Prolog
Ihr Schreckenund ihre Schönheit sind göttlich.
Auf ihren Lippen und Lidern scheint
gleich einen Schatten Anmut zu liegen;
von dort Strahlen, feurig und grell,
die Quallen der Angst und des Todes,
die miteinander ringen.
Shelley, die Schönheit der Medusa
Mond. Grosser weißer Mond. Weiß-wie-Milch-Mond. Du bist alles, was ich durch mein Fenster sehen kann, hier im Dunkeln. Silbern und weiß fällt dein Licht über die Wände meiner Zelle. Die Nachtflut, sie brandetwild in mir. So urgewaltig, dass ich spüre : Der KlammergriffIhrer Medikammente verliert seine Macht. Sie bilden sich ein, Hohepriester zu sein. Ihre Götter heißen Thorazinund Lithium und Schocktherapie. Aber es sind junge Götter, und sie sind schwach; sie können nicht darauf hoffen, mich noch länger gebändigt zu halten. Denn ich, ich bin eine Schöpfung weit mächtirerer, weit ältere Gottheiten. Sehr bald schon wird mein Blut die Geheimnissejener alles blockiernden Mittel kennen, die mir die in weiß gekleideten Medizinmänner in die Venen jagen. Und dann wird alles anders sein, mein wunderschöner Mond. Mein grosser Mond. Weiß-wie-Milch-Mond. Rot-wie-Blut-Mond.
Manchmal drehen wir alle ein bisschen durch.
Norman Bates
Erstes Kapitel
Claude Hagertys Uhr spielte The Yellow Rose of Texas. Mit einem Murren stopfte er einen eselsohrigen Western-Roman in die oberste Schreibtischschublade und kramte die Schlüssel für die geschlossene Abteilung aus den tiefen Taschen seiner weißen Pflegerkleidung. Drei Uhr morgens. Zeit für seine Runde. Claude war beinahe schon sein ganzes Erwachsenenleben lang Pfleger. Ursprünglich hatte er Profi-Footballspieler werden wollen, doch als er sich noch auf der High School eine üble Knieverletzung einhandelte, war diese Karriere beendet, bevor sie auch nur die geringste Chance gehabt hatte, in Fahrt zu kommen. Später stellte er fest, dass man mit einer Größe von eins neunzig und hundertdreißig Kilo Lebendgewicht auf der Waage auch in der medizinischen Versorgungsbranche punkten konnte. Wie auch immer, selbst mit achtunddreißig, zwanzig Jahre nach seiner High-School-Zeit, und mit Hüften, die einigen Speck angesetzt hatten, war Claude Hagerty noch eine imposante Erscheinung. Vor sieben Jahren hatte er in Elysian Fields angefangen, und für eine Klapsmühle war der Job okay. Den in einem staatlichen Krankenhaus schlug er jedenfalls um Längen. Mit Sozialfällen gab man sich in Elysian Fields gar nicht erst ab. Die Patienten dieser Klinik entstammten ausnahmslos prominenten Familien. Das Sanatorium hatte sich auf Abhängigkeitsprobleme spezialisiert, und für all jene Söhne und Töchter, Mütter und Väter, deren Schwierigkeiten ein wenig ernster waren als die Vorliebe für Tranquilizer und Wodka, gab es die geschlossene Abteilung. Die überdurchschnittlich massive Stahltür, mit Rücksicht auf die Besucher in einem heiteren Pastellton gehalten, trennte die Pflegestation vom Rest der Abteilung. Claude zerrte sie gerade so weit auf, dass er sich durch den Spalt quetschen konnte. Dabei erinnerte er sich wieder an diesen alten Zeichentrickfilm aus seiner Kindheit, in dem eine Maus vor dem Maul einer schnarchenden Katze herumalberte. Schon komisch, dass er ständig daran denken musste, wenn er seine Runde antrat. Er marschierte am Tagesraum vorbei. Den weniger auffälligen Patienten war es gestattet, nachmittags fernzusehen oder Tischtennis zu spielen. Die meisten schafften es allerdings gerade noch, dazusitzen und in die Röhre oder aus dem Fenster zu stieren. Denn, auch wenn es keiner offen aussprach: Hier in der Geschlossenen war jeder bis obenhin mit Medikamenten abgefüllt, und es gab keinerlei Rehabilitationsmaßnahmen, nicht einmal versuchsweise. Und man erfuhr nie, warum diese Leute eingesperrt waren. Dafür wurde gezahlt. Alles in allem unterschied sich Elysian Fields also in nichts von irgendeiner anderen privaten Irrenanstalt. Bis auf sie. Unwillkürlich schnitt Claude eine Grimasse. Teufel auch, früher war das hier eine leichte Schicht gewesen. Abgesehen von dem einen oder anderen Patienten mit merkwürdigen Albträumen hatte er sich kaum um etwas kümmern müssen. Nach seiner Runde hatte er weitergelesen, Fernsehen geschaut oder sogar geschlafen, wenn ihm danach gewesen war – ohne jemals befürchten zu müssen, gestört zu werden. Aber damit war Schluss, seit sie eingeliefert worden war, vor sechs Monaten. Es war während seiner Schicht geschehen; sie hatten sie in einer Zwangsjacke und, Gott war sein Zeuge, buchstäblich in Ketten gelegt angeschleppt, vier starke Männer hatten alle Hände voll zu tun. Und immer noch schlug sie wie tollwütig um sich, mit einem tierhaften Heulen. Für Sekundenbruchteile sah es so aus, als käme sie frei. Das durchdringende Knacken der brechenden Kette hallte noch heute in Claudes Ohren wider. Aber Dr. Wexler war zur Stelle; er stürzte mit der Spritze in der Hand herbei und stieß die Nadel durch das Leinen der Zwangsjacke ins Fleisch der Frau. Und sie sackte in sich zusammen, ihre sämtlichen motorischen Nerven blockierten. Der Dosis nach zu urteilen hätte sie sterben müssen. Claude wurde angewiesen, sie in Zimmer 7 unterzubringen. Damals hatte er sie zum ersten Mal berührt. Es reichte ihm bis heute. Danach war der Job hart geworden. Seit dieser speziellen Nacht konnte er von Glück reden, wenn während seiner Schicht ausnahmsweise mal keiner der Insassen aus irgendwelchen grausigen Albträumen hochschreckte. Sie alle behaupteten, im Traum erscheine ihnen die Frau aus Zimmer 7. Sie konnten – oder wollten – sich nicht in Einzelheiten ergehen. Also berichtete Claude dem Bereitschaftspsychiater Dr. Morial davon. Morial erkundigte sich, ob ihm seine Arbeit hier gefalle. Daraufhin sprach Claude das Thema nie wieder an. Das Leben war auch so schon schwer genug – er musste nicht unbedingt herausfinden, warum ein paar Verrückten eine Mitinsassin nicht aus dem Schädel ging, die sie noch nie gesehen hatten. Oder warum sie sie dermaßen gut beschreiben konnten. Er fragte sich, ob die Patienten tagsüber auch so unruhig waren. Er bezweifelte es. Denn tagsüber gab sie nicht das geringste Lebenszeichen von sich. Ich höre die schweren Schritte des Wärters; er sieht nach seinen Schutzbefohlenen, einen nach dem anderen sucht er auf. Es ist Nacht, die Ärzte haben die Flucht ergriffen und die Patienten mit ihren Träumen allein gelassen. Es ist viel zu lange her, dass ich so klar denken konnte. Zwei lange Monate hat es mich gekostet, dem Irrsinn allmählich zu entkommen. Drei weitere Monate mussten vergehen, bis mein Organismus den Cocktail aus Narkotika bezwungen hatte, den sie Tag für Tag in mich hineinpumpen. Ihre Medizin wird ihnen nichts nützen; mit jeder verstreichenden Nacht wird mein Immunsystem stärker. Mein Verstand gehört wieder mir. Es ist so lange her. Vielleicht zu lange. Ich habe Angst, dass mir, während ich weg war, nicht wiedergutzumachende Schädigungen zugefügt worden sind. Die Andere ... sie hat irgendetwas mit mir angestellt. Ich bin mir nicht sicher, was, aber tief in meinem Innersten spüre ich die Veränderungen. Der Anderen stand es frei, unbeaufsichtigt zu tun und zu lassen, wonach es sie gelüstete. Ich muss hier raus, bevor etwas Schreckliches passiert. Oder ist das Schreckliche bereits geschehen? Ja, vielleicht habe ich jemanden verletzt. Ich kann mich nicht daran erinnern, und im Verstand der Anderen will ich nicht nach Hinweisen suchen. Ich bin noch immer schwach; wie leicht könnte ich mich in ihrer Persönlichkeit verlieren. Das kann ich nicht riskieren. Nicht jetzt. Die Andere ist in Träumen gewandelt, dessen bin ich mir sicher. Es ist nicht unbemerkt geblieben, und ich kann von Glück reden, dass es nur Verrückte sind. Niemand glaubt ihnen. Niemand will ihnen glauben. Ich muss hier raus, bevor ich die Kontrolle wieder verliere. Ich habe die Andere so lange bekämpft; ich denke nicht daran, ausgerechnet in einem Irrenhaus aufzugeben. Aber ich bin so müde. Und viel zu aufnahmebereit. Ich kann ihre Träume wahrnehmen, sie sind so erdrückend wie eine große unsichtbare Last. Ich bin zu einem Magneten geworden – der ihre Albträume anzieht. Das macht mir Angst. Niemals zuvor war ich dazu imstande. Welche Veränderungen mögen noch in mir vorgegangen sein, während ich verschwunden war? Der Wärter nähert sich, das Ende seiner Runde ist nahe. Ich kann seine Schritte im Korridor widerhallen hören, und seine hastigen, mürrischen Atemzüge. Er ist ein großer Mann. Ich kann seinen
Schweiß wittern. Ich schmecke seine Angst. Er kontrolliert den Insassen der benachbarten Zelle. Als Nächste bin ich an der Reihe. Mich hebt er sich stets bis zuletzt auf. Ich nehme an, weil er Angst hat vor mir. Das kann ich ihm nicht verdenken. Ich habe auch Angst vor mir. Claudes Stirnrunzeln vertiefte sich, als er Malcolm im Schlaf wimmern sah. Früher hatte Malcolm auch ohne Medikamente so tief und fest wie ein Kind geschlafen. Jetzt krümmte er sich in seiner Bettwäsche, und sein Gesicht war blass und verschwitzt. Seine Lippen
bewegten sich, plapperten lautlose, kraftlose Proteste gegen unfassliche Befehle. In ein paar Minuten würde er hochschrecken und sich die Lunge aus dem Leib brüllen – aber Claude hütete sich, den Jungen wachzurütteln; das letzte Mal hatte ihn eine derartige Hilfsaktion beinahe einen Finger gekostet. Malcolm biss gerne zu. In seinen Traum verstrickt, wimmerte und stöhnte Malcolm weiter, seine Finger schlangen blindlings Knoten in das Laken. Seine Zahnreihen knirschten aufeinander, die Kiefermuskeln spannten sich zuckend bis zum Zerreißen. Kopfschüttelnd schloss Claude die in die Stahltür eingelassene Beobachtungsluke. Jetzt gab es nur noch die eine Patientin zu kontrollieren. Die in Zimmer 7. Claude wusste nicht einmal, wie sie mit vollem Namen hieß. Auf der Patientenkarte und in den Unterlagen zur medizinischen und medikamentösen Behandlung stand lediglich ›Blue, S.‹. Sie war jede Nacht die letzte auf seinem Rundgang, einfach deshalb, weil es jedes Mal ziemlich genauso lange dauerte, bis er all seinen Mut zu sammengekratzt hatte und überhaupt nach ihr sehen konnte. Möglich, dass es tagsüber anders war. Möglich, dass sie im gesunden, hellen Licht des Tages nur eine Verrückte unter vielen war – aber das bezweifelte er. Die Tür von Zimmer 7 war mit den anderen identisch; ein in einem heiteren Farbton gestrichenes Stück Metall, massiv genug, um dem Aufprall eines Zwei-Tonnen-Rammsporns standzuhalten. Die Beobachtungsluke war in Augenhöhe eingelassen; ein Metallschieber sowie ein schweres Drahtgitter sicherten sie. Claude musste sich ein wenig bücken, um hindurchspähen zu können. Die Einrichtung von Zimmer 7 unterschied sich grundlegend von sämtlichen anderen Zimmern der Station. Diejenigen der anderen Insassen konnte man jederzeit fälschlicherweise für eine typische Holyday-Inn-Suite halten – solange man die dicke Polsterung der Wände nicht weiter beachtete, oder die hoch droben befindlichen Fenster und die nackten Glühbirnen in ihren unzerstörbaren Drahtgitterfassungen. Elysian Fields hatte seine Räumlichkeiten natürlich mit unverwüstlichem Mobilar ausgestattet, und alles war fest installiert. Die Betten waren mit Designer-Laken bezogen und mit dazu passenden Fixiervorrichtungen ausgestattet. Zimmer 7 jedoch war – abgesehen von der Insassin – vollkommen
leer. Es gab nicht einmal ein Bett. Sie schlief normalerweise in der am weitesten von der Tür entfernten Ecke, dort, wo die Schatten am tiefsten waren – auf dem gepolsterten Fußboden zusammengerollt, wie ein narkotisiertes Tier. Zumindest nahm Claude an, dass das eine Art Schlaf war. Er hatte keine Ahnung, wie bei ihr eine normale Nachtruhe aussah. Mit einem tiefen Durchatmen zerrte er den Metallschieber der Beobachtungsluke zurück. Ja, da war sie. Allerdings kauerte – nein: kniete – Blue heute in der Mitte ihrer Zelle – das Gesicht dem hohen, schmalen Fenster drei Meter über dem Boden zugewandt. Sie trug nur die Zwangsjacke, ansonsten war sie nackt; es sah aus, als würde sie beten. Schwer zu sagen, wie alt sie war. Claude schätzte sie auf höchstens dreiundzwanzig. Verfilzte Haare hingen ihr ins Gesicht. Keine der Schwestern wollte auch nur in ihre Nähe kommen, seit das mit Kalish passiert war. Claude konnte es ihnen nicht verdenken.
Sie wusste, dass er sie anschaute, genau wie er gewusst hatte, dass sie dort kauern würde – eine Spinne im Zentrum ihres Netzes. Still wartete er darauf, dass sie ihn zur Kenntnis nahm, und fürchtete sich gleichermaßen davor. Es war ein Ritual geworden zwischen ihnen. Sie wandte ihm das Gesicht zu. Claudes Magen verkrampfte sich, in seinen Ohren krachte ein Donnerschlag. Er hatte das Gefühl, einen Steilhang hinabzurasen, in einem Wagen ohne Bremsen. Ihr Blick fixierte ihn mit raubtierhafter Tücke. Sie senkte kaum merklich das Kinn und bedeutete ihm so, dass sie ihn wahrnahm. Claude erwiderte diese Geste wie im Schlaf, wie eine Marionette, dann warf er sich herum und hetzte den Korridor entlang davon. In der Dunkelheit erwachte Malcolm und kreischte los.
ZWEITES KAPITEL
Wir sehen einen gewaltig-großen Saal, der Boden ist nicht mehr zu erkennen unter den unzähligen, dicht an dicht verlaufenden Reihen metallener Klappstühle. Rollstuhlfahrer verstopfen die Seitengänge. Im Hintergrund der erhöhten Bühne ist ein riesiges Transparent mit dem Konterfei eines lächelnden Mannes aufgehängt. Seine Nase ist kräftig und gerade, hohe Wangenknochen, und sein breites, zähnefletschendes
Grinsen versucht vergeblich, die Falkenaugen unter den buschigen weißen Brauen zu erreichen. Um seine Silbermähne hätte ihn jeder Patriarch des Alten Testaments beneidet. Dieser unaufhörlich lächelnde Mann ist Zebulon ›Zeb‹ Wheele: Mann Gottes, Heiler der Kranken, Prophet und Begründer der Kirche Räderwerk Gottes. Die eingeblendeten Zeilen erläutern den Zuschauern zu Hause, dass dieser ›Heilungs-Event‹ in Dallas, Texas, stattgefunden hat, vor drei Monaten. Der Großteil des Publikums stützt sich auf Krücken und Gehhilfen,
klatscht und singt Lobeshymnen; jeder Einzelne in dieser ungeheuerlichen Masse wartet nur auf seine Chance – darauf, von Gottes Gnaden berührt zu werden. Viele betrachten das riesige Porträt und vergleichen es mit der verkleinerten Reproduktion auf der Rückseite des Programmheftes. Die Luft ist gesättigt von Schweiß, Hoffnung, Erwartung. Plötzlich erlöschen sämtliche Lichter, ein einzelner Scheinwerferstrahl flammt zur Bühne hin. Die Orgelmusik schwillt an, und von der Seite her schreitet eine einzelne Gestalt nach vorn. Es ist eine Frau
in einem Hosenanzug aus Goldlamé; ihr Haar ist in einem gordischen Knoten zusammengefasst. Donnernder Applaus brandet los. Diese Frau ist Schwester Catherine, Witwe des verstorbenen Zebulon Wheele. Ihretwegen sind die Leute gekommen. Catherine Wheele lächelt strahlend und wirft Kusshände in die Menge; der begeisterte Empfang rührt sie sehr. Sie nimmt das Mikrofon vom Podium und wendet sich den Gläubigen zu. »Halleluja, Brüder und Schwestern! Halleluja! Wie froh stimmt es mein Herz, erleben zu dürfen, dass die Worte und Taten meines verstorbenen Gatten, des Reverends Zebulon Wheele, nach wie vor allgegenwärtig sind im geheilten Fleisch, im freudenvollen Geiste jener, die durch seine liebevollen Hände die Macht unseres Herrn Jesus Christus verspürten! Tag für Tag erhalte ich Hunderte von Briefen von euch dort draußen, in denen ihr nicht müde werdet, zu berichten, wie Zebulon euer Leben verändert hat. Die Kranken sind genesen! Taube machte er hörend! Blinde sehend! Aber ich höre auch von jenen unter euch, die sich verloren glauben. Die sich ängstigen, sie könnten nun, da Zebulon vor Gott berufen wurde, das Wunder der göttlichen Gnade unseres Herrn Jesus Christus niemals erfahren und somit auch keine Erlösung finden ...« – sie müht sich, das Kratzen in ihrer Stimme zu unterdrücken – »... doch – sind jene armen Seelen wahrhaftig dazu verdammt, ein Leben in Marter und Pein zu führen, sollen sie niemals die Gnade und Vergebung unseres Herrn zu spüren bekommen? Sagt nein!« »Nein!«, antworten nur wenige Stimmen. »Sind sie verdammt? Sagt: nein!« Ihre Stimme wird hart und fordernd. »Nein!«, antwortet die versammelte Menge. »Sind sie es? Sagt: nein!« »Nein!« Zweitausend Stimmen werden eins – schrille und deutliche, tiefe und hohe, schwache und kräftige.
Catherine Wheele lächelt. Sie ist zufrieden. Schon ist sie wieder in die liebenswürdige Sonntagsschullehrerin zurückverwandelt. »Fürchtet euch nicht, Brüder und Schwestern! Wenn es auch stimmt, dass Bruder Zebulon nicht mehr unter euch weilt – Schwester Catherine ist hier! So wie Elias’ Mantel auf Elisha fiel, so ging Zebulons Gabe auf mich über. Und als für meinen geliebten Zeb die Stunde seines tragischen Todes gekommen war, da suchte mich eine Vision heim! Zwischen zwei Engeln sah ich Zebulon stehen, und so wunderschön waren sie, dass es mich in den Augen schmerzte, sie anzuschauen. Zebulon aber sprach: ›Liebling, ich muss nun gehen, aber versprich mir, dass du mein Werk weiterführen wirst. Versprich es mir.‹ Ich aber sagte: ›Zeb, wie könnte ich jene Wunderdinge tun, die du getan hast? Niemand kann das!‹ Zeb lächelte nur und sprach: ›So, wie ich dir all mein irdisches Hab und Gut vermache, so vermache ich dir auch meine Gaben! Hab Vertrauen, und der Herr steht dir bei!‹ – Bekomme ich dafür ein ›Amen!‹zu hören?« »Amen!« »Wie es geschrieben steht, im ersten Korinther-Brief, Kapitel zwölf, so wurde ich mit der Gabe des Wissens und des Heilens gesegnet! ›Einer erhält vom Geiste die Gabe, göttliche Weisheit zu verkünden, der andere, die Erkenntnis Gottes zu vermitteln. Derselbe Geist gibt dem einen besondere Glaubenskraft und dem anderen die Kraft zu heilen!‹ Der Glorienschein des Herrn kam über mich, und ich, ich warf mich zu Boden und verharrte dort die ganze Nacht, und ich weinte und betete und segnete meinen geliebten Erretter. Denn nun bin ich imstande, das gute Werk meines Gatten fortzuführen, und darum seid ihr alle hier – habe ich Recht, Brüder und Schwestern? Sagt: ja!« »Ja!« »Ich werde euch nicht enttäuschen, meine Freunde. Die Fußspuren, in die ich zu treten habe, sind so urgewaltig groß ...« – sie deutet auf das riesige Transparent hinter sich sowie auf dessen kleinere Brüder, die von den hohen Deckenstreben hängen – »... aber euch im Stich zu lassen, das wäre meine größte Sünde!« Und so nimmt der »Heilungs-Event« seinen Lauf, ganz wie es seine Rituale und Traditionen vorherbestimmen. Der Chor singt. Schwester Catherine ermahnt ihre Gemeinde, großzügig für ihren geheiligten
Kreuzzug um die Errichtung einer Zebulon-Wheele-Gedächtniskapelle in Arkansas zu spenden, dem Heimatstaat ihres geliebten Mannes. Stramme junge Männer in schwarzen Anzügen schreiten die Reihen ab, und sie tragen große Plastik-Abfalleimer anstelle von Klingelbeuteln. Eine neununddreißigjährige Frau mit Diabetes wird aus der
Menge geholt und aufgefordert, sie möge ihr Insulin wegwerfen. Sie gehorcht, und Schwester Catherine zermalmt die Ampullen mit einer ruckartigen Drehung ihrer High Heels in Grund und Boden. Die Menge jubiliert: »Amen!« Schwester Catherine erinnert die Versammelten daran, großzügig auch für das Zebulon-Wheele-Gedächtnisheim für ledige Mütter zu spenden. Ein älterer Mann im Rollstuhl wird auf die Bühne geschoben. »Dieser Unglückselige leidet an schwachem Herzen!«, donnert Schwester Catherines Stimme, und ihre Finger
verharren wenige Zentimeter von seiner Stirn entfernt – dann versetzt sie ihm mit der flachen Hand einen einzelnen Schlag. Der Mann kreischt und heult in Ekstase, seine Arme wirbeln gleich Windrädern. Schwester Catherine packt den Bittsteller und zerrt ihn auf die Füße. Der euphorische alte Mann stößt sie im Gegenzug in den Rollstuhl und schiebt sie – sehr zum Vergnügen der Menge – quer über die Bühne. Als sie das Rednerpult erreichen, ist das Gesicht des Mannes tiefrot verfärbt. Zwei junge Männer in dunklen Anzügen mit schmalem
Revers und noch schmaleren Krawatten eilen herbei und geleiten ihn hastig aus dem Scheinwerferlicht ins Dunkel. Die Gemeinde ist hocherfreut. Die Menschen klatschen und rufen und stampfen mit den Füßen. »Halleluja! Amen! Lobet den Herrn!«, hallt es von den Wänden wider. Schwester Catherine nimmt ihr Lobpreisen mit hoch erhobenen Händen an; nicht eines ihrer Haare ist in Unordnung geraten. Ihr Hosenanzug aus Goldlamé schimmert im Licht der Kameras. Tränen der Demut verschmieren ihr Make-up und zeichnen dunkle Spuren auf ihre Wangen. »Sein Wille geschehe! Sein Wille geschehe, Brüder und Schwestern! Wie es geschrieben steht bei Matthäus, Kapitel 15: ›Und eine große Menschenmenge kam zu ihm, mit vielen Lahmen, Blinden, Stummen und anderen Kranken, und man legte sie ihm zu Füßen nieder, und er heilte sie, sodass die Leute staunten, als sie sahen, dass die Stummen sprachen, die Lahmen umherliefen, die Blinden sahen und die anderen Kranken wiederhergestellt waren.‹ Lobet den Herren! Lobet ...« Schwester Catherine schweigt abrupt, ihre Blicke huschen über das Publikum. »Es ist jemand unter uns, der sich in äußerster Not befindet und dringender Heilung bedarf. Ich kann sie spüren, diese Not, und sie fleht zu Gott, auf dass er ihre Qualen mildere. Ich habe bereits andere geheilt heute Abend, doch diese Not ist größer als die aller anderen zusammen. Oh Herr, sag mir den Namen der gepeinigten Seele, sag ihn mir, auf dass ich mich ihrer Nöte annehme!« Und Schwester Catherine senkt den Kopf, harrt der göttlichen Eingebung und betet währenddessen ins dicht an die Lippen gehaltene Mikrofon. Die Kamera schwenkt langsam über das Publikum, allesamt warten die Menschen jetzt darauf, dass Gott zu Catherine Wheele spricht. Wer wird es sein? Wer wird aufgerufen, um sodann geheilt zu werden? Es sind so viele hier, die es wert sind, beachtet zu werden. Die Platzanweiser haben zuverlässig dafür Sorge getragen, dass sie in den ersten Reihen zu finden sind. Die Kameramänner schwärmen aus und halten bei besonders mitleiderregenden Fällen inne: einer älteren Frau,
die von der Osteoporose so verkrümmt ist, dass sie nur mehr die eigenen Füße anstarren kann; einem sabbernden Etwas mit viel zu kleinem Kopf, das beidseits von den Eltern gestützt wird; einem vormals hübschen Mädchen, das vom Motorrad ihres Freundes gestürzt und, mit dem Gesicht nach unten, sechs Meter weit mitgeschleift worden ist. Die Kameras sind unbestechlich; mit dem Auge des Kenners fangen sie jede Entstellung ein – naturgegebene wie unfallbedingte. Catherine Wheeles Kopf ruckt hoch. Ihre Stimme ist schrill vor Aufregung. »Ist ein George Belwether heute Abend unter uns? George Belwether aus 1005 Hawthorne?«
Ein Raunen durchhuscht die Menge, jeder verrenkt sich auf seinem Platz, jeder will sehen, wer sich nun erhebt und die Gnade der Heilung empfängt. Niemand zweifelt daran, dass es jemanden dieses Namens gibt, und wohnhaft unter genau dieser Adresse. Sie irrt sich nie. In einer der vordersten Reihen richtet sich ein zerbrechlich wirkender Mann auf. Dieselben jungen Männer – oder deren Zwillingsbrüder –, die dem alten Mann mit der Herzschwäche beigesprungen waren, arbeiten sich vom Fuß der Bühne her in die Menge hinein. Gold blitzt an ihren Handgelenken und hinterlässt Lichtschlieren auf der Netzhaut der Kamera. Teure Designer-Sonnenbrillen schützen ihre Augen vor dem grellen Bühnenlicht. Der Mann, den sie aus dem Publikum eskortieren, stirbt den Krebstod. Er ragt zwischen den gesunden jungen Männern auf, und sein Gesicht hat die Farbe verdorbenen Fleisches. Die Chemotherapie hat ihn seiner Haare und der meisten seiner Zähne beraubt; es ist unmöglich zu sagen, ob er jung ist oder alt. Als sie das Podium erreichen, ist der Mann sichtlich erschöpft.
Schwester Catherine legt ihm eine Hand auf die Schulter. Sie packt ihn am Revers seines schlecht sitzenden Anzugs. Ihre manikürten Fingernägel sind rot lackiert und glänzen wie frisch vergossenes Blut. »Bruder, wie lange schon geißelt dich der Krebs?« Mit einem Ruck hält sie ihm das Mikrofon vor den Mund. Belwether zwingt sich, den Blick von dem riesigen Transparent mit Zebulon Wheeles Antlitz zu lösen. »Fünf Jahre, Schwester Catherine.« »Und was sagen deine Ärzte?« »Er ist inoperabel. Mir bleiben nur noch ein paar Monate, vielleicht sogar nur Wochen ...« Die Menge stöhnt voller Mitgefühl; man fühlt sich an eine Spieleshow erinnert, an die auf Zeichen gegebenen Laute der Überraschung und des Neids. »Hast du alles versucht, Bruder George?« Belwethers Kopf nickt ruckartig. »Chemotherapie, Fasten, Kristalle, Feuerlauf, Gespräche mit Verstorbenen ...«
»Aber hast du es auch mit Gott versucht, Bruder?« Ihre Stimme bekommt einen mahnenden Unterton. Wieder stößt sie ihm das Mikrofon vor das zuckende Gesicht. »Nein, bis jetzt nicht ... nicht bis heute Abend!« Tränen strömen dem sterbenden Mann über das Gesicht. Die Kamera fährt näher heran; seine blassen Züge füllen den Bildschirm aus. »Hilf mir, Schwester Catherine! Ich will nicht sterben ... Bitte ...« Seine Hände sind so dürr und schwach wie die einer alten Frau; doch nun umklammert er damit die ihren. Seine Schluchzer schütteln ihn beängstigend. »Glaubst du an die Macht unseres Herrn Jesus Christus, daran, dass er die Toten auferstehen lässt, die Blinden sehen macht, die Tauben hören und die Lahmen gehen?« Belwether presst die Wange gegen ihre Finger, seine Augen tränenblind »Ichglaubeichglaubeichglaube.« »Und bist du bereit, Bruder George, bist du bereit, die Spontanheilung anzunehmen?« Er nickt, er ist überwältigt von seinen Gefühlen. Die Versammelten murmeln wissend. Catherine Wheele bedeutet einem der Bühnenhelfer, das Mikrofon und ihre Goldlamé-Jacke zu halten. Die Kamera fährt zurück, um das Wunder besser dokumentieren zu können. Catherine ergreift die Schultern des Todgeweihten, sie zwingt ihn, vor ihr niederzuknien, den Rücken zum Publikum gewandt. Allen stockt der Atem. Die Spontanheilung – um ihretwillen besuchen die Menschen diesen
Gottesdienst. Selbst in seinen besten Zeiten hat Zebulon Wheele es nicht gewagt, etwas derart Grandioses und Umstrittenes zu tun. Schwester Catherine rollt die Ärmel auf; energisch reckt sie die rechte Hand hoch über den Kopf empor, sie spreizt die Finger, sie dreht die Handfläche. Jeder kann sehen, dass sie leer ist. Ihre Hand bleibt hoch erhoben, die Unterarmmuskeln zucken und pulsieren, als stünden sie unter Strom. Dann stößt ihre Hand nach unten, stößt nach unten wie ein Adler auf seine Beute – und verschwindet in George
Belwether. Der Mund des Bittstellers klafft auf, klafft so weit auf, dass die Haut zu reißen und den darunterliegenden Schädelknochen zu entblößen droht. Es ist nicht der geringste Laut zu hören. Der Kopf des Mannes ruckt nach hinten, bis er nahezu den Rücken berührt. Seine Augen rollen in den Höhlen, seine Zunge schnellt unkontrolliert umher. Die Menge kreischt vor Entsetzen. Es ist unmöglich zu sagen, ob George Belwether ausgeweidet wird oder den Orgasmus seines Lebens erlebt. Man sieht ihn nur von hinten. Es sieht aus, als wühle Catherine Wheele in einem leeren Jutesack. Dann, plötzlich, reißt sie ihren Arm mit einem Triumphschrei aus dem Leib des sterbenden Mannes heraus. Ihre nackte Haut ist glitschig und nass; Blut und Exkremente kleben daran. Die Leute springen auf, brüllen ihre Begeisterung hinaus, schreien Schwester Catherines Namen, immer und immer wieder. Das Ding, das sie in die Höhe reckt, ist ein grau-schwarzer Klumpen von der Größe eines Kinderballs. Es pulsiert und zuckt in ihrem Griff. Belwether liegt zu ihren Füßen, er zeigt keinerlei Lebenszeichen. Die jungen Männer kehren zurück und schleifen ihn von der Bühne. Die Gummispitzen seiner Schuhe hinterlassen Spuren auf dem gewachsten Boden. Ein Bühnenhelfer mit silbernem Waschbecken und weißem Handtuch eilt ins Bild. Ein weiterer klemmt Catherine Wheele ein Ansteckmikrofon ans Revers, sodass sie sprechen kann, während sie sich säubert. »Habt ihr es gesehen, Brüder und Schwestern? Habt ihr gesehen, was der Glaube an das Wort Gottes für jeden von euch bewirken kann? Habt ihr gesehen, wozu die Macht unseres Herrn Jesus Christus imstande ist, wenn ihr nur eure Herzen öffnet und ›Ja!‹ sagt zu seiner göttlichen Glorie? Denn so sprach der Herr: ›Wer an mich glaubt, wird nicht vergehen, sondern leben in Ewigkeit!‹ – und wenn auch ihr, ihr alle, Brüder und Schwestern zu Hause, nicht vergehen wollt, dann schickt mir eure Liebe, schickt mir euer Opfer, und ich werde euch behüten vor allen Versuchungen des Lasters und des Satans, so wie dies vor mir mein Gatte getan hat. Schickt uns eure Spenden und bedenkt: Was ihr dem Herrn darbringt, wird zehnfach euch vergolten werden! Deshalb, Brüder und Schwestern – schickt uns zwanzig Dollar oder zehn Dollar, schickt uns, was immer ihr erübrigen könnt! Lasst nicht zu, dass Zweifel nisten in eurem Verstand! Handelt – handelt heute noch! Wer zweifelt, ist verloren für unseren Herrn Jesus Christus! Greift zum Telefon und ruft eure gute Schwester Catherine an!« Und nun folgt eine neue Einblendung auf dem Bildschirm – Erläuterungen, wie Schecks und Überweisungen auszustellen sind und welche Kreditkarten akzeptiert werden, und dass die Zuschauer zu Hause ihr Liebesopfer selbstverständlich jederzeit gebührenfrei auch über die Hotline darbringen können. Unsere Telefone sind rund um die Uhr besetzt. »Jesus!«, murmelte Hagerty und schaltete den Fernseher aus. Schwester Catherine und ihre Gemeinde schrumpften zu einem weißen Fleck in der Mitte des Bildschirms – und waren verschwunden. Nicht zum ersten Mal grübelte er darüber nach, was, zur Hölle, nicht stimmte mit ihm. Während seiner Nachtschichten verbrachte er schon mehr als genug Zeit unter Psychotikern, paranoiden Schizophrenen, Neurotikern und Typen mit Zwangshandlungen aller Art – warum verschwendete er seine Zeit auch noch damit, einem Haufen religiöser Spinner zuzusehen, die den Jungs in den weißen Kitteln nur durch Zufall entgangen waren und sich stattdessen bei einem Fernsehsender eingekauft hatten? Claude rieb sich die Augen. Tief in seinem Innersten war er fasziniert von der billigen Freakshow-Theatralik und den faulen Tricks. Es war fast, als würde man sich Wrestling anschauen. Aber die Wahrheit war einen winzig-kleinen Tick daneben zu finden; er schaute sich diesen Unsinn an, weil er nicht einschlafen wollte. Hagerty verließ seine Ecke in der Pflegestation, stöpselte den kleinen tragbaren Schwarz-Weiß-Fernseher aus und trug ihn in den Belegschaftsraum zurück. Er hasste es, dort fernzusehen – erst recht bei Nacht. Die verdammten Getränkeautomaten summten und klickten ununterbrochen. Claude wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich
gegen ihn verschworen hatten. Gleich hinter der Tür stand ein langes, gut gepolstertes Sofa. Wie gern hätte er darauf ein kleines Nickerchen gehalten! Er schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Bloß nicht! Er warf eine Münze in den Kaffeeautomaten und drückte schwarz, ohne Zucker. Und schon bekam ein gewisser Verdacht hinsichtlich der Bösartigkeit gewisser Automaten neue Nahrung: Der Pappbecher verhakte sich im Ausgabeschacht, er kam schief herunter, und bevor Claude sich’s versah, spritzte ihm heißer Kaffee entgegen und über den Schoß, die Hosenbeine, den Fußboden. »Na toll! Verfickt toll!« Nachdem Claude den verschütteten Kaffee aufgewischt hatte, kehrte er auf seinen Posten zurück; mit einem Klumpen nassem Toilettenpapier tupfte er halbherzig an seiner Hose herum. Er war immer noch müde. Dabei hatte Hagerty beileibe keine Angst, ertappt zu werden. Früher hatte er sich während seiner Schicht oft aufs Ohr gehauen, die Füße auf einer offenen Schublade abgestützt. Aber das war vor den Albträumen gewesen. Die Albträume, ja, die waren das eigentliche Problem. Er war todmüde; er war drauf und dran, in tiefen Schlaf hinüberzugleiten, dorthin, wo die Sinne die Außenwelt ignorieren und nur mehr auf vom Gehirn erzeugte Impulse reagieren. Es begann immer gleich, und er wusste nicht, warum. Jener Teil seines Bewusstseins, der noch um Kontrolle rang, begriff, dass er zu träumen begann. Plötzlich war er nicht mehr allein. Es gelang ihm nicht, wahrzunehmen, was sich in seinen Traum einschlich; es bewegte sich zu schnell, ein aus den Augenwinkeln gesehenes Flirren – nichts als Schatten und Chaos. Die Augen jedoch konnte er sehen, sie reflektierten das Licht wie die einer Katze in den Scheinwerferstrahlen eines Autos. Er wollte das Ding anherrschen, es solle verschwinden, aber die Traumhaftigkeit war bereits allumfassend, und so kam kein Laut über seine Lippen. Das Schattending huschte durch seinen Verstand, fraß sich mit der Wildheit eines tollwütigen Nagers tiefer und tiefer voran. Durchstöberte, plünderte. Und verharrte reglos, als spüre es zum ersten Mal, dass Hagerty seinerseits ein Bewusstsein hatte. Und dann ... dann lächelte es. An diesem Punkt wachte Claude jedes Mal auf; seine Arme und Beine kribbelten wie nach einem schwachen elektrischen Schlag.
Vielleicht wurde er wahnsinnig. All diese Jahre hier drinnen, bei den Verrückten, das musste Spuren hinterlassen haben, wie Wasser! Steter Tropfen höhlt den Stein. Bis er irgendwann verschwunden ist. Möglicherweise sah sein Gehirn bereits aus wie der Grand Canyon. Er hatte nicht das Gefühl, verrückt zu sein, aber so fing es wohl immer an; man ist völlig normal, bis auf diese oder jene kleine Obsession, und – zack! – plötzlich trägt man Hüte aus Alufolie, damit einem die Wesen vom Planeten X nicht in den Kopf schauen und in den Gedanken herumschnüffeln können. Aber er, er wusste, dass er nicht verrückt war. Mit Blue, S. stimmte etwas nicht. Etwas, das niemand wahrhaben, über das niemand mehr als unbedingt nötig reden wollte. Kalish war der beste Beweis dafür. Hagerty dachte nur ungern an ihre letzte Begegnung. Und döste, ohne es zu wollen, ein. Er hatte seine Schicht angetreten. Er hätte es nicht tun müssen. Es war sein freier Abend. Er war mit ein paar Freunden beim Bowling gewesen. Es war spät geworden. Er hatte etwas vergessen. In Elysian Fields. Konnte sich nicht daran erinnern, was. Also beschloss er, vorbeizuschauen, in seinem Spind nachzusehen. Es war nach Mitternacht, als er in Elysian Fields eintraf. Er ging in den Umkleideraum. War überrascht, Red Franklin zu begegnen, der seine Schicht gerade beendete. Red hatte im Wechsel mit ihm Dienst. Red behauptete, der Dienstplan sei geändert worden. Archie Kalish habe Claudes Schicht übernommen. Die Traumerinnerung wird schneller und, gleichzeitig, langsamer. Kalish. Die verdammten Idioten hatten Kalish die Aufsicht übertragen! Sein Herz pumpte hastiger. Er wollte sich von der geschlossenen Abteilung fernhalten. Er wusste, was ihn dort erwartete. Aber sein Traum zerrte ihn mit sich und hinein in jenen Korridor der Erinnerung. ielleicht würde alles anders sein, wenn er nur schnell genug war. Seine Bewegungen waren langsam und behäbig – Unterwasser- Bewegungen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Aufzug kam, die Türen öffneten sich in Zeitlupe. Hagerty wollte sie anbrüllen, sich zu beeilen. Er schob die Hand in die Hosentasche. Suchte den Schlüsselbund, damit er sich Zutritt verschaffen konnte zur Geschlossenen. Sein Arm versank bis zum Ellbogen. Seine Hosentasche hatte sich in ein schwarzes Loch verwandelt. Er griff tiefer hinab; so tief, bis Schulter und Hüfte auf gleicher Höhe waren. Seine Fingerspitzen streiften kaltes Metall, er zerrte die Schlüssel heraus. Seine Finger waren taub, sie waren zu lange in dem schwarzen Loch gewesen. Schwer,die Schlüssel zu halten. Ungeschickt suchte er den Generalschlüssel für das Sicherheitsschloss der geschlossenen Abteilung heraus. Die Aufzugskabine setzte sich ächzend in Bewegung und zuckelte im Schneckentempo nach oben. Hagerty fluchte und hämmerte mit geballten Fäusten gegen die Wände, versuchte das verdammte Ding anzutreiben. Kalish! Die Idioten haben Kalish da oben gelassen. Allein. Ohne Aufsicht. Hagerty hatte für den Bastard nicht viel übrig. Es kursierten Gerüchte, er würde sich an Patienten vergehen. Zum Beispiel an der armen Mrs Goldman. Oder an der hirntoten Fünfzehnjährigen auf Station C. Die bei Tempo 130 mit dem Schädel gegen das Armaturenbrett gekracht war. Und plötzlich ein Kind erwartete. Die Türen der Aufzugskabine brachen auseinander wie eine Wunde. In der Geschlossenen war alles dunkel, die einzige Helligkeit trieb von der Pflegestation herbei. Claude bewegte sich voran, seine Schuhsohlen klebten Schritt für Schritt am Boden fest. Seine Muskeln spannten sich, bis er glaubte, die Anstrengung lasse sie zerreißen. Die Kleider klebten ihm am Leib. Die Tür war nicht abgeschlossen, hatte ihr Gewicht jedoch irgendwie verdreifacht. Dutzende von Stimmen gellten und vermengten sich zu unverständlichem Lärmen. Er mühte sich weiter, den Korridor entlang. Dem Stimmen-Chaos entgegen. Es gelang ihm, einzelne Worte, dann und wann sogar einen ganzen Satz, zu verstehen. »Mamamamamama ...« »Blut ... seh überall Blut ... auf den Wänden ... überall im Korridor ... Ströme von Blut ...« »Sie sind da! Ich kann sie spüren! Mach, dass sie aufhören, bitte ...« »Geh weg, geh weg, ich – ich will nicht, dass du hier bist, geh weg ...« »Sie soll raus aus mir! Holt sie raus!« Die Zeit dehnte und dehnte sich. Jeder Herzschlag dauerte eine Stunde. Jeder Atemzug eine Woche. Er sah, wie sich sein Arm ausstreckte; seine Hand griff nach der Klinke von Zimmer 7. Es dauerte ein Jahr, bis seine Finger sich um den Knauf schlossen. Zwei Jahre, diesen Knauf zu drehen. Die Tür war nicht abgeschlossen. Natürlich nicht. Die Tür schwang auf, und Hagerty sah, dass er zu spät kam. Er würde jedes Mal zu spät kommen. Es war dunkel in Zimmer 7. Unglückseligerweise war es trotzdem noch hell genug da drin, sodass er sehen konnte, was vor sich ging. Kalish lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken. Hose und Unterwäsche waren in wirrem Durcheinander um seine Waden geschlungen. Seine Schuhe hatte er noch an den Füßen. Seine Beine waren bleich und dürr. Kalishs Penis lag kalt und glitschig wie eine Albinoschnecke auf der Schenkelinnenseite. Kalishs Gesicht konnte Hagerty nicht sehen, denn die Bewohnerin des Zimmers kniete über dem Körper, ihr Kopf war in die Nische zwischen Schulter und Hals geschmiegt. Die Zeit rastete ein, und Hagerty fand sich in einem verzweifelten Sprung wieder, er warf sich auf die Frau in der Zwangsjacke. Packte sie bei den Schultern, zerrte sie von dem Körper weg, schleifte sie mit sich, hielt sie auf Armeslänge von sich weg. Sah aus den Augenwinkeln Kalishs Gesicht und das zerfetzte Durcheinander – dort, wo seine Kehle hätte sein sollen. Claude schmetterte die tobende Wahnsinnige gegen eine Wand, sicherheitshalber hoch genug, dass sie die Füße nicht auf den Boden bekam. Erinnerung und Traum verflochten sich, ihre Schreie hallten in seinem Schädel wider. Als Kind hatte er den Sommer oft auf der Farm der Großeltern in Mississippi verbracht – bis die Sache mit der Sumpfkatze passierte. Das Tier war zu einem bösartigen Einzelgänger geworden; schon bald terrorisierte es die ganze Gemeinde, tötete Hühner und Haustiere. Als in einem Wassergraben außerhalb der Stadt ein übel zugerichteter umherreisender Feldarbeiter gefunden wurde, stellten die Farmer einen Suchtrupp zusammen und trieben den Puma in ein Rohrdickicht. Doch anstatt ihre preisgekrönten Jagdhunde auf die große Katze zu hetzen und sie so einer unkalkulierbaren Gefahr auszusetzen, beschlossen sie, das Feld in Brand zu stecken. Der Puma verbrannte bei lebendigem Leib, und er kreischte vor Zorn und Schmerz wie ein Höllendämon. Die verrückte Frau riss den Mund auf, und heraus quoll das Kreischen des brennenden Pumas. Alles, was er durch das verfilzte Haargestrüpp vor ihrem Gesicht sehen konnte, waren diese Augen; Augen wie Zwillings-Schusswunden. Galle verätzte ihm die Kehle, trotzdem lockerte er seinen Griff nicht. Was nun? Er konnte sie nicht festhalten, bis die Tagschicht kam. Und wenn er sie losließ, würde sie über ihm sein, bevor er auch nur den ersten Schritt Richtung Tür gemacht hatte. Seine Arme schmerzten, als habe man ihm Fleischspieße durch den Bizeps gerammt. Ein weiß bekleideter Arm schlängelte sich um seine linke Schulter. Licht glitzerte auf Glas und sterilem Stahl, als die Nadel die Zwangsjacke und die darunterbefindliche Haut durchstieß. Die Frau kreischte, dann erschlaffte sie. Claude trat beiseite und ließ sie zu Boden gleiten. Sie sah aus wie eine misshandelte Lumpenpuppe. Dr. Wexler stieß Hagerty beiseite und kniete sich neben der Patientin in der Zwangsjacke nieder. Ihr Kopf rollte haltlos in den Nacken, einen Sekundenbruchteil lang starrte Claude in die Augen eines Tieres, dessen Lauf in einem Fangeisen festsaß. Dann bemerkte er das Blut an ihrem Mund. Ihre Zunge schlängelte sich über blutverschmierte Lippen und leckte sie sauber, wie eine Katze, die sich nach der Jagd putzt. Wexler sah zu ihm hoch. »Gute Arbeit ... Hagerty, richtig? Gute Arbeit.« Als er aufstand, wischte er sich die Handflächen an den
Hosenbeinen ab. »Natürlich ist nichts von dem hier passiert.« Wexler sah ihn nicht wirklich an. Claude wandte sich ab und erblickte zwei junge Männer in dunklen Anzügen und mit Sonnenbrillen vor den Augen. Sie schleiften Kalishs Leichnam an den Füßen aus dem Zimmer. Wexler fluchte laut. Er starrte die narkotisierte verrückte Frau in unverhohlener Fassungslosigkeit an. »Sie kommt zu sich.« Sie stieß ein schrilles Winseln aus. Stieß sich ab und rollte sich auf den Bauch. Benutzte den Kopf als Stütze und schob die Knie Zentimeter um Zentimeter voran; sah aus wie ein Moslem beim Gebet. Sie wandte das Gesicht Wexler zu; sie knurrte. Ihr Zähnefletschen genügte, um Claude zurückweichen zu lassen. Die schwere Tür krachte hinter ihm ins Schloss. Er fror am ganzen Leib, obwohl ihm der Schweiß in Strömen über den Rücken rann. Etwas krachte von der anderen Seite her dumpf gegen die Tür. Die Zeit zerschmolz, und Hagerty saß in einer rund um die Uhr geöffneten Kneipe in der Nähe seiner Wohnung und mühte sich, alles zu vergessen, was er gehört und gesehen hatte. Ein alter Zeitungsverkäufer ging mit der Morgenausgabe von Tisch zu Tisch. Claude kaufte sich eine und las, was da über Kalishs zweiten, offiziellen Tod stand: ORTSANSÄSSIGER BIS ZUR UNKENNTLICHKEIT VERBRANNT IM AUTO AUFGEFUNDEN
Ich ertrinke in den Träumen der Wahnsinnigen. Ich kann sie spüren, wie sie meinen Verstand bedrängen, ein Dutzend beharrlicher Geister mit leeren Augen und neugierig tastenden Fingern. Zum ersten Mal, seit ich meinen Körper für mich allein gefordert habe, wird mir klar, wie weit die Entwicklung der Anderen vorangeschritten ist. Hätte ich jene Medikation nur wenig länger ertragen müssen, wäre es zu spät gewesen. Niemals hätte ich den Weg zurück gefunden, und alles wäre verloren gewesen. Nun besitze ich die Gabe, Albträumen Gestalt zu verleihen. Es ist eine Macht, die ich weder will noch genieße, aber die Andere liebt sie.
Ich besitze nicht die Kraft oder das Wissen, um die Träume der Wahnsinnigen blockieren zu können. Die Andere weiß das, sie weiß, dass ich weder das eine noch das andere lange genug an die Oberfläche gelangen lassen kann – werde –, um das Problem unter Kontrolle zu bekommen. Der Sog reißt mich in die Tiefe. Ein lächelnder junger Mann mit dem Gesicht eines Bibelstudenten und den Augen eines Reptils drückt eine Zigarette aus – im nackten Schoß eines vierjährigen Jungen, dessen Schreie vom Vakuum der Traumzeit verfälscht und verschluckt werden ... Ich bin umgeben vonfurchtbar anzusehenden Bergen und unheimlich geformten Felsen; das Erdreich ist ein zerborstenes Spinnennetz aus hart gebranntem roten Lehm, Tiere und Menschen sind auf dem Wüstenboden angepflockt. Pferde, schwangere Frauen, Männer in schwarzen Geschäftsanzügen, Hunde, alte Frauen. Alle sind sie mit Kerosin übergossen worden. Ein Mann steht in ihrer Mitte und lacht, während er sein Sturmfeuerzeug zu entzünden versucht. Es klickt. Klickt. Klickt. Und er lacht unablässig ... Ich gehe durch ein leeres Haus, und dort, wo die Türen nur angelehnt sind, kann ich im Zwielicht Dinge kauern sehen, die nur darauf lauern, dass ich den Fehler begehe und eintrete; doch ich fürchte mich auch davor, in den Korridoren zu verweilen, denn ich weiß, wenn ich mich nicht verstecke, wird mich etwas anfallen und packen ... Ich bin, die Hände hoch über den Kopf gezerrt, mit Handschellen an ein eisernes Bettgestell gekettet, und eine Gestalt ganz aus Leder steht am Fuß des Bettes; der lederne Dämon wird von
Dornen und Reißverschlüssen verunstaltet. Als er eine Hand hebt, um mein Gesicht zu streicheln, sehe ich, wie ihm Skalpelle aus den Knöcheln wachsen ... und beginne zu lachen, denn plötzlich weiß ich, ich befinde mich in einem Traum – aber nicht ich lache, es ist die Andere. Ich versuche davonzulaufen, denn die Andere kommt, und ich, ich muss die Traumzeit verlassen, bevor sie vollends die Oberhand gewinnt, doch stattdessen irre ich verloren umher ... Lavaexplosionen ... sprechende Tiere ... Buchstaben aus Wachs verschmelzen mit Wänden aus Blut ... Der zweite Engel schreit wie ein hungriges Kind ... Kadaver, unter Löschkalk und Schlacken verscharrt ... Brennende Hunde baumeln von Laternenpfählen ... Ich stehe in einem armselig eingerichteten Raum und starre diesen hoch gewachsenen, mageren Mann an, der einen Anstaltspyjama trägt. Er sieht wütend aus. »Hau ab aus meinem Kopf, Schlampe!« Ich muss hier rauskommen. Die Andere ist frei. Wie erbärmlich. Drittklassige Monstren, die großspurig in ihren ganz privaten Marionettentheatern umherstolzierten. Wie verfickt lahm. Du willst dich fürchten? Du willst Terror? Du willst wissen, wie es wirklich ist? Du hast es gewusst, damals, bevor sie dich geschnappt und in diesen Laufstall gesperrt haben. Jetzt musst du von Blut und Pein träumen, statt das Ganze auszuleben. Es steht dir nicht länger frei, die Perfektion deiner privaten Hölle durch das Fleisch deiner Opfer zu verwirklichen. Aber so ist das Leben. Hat man euch erst einmal geschnappt, Arschlöcher, seid ihr ganz der Gnade Anderer ausgeliefert. Willkommen in deinen Albträumen. Der lederne Dämon holte aus; er würde die mit Handschellen an den Bettrahmen gekettete Frau schlagen. Lachen war nicht gestattet. Man durfte schreien und um Hilfe betteln, aber Lachen, das war strengstens verboten. Er wusste, seine stachelbewehrte Faust würde auf keinerlei Widerstand treffen. Würde armseliges Fleisch zerfetzen. Und die Frau zuckte die Achseln, die Bedrohung war ihr gleich; und die Handschellen wirbelten davon wie billiges Plastikspielzeug. Der lederne Dämon zauderte, zum ersten Mal fiel ihm auf, dass der Verlauf des Traumes geändert worden war. Die Frau war auf den Füßen, ihre Finger krallten nach der schwarz glänzenden Lederhülle des Dämons. Die Gesichtsmaske war ein Klumpen aus Fetischverschlüssen. Die Frau beachtete sie nicht, ihre Finger stießen durch sie hindurch, gruben sich in seine Kopfhaut und rissen sie mit der Leichtigkeit eines Mädchens weg, das eine Orange schält. Der Leder-Dämon zappelte und begann sich zu wehren – doch sein Schädel zerplatzte bereits, und darin war nichts als Luft. Kein Blut, kein Fleisch. Seine Hand
tastete fahrig empor, dorthin, wo sein Kopf hätte sein müssen. Die Skalpelle und Metallsplitter, die aus seinen Knöcheln gewachsen waren, rosteten bereits. Das Traumding starb unter irrwitzigen Zuckungen; sein Körper verspritzte unsichtbares Blut. Die Andere schlenderte in die angrenzende Traumlandschaft hinüber. Am Anfang war dort nichts als Feuer, dann verebbte das Inferno, und sie vermochte zu sehen, was hier brannte. Ein Obdachloser wälzte sich brennend am Boden, seine Lumpen waren mit Kerosin übergossen und angezündet worden; wie von Sinnen schlug er nach den Flammen, die seine Haare verschlangen, seine Haut. Sein Gesicht war eine formlose Masse aus Brandblasen und zerborstenen haarfeinen Blutgefäßen. Ein Hund, dessen Schwanz
brannte, hetzte wie tollwütig hierhin und dorthin und heulte, heulte in dumpfer, verständnisloser Qual. Ein Flammenvorhang zerriss und gab den Blick frei auf eine puerto-ricanische Familie, die sich auf die rote Erde niederkauerte. Die Eltern hatten die Kinder um sich geschart, und obgleich ihre Lippen sich kein einziges Mal öffneten, konnte die Andere das Wehklagen und Wimmern verängstigter Kinder hören – und heftiges Husten.
Die Andere fand den Träumer – er hockte im Schneidersitz im Herzen des Feuers. Er war ganz in weißes Leinen gekleidet, und nicht der geringste Schweißtropfen verunstaltete seinen Anzug. Die Andere lächelte ihn an und lachte laut auf, als er vor ihr zurückschreckte. Er versuchte sich davonzustehlen, versuchte in einen anderen Traum hinüberzuwechseln, doch die Andere war zu schnell für ihn, als dass er so leicht hätte entkommen können. Sie packte ihn bei den Handgelenken und zerrte ihn auf die Füße. Sie spürte sein angeekeltes Zittern, als sie ihren Mund auf den seinen presste. Jetzt begann der Träumer zu schwitzen. Auf Stirn und Oberlippe
erschienen erste salzige Perlen. Binnen einer Zehntelsekunde war er klatschnass – und dehydriert; seine Lippen verwandelten sich in spröde Flächen und platzten auf. Ein dünner Rauchfaden kräuselte sich aus seinem Kragen hervor. Sein linkes Hosenbein entzündete sich mit dezentem Hüsteln. Verzweifelt rang er darum, freizukommen. Die Andere schüttelte den Kopf – so wies man ein unartiges Kind zurecht. Schon knisterten seine Haare und loderten auf, Brandblasen wucherten wie im Zeitraffer auf seinem Gesicht. Als seine Augäpfel in den Höhlen kochten, wurde der Anderen langweilig, sie schaute sich nach einem neuen Spielzeug um. Sie schritt in Malcolms Traum hinüber, schwarze Lederfetzen und beißender Rauchgestank umwirbelten sie. Sie wusste, bei welchem Tun sie Malcolm antreffen würde. Im Laufe der letzten Wochen war er zu ihrem Liebling geworden. Malcolm nannte einen ganz verblüffenden Reichtum an Angst und Bösartigkeit sein eigen. Es war mehr als genug für beide da. Malcolm befestigte Krokodilsklemmen an den Brustwarzen einer Neunjährigen. Sie saß aufrecht, die Pfadfinderuniform hing ihr in Fetzen um die Hüfte. Er hatte ihr die Hände mit der Fähnlein-Schärpe auf den Rücken gefesselt und das Barett in den Mund gestopft. Ihr Gesicht war zurechtgemacht wie das eines Vogue-Models. Die Andere legte Malcolm eine Hand auf die Schulter, passte sich mühelos dem Rhythmus seines Traumes an. Malcolm schrumpfte. Er wimmerte, riss schutzsuchend die Hände hoch und betete darum, dass er aufwachen möge. Das Lachen der Anderen wurde tiefer; ihre Gesichtszüge nahmen derbere und weit vertrautere Konturen an. Wie ein Gebirge ragte die Andere über ihm empor, ihre Stimme klang wie Donnergrollen, sie erschütterte ihn bis ins Mark. »Na komm schon, Malcolm. Zeit, mit Daddy zu spielen.« Claude saß immer noch in der Kneipe und starrte die Randnotiz von Kalishs Tod an. Plötzlich war er nicht mehr allein und fuhr zusammen; ein sechzehnjähriges Mädchen ließ sich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen. »Bist du wach?«, war das Erste, was sie ihn frage. Es verschlug ihm die Sprache, er antwortete erst nach kurzem Überlegen. »Nein, ich glaube nicht.« »Verdammt! Dann traumwandle ich noch immer. Ich muss zurück, bevor sie die Kontrolle übernimmt.« Das Mädchen sprang auf und schritt die Grenzen von Hagertys Traumlandschaft ab. Unvermittelt wandte sie sich ihm mit forschendem Blick zu. »Du bist keiner von den Patienten, stimmt’s?« Es klang nicht wie eine Frage. »Nein, ich arbeite hier ... Ich meine, in Elysian Fields. Zur Hölle! Warum mach ich mir die Mühe und rede mit einem Traum?« »Bin ich das?« »Was sonst? Du bist nicht dieser gottverdammte Albtraum. Glaub ich wenigstens.« Das Mädchen lächelte nicht mehr. »War sie hier? In deinen Träumen?« Claude spürte, wie sich sein bewusster Verstand regte, rebellierte. Er wollte nicht mehr weiterträumen, doch sein Unterbewusstsein erzwang es. Die Wände der Kneipe begannen zu schmelzen. Das
Mädchen zog die Beine unter sich und schwebte in der Luft; ihre Hände umschlangen die Knie. Etwas an ihr kam ihm so vertraut vor, doch er wusste nicht, was. »Tu einfach so, als hättest du uns nie gesehen. Tu so, als hätten wir nie existiert. Und verschwinde von hier, geh irgendwohin, wo es nett und friedlich ist, Claude Hagerty ...« »Woher kennst du meinen Namen?« »Du hast mich erschaffen, oder? Ich bin in deinem Traum, schon vergessen?« Sie verstummte, es schien, als lausche sie etwas weit Entferntem. Hagerty fand sie schön. »Tut mir Leid, ich kann nicht bleiben. Sie hat jetzt die Kontrolle. Und sie hat entschieden, dass es Zeit ist, zu verschwinden. « Das Mädchen schüttelte sich und gab den Lotossitz auf; sie schnellte sich empor und glitt mit der Eleganz einer Weltrekordschwimmerin durch die Schichten des Traumes davon. Hagerty gab sich einen Ruck, er wollte ihr folgen, aber seine Füße saßen in morastigem Grund fest. »Warte! Sag mir, wer du bist! Bist du die Frau in Zimmer 7?« Sie hielt keine Sekunde lang inne; sie schwebte, schwamm, glitt davon. Doch ihre Stimme hörte er so deutlich, als spreche sie direkt neben ihm. Oder in ihm. »Ich heiße Denise Thorne. Ihr Name ist Sonja Blue.« Zeit zu verschwinden. Sie hatte genug von diesem Ort, der endlosen Verabreichung von
Medikamenten, der intravenösen Ernährung. Ihre Abwehrkräfte hatten den Feind erkannt, ihr Organismus wusste sich gegen die Narkotika zu behaupten. Dieses Irrenhaus bot einige Abwechslung, aber das war kein Grund, noch länger hier zu verweilen. Zeit zu verschwinden. Sie erhob sich, strich sich die verfilzten Haare aus den Augen. Sie spürte die Medikamente und wie ihr Organismus das in den Adern zirkulierende Blut von den Eindringlingen säuberte und sie zu Phantomen reduzierte. Ihr Verstand war klar, ihr Körper gehörte wieder ihr. Sie konnte Malcolm im Schlaf weinen hören. Sie lächelte und zuckte die Achseln. Einmal. Zweimal. Die Zwangsjacke fiel von ihr ab und entblößte nackte, bleiche Haut. Sie hob die Hände, betrachtete die Narben an den Innenseiten ihrer Unterarme. Nicht einmal die Fingernägel hatten sie ihr geschnitten während ihrer Gefangenschaft. Gut. Sie würde sie brauchen. Mondlicht umschmeichelte sie silbrig und schattenschwarz und
lockte sie fort. Sie rammte ihre Klauen in die Wandpolsterung und gluckste, als sie unter ihrem Griff zerfetzte. Wie eine Eidechse schlängelte sie sich an der Wand ihres Gefängnisses empor, bis sie das Fenster erreichte. Die Scheibe war sieben Zentimeter dick und mit Drahtgeflecht durchsetzt; geschaffen, um selbst den wiederholten Schlägen mit einem Vorschlaghammer zu widerstehen. Es kostete sie vier Fausthiebe, bis sie zerbarst – obwohl ihr bereits beim dritten Versuch sämtliche Fingerknochen gesplittert waren. Sie zwängte sich
durch die enge Fensteröffnung in die Dunkelheit hinaus, Hebamme der eigenen Wiedergeburt. Ihre Rippen knirschten, dann brachen sie, als sie sich immer weiter durch die Öffnung hinausstieß, scharfkantige Knochentrümmer zerfetzten den linken Lungenflügel. Sie spie einen Blutstrom in die Nacht. Sie schmiegte sich an die Ziegelsteinfassade des Gebäudes, kostete das Gefühl des kalten Luftstroms auf der nackten Haut. Zum ersten Mal seit Monaten war sie wieder lebendig. Der Wind riss ihr das Lachen von den Lippen und wirbelte es über die Garten- und Parkanlagen von Elysian Fields. Hinter sich vermochte sie die Insassen der geschlossenen Abteilung kreischen und heulen zu hören – als sie aus ihren Albträumen in die Realität ihres Wahnsinns zurückgeschleudert wurden. Ihre rechte Hand begann zu brennen, doch sie war an Schmerzen gewöhnt. Sie würden vergehen. Sonja Blue kroch los; kroch kopfüber an der Mauer des Irrenhauses hinab. Claude Hagerty erwachte und stand vor Zimmer 7, die Schlüssel hielt er mit beiden Händen umklammert. Er kam mit einem bestürzten Atemzug zu sich. Eine Woge der Desorientiertheit ließ ihn taumeln, und er stützte sich am Türrahmen ab. Als er den Korridor entlangblickte, fiel ihm auf, dass die Sicherheitstür offen stand. Dann hörte er die Patienten. Wie hatte er da schlafen, geschweige denn schlafwandeln können? Der Traum hatte ihn noch nicht verlassen. Er konnte das Mädchen mit den honigblonden Haaren und den Kleidern, die jetzt gerade
wieder in Mode kamen, immer noch sehen. Er sah die Traurigkeit in ihren Augen, hörte die Erschöpfung in ihrer Stimme. Was hatte sie gesagt? Sie hat entschieden, dass es Zeit ist, zu verschwinden. Hagerty schloss Zimmer 7 auf und stieß die Tür gegen die Wand. Er hatte nichts zu befürchten, weder, dass die Patientin entkam, noch, dass er selbst verletzt wurde. Er wusste längst, was er vorfinden würde. Die Zwangsjacke lag wie eine abgestreifte Schlangenhaut auf dem Boden. Er starrte die lotrechten Risse in der Wandpolsterung an. Die Baumwollfüllung quoll in Fetzen daraus hervor. Ein kalter Luftschwall durchfuhr den Raum und zerstörte den Eindruck von Verschlossenheit. Trotz des Halbdunkels konnte er rings um den Fensterrahmen herum das Zackengebiss des zertrümmerten Sicherheitsglases ausmachen. Das Blut, das an der Wand trocknete, hatte die Farbe von Schatten.
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2013
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