„Ray, du versuchst doch nicht wirklich gerade abzuhauen, oder?“ Genervt schaute ich zu Boden. So weit würde es noch kommen, dass ich zu diesem blöden Schulausflug ging. Nein, nicht mit mir. Das war beschlossene Sache. Grimmig blickte ich meiner Lehrerin ins Gesicht. Da konnte sie machen was sie wollte, ich würde auf keinen Fall in diesen Bus steigen. Ich lehnte mich gegen das Halteschild und blickte sie abschätzend an. Sie war gut anderthalb Köpfe kleiner als ich und ich wusste sie würde mich nicht dazu zwingen können mitzufahren. Warum musste auch gerade diese Lehrerin beschließen, mit uns einen Ausflug in ein Hotel im Wald zu machen? Es war zum Verrückt werden.
Sie sah mich ängstlich an, aber ihr Blick blieb stur auf mich gerichtet. „Ray, wenn du nicht sofort in diesen Bus steigst, werde ich wohl deine Eltern benachrichtigen müssen!“ Pah, wenn die wüsste. Es war mir schon lange egal, was meine Eltern von mir dachten. Sie interessierten sich ja auch nicht für mich. Ich wusste dass es auch Frau Takaya nicht ganz unbekannt war. Trotzdem zog sie diese alberne Nummer ab. Ich verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Nur zu, rufen sie doch an!“ sagte Ich leise. Selbst mir lief es bei meinen Worten kalt den Rücken herunter, doch es war vielleicht besser so. Sie zuckte zusammen und schien den Tränen nahe. Ein paar Schüler sahen bereits aus dem Bus zu uns doch mich störte das nicht. Ich war Publikum gewöhnt. So was wie jetzt passierte mir jeden Tag. Ich hatte geglaubt dass jetzt wenigstens die Lehrer begriffen hatten dass es besser war mir aus dem Weg zu gehen, doch anscheinend waren sie genauso dumm wie auch am Anfang. Sie spürten, dass ich bedrohlich war und doch behandelten sie mich wie jeden anderen hier. Wie blind sie doch waren. Und leichtgläubig. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und blickte meine Lehrerin eisern an. Auch sie schien zu wissen, dass sie diesen Kampf verloren hatte. Ich war noch nie auf Klassenfahrten dabei gewesen und das würde sich auch Heute nicht ändern. Zehn Tage alleine in einem Wald mit meinen Klassenkameraden, wären einfach furchtbar. Nie dürfte ich ihnen zu nah kommen, sie niemals berühren. Es wäre die größte Folter für mich. Unterdrücken zu müssen, was ich wirklich war, was ich wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich irgendwann dazugehören würde. Es war unmöglich. Ich durfte es nicht. Und das machte mich rasend vor Wut. Niemand verstand mich, niemand würde mich je verstehen, denn ich dufte ihnen nicht zu nahe kommen, mich nicht mit ihnen einlassen, Freunde haben. Ich war siebzehn, doch anstatt immer mehr Freiheit zu genießen wurde mir immer bewusster was ich nicht tun konnte. Was in meinem Leben alles fehlte. Und das war eine ganze menge.
Jemand tippte mich von hinten an. Augenblicklich zuckte ich zusammen. Ich wich weiter nach vorne und drehte mich um. Meine Gelassenheit ließ nach. Jetzt hatte auch ich angst. Angst, da mich der Fremde berührt hatte. Ich fürchtete mich nicht mehr beherrschen zu können. Ich blickte in das Gesicht eines Jungen. Sein Name war Maik. Er war auch in meiner Klasse, doch ich hatte bislang nichts mit ihm zu tun gehabt. Ich atmete seinen Duft ein und verkrampfte mich augenblicklich. Mein Verlangen wurde immer stärker. Ich fühlte mich etwas schwummrig und begann zu taumeln. Ich streckte meine Hand zum Halteschild aus, um mich festzuhalten, doch ich rutschte ab. Die Kraft glitt aus meinen Gliedern und wohlige wärme breitete sich in mir aus. Ich sank mit den Knien voran auf den Boden und blieb dort sitzen. Müdigkeit überfiel mich. Eine über Jahre antrainierte Reaktion auf die nähe anderer. Das ziehen in meiner Brust schien mich zu zerreißen, meine Seele zu zerfetzen. Ich hörte gedämpft wie ich anfing zu schreien, und meine Lehrerin schrie mit mir. Sie war neu und wusste nicht, was gerade mit mir vor ging. Sie konnte es auch gar nicht wissen, denn im Grunde wusste es keiner so genau. Ich schätzte sie geriet in Panik. Ich hörte wie es im Bus laut wurde. Ich stellte mir vor wie sie alle zu den Fenstern geeilt waren um das Szenario mit anzusehen. Elende Gaffer. Nichts als naive, kleine Menschen, die nichts von der Wirklichkeit verstanden und alle in ihrer eigenen kleinen Welt ohne Sorgen oder Problemen lebten. Zumindest würden ihre Probleme niemals an meine heranreichen.
Ich krümmte mich vor schmerzen und schlug meine Arme um meinen Oberkörper. Zwei Gedanken durchfluteten mein Gehirn und beide zueinander so Widersprüchlich wie es nur geht. Ich wusste dass ich verschwinden musste. Am besten weit weg, weg von all diesen Menschen und ihrer nähe. Ich fürchtete mich vor dem was gerade mit mir passierte und wusste doch, dass es zu mir gehörte wie ein Fingerabdruck. Es war mein Instinkt den der Junge geweckt hatte. Den Instinkt alle in meiner nähe umzubringen um an ihr Blut zu kommen. Mein wahres Ich. Ich war ein Teufel in Menschengestalt doch meine Opfer wussten noch nicht mal wie gefährlich ich wirklich war. Naiv wie sie waren hatten sie sich einen Spaß daraus gemacht mich hinter meinem Rücken „Schwarzer Teufel“ zu nennen. Dumme schwache Menschen. Ich lachte still in mich hinein. Wie recht sie damit doch hatten. Ich war ein Monster in Person, eine Bestie, die ich niemals hatte sein wollen. Was war schon ewiges Leben, wenn man dieses in ewiger Gefangenschaft verbringen musste. Leidend und alleine.
Meine Sinne verstärkten sich und jetzt konnte ich auch noch ihr Gekicher und Gekreische hören, während sie mit dem Finger auf mich zeigten und über diesen Namen lachten obwohl ich mich vor schmerzen krümmte und schrie. Sie machten mich wütend, so unglaublich wütend. Was wussten sie schon über mich? Genau, nichts. Und doch behandelten sie mich als wäre ich Irgendein Aussätziger der eine Zirkusnummer aufführte. Nie hatten sie meine Wirkliche Gestalt gesehen und ich hatte immer all meinen Willen dazu aufbringen müssen um sie nicht alle sofort umzubringen. Doch ich spürte, dass ich es diesmal nicht schaffen würde. Viel zu lange hatte ich schon unter diesen Qualen gelitten. Viel zulange hatte ich mein Verlangen unterdrückt. Eine Welle von Schmerz zuckte durch meinen Körper und brachte meine größte Schwäche zum Vorschein. Nämlich meine Angst andere zu verletzen.
Maik hatte sich unbemerkt von mir herangewagt und legte mir eine Hand auf die Schulter, wie um mich zu trösten. Ich knurrte ihn lange und boshaft an und sank noch ein stück weiter in mich zusammen. „Ray, man, was ist mit dir los, alter? Das ist doch nicht normal?!“ Ich erwiderte nichts. Stattdessen schüttelte ich seine Hand ab und versuchte mich am Halteschild hochzuziehen. Gegen meinen Instinkt wusste ich, dass ich fliehen musste. Fliehen, bevor ich ein Blutbad anrichtete, das ich bereuen würde, obwohl die Menschen mir nichts bedeuteten. Frau Takaya war derweil beschäftigt hektisch auf ihrem Handy herumzutippen um einen Krankenwagen zu rufen. Sie war es auch, die sich mir abermals in den Weg stellte, als ich versuchte zu unser allem wohl zu fliehen. Ich hatte es derweil geschafft mich wieder halbwegs vernünftig hinzustellen und taumelte stark bei dem Versuch an Ihr vorbei zu kommen. Wie erwartet, taten meine Klassenkameraden nichts. Sie hielten das alles wahrscheinlich wieder nur für eine Unterhaltsame Show meinerseits, was mich allerdings recht wenig störte. Auf ihre Hilfe konnte ich sowieso sehr gut verzichten. Frau Takaya ging langsam auf mich zu, als wolle sie einem Wildgewordenen Tier zeigen, das sie nichts Böses wollte. Ich knurrte sie wütend an. Es war schon fast eher ein wimmern und meine Schreckgeweiteten Augen schienen sie zu verunsichern. „Ray?“ Ich blickte sie noch nicht einmal an sondern taumelte einfach an ihr vorbei Richtung Wald. Noch bevor ich diesen erreichte, packte sie mich am Arm. Ich spürte sofort, wie ich kreidebleich wurde und die Luft anhielt. Diese Frau wollte wohl unbedingt sterben?! Ich versuchte mich loszureißen, doch sie ließ nicht los. In meinem Zustand kam ich nicht mal mehr gegen eine Frau an! Ich fühlte mich in meiner Ehre gekränkt. Das alles war mir furchtbar peinlich. Ich wollte nicht, dass die anderen meine Schwäche sahen. „Ray, bleib hier! Der Krankenwagen ist gleich da! Du brauchst dringend Hilfe…“ schrie sie mich fast an. Augenscheinlich hatte sich ihre Angst in Wut verwandelt. Ich konnte es ihr nicht einmal verübeln. Doch ich wusste ich musste hier weg, bevor meine Richtige Gestalt zum Vorschein kommt. „ Ray, Ich weiß was du hast… ich kann dir helfen!“ Die Stimme meiner Lehrerin schien von weit her zu kommen. Ich glaubte ihr nicht. Sie hatte so leise gesprochen, dass nur ich es verstehen konnte, doch das schien mich keineswegs zu beruhigen. Hecktisch schaute ich hin und her ob Jemand vielleicht zugehört hatte. Maik kam gerade auf uns zugeeilt. „Frau Takaya, Frau Takaya, was ist mit ihm los, was hat er?“ Maik atmete laut ein und aus. Frau Takaya schien ihm nicht antworten zu wollen, doch dann sagte sie rasch: „ Nichts Maik, es ist nicht so schlimm! Geh jetzt bitte wieder zurück in den Bus!“ Derweil begann ich wild um mich zu schlagen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Es fühlte sich an, als würde ich zerrissen werden. Mit Herz und Seele. Mir war furchtbar heiß, das erste Anzeichen meiner Verwandlung. Ich würde nun immer Unmenschlicher werden und immer aggressiver. Wie ein richtiges Monster eben. Ich hatte Angst, denn nie zuvor hatte ich mich in aller Öffentlichkeit verwandelt.
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2009
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