetzt gerade den Zugang zum Hof passieren, die Straßenlaternen lagen also hinter ihm und warfen den grotesken Schatten voraus. Mit rasendem Herzen klopfte sie ans Fenster. Diesmal laut genug, dass die Männer und Frauen herumfuhren und sie sahen. Sie rissen die Augen auf. Eine der Frauen schrie. »Bitte lassen Sie mich rein. Ich werde verfolgt … bitte, er ist fast …« Von hinten packten zwei Hände ihre Schultern. Als sie herabschaute, sah sie aufgequollene Finger, wie rohe Würste, die Haut war ekelerregend grau und blau gefleckt, die Fingernägel zersplittert, blutrot. Und sie waren so kalt … die Finger fühlten sich an wie rohes Fleisch aus dem Kühlschrank. Diese Kälte kroch durch ihre Kleider und ihre Haut, ließ das Blut in ihren Adern gefrieren und sickerte in jeden versteckten Winkel ihres Körpers. Sie wollte schreien, aber der Schreck hatte ihr die Kehle zugeschnürt. Ein heiseres Keuchen war alles, was sie hervorbrachte. Die starken Hände rissen sie vom Küchenfenster weg und in Sekundenschnelle wurde sie durch den Torweg zum Flussufer geschleift. Hier gab es kein Licht. Nur einen schmalen Streifen matschiger Erde, auf dem unförmige Büsche und Weidenbäume wuchsen und über das schwarze Wasser des Flusses ragten. Sie wehrte sich, aber es gelang ihr nicht, sich aus dem unnachgiebigen Griff an ihren Schultern zu befreien und in das Gesicht des Angreifers zu sehen. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran. Dieses tote weiße Gesicht. Mit den farblosen Augen, den wilden schwarzen Pupillen, die Löcher in ihr Herz zu brennen schienen … Trotz ihrer Panik bemerkte sie, dass die Tür des Hotels geöffnet wurde. »Wer ist da?«, rief eine Stimme. Wieder versuchte sie zu schreien, aber sie wurde so gewaltsam durch das wild wuchernde Astwerk in Richtung Ufer geschleift, dass es ihr vollkommen den Atem raubte. Der Lepping River brüllte nach ihr mit einem durchdringenden Tosen, das ihren Körper erschütterte.
Obwohl das Brausen in ihren Ohren dröhnte, verstand sie nur zu gut, was der Mann ihr mit seiner vergifteten Stimme ins Ohr keuchte. »Warum hast du nicht auf mich gehört? Ich habe gesagt, du gehörst nicht hierher.«
»Bitte«, würgte sie hervor. »Töten Sie mich nicht … bitte töten Sie mich nicht!« »Jetzt hör gut zu, was ich dir zu sagen habe!« Der Mann drückte sie nach unten, sodass ihr Gesicht fast die dunkle Wasseroberfläche einer Pfütze berührte. Darin spiegelten sich zwei Gesichter. Beide blau-weiß, die Wangen von schwarzen Adern durchzogen. Zwei Gesichter mit weißen, starren Augen, punktiert von schwarzen, bösartigen Pupillen. »Verstehst du nicht?«, fauchte er. »Du bist längst tot.« Das Wort TOT, TOT, TOT hallte in ihren Ohren, als er sie ins Wasser warf. Zunächst kämpfte sie darum, den Kopf über Wasser zu halten und versuchte, ans Ufer zu schwimmen. Dann drangen ihr die Worte des Vampirs tief genug ins Bewusstsein, und sie akzeptierte schließlich die Wahrheit. »Du bist bereits tot.« Die heftige Strömung drehte sie auf den Rücken. Sie trieb flussabwärts und sah durch die überhängenden Weidenzweige den Mond. Hoch am Himmel trieben silbern umrandete Wolken. Sie bewegten sich im Strom des Nachtwindes und sie selbst im Strom des Nachtflusses.
Genau wie diese Wolken hatte auch sie keinen Einfluss auf die Richtung. Ich bin schon tot, dachte sie. Ich brauche nicht zu schwimmen. Die Erkenntnis durchströmte sie kalt. Ich brauche nicht zu atmen. Weil ich tot bin … Schließlich gab sie sich den Kräften des Flusses hin. Er trug sie an Felsen vorbei, schleuderte sie darüber, wirbelte sie durch seine tiefen Strudel, dann zog sein erbarmungsloser Sog sie hinab in die schwarzen Wasser, bis auf den Grund des Flussbettes aus glitschigem Schlamm. Es machte ihr nichts aus, dass sie nicht atmen konnte. Sie ertrank nicht. Konnte nicht ertrinken. Blasse Formen schwammen vor ihrem Gesicht. Einen Augenblick lang dachte sie, es wären aufgedunsene Fische, aber dann erkannte sie ihre eigenen Hände, die in diesem kalten Wasser vor- und zurückgetrieben wurden. Es ist sinnlos, sich dagegen zu wehren, sagte sie sich. Ich kann mich ebenso gut vom Fluss bis ins Meer spülen lassen. Jetzt bin ich endgültig verloren. Selbst wenn ich aus dem Wasser herauskäme, könnte ich niemals nach Hause zurück. Wieder einmal durchbrach ihr Gesicht die Wasseroberfläche. Kilometer um Kilometer trieb sie auf dem Rücken, unter Brücken hindurch, unter Bäumen her, die über das Wasser hingen, an Wiesen vorbei. Über ihr schien der Mond. Sie stellte ihn sich als hartes rundes Auge vor, das teilnahmslos auf die Frau im Wasser herabschaute, dabei genau wusste, dass sie dem Untergang geweiht war, und gelassen beobachtete, was ihr wohl noch zustoßen mochte. Sie war jetzt nicht mehr als ein Stück Treibholz. Unwiederbringlich verloren für ihre Familie, die Menschen und Gott. Einmal trieb der Fluss sie an einem Haus am Ufer vorbei. Licht drang aus einem Fenster im ersten Stock – ein kleines, gelb leuchtendes Rechteck. Auch Musik drang aus dem Haus. Ein trauriges Lied, das auf unheimliche Weise ihre Reise durch eine nächtliche Landschaft begleitete, die von den Geistern all dieser zukünftigen Tage heimgesucht wurde, die sie nun nie erleben würde. Der Fluss trug sie fort von dem Haus und der Musik, und bald war sie in der Ferne verschwunden. Sie schloss die Augen. Es war ihr nur wie ein kurzer Moment erschienen, aber dann spürte sie, dass sie auf festem Boden lag. Sie öffnete die Augen, setzte sich auf und sah sich um. Im Mondschein erkannte sie, dass sie ans Ufer gespült worden war. Seltsamerweise schien es verlockend, dort liegen zu bleiben und nicht einmal zu versuchen, jemals wieder einen Schritt zu gehen. Das Wasser wich zurück, als die Ebbe des Dutzende Kilometer weit entfernten Meeres den Wasserstand auch flussaufwärts senkte. Schlafwandlerisch stand sie auf. Dort, weiter oben, von Weißdornhecken fast zugewuchert, stand eine halb verfallene Hütte. Eigenartigerweise fühlte sie sich zu der Hütte hingezogen. Vielleicht hat der Fluss mich hierher gebracht, damit ich das sehe, dachte sie. Vielleicht hat es einen Grund, dass ich hier bin. Der Mond schien hell genug, um ihr einen Pfad durch hüfthohe Brennnesseln und Schierling zu zeigen. Er schien direkt zu der Hütte zu führen, die halb versteckt an diesem abgelegenen Flussabschnitt lag. Barfuß huschte sie zwischen den Pflanzen hindurch und glitt beinahe wie im Traum zu einem Tor, das in einen verwilderten Garten führte, in dem meterhohe Rosenbüsche mit üppigen rosaroten Knospen standen. Wenig später kam sie zu einem der Fenster. Die Scheiben waren zerbrochen, manche davon mit einer grünen Moosschicht bewachsen. Langsam … ganz langsam beugte sie sich nach vorne und lugte durch eine der Fensterscheiben, so als wüsste sie, dass in der Hütte irgendjemand – oder irgendetwas – auf sie wartete. Drinnen erblickte sie die Küche eines längst verlassenen Hauses. Von Menschen verlassen, um genau zu sein.
Um einen kaputten Tisch saßen auf halb verfallenen Holzstühlen fünf Gestalten. Fünf Wesen, die einmal Männer und Frauen gewesen waren. Einige trugen zerfetzte Kleidung, ein Paar war fast nackt. Die Frauen hatten lange Mähnen, die in glänzend schwarzen zerzausten Locken über ihre Rücken fielen. Ihre Haut war leichenblass mit blauen Flecken. Eine kalte, kalte Farbe, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie saßen reglos am Tisch. Die starken, muskelbepackten Arme der Männer waren mit schwarzen Adern überzogen. Die Gesichter der Männer wie der Frauen waren starr, wachspuppenartig und ließen keinerlei Regung erkennen. Nur ihre Augen offenbarten, was sie waren. Wie die des Fremden, der sie in den Fluss geworfen hatte, besaßen auch diese Augen keine Iris, waren also gänzlich farblos. Allerdings hatten sie diese winzigen schwarzen Pupillen, die dem Blick eine derartige Boshaftigkeit verliehen. Während der gesamten Zeit, die sie die Versammlung in der heruntergekommenen Hütte beobachtete, bewegten die darin sich nicht. Sie blinzelten nicht einmal oder hoben den Blick von der leeren Tischplatte. Sie erkannte, dass sie sich nur vorsichtig genug bewegen musste, um diesen verdammten und trostlosen Ort unbemerkt zu verlassen. Und dennoch sah sie sich – nur für einen Augenblick – bereits mit hnen dort am Tisch sitzen … und gemeinsam mit diesen modernden untoten Leichnamen auf das Ende der Zeit warten. Sie waren der zurückgelassene Abschaum ihrer Rasse, von allen anderen Vampiren verstoßen. Sie hatten kein Ziel. Vielleicht brannten auch die vampirischen Gelüste nur ganz schwach in dem eiskalten Muskel, den sie ihr Herz nannten. Bemitleidenswerte, hässliche, einsame Kreaturen, die sogar beim Sterben noch versagt hatten. Sie trat einen Schritt zurück und blickte sich um. Die einzige Zuflucht wäre der Fluss. Zwar würde er sie jetzt nicht mehr umbringen können, aber wäre er ihr ein Trost? Was sie im Wasser erwartete, war lediglich ein Dahintreiben ohne jede Gesellschaft. Wieder einmal überrollte sie diese große schwarze Welle der Einsamkeit. Sie taumelte und verlor beinahe das Gleichgewicht. Würde sie das noch einmal ertragen können? Diese grausame Einsamkeit. Wie sie ihren Verstand zerfraß. Jeder Augenblick wurde durch sie zum erbärmlichsten, unerträglichsten und trostlosesten Moment aller Zeit. Und auf diesen Moment zäher Traurigkeit würde nur ein weiterer, ebenso übler folgen.
Kaum dreißig Schritte bis zum Fluss … dann würde sie dieser Versammlung lebender Toter in der verfallenden Hütte entkommen sein. Nur dreißig Schritte … diese Entfernung könnte sie in zwanzig Sekunden zurücklegen. Diesmal zögerte sie nicht. Sie drehte sich um und klopfte an das Fenster. »Bitte«, flüsterte sie, »bitte lasst mich rein. Ich will nicht mehr allein sein.« Der nächtliche Wind trug ihre Worte davon in die Dunkelheit, und
sie erstarben im kalten, eisigen Mondlicht.

E. A. Poe Ligeia

... Und der Wille liegt darin, der nicht stirbt. Wer kennt die Geheimnisse des Willens und seine Macht? Denn Gott ist nur ein grosser Wille, der alle Dinge mit der ihm eigenen Kraft durchdringt.Lediglich aus Willensschwäche überlässt sich der Mensch den Tode.

Ich kann mich bei meiner Seele nicht mehr erinnern, wie, wann noch wo ich die Lady Ligeia kennenlernte. Lange Jahre sindseit der Zeit verflossen, und bittere Leiden haben mein Gedächtnis geschwächt. Vielleicht kann ich mich auch bloß jetzt nicht mehr daran erinnern, da der Charakter meiner Geliebten, ihre seltsamen
Kenntnisse, die Art ihrer so eigentümlichen sanften Schönheit und die scharfsinnige und fesselnde Beredsamkeit ihrer tiefen, musikalischen Stimme sich mit so gleichmäßigen, friedlichen, beständigen Schritten den Weg zu meinem Herzen gebahnt haben, dass ich nicht darauf achtete und dass es mir nie zum Bewusstsein kam. Doch kommt es mir vor, als habe ich sie zum ersten Mal und noch viele Male nachher in einer großen alten verfallenen Stadt am Ufer des Rheins gesehen. Ich glaube auch bestimmt, dass sie mir von ihrer
Familie erzählte, und zweifle nicht, dass dieselbe außerordentlich alten Ursprungs war. – Ligeia! Ligeia! – In Studien vergraben, deren Natur mehr als alles andere geeignet ist, die Eindrücke der äußeren Welt abzuschwächen, genügt mir dies eine süße Wort: Ligeia, um das Bild der Verstorbenen vor meinen Augen wiedererstehen zu lassen. Und jetzt, während ich schreibe, durchfährt mich plötzlich wie ein Blitz die Gewissheit, dass ich ihren Familiennamen überhaupt nie gewusst habe – den Namen der Teuren, die mir Freundin und E. A. Poe Ligeia Braut war, die mein Studiengenosse und endlich die Gattin meines Herzens wurde. War es auf irgendeinen liebestörichten Wunsch meiner Ligeia geschehen – war es ein Beweis der Kraft meiner Zuneigung, dass ich mir niemals Auskunft zu dieser Frage verschaffte? Oder war es vielleicht eine Laune meinerseits – ein bizarres, romantisches Opfer auf dem Altar meiner leidenschaftlichen Anbetung? Ich kann mich nur sehr dunkel der Tatsache selbst entsinnen – ist es also erstaunlich, dass ich die Umstände, die sie
hervorriefen und begleiteten, vollständig vergessen habe? Und in der Tat, wenn jemals der Geist der Seltsamkeit, wenn jemals die bleiche Ashtophet des götzendienerischen Ägypten mit ihren finsteren Schwingen unheilverkündend bei einer Hochzeit zugegen war, so war sie es bei der meinigen. Doch – was Ligeia selbst, was ihr Äußeres anbetrifft, da ist mir mein Gedächtnis vollkommen treu geblieben: Sie war hochgewachsen, schlank, ja, in ihren letzten Tagen sogar sehr abgemagert. Es wäre vergebliche Mühe, wollte ich die Majestät, die ruhige Gelassenheit ihrer Haltung, die unbegreifliche Leichtigkeit und Elastizität ihres Ganges beschreiben. Sie kam und ging wie ein Schatten. Ich bemerkte niemals, dass sie in mein Arbeitszimmer getreten war, wenn ich nicht die Musik ihrer sanften tiefen Stimme vernahm oder ihre marmorweiße Hand auf meiner Schulter fühlte. Die Schönheit ihres Antlitzes ließ sich mit nichts auf Erden vergleichen. Sie war wie die Blüte eines Opiumtraumes, wie eine unirdische, geisterhaft schöne, verzückte Vision, seltsamer und himmlischer als die Traumgebilde, die durch die schlummernden Seelen der Mädchen von Delos ziehen. Doch waren ihre Züge nicht von jener Regelmäßigkeit, die man uns in den Schöpfungen des Heidentums falscherweise zu
bewundern gelehrt hat. ›Es gibt keine erlesene Schönheit‹, sagte Lord Verulam einmal, als er von allen Formen und Arten der Schönheit sprach, ›ohne eine gewisse Seltsamkeit in der Proportion.‹ Obwohl ich jedoch sah, dass die Züge Ligeias nicht von klassischer Regelmäßigkeit waren, obwohl ich fühlte, dass ihre Schönheit erlesen und von jener Seltsamkeit vollständig durchdrungen schien, bemühte ich mich vergebens, diese Unregelmäßigkeit zu entdecken und den Sitz jenes Seltsamen zu ergründen. Ich studierte die Umrisse ihrer
hohen bleichen Stirn – sie war tadellos! Wie kalt klingt dies Wort, auf soviel göttliche Majestät angewandt –, ihre Hautfarbe, die mit dem reinsten Elfenbein wetteiferte, die imposante Breite, die Ruhe ihrer Schläfen, die graziösen Hügel über denselben, und dann jene rabenschwarze schimmernde, üppige Fülle natürlich gelockten
Haares, auf welches das homerische Wort ›hyazinthenfarbenes Haar‹ eigens geprägt schien. Ich betrachtete die zarten Linien der Nase und entsann mich nicht, irgendwo, außer vielleicht in den Gesichtern auf alten hebräischen Medaillons, eine ähnliche Vollkommenheit gefunden zu haben. Sie hatte diese weiche köstliche
Oberfläche, diese gleiche, kaum noch wahrnehmbare Neigung zu einer kleinen Biegung, diese gleichermaßen harmonisch gerundeten Nasenflügel, die auf einen freien Geist hindeuten. Ich betrachtete ihren Mund, der ein Triumph aller himmlischen Dinge zu sein schien, den glorreichen Bogen der kurzen Oberlippe, die sanfte üppige
Ruhe der Unterlippe, die Grübchen, die spielten, und die Farbe, die sprach, die Zähne, die mit blendendem Glanze jeden Strahl des gesegneten Lichtes zurückwarfen, das ihr ruhiges, heiteres und zugleich strahlendes, triumphierendes Lächeln auf sie legte. Ich erforschte die Form ihres Kinns – und fand auch da Grazie in seiner
Breite, Sanftheit in seiner Majestät, Fülle und griechische Geistigkeit – jene Linie, die der Gott Apollo nur im Traume dem Cleomenes, dem Sohne des Atheners, zeigte; und dann forschte ich in Ligeias großen Augen. Für Augen finden wir im fernen Altertum kein Vorbild. Vielleicht barg Ligeias Schönheit gerade in ihnen jenen geheimen Reiz der Seltsamkeit, von der Lord Verulam spricht. Sie waren, glaube ich, größer als gewöhnlich die Augen der Menschen sind; und schöner geschnitten als die schönen Augen der Gazellen aus dem Tale Nourjahad. Aber nur hin und wieder, in den Momenten äußerster Erregung, wurde dies Besondere in ihnen deutlich wahrnehmbar. In diesem Augenblick war Ligeias Schönheit – es schien wenigstens meinen entflammten Blicken so – ganz unirdisch, wie die der erträumten Huris der Türken. Ihre Pupillen waren von strahlendstem Schwarz, von ebenholzfarbenen Wimpern tief überschattet, und die Brauen von leicht unregelmäßiger Zeichnung hatten die gleiche Farbe. Doch war das Seltsame, das ich in den Augen fand, unabhängig von ihrer Form, ihrer Farbe und ihrem Glanz – ich konnte es nur dem Ausdruck zuschreiben. Ach, ein Wort ohne Sinn! Eine große Leere, in die sich Ausdruck der Augen Ligeias! – Wie habe ich lange Stunden über ihn nachgegrübelt? Wie habe ich manche lange Sommernacht hindurch mich bemüht, ihn zu ergründen? Was war es, dies unbestimmte Etwas, das, tiefer als in den Brunnen des Demokritos, auf dem Grunde der Augen meiner Geliebten verborgen lag? Was war es? Ich war wie besessen von dem leidenschaftlichen Wunsch, es zu enträtseln. Diese Augen! Diese großen, strahlenden, himmlischen Pupillen! Sie wurden für mich das Zwillingsgestirn der Leda, und ich war ihr eifrigster Sterndeuter. Unter den zahlreichen und unverständlichen Anomalien in der Wissenschaft der Psychologie gibt es wohl keinen Punkt, der uns mehr beschäftigen und erregen könnte als die Tatsache, dass wir, wenn wir uns auf etwas lang Vergessenes besinnen wollen, oft bis dicht an die Ufer der Erinnerung kommen, ohne uns tatsächlich und völlig erinnern zu können. Und wie oft fühlte ich, wenn ich so saß und über Ligeias Augen nachsann, wie die Erkenntnis der Bedeutung ihres Ausdrucks bis dicht an mich herankam! Ich fühlte, wie sie sich näherte, ohne mich jemals zu erreichen, wie sie vollständig entschwand, da ich sie eben zu erfassen glaubte! Und seltsames, oh, seltsamstes aller Geheimnisse: ich habe in den gewöhnlichsten Gegenständen auf der Welt eine ganze Reihe von Analogien für diesen Ausdruck gefunden. Ich meine damit, dass ich nach der Zeit, in der Ligeias Schönheit meinen Geist durchdrungen hatte und in diesem wie in einem Reliquienschrein ruhte, beim Anblick verschiedener Erscheinungen der äußeren Welt eine Empfindung verspürte, die der ähnlich war, die sich unter dem Einfluss ihrer großen leuchtenden Pupillen über mich und in mir verbreitete. Doch ist es mir ganz unmöglich, dies Gefühl zu definieren oder zu analysieren; ich kann nicht einmal behaupten, dass ich es genau empfunden habe. Ich glaubte es nur zuweilen in dem Anblick einer schnell emporgeschossenen Weinrebe wiederzuerkennen oder bei der Betrachtung eines Falters, einer Larve, eines schnell dahinschießenden Wassers. Ich fand es im Ozean wieder oder beim Fall eines Meteors, ich empfand es in den Blicken mancher außerordentlich alter Menschen. Am Firmament gibt es einen oder zwei Sterne (ich denke besonders an ein flackerndes

 

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Tag der Veröffentlichung: 22.04.2013

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