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Seufzend schloss ich die Haustür auf. Ich stürmte in mein Zimmer, schmiss meinen Ranzen auf mein Bett und ging dann in die Küche. Dort saßen schon meine Schwester Hanna mit meiner Mutter und warteten auf mich. Während ich mich auf meinen Stuhl fallen ließ, tat mir meine Mutter Spaghetti auf meinen Teller. Dann fing ich an, hastig meine Nudeln in mich hinein zu schaufeln. Ich wusste, was nun unweigerlich folgen musste.
„Wie war's in der Schule?“, hörte ich meine Mutter fragen. Innerlich aufstöhnend wusste ich auch ohne aufzublicken, dass sie mich ansah. Meine Schwester neben mir zappelte herum, sie konnte es kaum erwarten, meiner Mutter von ihrem absolut wunderbarem Schultag zu erzählen.
„Ganz gut“, murmelte ich mit vollem Mund. „Also bei mir war es richtig toll!“, strahlte meine Schwester in ihrem neuen Kleid, in dem sie natürlich toll aussah. Stumm verdrehte ich die Augen. Sie war nur zwei Jahre jünger als ich und so perfekt, dass man brechen könnte. Die blonden langen Haare und die strahlend blauen Augen hatten schon immer entzückte Ausrufe zur Folge gehabt. Sie war hübsch, gut in der Schule und hatte etliche Freundinnen. Doch das Schlimmste war, sie hatte auch noch eine Engelsstimme. Und das ließ sie mich immer wieder durch die Gesangsstunden, die sie hier zu Hause bekam, spüren. Aber natürlich nicht absichtlich, sie war ja so rücksichtsvoll. Das regte mich so auf, weil ich kein Talent hatte. Nein, das ist keine falsche Bescheidenheit. Die meisten können eine Sportart toll, sangen, tanzten oder malten. Ich hingegen stolperte in Sport über meine eigenen Füße, hatte eine erstaunlich schräge Singstimme und wenn ich ein Pferd malte, hielt es meine gesamte Familie für ein Schaf auf einem Fahrrad (sie war in solchen Dingen äußerst fantasievoll). Ich war ein hoffnungsloser Fall.
„In Mathe hab ich wieder eine Eins, und in Geschichte hat mich der Lehrer vor der ganzen Klasse gelobt!“ Darf ich ihr auf ihr neues Kleid kotzen? Bitte? Während Hanna beinahe die gesamte Konversation am Tisch bestritt, bemerkte ich, dass meine Mutter mir einen besorgten Blick zuwarf. Schließlich wandte sie sich direkt an mich. „Wie war es in Englisch?“, fragte sie fröhlich. Finster sah ich auf. Ich hatte mal zu einem Verwandten auf die Frage, was denn mein Lieblingsfach wäre, notgedrungen irgendetwas geantwortet. Zu meinem Pech hatte sich meine Mutter die Antwort gemerkt.
„Hab in der Arbeit 'ne vier“, sagte ich laut und konnte mir sicher sein, dass ich die restliche Zeit des Mittagessens meine Ruhe hatte. Ebenso wenig wie durch meine Talente konnte ich mit irgendetwas trumpfen. Ich sah normal aus, nicht besonders hübsch aber immerhin auch nicht hässlich, war mittelmäßig bis schlecht in der Schule und hatte den durchschnittlichen Freundeskreis, ohne eine besonders gute Freundin zu haben.
Bestimmt dachte meine Mutter, dass sie mich kannte. Die Familie und die Freunde bilden sich immer ein, zu wissen, wer man ist, wie man ist, doch sie wissen gar nichts. Ja, nicht einmal man selbst weiß das. Wie sollten sie es dann besser wissen? Wenigstens ein Gutes an meines Schwester. Gerade als ich aufstehen wollte, schaut meine Mutter auf.
„Ach ja, heute ist ein Päckchen gekommen, ich hab es in dein Zimmer gelegt“, sagte meine Mutter, als wir fertig waren, immer noch betont fröhlich. Ich murmelte ein leises Danke und stapfte in mein Zimmer.
Das Päckchen lag tatsächlich auf meinem Schreibtisch, ich hatte es, als ich den Ranzen auf mein Bett schmiss nicht gesehen. Stirnrunzelnd nahm ich es in die Hand. Es war relativ schwer. Neugierig drehte ich es um. Aber es war kein Absender oder eine Briefmarke oder sonst irgendetwas zu erkennen. Vorsichtig löste ich die Klebestreifen, sodass das Papier nicht beschädigt wurde. Überrascht sog ich die Luft ein. Vor mir lag nun ein dicker, in Leder gebundener Foliant. Vorsichtig strich ich über das brüchige Leder. Aber einen Titel oder Vertiefungen im Einband konnte ich nicht entdecken, die auf einen abgeblätterten Titel hindeuten könnten. Ich hob den Deckel und sah – nichts. Das gelbliche Papier war unbeschrieben. Ich blätterte weiter, solange, bis ich jede Seite angeschaut hatte. Nichts. Nur unbeschriebene Seiten. Nachdenklich klappte ich das Buch zu. Wer sollte mir so ein Buch schicken? Es sah wertvoll aus, zumindest soweit ich das beurteilen konnte. Auf jeden Fall war es alt. Was sollte ich damit? Unschlüssig stand ich da. Sollte ich es meiner Mutter erzählen? Oder sollte ich es einfach behalten? Aber vielleicht war es ja nur aus Versehen bei uns gelandet. Mein schlechtes Gewissen meldete sich. Ich sollte es wirklich meinen Eltern zeigen. Entschlossen nahm ich das Buch und wandte mich zu meiner Tür um. Plötzlich durchzuckte ein scharfer Schmerz meinen Kopf. Übelkeit wallte in mir hoch. Schwer atmend klammerte ich mich an meiner Kommode fest. Sah in den Spiegel. Sah meine weit aufgerissenen braunen Augen, mein spitzes Gesicht, umrahmt von dunklem Haar. Angst packte mich. Was geschah mit mir?

Wer glaubt, Zeitreisen sei eine angenehme und schnelle Angelegenheit, die mit einem Lichtwirbel erledigt ist, tja, den muss ich leider enttäuschen. Es ist grauenvoll. Die Zeit vergeht immer langsamer, die Welt um einen herum läuft plötzlich in Zeitlupe. Und einem ist höllisch schlecht. Es dauert lange, gefühlte Ewigkeiten, bis einen die wohltuende Schwärze umfängt. Na ja, eigentlich ist das ganze auch relativ logisch. Wer Zeit überbrücken will, der braucht nun mal Zeit. Hört sich bescheuert an, aber auf merkwürdige Art und weise logisch.
Das erste, was ich wahrnahm, war mein Kopf. Er schmerzte, als wollte er mir beweisen, dass er noch da war. Das zweite, was ich wahrnahm, war ein merkwürdiges Kratzen, welches nicht gerade förderlich für meinen Kopf war. Blinzelnd versuchte ich, meine Augen zu öffnen, doch das grelle Licht ließ mich zu einem leisen Stöhnen hinreißen. Sofort hörte das Kratzen auf und Schritte kamen näher. Mit großer Anstrengung schaffte ich es schließlich, meine Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Über mir schwebte ein besorgt dreinblickender Kopf. Langes hellbraunes Haar umrahmte ein kantiges Gesicht und braune, ausdrucksstarke Augen. Auf seinem Kinn wuchs ein Dreitagebart. Dann lächelte das Gesicht ein strahlendes Lächeln.
„Ah, du bist aufgewacht!“, sagte er fröhlich. Und laut. Sofort flammte mein Kopfschmerz wieder auf. Nun verzog sich das Gesicht über mir zu einem entschuldigendem Grinsen. „Entschuldige“, sagte er nun deutlich leiser.
„Wo bin ich?“, brachte ich mühsam heraus. Meine Kehle fühlte ich an, als hätte ich Nägel gefrühstückt.
„Du bist in meinem bescheidenem Heim, ragazzina. Ich wollte gerade auf den Markt, da habe ich dich direkt vor meiner Tür liegen sehen. Du bist anscheinend ohnmächtig geworden.“ Tür? Aber bis gerade eben war ich doch noch in meinem Zimmer gewesen! Und wieso sprach er so merkwürdig? „Da du nun wach bist, kannst du auch etwas essen. Immerhin bin ich ein guter Gastgeber!“, sagte der Mann und ging hinaus. Langsam richtete ich mich auf und sah mich um. Ich saß auf einem flachen Bett in einem kleinen, recht schlicht eingerichtetem Raum. Abgesehen von einem Schreibpult mit einem Stuhl davor, war er leer. Durch ein Fenster flutete hell das Tageslicht direkt auf das Bett.
Vorsichtig stand ich auf. Meine Kopfschmerzen waren jetzt einem dumpfen Pochen gewichen. Langsam und noch ein wenig wackelig auf den Beinen trat ich an das Pult, an dem der Mann wohl bis zu meinem Erwachen gearbeitet hatte. Ich sah ein paar lose beschriftete Blätter und ein altmodisches Tintenfass mit einer Schreibfeder darin. Da ich nicht in seinen Unterlagen herumschnüffeln wollte, sah ich zu einem Stapel gelbem Papier, was recht achtlos auf dem Pult herumlag. Ich sah nur das erste Blatt, doch das zog nun meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Vorsichtig trat ich näher heran, fuhr vorsichtig die gezeichneten Linien auf dem Papier nach. Das kann doch nicht … Nun flog die Tür auf und der Mann stob herein. „Wie konnte ich nur so unhöflich sein?“, sagte er und lachte mich an. Dann verbeugte er sich theatralisch. „Mein Name ist Leonardo da Vinci, stets zu Euren Diensten!“

Zuerst starrte ich ihn an. Dann die Zeichnung auf dem Blatt, die weltberühmte Skizze des Gleitschirms. Dann wieder Leonardo. Schließlich wankte ich zu dem Bett und setzte mich. „Oh mein Gott“, flüsterte ich. Besorgt sah mich Leonardo an und ging wieder hinaus. Kaum war er weg, verpasste ich mir ein paar Ohrfeigen. Doch der Raum verschwand nicht. Verzweifelt raufte ich mir die Haare. Ich war in Italien. Noch dazu zur Zeit von Leonardo da Vinci. Plötzlich fiel mir der Foliant wieder ein, von dem ich nun annahm, dass er der Grund für meinen ungeplanten Aufenthalt in der Vergangenheit war. Rasch sah ich mich um und entdeckte das Buch neben einer kleinen Kommode neben dem Bett. Erleichtert nahm ich es an mich. Wenn es mich hierher gebracht hatte, dann musste es mich doch auch wieder zurückbringen. Ich blätterte wie vorhin (also im 21. Jahrhundert) durch die Seiten, klappte es wieder zu und wartete auf Kopfschmerzen, Übelkeit und die Zeitlupe. Nichts geschah. Verzweifelt schüttelte ich das Buch, als ob ich es durch Gewalt dazu bringen könnte, mich wieder zurück zuschicken. Was sollte ich hier? Wie konnte es sein, dass ich hier war? Ich war zwar nicht sonderlich gut in Physik und all dem, aber mir war durchaus bekannt, dass das alles hier absolut unmöglich war! Plötzlich schoss mir ein äußerst unwillkommener Gedanke durch den Kopf. Was, wenn ich nie mehr zurückkonnte? Wenn ich meine Familie nie wiedersehen würde? Heiße Tränen schossen mir in die Augen. Wütend wischte ich sie weg. Heulen half mir jetzt auch nicht weiter! Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich meiner Familie noch nicht alles gesagt hatte, was sie wissen sollte. Wie sehr ich sie lieb hatte. Wie verloren ich mich ohne sie fühlte. Wie ungerecht ich mich ihnen gegenüber verhalten hatte. Ich war nicht bereit für eine ewige Reise in die Vergangenheit!
Die Tür öffnete sich wieder und Leonardo erschien mit einem Tablett in den Händen, auf dem Essen gestapelt war. Als er meine verquollenen Augen sah hielt er inne, stellte das Tablett auf die Kommode und setzte sich neben mich.
„Das alles ist wohl ein bisschen viel für dich?“, sagte er sanft.
Stumm nickte ich. Er hatte ja keine Ahnung, wie Recht er hatte.
„Willst du mir deinen Namen verraten?“, fragte er nach einer Weile.
„Leonora.“, flüsterte ich. Erst als ich meinen wahren Namen sagte, wurde mir bewusst, dass es ein durchaus geläufiger Name im Italien der Renaissance war. „Leonora. Ein schöner Name“, sagte Leonardo lächelnd. Unwillkürlich lächelte ich zurück. Noch nie hatte jemand meinen Namen mit einem rollenden R ausgesprochen. Aber es gefiel mir. Dann musste ich noch mehr lächeln, als mir auffiel, wie sehr sich unsere Namen glichen.
„Hast du Hunger?“, wechselte er geschickt das Thema.
Während ich aß, saß Leonardo die ganze Zeit bei mir. Als ich fertig war, stand er auf.
„Als ich dich vor meiner Tür fand, wollte ich gerade auf den Markt. Möchtest du mich begleiten?“
Da ich sowieso nirgendwo anders hin konnte, nickte ich.
Als ich mit ihm vor die Tür trat, wurde ich regelrecht erschlagen von dem Lärm, den Menschen und dem Licht, das in ganz Italien so anders schien wie sonst überall auf der Welt.
„Willkommen in Firenze, der Blüte Italiens!“, sagte Leonardo neben mir nicht ohne Stolz. Er nahm mich sanft am Arm und führte mich durch das Gedränge der Straßen. Mit offenem Mund und überall hinschauend, taumelte ich hinter ihm her. Die fantastisch verzierten Fassaden der Häuser, die Kleider der Edeldamen, die sich in der Hitze, die jetzt um Mittag schon herrschte, mit einem Fächer Luft zu fächelten, die Händler, welche laut ihre Ware anpriesen, - all das stürmte mit einer Wucht auf mich ein, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Wie ein kleines Mädchen konnte ich mich gar nicht an der Vielfalt hier sattsehen. Als wir schließlich den Marktplatz erreichten, wurde der Lärm ohrenbetäubend. Menschenmassen gingen von Stand zu Stand, ob sie nun Adlige, Mägde oder schwarze Sklaven waren. Kleine Gruppen blieben staunend oder feilschend vor Ständen stehen, an denen alles angeboten wurde, was das Herz begehrte.
Leonardo zog mich sicher durch die Massen, bis wir vor einem kleinen Laden stehenblieben. An der Aufschrift über der Tür konnte ich erkennen, dass es sich um ein Geschäft für Papier und ähnliches handelte. Als wir eintraten, schlug mir der Geruch von Pergament und Holzleim entgegen. Staunend betrachtete ich die Reihen der Bücher und Folianten, die sich in den Regalen stapelten. Nur nebenbei hörte ich Stimmengemurmel, in dem ich Leonardos Stimme heraushörte, doch ich war so hingerissen von der Fülle an Büchern in diesem eigentlich winzigen Raum, dass ich mich von dem Anblick kaum losreißen konnte. Als ich mich zu Leonardo umdrehte, kam er mir auch schon entgegen und gab mir zu verstehen, dass er fertig war. „Ich habe nur eine Bestellung abgegeben“, sagte er auf meinen fragenden Blick hin. Plötzlich musste ich daran denken, dass solche Läden in meinem Jahrhundert kaum noch gab. Jeder bestellte im Internet, was er brauchte oder kaufte es billig in irgendwelchen Großhandelsketten. Traurig strich ich ein letztes Mal wie zum Abschied über die Rücken der Bücher, bevor wir den Laden verließen.
Gerade als wir nach draußen traten, kam Aufruhr in die Menge. Dann sah ich einige Soldaten in voller Rüstung, die einen prächtig gekleideten Mann zu Pferd über den Platz eskortierten. „Wer ist das?“, fragte ich Leonardo und biss mir, kaum dass mir die Frage herausgerutscht war, auf die Lippen. Hatte ich jetzt verraten, dass nicht von hier kam und den offensichtlich bekannten Mann nicht kannte? Vorsichtig schielte ich zu Leonardo, der mir kurz einen schwer zu deutenden Blick zuwarf. „Das? Das ist -“ „Platz machen, macht Platz für den ehrenwerten Lorenzo de Medici!“, übertönte ein Soldat Leonardo mit lauten Rufen. Ich kramte tief in meinem Gedächtnis nach dem Namen und wurde fündig. Allerdings wusste ich kaum etwas über die Medici, nur, dass sie eine reiche Bankiersfamilie und die eigentlichen Herrscher von der Republik Florenz waren. Das konnte man wohl an meinem Gesicht ablesen, denn Leonardo erläuterte ohne nachzufragen. „Lorenzo de Medici und sein Bruder Giuliano sind die Söhne von Cosimo de Medici. Cosimo brachte die Familie vor einigen Jahrzehnten zu ihrer heutigen einflussreichen Stellung. Sie haben enormen Einfluss erworben, und sind somit einigen ein Dorn im Auge, unter anderem den Familien Strozzi und Pazzi, das ist hier ein offenes Geheimnis.“
Leonardo sah Lorenzo de Medici mit einem merkwürdigen Blick hinterher.
„Was denkt Ihr über ihn?“, fragte ich leise. „Er ist ein großer Mann“, sagte er ohne mich anzusehen. „Das kann niemand bezweifeln. Unter ihm ist Florenz in dem Glanz erstrahlt, den du heute sehen kannst. Er ist der Liebling der Menschen, immerhin wird er il Magnifico genannt, „der Prächtige“. Aber es tut niemandem gut, so viel Macht zu haben. Er ist ein außerordentlicher Diplomat und ist ein würdiger Nachfolger Cosimos, doch auch die Ära der Medici wird zu Ende gehen, davon bin ich überzeugt. Denn wie heißt es doch so schön, wer in einem Tag reich werden will, wird in einem Jahr gehängt. Aber das ist meine Meinung.“ Dann trat sein altes Lächeln wieder auf sein Gesicht. „Habe ich dir etwa noch nicht das Du angeboten? Was bin ich nur für ein unhöflicher Mensch!“

Wir machten uns auf den Weg zurück und drängten uns durch die Massen. Plötzlich wandte Leonardo den Kopf und sah zu einem Stand, der von einer Traube von jungen Damen umstanden wurde. Ein paar stießen nun verzückte Laute aus und zwischen ihren prachtvollen Kleidern konnte ich einen kurzen Blick auf kleine Käfige erhaschen, die auf der Unterlage des Standes aufeinander gestapelt waren. Nun trat auch Leonardo zu dem Marktstand und zog mich mit sich. Jetzt, zwischen weite Kleider und aufgespannte Sonnenschirme gequetscht, konnte ich auch die kleinen exotischen Vögel in den Käfigen erkennen. Fragend blickte ich zu da Vinci hoch. Was wollte ein Künstler und Wissenschaftler mit einem Kanarienvogel?
„Wie viel?“, fragte er den Standbesitzer kühl. Der reckte nun die Brust und deutete auf die armen Vögel, die dicht gedrängt in ihren Käfigen saßen. „Das sind besondere Vögel, müsst Ihr wissen, signore. Sehr schwer zu fangen -“
„Wie viel?“
Erstaunt sah ich zu dem Künstler auf. Er sah den Mann finster an, die Augenbrauen zogen sich drohend zusammen. So eine unbeherrschte Reaktion hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Mir gegenüber war er bislang freundlich und friedfertig aufgetreten. Der Vogelhändler wurde angesichts der barschen Antwort etwas unruhig. „Ähm, dreißig Florin für zwei Vögel, mein Herr, weil Ihr es seid.“ Angesichts dieses unverschämt hohen Preises schnappten ein paar der Damen nach Luft. Doch Leonardo verzog keine Miene, kramte seinen Geldbeutel heraus und bezahlte. Überrascht überreichte der Händler ihm einen der Käfige, in dem zwei Kanarienvögel ein trauriges Dasein fristeten. Er war es wohl nicht gewohnt, dass ein Käufer nicht um den Preis feilschte. Leonardo nahm den Käfig – und, zu meiner und der Überraschung der anderen, öffnete er den Käfig und ließ die Vögel frei. Dem verdatterten Händler jedoch gab er den Käfig zurück und wandte sich zu mir um. „Kein Geschöpf, wie klein es auch sein mag, sollte seiner Freiheit beraubt und ausgestellt werden“, sagte er scheinbar zu mir, obwohl er so laut redete, dass die Gesichter der Damen um uns herum verschämt hinter ihren Fächern verschwanden und sie das Weite suchten. Als auch wir gingen, war der Vogelhändler seiner gesamten Kundschaft beraubt.
Den gesamten Weg schwiegen wir. Ich beobachtete ihn verstohlen aus den Augenwinkeln. Tief in Gedanken versunken trottete er neben mir her, sein Blick war glasig. Besorgt achtete ich wieder auf den Weg. Ob Leonardo in eine Depression verfallen war? Zuvor war er lebhaft und geschwätzig gewesen, hatte viel gelacht. Davon war nun nichts mehr zu sehen. Oder war es nur eine Art der Verträumtheit, die erst jetzt so extrem zutage kam? Ihn anzusprechen traute ich mich nicht. Ich würde ja doch nur das Falsche sagen. Stattdessen berührte ich leicht seinen Arm. Sein Kopf zuckte verwirrt zu mir, dann lächelte er ein trauriges Lächeln. „Weißt du, ich habe schon in jüngsten Jahren dem Essen von Fleisch abgeschworen. Mich widert es an, Tiere zu essen, ich ertrage es nicht, zu wissen, dass ich gerade ein Geschöpf esse, das früher einmal lebte und frei war. Aber ich bin überzeugt, dass die Zeit kommen wird, dass die Menschen wie ich die Tiermörder mit gleichen Augen betrachten werden wie jetzt die Menschenmörder. Zumindest wünsche ich es mir von ganzem Herzen“, sagte er und sah mich so intensiv an, dass ich mich unwillkürlich schuldig fühlte. Er hatte recht, und als ich daran dachte, wie mit Tieren in meiner Zeit umgegangen wurde, überkam mich plötzlich Übelkeit.
Nun war es Leonardo, der mich besorgt ansah und mich schnell zu seiner Werkstatt führte.
Als er mich in das Zimmer führte, in dem ich aufgewacht war, fiel mein Blick auf mein Buch, welches immer noch auf der Kommode lag. Ich stöhnte entsetzt auf, nahm es an mich und setzte mich auf das Bett. Wie hatte ich es nur hier vergessen können? Das war die einzige Möglichkeit, zurückzukehren, davon war ich überzeugt. Meine einzige Hoffnung derart achtlos herumliegen zu lassen, das war regelrecht fahrlässig! Leonardo bemerkte meine Reaktion und betrachtete das Buch eingehend. Dann runzelte er die Stirn, wandte sich ab und fing an, in den Schubladen des Schreibpults herumzuwühlen. Verständnislos beobachtete ich ihn dabei. Er murmelte leise vor sich hin, bis er einen kleinen Schrei ausstieß und ein Buch hervorzog. Ein Buch, welches genauso aussah wie meines. Triumphierend hielt er es mir unter die Nase, als hätte er gerade eine Wette gegen mich gewonnen und, strahlte. „Wusste ich doch, dass es mir bekannt vorkam!“, rief er fröhlich. Begriff er eigentlich das, was er da sagte? Dass es das gleiche Buch sein musste? Dass es aber logischerweise nicht genau das gleiche sein konnte? Doch anstatt wie ich das Buch verwirrt anzustarren, strahlte er wie ein Honigkuchenpferd. „Und jetzt lass uns mal sehen, ob es wirklich das gleiche ist“, sagte er eifrig, setzte sich neben mich und schlug das Buch auf. Genau wie bei mir waren die Seiten unbeschrieben, nur mit dem Unterschied, dass meinem der Zeitunterschied anzumerken war. Die Zeit hatte Seiten gelb und das Leder rissig werden lassen. Dennoch war ich überzeugt davon, dass es ein und dasselbe war. Plötzlich fiel mir siedend heiß etwas ein.
„Leonardo“, sagte ich eindringlich. Er brummte eine Antwort, während er noch die Bücher verglich. „Leonardo! Welches Datum haben wir heute?“
„Den 25. April“, murmelte er abwesend.
„Und welches Jahr?“
Nun schaute er doch auf und sah mich erneut mit diesem undeutbaren Blick an. „1478.“
Es musste einen Grund haben, warum ich hier gelandet war. Es konnte kein Zufall sein, dass ich genau vor Leonardo da Vincis Werkstatt landete. Es konnte kein Zufall sein, dass hier, Jahrhunderte später, das gleiche Buch auftauchte, welches ich bekommen hatte. Der 25. April 1478. Irgendetwas musste dieses Datum bedeuten. Ich zermarterte mir das Hirn, was an diesem Datum passiert sein könnte. Doch mir fiel nichts ein. Verzweifelt schlug ich mir mit der flachen Hand gegen meine Stirn. Es klang bescheuert, wie in einem schlechten Science-Fiction-Roman, doch ich musste hier etwas tun, soetwas wie einen Auftrag erledigen. Aber wie sollte ich das anstellen, wenn ich noch nicht einmal wusste, was ich tun sollte? Leonardo beobachtete mich, ohne einzugreifen, während ich weiter auf meinen Kopf einprügelte. Schließlich legte er beide Bücher zur Seite und lächelte mir aufmunternd zu.
„Kannst du malen?“
„Was?“, schniefte ich, denn nun merkte ich, dass ich angefangen hatte zu weinen.
Leonardo stand auf, holte ein Blatt Papier und einen Kohlestift und hielt es mir hin. Entgeistert sah ich ihn an. „Nein“, stammelte ich. „Ich kann nicht malen.“
„Probier es“, forderte er mich auf und legte mir die Materialien auf die Kommode.
„Ich kann aber wirklich nicht malen“, sagte ich nun. „Wenn ich ein Pferd male, dann hält es jeder für ein Schaf.“ Das mit dem Fahrrad brauchte er ja nicht zu wissen. Daraufhin warf er den Kopf in den Nacken und lachte. Plötzlich musste ich auch lachen und fühlte mich schon viel besser.
„Jetzt hast du mich neugierig gemacht“, sagte Leonardo mit blitzenden Augen, als er sich wieder beruhigt hatte.
„Oh nein“, stöhnte ich, grinste aber, nahm den Kohlegriffel und das Papier und malte ein Pferd.
Als ich fertig war, reichte ich ihm das Blatt und beobachtete genau seine Reaktion. Erst starrte er auf das Blatt, dann kniff er die Augen zusammen und hielt das Blatt von sich weg. Dann grinste er mich an. „Ein Schaf auf einem merkwürdigen Gefährt, eindeutig.“ Es war zum Verzweifeln, sogar Leonardo da Vinci hielt mein Pferd für ein Schaf auf einem Fahrrad! Ich grinste zurück.
„Was kannst du denn sonst, mio pecorella?“ Hätte er sich denn keinen besseren Spitznamen für mich aussuchen können als „mein Schäfchen“?
„Gar nichts“, murmelte ich und ließ meinen Kopf hängen.
„Das glaube ich nicht“, sagte er leise uns legte mir sanft die Hand auf die Schulter.
„Es ist aber so“, sagte ich fast schon wütend. Wieso akzeptierte niemand, dass man auch gar kein Talent für irgendetwas haben konnte?
Er überlegt kurz und sagte schließlich: „Zuhören. Und Verstehen.“
„Was?“, knurrte ich leise. Wollte er mich auf den Arm nehmen?
„Das sind deine Talente“, sagte er todernst. Ich starrte ihn an, bevor sich mein Gesicht schlagartig verdüsterte.
„Es ist anders, als es sich jetzt vielleicht anhören mag“, beschwichtigte er mich schnell. „Zuhören und vor allem Verstehen sind eine seltene Gabe.“ Immer noch starrte ich ihn missmutig an. „Als ich dir erzählt habe, warum ich die Vögel freigelassen habe, da hast du mir zugehört, ohne mich von deiner Meinung überzeugen zu wollen oder mir grundlos zuzustimmen, und hast mich verstanden. Die meisten Leute hätten sofort Einwände erhoben oder mir wider ihrer eigentlichen Meinung zugestimmt, nur, um mich gnädig zu stimmen. Du hingegen hast mich verstanden. Das habe ich dir angesehen.“ Skeptisch sah ich ihn an. Aber es stimmte, was er sagte. So war ich schon immer gewesen. Eine Zuhörerin.
„Aber das ist kein Talent“, maulte ich und mir war bewusst, dass ich mich anhörte wie ein quengeliges Kleinkind.
„Aber sicher ist das ein Talent“, widersprach mir Leonardo. „Und du hast noch viele weitere Talente, die sich nur noch nicht gezeigt haben.“ Er sah mich mit väterlicher Fürsorge an. „Du bist noch jung, hast fast dein gesamtes Leben noch vor dir. Es gibt keinen Grund, dich selbst kleinzureden.“
Erstaunt sah ich ihn an. Es hieß immer als Faustregel, alle Genies seinen verrückt oder menschenfeindlich gewesen. Doch ich hatte noch nie jemanden so Sanftmütiges und freundliches gesehen wie Leonardo da Vinci. Kurz dachte ich nach.
„Was würdest du sagen, wenn ich dir sagen würde, dass du der Erste bist, der soetwas zu mir sagt?“
„Dann“, sagte er ernst, „würde ich sagen, dass alle anderen absolute Hornochsen sind.“

Wir aßen zusammen in dem Raum (mich beschlich das Gefühl, dass das hier der einzige Raum war, der vorzeigbar war) zu Abend. Mir fiel dann zum ersten Mal auf, dass es nur aus Brot, Käse und Wasser bestand. Aber es war trotzdem das Beste, was ich je gegessen hatte. Als wir fertig waren, stand Leonardo auf. „Willst du meine Werkstatt sehen?“, fragte er mich mit schräg gelegtem Kopf. Begeistert nickte ich. Er führte mich in den größten Raum des Hauses. Der Geruch von Farbe, Leinwand und Firnis vernebelte mir zuerst den Kopf. Durch zahlreiche Fenster fiel das Licht, welches bei Sonnenuntergang immer noch kräftig schien. Der gesamte Raum war mit Staffeleien und Tischen voll gestellt, auf denen sich Farbtiegel, Pigmente und schmutzige Pinsel nur so türmten. Ein paar halbfertige Arbeiten lehnten an den Wänden. Insgesamt konnte man sagen, dass hier eindeutig die weibliche Hand fehlte. Aber dennoch hatte die Werkstatt etwas einladendes und heimeliges an sich, sodass man sich gleich wohl darin fühlen musste. Ehrfurchtsvoll trat ich an einige seiner halbfertigen Bilder heran. Wenn Leonardo wüsste, was allein diese besseren Skizzen in meiner Zeit wert sein würden... Er würde mir ja doch nicht glauben.
Staunend drehte ich mich zu ihm um.
„Und? Was sagst du?“, fragte er mich, als würde meine Meinung ihn wirklich interessieren. Und merkwürdigerweise glaubte ich auch, dass es ihn meine Antwort kümmerte.
„Die Werkstatt ist wunderschön“, sagte ich ehrlich.
Daraufhin lächelte er mich an. Er wusste, dass ich es so meinte, wie ich es sagte.
Als die Sonne unterging, zündete Leonardo Kerzen an und trug sie in den Schlafraum. Dort nahm er sich Papier und Kohle und setzte sich an das Schreibpult. Ich konnte nicht erkennen, was er da zeichnete, also wartete ich geduldig. Als er schließlich fertig war, bat ich ihn darum, es sehen zu dürfen und er zeigte es mir. Er hatte den Vogelhändler gemalt, aber so detailreich und lebensecht, als hätte er ihm Modell gestanden.
„Das ist fantastisch!“, entfuhr es mir begeistert.
Stolz, aber auch ein wenig verlegen gab er mir das Bild. „Wenn ich einen Menschen gesehen habe und ihn, kurz nachdem ich ihn sah, zu Papier bringe, habe ich ihn wie vor meinem inneren Auge.“
Er hatte also so eine Art fotografisches Gedächtnis. Fasziniert sah ich ihn an. Je mehr ich von diesem Genie erfuhr, desto mehr erstaunte er mich. Ich hatte noch nie jemanden wie ihn getroffen.
„Behalte es ruhig“, sagte er, als ich es ihm wiedergeben wollte. „Mich würde es sowieso nur an diesen unerfreulichen Zwischenfall erinnern.“ Ich drückte es an mich. Diesen Schatz würde ich auf immer in Ehren halten.
Es war nun völlig finster geworden und Leonardo schickte mich ins Bett. Da ich wusste, dass protestieren keinen Zweck hatte, fügte ich mich. Als ich so im Dunkel dalag, fragte ich mich plötzlich mit schlechtem Gewissen, wo er jetzt wohl schlief, da ich ja sein Bett beschlagnahmt hatte. Aber ich beruhigte mich selbst damit, dass er wohl in seiner Werkstatt neben seinen Bildern schlief. Meine Gedanken fingen an zu wandern, während ich in die Dunkelheit starrte. Die Gesichter meiner Eltern und meiner Schwester tauchten vor meinem inneren Auge auf. Ob ich sie wohl je wiedersehen würde? Plötzlich tat es mir Leid, dass ich meinen Eltern solchen Kummer bereitet hatte. Das hatten sie nicht verdient. Ebenso bedauerte ich meinen Neid auf meine Schwester. Ich hatte nie gesagt, wie lieb ich sie hatte, obwohl sie manchmal so nervtötend war. Bevor mir die Tränen in die Augen schießen konnte, dachte ich schnell an etwas anderes. Erneut stellte ich mir Fragen, die ich ja doch nicht beantworten konnte. Warum war ich hier? Und welche Rolle spielte dieses Buch dabei? Vorsichtig streckte ich meine Hand in die Dunkelheit, bis ich das Buch und die Kohleskizze berührte. Das Duplikat des Buches hatte Leonardo schulterzuckend wieder in der Schublade verstaut. Ob sie wirklich gleich waren? Erst jetzt bemerkte ich, wie schläfrig ich eigentlich war. Zeitreisen hatte es wohl in sich, dachte ich noch, bevor ich endgültig einschlief.

„Aufwachen!“
Ich brummte nur unwillig.
„Na los, mio pecorella, heute ist ein großer Tag!“
Wie konnte man so früh schon so verdammt fröhlich sein?!
Plötzlich spürte ich anstatt wohliger Wärme Kälte um mich herum.
„He, was-“ Protestierend fuhr ich auf. Leonardo war gerade dabei, die Fensterläden aufzuklappen und frische Luft hereinzulassen. Ich hatte gestern wohl nicht mitbekommen, wie er sie geschlossen hatte. Missmutig rieb ich mir die Augen und suchte meine Decke, welche der Künstler immer noch in den Händen hielt.
„Was soll denn heute so aufregendes sein?“, murrte ich. So toll, dass man früh aufstehen musste, konnte es doch gar nicht sein.
„Wir gehen heute in die Kirche!“
Stöhnend ließ ich mich wieder auf das Bett fallen. „Was soll daran aufregend sein?“, nuschelte ich während ich mir die Augen rieb.
„Heute ist Ostersonntag!“ Mein Schweigen ließ ihn meine Begeisterung spüren.
„Uuuund“, sagte er grinsend. Ich hörte das Grinsen regelrecht. „Und die Medici-Brüder werden da sein.“
Nun hatte er wirklich meine Neugierde geweckt. Während wir aßen, konnte er gar nicht aufhören zu reden.
„Lorenzo und Giuliano werden in der wundervollen Santa Maria del Fiore dem Ostergottesdienst lauschen, ebenso wie viele andere, die meist hauptsächlich kommen, um sie zu sehen, - und wir. Wir werden zwar nicht die ersten sein, doch wenn wir uns beeilen, könnten wir vielleicht sogar einen Platz mit Blick auf die Medici ergattern.“
„Ich dachte, du magst sie nicht“, murmelte ich mit vollem Mund.
„Was nicht heißt“, erklärte er mit erhobenem Zeigefinger, „dass ich die Vorstellung, die sie liefern werden, nicht mag. Überall, wo sie auftauchen, geht alles mit deutlich mehr Tamtam von statten, als es sonst der Fall wäre. Und das ist durchaus sehenswert.“
Direkt nach dem Frühstück machten wir uns also auf den Weg zu dem Dom von Florenz. Wir hatten nicht sehr weit zu gehen. Nach kurzer Zeit schon standen wir vor dem riesigen Dom. „Wahnsinn!“, flüsterte ich ehrfürchtig und bekam vor lauter Staunen fast nicht mit, wie Leonardo mich amüsiert ansah. Schon von weitem war die riesige, mit roten Dachschindeln bedeckte Kuppel des Doms zu sehen. Ebenso fiel der Turm direkt neben dem Dom ins Auge. Die weißen Außenmauern strahlten uns einladend entgegen. Drei Portale führten ins Innere der Kirche, wobei das mittlere das größte war. Fenster in Form von Rosetten und die kunstvollen Figuren, welche auf uns herabblickten, verliehen dem Ganzen einen unvergleichlichen Charme. Wir ließen uns von den Menschen, die in die Kirche strömten, einfach mitreißen und gelangten schließlich in das Innere des Doms. Hingerissen legte ich den Kopf in den Nacken. Der Dom bestand aus einem Hauptschiff, in dem die meisten der Bänke, in denen sich nun die Menschen drängten, und zwei kleineren Seitenschiffen. Diese waren von Galerien gekrönt. Ich konnte selbst von hier aus die wundervollen Deckenfresken betrachten, die den steinernen Himmel über mir schmückten.
„Sieh mal nach unten“, sagte Leonardo neben mir. Er musste fast schreien, so laut war es hier.
Seinen Rat befolgend betrachtete ich den Boden, von dem ich erst jetzt bemerkte, dass er ganz aus braunen, blauschwarzen und weißen Marmormosaiken bestand.
Da ich vor lauter hierhin- und dorthinsehen nicht mehr in der Lage war, mich gefahrlos durch die Menschen zu schlängeln, nahm Leonardo mich am Ellenbogen und zog mich in eine der Bänke. Während sich die Kirche mit Menschen füllte, bemerkte ich, dass die vorderen Reihen unangetastet blieben. Vermutlich für die Familie der Medici. Kaum hatte ich das gedacht, als auch schon Soldaten eine Gasse durch die Menschen bahnten und wie auf dem Marktplatz die Medici ankündigten. Ich reckte den Hals,um sie besser sehen zu können. Voran lief Lorenzo, dicht gefolgt von seiner Familie und seinem Bruder. Auf dem Marktplatz hatte ich sie nur kurz sehen können, doch jetzt konnte ich sie ohne Hindernis betrachten. Lorenzo sah mit seinem dunklen Haar und seiner Hakennase nicht sonderlich gut aus. Giuliano machte einen besseren Eindruck. Trotzdem strahlte Lorenzo eine Kraft und Würde aus, die seinem Bruder fehlte. So war Lorenzo insgesamt eine durchaus beeindruckende Erscheinung. Sie alle waren prachtvoll gekleidet, die Frauen hatten sich mit kompliziert aussehenden Frisuren und Edelsteinen geschmückt. Nun wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie schäbig ich neben ihnen wirken musste, mit meinen einfachen, groben Kleidern, in der ich auch schon hier angekommen war. Als auch die Medici Platz genommen hatten, begann der Gottesdienst kurz darauf, als habe der Bischof auf sie gewartet. Da sie Messe aber auf Latein gehalten wurde, verstand ich kein Wort von dem, was er sagte. Obwohl ich überzeugt davon war, dass es den meisten um mich herum genauso erging, lauschten alle aufmerksam dem Bischof.
„Das da ist Erzbischof Francesco Salviati“, raunte Leonardo mir zu und nickte mit dem Kinn zu dem Bischof. Da mir der Name nichts sagte, nickte ich einfach nur.
Von einem Moment auf den anderen änderte sich alles. Ein Mann, der hinter Lorenzo und Giuliano saß, sprang auf. Plötzlich hielt er ein Messer in der Hand. Der Mann neben ihm stand ebenfalls auf, allerdings nicht, wie ich erst dachte, um seinen Nebensitzer aufzuhalten, denn nun hatte er ebenfalls einen Dolch in der Hand. Der erste, der aufgesprungen war, welcher wohl aufgrund seiner prächtigen Kleidung adelig sein musste, holte nun mit dem Dolch aus. „Hier, du Verräter!“, schrie er und stieß das Messer in Giulianos Rücken. Einen Moment herrschte vollkommene Stille, wie die Ruhe vor dem Sturm. Dann brach das blanke Chaos aus. Menschen schrien angsterfüllt auf und versuchten panisch aus der Kirche zu flüchten. Durch die Menschen hindurch sah ich zwei weitere Männer mit Messern auf die Medici zustürzen. Giuliano war blutend zu Boden gesunken, aber anstatt ihm zu helfen, liefen alle Menschen einfach an ihm vorbei aus dem Dom.
„Leonora!“, schrie jemand etwas entfernt. Panisch drehte ich mich um und sah Leonardo, wie er von der Menschenmasse nach draußen gedrängt wurde. Er versuchte, sich zu mir zu kämpfen, doch er entfernte sich immer weiter von mir. Ich drückte mich nun an eine der Säulen, welche die Galerien oben stützten und versuchte ruhig zu atmen. Als ich nach rechts sah, erblickte ich eine immer größer werdende Blutlache zwischen den Kirchenbänken. Ohne nachzudenken stürzte ich zu Giuliano, der röchelnd am Boden lag.
Hilflos kniete ich mich neben ihn. Auch ohne Mediziner zu sein sah ich, dass er es nicht schaffen würde. Seine Augen wurden langsam glasig. Ich griff nach seiner Hand, um ihm wenigstens jetzt noch den letzten Beistand zu leisten. Plötzlich drehte er seinen Kopf zu mir und noch ein letztes Mal wurde sein Blick klar. „Rette … Lorenzo!“, keuchte er mühsam und sah mich eindringlich an. Eilig nickte ich. Er ließ seinen Kopf auf den Boden sinken und atmete ein letztes Mal aus. „Requiescat in pace“, murmelte ich mit erstickter Stimme und schloss ihm mit zitternder Hand die Augen. Schnell wischte ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln und stand auf. Suchend blickte ich mich um. Da entdeckte ich Lorenzo und ein paar Mitstreiter sowie die Angreifer nicht weit von mir. Lorenzo war zwar verletzt, jedoch wehrte er sich recht erfolgreich gegen die zwei Angreifer, welche gleichzeitig auf ihn eindrangen. Plötzlich überkam mich Panik. Wenn solche Männer es nicht schafften, die Attentäter an ihrem Plan zu hindern, wie sollte ich es dann tun? Rasch schüttelte ich den Kopf. Für solche Gedanken war weder die Zeit noch der richtige Augenblick. Ein Mensch würde sterben, wenn ich nicht wenigstens versuchte, einzugreifen! Rasch griff ich mir ein Bein einer ehemaligen Kirchenbank, die nun zertrümmert vor mir lag, und stürmte zu ihm.
Die Attentäter hatten ihm inzwischen weitere Wunden zugefügt, einen von Lorenzos wenigen Verbündeten lag tot neben einer Säule. Als ich sie erreichte, holte ich aus und hieb einem der Angreifer so fest ich konnte auf den Schädel. Mit einem Seufzen ging er zu Boden. Überrascht starrte ich ihn an. Dann hatte ich mich soweit wieder gefangen, dass ich mich erneut umschaute. Die Mitstreiter Lorenzos hatten sich jetzt zwischen ihn und dem verbliebenen Attentäter gedrängt und hieben mit Schwertern auf ihn ein. Nur ich bemerkte die Männer, die in den Dom stürmten und auf uns zuhielten. Und nur ich war mir sicher, dass das keine Männer der Medici waren, die mit hasserfüllten Gesichtern auf uns zu rannten. Schnell griff ich Lorenzo, der mit schweißbedecktem Gesicht erneut auf die Angreifer zustürzen wollte, am Arm. Ich zog ihn zu einer Tür, die ich gerade in der Wand des Kirchenschiffs entdeckt hatte und stieß sie hastig auf. Nun schienen auch die anderen die Verstärkung erblickt zu haben, denn sie stürzten ebenfalls hinter Lorenzo und mir in die kleine Sakristei. Sie schlugen die Tür zu und verrammelten sie mit allem, was sie finden konnten. Erschöpft setzte ich mich neben Lorenzo auf den Steinboden. Doch als ich ihn ansah, durchfuhr mich der Schreck. Er war vollständig zu Boden gesunken, das Gesicht wächsern und die Augen glasig. Entsetzt bemerkte ich den leichten Schaum vor seinem Mund. „Gift“, flüsterte ich. „Er wurde vergiftet!“
Jetzt wandten sich auch die anderen Männer zu uns um. Dann eilte einer der Männer herbei und beugte sich über Lorenzo. Mit einem Schauder sah ich, wie er das Gift aus der Wunde saugte, die der vergiftete Dolch geschlagen hatte, und es auf den Boden spuckte. Schließlich stand er auf und rief die anderen zu sich. „Das Gift ist aus seinem Körper, doch er ist noch zu schwach.“
Plötzlich hörten wir ein Klopfen. Erschrocken fuhren wir herum. Einen Moment lang regte sich niemand, bis einer der Männer sich endlich einen Ruck gab. Langsam ging er zur Tür, hielt sein Ohr an das Holz und lauschte. „Wer ist da?“, rief er schließlich laut. Ich vernahm nur leises Stimmengemurmel, offenbar war die Sakristeitür sehr dick. Doch der Mann an der Tür atmete erleichtert auf. „Es sind unsere Männer!“

Ich rannte durch die Straßen, zu Leonardos Werkstatt.
Kurz nachdem wir die Tür wieder freigeräumt und die Männer eingelassen hatten, war der Mann, der Lorenzo das Gift ausgesaugt hatte, auf mich zu getreten. „Du warst sehr mutig“, hatte er gesagt. „Ich danke dir im Namen der gesamten Medicifamilie.“ Dann hatte er mir einen kleinen Beutel mit Goldmünzen in die Hand gedrückt und war nach einem kurzen Nicken des Abschieds mit den anderen Männern, die Lorenzo in ihrer Mitte trugen, in den Straßen verschwunden.
Sofort hatte ich mich auf den Heimweg gemacht. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte. Ich spürte, wie mir der Foliant mit der Skizze von Leonoardo, die ich zwischen die Seiten geschoben hatte, während des Rennens gegen meinen Bauch schlug. Die ganze Zeit hatte ich ihn unter meiner Kleidung verborgen. Ich hatte Lorenzo de Medici gerettet, genauso, wie ich es seinem Bruder versprochen hatte. Nun war meine Aufgabe hier erfüllt. Aber wie viel Zeit würde mir noch bleiben?
Endlich erreichte ich die Werkstatt. Ungeduldig hämmerte ich mit der Faust gegen die Tür, bis sie endlich geöffnet wurde. Dann fiel ich einem erleichterten und überraschten Leonardo um den Hals. Fest drückte er mich an sich. Dann zog er mich ins Haus und schob mich in seine Werkstatt.
„Wo bist du gewesen? Ich habe mir -“ Er verstummte, als er mein Gesicht sah. In meinen Augen schwammen Tränen. „Du wirst bald gehen müssen, richtig?“
Stumm nickte ich, damit er meine weinerliche Stimmer nicht hörte. Erst jetzt fiel mir auf, dass er mich nie nach meinen Eltern, meinem zu Hause oder meiner Herkunft gefragt hatte. Er hat es die ganze Zeit über gewusst, dass ich nicht hierher gehörte. Traurig sah er mich an. Dann legte er beide Hände auf meine Schultern und sah mich fest an.
„Du bist kein kleines verängstigtes Schäfchen mehr. Du bist eine leonessa, eine Löwin. Nach außen hin bist du ruhig und hast alles misstrauisch im Blick. Doch wenn es sein muss, kannst du kämpfen. Vergiss das niemals!“
Nun liefen mir die Tränen die Wangen hinunter und er umarmte mich erneut.
„Danke. Danke für alles“, flüsterte ich mit erstickter Stimme.
Ich spürte, wie er lachte, als langsam alles verschwamm und die Zeitlupe wieder einsetzte. „Wofür denn? Was habe ich schon getan?“

Erneut Dunkelheit. Dann Geräusche. Stimmen. Stimmen, die ich kannte. Blinzelnd öffnete ich langsam die Augen. Dann blickte ich in ein besorgtes Gesicht, welches von blonden Locken umrahmt war. „Sie wacht auf!“, rief das Gesicht aufgeregt. Dann erschienen weitere Gesichter über mir, die genauso besorgt aussahen. Hanna. Meine Eltern. Ich war wieder zu Hause.
Ich fuhr auf und umarmte stürmisch meine Schwester, meine liebe kleine Schwester. Dann warf ich mich gleichzeitig weinend und lachend meinen überraschten Eltern um den Hals.
Als ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, erzählten sie mir, wie meine Schwester plötzlich einen Schlag hörte. Als sie in mein Zimmer stürzte, sah sie mich ohnmächtig auf dem Boden liegen.
„War da irgendwo ein Buch?“, fragte ich sie einer Eingebung folgend. Unsicher sah sie mich an und schüttelte den Kopf. Ich lächelte leise.
„Wie lang war ich denn ohnmächtig?“, fragte ich nun meine Eltern.
„Etwa eine Stunde. Wir waren uns nicht sicher, ob wir den Arzt rufen sollten.“
Eine Stunde. Ich schüttelte abwesend den Kopf. Die Zeit war schon ein launisches Ding.
Meine Mutter betrachtete mich eingehend. „Irgendwie …“, sie schüttelte ungläubig den Kopf, fuhr dann aber fort. „Irgendwie bist du … anders als vorher.“ Ich lächelte sie an. Sie hatte ja keine Ahnung, wie recht sie hatte. Durch den Besuch in der Vergangenheit war ich tatsächlich anders geworden, reifer, erwachsener vielleicht. Ich wusste nun, was im Leben wichtig war, und dass man es erst richtig schätzte, wenn man es unwiderruflich verloren glaubt. Und, vielleicht das Wichtigste von allem, ich wusste nun, wer ich war. Na ja, natürlich nicht vollständig, dazu brauchte es wohl einfach mehr Zeit und Erfahrung. Aber selbst dieser kleine Teil veränderte mich schon sehr, und das war gut so.

Als ich meinen Eltern mehrfach versichert hatte, dass es mir gut ging und ich versprechen musste, ein wenig zu schlafen, gingen sie schließlich. Meine Schwester wollte sich kaum von mir trennen, sie gab zu, dass ich ihr jetzt besser gefallen würde als vorher.
„Ich hatte dich aber immer schon sehr lieb, weißt du? Du hast es nur nicht bemerken wollen“, sagte sie traurig und erst dann wurde mir bewusst, wie sehr ich sie mit meinem abweisenden Verhalten verletzt hatte. „Das passiert nie wieder“, versprach ich ihr leise, und dann ging auch sie mit einem schüchternen Lächeln.
Als ich allein war, zog ich mir das Buch unter meinem Shirt hervor. Liebevoll strich ich über das brüchige Leder und klappte es auf, obwohl ich wusste, was mich erwartete. Umso überraschter war ich, als ich eine absolut wundervolle Skizze eines Mädchens sah. Eine Skizze von mir. Aber ich erkannte mich gar nicht wieder, meine Augen strahlten und ich sah so selbstsicher aus, wie ich es mir früher in meinen kühnsten Träumen nicht erhofft hätte. Jetzt wusste ich, wie meine Familie meine innerliche Veränderung bemerken konnte. Gerührt lächelte ich und strich vorsichtig über die Skizze, damit die Kohle nicht verschmierte. Unten konnte ich ganz klein ein Datum erkennen. 26. April 1478. Der Tag des Attentats auf die Medici. Lächelnd blätterte ich um und konnte eine geschwungene Handschrift erkennen. Mit einem Lächeln bemerkte ich, dass ich die Sätze, die in italienisch verfasst waren, verstehen konnte. A favore di mio brava leonessa Leonora...


Für meine mutige Löwin Leonora. Die Zeit verlängert sich für alle, die sie zu nutzen verstehen. Ich werde dich nie vergessen!
Lächelnd schlief ich ein, das Buch auf meinem Herzen. Und ich werde dich in meinen Träumen auf ewig weiterleben lassen, mio genio Leonardo da Vinci!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.01.2012

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