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Herz verloren

Der Anruf kam in der Frühe. Er hatte gerade erst die Schicht begonnen. Er erinnerte sich noch genau daran, wie eine Frau ruhig und bestimmt einen Mord meldete.
“Wer ist das Opfer?”
“Mein Mann.”
“Wissen Sie, wer der Täter ist oder haben sie die Tat beobachtet?”
“Ja.”
“Bleiben Sie ruhig und verlassen sie nicht ihr Grundstück. Ich komme sofort vorbei.”
“Ich habe ihn umgebracht.” Dann legte sie auf. 

Er bestellte seine Kollegen zu der von ihr genannten Adresse und stieg selber in seinen Wagen und sammelte auf dem Weg seinen Partner ein, der wie immer zu spät war.
“Morgen Marti”, gähnte dieser, als er einstieg. “Was liegt an?”
“Morgen. Eine Frau hat gemeldet, sie hätte ihren Mann umgebracht.”
“Was für ein krankes Weib.”
Marti warf ihm einen bösen Blick zu. “Sie hat wahrscheinlich einfach nur ihre Schuldgefühle sprechen lassen.”
“Das glaubst du mein Freund, aber im Grunde sind alle Weiber Biester.”
“Ich glaube, du überlässt die Zeugenbefragung besser mir.”
“Tu, was du nicht lassen kannst.”

Er parkte an der Straße an einem netten, kleinen Häuschen mit sonnengelber Fassade und einem gepflegten Vorgarten.
Marti stieg aus und klingelte an der Tür, während sein Partner auf die anderen Kollegen wartete um sie einzuweisen.
Die Frau, die ihm öffnete, überraschte ihn. Er hatte eine aufgelöste Ehefrau erwartet mit verquollen Augen und tränenverschmierten Gesicht. Aber Nein. Hätte man es nicht besser gewusst, hätte sie ihn auch genauso gut zum Kaffeetrinken zu sich einladen können, er hätte keinen Unterschied bemerkt.
“Da sind sie ja. Kommen Sie herein, ich zeige Ihnen die Leiche.” Sie ließ die Tür offen und ging vorraus ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich auf das Sofa, das direkt neben ihrem toten Mann stand.
Marti räusperte sich und sah sich ein wenig umwohl um. Nichts deutete auf einen Kampf hin, nur der Körper am Boden und die Blutlache, die sich gebildet hatte.
“Wir können auch in ein anderes Zimmer gehen Mrs. -…?”
“Nennen Sie mich Debby.”
“Nun gut…Debbie. Sie müssen sich das nicht antun.”
“Nein nein. Machen Sie sich keine Umstände. Möchten Sie einen Kaffee?”
Er schüttelte den Kopf. Es musste der Schock sein. Oder sie verleugnete das Ereignis um wie normal weitermachen zu können.
“Debby, Sie sagten am Telefon, Sie wüssten, was passiert sei. Können Sie mir erzählen, was Sie wissen?”
“Ich habe ihn umgebracht. Mit meinen eigenen Händen.” Ohne mit der Wimper zu zucken sah sie ihn bei ihrem Geständnis an.
“Sie-… was?”
“Hören Sie mir überhaupt zu? Brauchen Sie vielleicht ein wenig frische Luft?”
Marti schüttelte wieder den Kopf.
“Nun gut, wie Sie wollen. Ich habe ihn zuerst betäubt, indem ich etwas in seinen Kaffee getan habe. Als er dann nicht mehr bei Bewusstsein war, habe ich ein großes Messer aus der Küche genommen und habe auf ihn eingestochen… Bestimmt zehn Mal, wenn nicht sogar mehr.”
Er schluckte. “Darf ich das als ein Geständnis sehen?”
“Das sollen Sie sogar. Und nun nehmen Sie mich fest.” Sie streckte die Arme aus, als erwartete sie, dass er ihr Handschellen anlegte.
“Aber warum, Debby? Was hat er Ihnen getan?”
“Ist das denn wichtig? Ich habe einen Menschen ermordet!”
“Ohne Motiv könnte man denken, sie würden jemanden decken.” So ganz stimmte das nicht. Er hätte sie einfach festnehmen können. Es war alles da: Die Leiche, die Todesursache war offensichtlich und ein Geständnis. Aber Marti konnte nicht glauben, dass eine nette Vorstadtfrau einfach so ihren Mann so kaltblütig ermordete. Da musste etwas faul sein, das sagte ihm sein Gefühl.
Debby seufzte. „Es gibt keinen Grund, warum ihn jemand ermorden sollte. Die Nachbarn werden Ihnen das bestätigen. Ich sage, ich habe es getan. Sie werden meine Fingerabdrücke auf der Kaffeetasse und dem Messer finden. Was wollen Sie denn noch?“
„Hat er Sie geschlagen? Sie müssen sich nicht dafür schämen. Das Gericht wird Ihre Umstände sicher bei dem Urteil beachten.“ Marti trat einen Schritt auf sie zu. „Hat er Ihnen weh getan, Debby? Sie können es mir sagen.“
Die frische Witwe schnaubte und lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Seien Sie kein Idiot, Officer. Wenn Sie müssen, können Sie mich untersuchen lassen. Aber Sie werden feststellen, dass ich bei bester Gesundheit bin und keine fragwürdige Verletzungen aufweise.“
„Womit hat er dann den Tod verdient?“
„Officer, ich bin eine kaltblütige Mörderin. Ich habe ihm das verdammte Messer in sein Herz gestoßen, immer wieder und immer wieder. Er hatte keine Chance sich zu wehren. Und jetzt verhaften Sie mich endlich.“
Ihm blieb nicht anderes übrig. Er klärte sie über ihre Rechte auf und führte sie zu seinem Wagen. 

Sein Partner war auch gerade fertig geworden und die Kollegen strömten ins Haus um den Tatbestand aufzunehmen.
„Das ist sie also?“, fragte sein Partner, als Debby im Auto saß.
„ Das ist sie. Sie hat alles gestanden. Hat mich praktisch darum gebeten sie festzunehmen.“
„Na dann ist ja alles klar. Fall gelöst. Wir können uns nachher noch einen Kaffee holen. Der auf dem Revier schmeckt wie Pisse.“
„Ich weiß nicht. Da stimmt irgendwas nicht.“, murmelte Marti.
„Unsinn. Sie ist eine Schwarze Witwe und fertig. Du siehst Dinge, die nicht da sind. Du bist einfach zu gutgläubig.“ Er klopfte Marti auf die Schulter und stieg auf der Beifahrerseite ein.
Marti seufzte, stieg ein und fuhr los. 

 

Sein Partner erwischte ihn am späten Nachmittag dabei, wie er ein Foto von Debby anstarrte.
„Du denkst doch nicht noch immer über diese Schlange nach?“
Marti bedachte seinen Partner mit einem bösen Blick. „Sie ist keine Schlange.“
„Das Biest hat ihren Eheman um die Ecke gebracht.“
„Aber da steckt mehr hinter. Ich weiß es.“ Marti betrachtete wieder das Foto. „Kommt Sie dir nicht irgendwie bekannt vor? Ich habe das Gefühl, ich habe Sie schon einmal gesehen. Ich weiß nur nicht wo…“
„Ach was. Das bildest du dir ein.“ Sein Partner ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und begann Papierkügelchen in den Papierkorb in der gegenüber liegenden Ecke zu werfen.
„Hast du ihren Mann überprüft?“
„Japp. Nichts auffälliges. Der nette Nachbar von nebenan. Immer hilfsbereit und freundlich. Die beiden wohnen erst seit ein paar Jahren in ihrem Haus. Sie haben auch keine Kinder und keine weiteren Verwandten.“
„Keine Verwandten?“
„Alle mausetot.“
„Sie hat also niemanden mehr.“
„Ja, dafür hat sie gesorgt.“
„Du bist ein Arschloch.“
Sein Partner zuckte mit den Schultern und begann wieder Papierkügelchen zu werfen.

In dem Moment kam eine aufgelöste Mutter hinein und meldete ihren Sohn vermisst. Das passierte öfter, als man glauben mag. Oft wurden die Kinder in wenigen Stunden gefunden, weil sich alles wieder von selbst aufklärte.
Aber Marti musste für jeden Fall eine Menge Papierkram erledigen. Als er den Bericht abheften wollte, fiel es ihm wieder ein. Jetzt wusste er wieder, wo er Debby schon einmal gesehen hatte.
Er schnappte sich seine Jacke und seine Autoschlüssel und stürmte zur Tür.
„Ey! Wo willst du hin?“, rief ihm sein Partner nach.
„Ich muss was erledigen!“ Marti verzichtete auf weitere Erklärungen. Sein Partner würde sowieso nicht gutheißen, was er tat.

 

Kurz darauf saß er Debby gegenüber. Sie schien nicht sehr erfreut über seinen Besuch zu sein.
„Officer, was tun Sie hier?“ Misstrauisch verschränkte Debby die Arme vor der Brust. Sie hatte sich ihre langen Haare abschneiden lassen und trug auch ihren Ehering nicht mehr.
„Ich weiß endlich, an wen Sie mich erinnert haben.“
Debby hob nur eine Augenbraue. Sie schien ihn eindeutig nicht zu mögen,
„Ich habe letztens eine Sendung im Fernsehen gesehen, bei der es um vermisste Kinder ging und wie sie wohl zum jetzigen Zeitpunkt aussehen könnten. Eine Simulation sah Ihnen sehr ähnlich.“
Debby erstarrte. Panik blitzte in ihren Augen auf bevor sie ihre Emotionen wieder hinter einer steinernen Maske versteckte. Doch sie blieb angespannt, ihre Hände krampfhaft zu Fäusten geballt.
„Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als dieses Mädchen verschwand. Damals sind viele Frauen verschwunden und nur einige wurden wieder tot aufgefunden.“ Marti beobachtete sie aufmerksam während er sprach. „Sie wären im richtigen Alter und wie ich schon gesagt habe, sehen Sie der Simulation sehr ähnlich. Nur ihr Name passt nicht. Das Mädchen von damals hieß Maria.“
„Verschwinden Sie!“, zischte Debby. „Lassen Sie mich in Ruhe. Ich will nichts von irgendwelchen Mädchen wissen.“
„SIE sind das Mädchen, nicht wahr? Sie sind Maria.“ Marti konnte es selbst noch nicht glauben, aber er war sich sicher, dass es die Wahrheit war.
„Was wollen Sie? Das hat nichts mit meinem Mord zu tun.“
„Wo waren Sie all die Zeit, Maria? Warum haben Sie sich nicht gemeldet?“
Debby durchbohrte ihn mit ihren eiskalten Augen. „Nennen Sie mich nie wieder Maria.“ Ihre Stimme bebte vor Erregung. „Ich heiße jetzt Debby und-…“
„Aber Sie hießen Maria! Ich wusste es.“, fiel er ihr ins Wort und sie sah aus, als hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen.
„Wenn das nun alles ist…“, sie machte Anstalten aufzustehen. Sie wollte vor ihm fliehen.
„Ich kann Ihre Eltern ausfindig machen und sie verständigen, wenn Si-…“
Debby war so schnell bei ihm, dass er nicht rechtzeitig reagieren konnte. Ihre Fingernägel bohrten sich in seine Kehle. Ihr Aufseher war sofort bei Marti und löste die wütende Furie von ihm.
„Wehe Sie sagen auch nur ein Wort! Ich bringe Sie um! Ich bringe Sie um!“, kreischte sie, während sie aus dem Raum gebracht wurde.
Verwirrt darüber, was gerade geschehen war, rieb er vorsichtig seinen Hals. Er konnte noch ihre Finger auf seiner Haut spüren.
Marti verstand ihre Reaktion nicht. Er hatte Freude oder Erleichterung erwartet. Vielleicht sogar Dankbarkeit, aber keine Morddrohung. Was hatte er übersehen?

Am nächsten Tag besuchte Marti Debby erneut.
„Ich denke, ich habe Ihnen schon gestern klar gemacht, dass ich Sie nicht sehen will, Officer. Das hat sich über Nacht auch nicht geändert.“
„Debby, wenn ich Sie in irgendeiner Weise beleidigt habe, tut mir das aufrichtig Leid.“
„Ich habe nachgefragt. Ich muss nicht mit Ihnen mit Ihnen reden. Der Fall ist abgeschlossen und ich muss nur noch auf meine Gerichtsverhandlung warten.“
„Das ist richtig. Trotzdem würde ich gerne mit Ihnen reden, Debby.“
„Ich aber nicht mit Ihnen. Hauen Sie ab.“
Marti versuchte es noch ein wenig länger, aber sie brachte nicht einziges Wort mehr über ihre Lippen. Seufzend verabschiedete er sich schließlich.
Auf dem Weg nach Hause dachte er an Debby. Sie hatte eine komplette Kehrtwende in ihrer Persönlichkeit durchgemacht, soweit er das beurteilen konnte. Von den Nachbarn wusste er, dass sie eine freundliche Frau gewesen war, die nie ein schlechtes Wort über jemand anderen verloren hatte. Sie war nicht dafür bekannt zu fluchen oder gewalttätig zu sein. Man hatte sie eher für den schüchternen Typ gehalten. Von all dem konnte Marti nichts mehr sehen.

 

Er fuhr am nächsten Tag in seiner Mittagspause wieder zu Debby. Als sie in den Besucherraum kam, stöhnte sie genervt auf und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.
„Guten Tag Debby. Wie geht es Ihnen?“, versuchte Marti es höflich, doch Debby hob nur eine Augenbraue und antwortete ihm nicht.
„Ich möchte nur mit Ihnen reden. Nichts von dem, was wir hier bereden, wird je den Raum verlassen. Das verspreche ich Ihnen.“
Sie schnaubte und wich seinem Blick aus.
„Ich werde jeden Tag hierher kommen und Sie auch im Gefängnis besuchen kommen bis ich meine Antwort habe.“
„Warum sind Sie so verflucht hartnäckig? Es geht Sie nichts an. Lassen Sie mich endlich in Ruhe.“
Ein kleiner Sieg, dachte er. Sie sprach wieder mit ihm.
„Damals… ist auch eine Frau verschwunden, die ich kannte. Ich habe nie wieder von ihr gehört.“
„Ihre Freundin? Schon mal daran gedacht, dass sie Sie einfach verlassen hat? Das kann ich mir nämlich gut vorstellen.“
„Nein, er war es. Der Frauenmörder. Ich weiß es genau.“
Debby seufzte und betrachtete ihre gepflegten Fingernägel. „Wenn das stimmt, ist sie längst tot.“
„Aber Sie leben noch Debby! Sie haben es irgendwie geschafft. Und vielleicht -…“
„Vergessen Sie es. Wenn Sie ein Opfer war, dann ist es mit ihr vorbei.“
„Aber-…“
Debby schlug mit der Hand auf den Tisch, sodass ihr Aufseher warnend einen Schritt heran trat.
„Sie ist tot! Sie sind alle tot! Kriegen Sie das nicht in ihren verdammten Schädel rein?“, herrschte Debby ihn an.
Marti schluckte. Für einen Moment war die Kälte aus ihren Augen gewichen und was er dahinter entdeckt hatte, bestürzte ihn. 

„Mensch Marti, der Bericht! Hörst du mir überhaupt zu?“ Sein Partner warf ein Papierkügelchen gegen seine Stirn.
„Was?“
„Der Taschendiebstahl. Du wolltest den Bericht schreiben. Wo ist der?“
„Ah… den hab ich noch nicht geschrieben. Mach ich gleich.“
„Was? Was ist denn los mit dir in letzter Zeit? Seit dem Fall mit der Schwarzen Witwe kann man dich zu nichts mehr gebrauchen.“
„Ich schreibe ihn gleich, ok?“, antwortete er ein wenig zu heftig und sein Partner hielt mit seinen Papierkügelchen inne.
„Scheiße, was ist dir denn über die Leber gelaufen?“
„Nichts. Alles in Ordnung. Tut mir Leid.“ Marti seufzte. „Schreib du den Bericht, ja? Mir geht es nicht gut.“ Damit stand er auf und verließ das Revier.

Es war vier Tage her seit Marti Debby zuletzt gesehen hatte. Demnach überrascht schien Debby auch, als sie wieder in das Besuchszimmer kam und ihn dort sitzen sah.
„Ich dachte, Sie kommen nie wieder, Officer.“ Sie setzte sich.
„Das dachte ich auch. Aber Sie lassen mir einfach keine Ruhe, Debby.“ Er lachte halbherzig „Erzählen Sie mir, was damals passiert ist und ich werde nie wieder kommen. Ich werde Sie in Ruhe lassen, so wie Sie es wollen.“
Debby betrachtete ihn eine Weile, schien zu überlegen, ob er die Wahrheit sagte und ob es sich lohnen würde, ihm das zu geben, was er verlangte.
„Niemand wird je davon erfahren?“
„Nur Sie und ich.“
„Schwören Sie es. Schwören Sie, mit niemanden darüber zu sprechen, und dass Sie nie wieder mit mir in Verbindung treten. Sie werden nie wieder ein Wort darüber verlieren.“
„Ich schwöre es.“
Debby atmetet hörbar aus und warf einen Blick auf ihren Aufseher. Marti verstand und gab dem Mann ein Zeichen. Zuerst wollte dieser, widersprechen, überlegte es sich dann aber anders und ging hinaus. Wahrscheinlich wollte er einfach keine Probleme. 

„Ich war damals 16 Jahre alt, als er mich entführte. Ich war die Jüngste. Eigentlich wäre er nicht auf Kinder aus gewesen, hatte er gesagt. Aber ich wäre schon so erwachsen, eine alte Seele. Das hätte ihn auf mich aufmerksam gemacht.“ Debby sah ihn nicht an, als sie zu erzählen begann.
„Er hat die Frauen gefoltert und schließlich getötet. Das wusste ich schon, ich war ja nicht blöd. Ich hab die Nachrichten gesehen. Aber die Polizei hat ihn völlig falsch verstanden. Er hat diese Frauen nicht gehasst oder stellvertretend für etwas büßen lassen.“ Sie lachte bitter. „Die Polizei hatte keine Ahnung. Er hat sie alle geliebt. Ihm ging es um Liebe.“
Debby schwieg eine Minute und Marti unterbrach sie nicht.

„Als er mich in sein Versteck brachte, waren noch drei andere Frauen da. Zwei waren in den Zwanzigern, die dritte war Ende dreißig. Ich hab sie schreien und weinen gehört. Ich hab sie beten und fluchen gehört. Und ich wusste, wir würden dort nie wieder lebend rauskommen.“ Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder.
„Er fing mit mir an, nachdem er die dritte Frau getötet hatte.“ Sie zuckte auf ihrem Stuhl zusammen. „Oh Gott, es tat so weh. Und er hörte nicht auf. Er gab uns Essen und Wasser, wir hatten ein warmes Bett und konnten uns waschen, aber wenn er uns weh tat, kannte er keine Gnade. Er rührte nie unsere Gesichter an, aber er tobte sich am Rest unserer Körper aus.“
Debby begann leicht zu zittern. „Ich wollte nicht sterben. Noch nicht. Ich wollte leben. Also habe ich alles getan um zu überleben.
Wenn er uns Essen brachte, suchte ich seine Nähe, berührte seine Hände, wenn er mir die Teller oder Schüsseln übergab. Ich habe ihm gesagt, dass ich es nicht ertragen würde, dass es auch andere Frauen neben mir gab. Wenn er mir Schmerzen zufügte, sagte ich kein Wort mehr. Ich schrie und weinte nur. Und als es vorbei war, bat ich ihn immer noch ein wenig bei mir zu bleiben.
Das gefiel ihm. Er strich mir manchmal beruhigend über den Kopf oder trug mich wie eine Prinzessin aus der Folterkammer in meine Zelle. Er sagte, er wäre so stolz auf mich, ich ertrüge seine Prüfung so tapfer.
Irgendwann bat ich ihn in seiner Folterkammer mich zu küssen. Ich habe ihn angefleht und gesagt, ich würde mich nach ihm und seiner Liebe sehnen. Dass ich ihn brauchen würde. Dass seine Distanz mir mehr Schmerzen bereiten würden, als meine körperlichen Wunden.
Er glaubte mir. Er küsste mich. Er sagte, er würde mich lieben. Ich müsse nur noch ein wenig länger durchhalten.
Beim nächsten Mal bat ich ihn mit mir zu schlafen.“

Debby schien in die Ferne zu sehen, ihre Stimme war nun etwas leiser.
„Es war mein erstes Mal gewesen. Ich hatte davor zwar einen Freund gehabt, doch wir waren nie diesen Schritt gegangen und dann hatten wir uns wieder getrennt.
Es tat weh. Der Schmerz saß mehr im Inneren als seine übliche Folter, aber er verlor schnell an Bedeutung. Sein Stöhnen und Keuchen war ganz nah an meinem Ohr, immer wieder sagte er, dass er mich liebte. Er kam nach kurzer Zeit.
Ich war so froh, als ich nach zwei Tagen meine Tage bekam. Er begann mir weniger weh zu tun. Da bat ich ihn, die zwei anderen Frauen loszuwerden. Ich würde ihn nicht teilen wollen, ich sei eifersüchtig, ob ich ihm nicht genügen würde.
Noch am selben Tag hat er beide Frauen getötet. Danach hat er nie wieder eine andere entführt.
Er wartete bis ich 18 Jahre alt war, dann heirateten wir. Er gab mir auch den Namen Debby. Neues Leben, neuer Name.“ Sie schwieg wieder eine Weile.
Sprachlos starrte Marti sie an.
„Danach hat er mir nie wieder weh getan. Er war ein komplett anderer Mensch geworden. Fürsorglich, freundlich und liebevoll. Er hat mich nie wieder misshandelt. Wahrscheinlich hat er wirklich geglaubt, dass wir uns liebten. Schließlich hatte er endlich seine Frau unter all seinen Opfern gefunden. Eine Frau, die seine Prüfung bestanden hatte, deren Liebe zu ihm größer war, als der Schmerz.

Erst Jahre später traute ich mich eine Flucht zu wagen. Ich zog eine Nachbarin ins Vertrauen, die etwas bemerkt hatte. Die arme dachte, ich wäre ein Opfer häuslicher Gewalt. Als ich ihr dann meine Geschichte erzählte, hatte sie mich entgeistert und angeekelt angesehen. Ich bin dann von allein gegangen, sie musste mich nicht bitten. Sie wollte mir nicht mehr helfen, das war mir klar.
Ich ging wieder zu ihm. Ich erzählte ihm, dass ich geredet habe. Sagte ihm, dass ich sie eigentlich überzeugen wollte, dass er ein guter Ehemann war und dabei auch unsere Geschichte erzählt habe. Er war mir nicht böse. Er hat mich in den Arm genommen, mich geküsst und sich über die falsche Schlange aufgeregt. Dann hat er mit mir geschlafen. Am nächsten Tag war die Nachbarin tot und wir sind umgezogen. Ich habe nie wieder mit jemand anderem darüber gesprochen.“ Sie warf einen Blick zur Tür, bevor sie weitersprach.

„Er wollte Kinder. Eine Familie. Aber ich nahm heimlich die Pille. Einmal ließ ich sogar abtreiben ohne, dass er davon erfuhr. Ich konnte einfach kein Kind von ihm bekommen. Aber er sprach immer öfter davon. Meine innere Uhr laufe ab, wir müssten mit der Planung beginnen.
Schließlich hatte ich einfach genug. Ich konnte nicht mehr. Ich konnte einfach nicht mehr.
Also hab ich ihn betäubt. Er hat ohne etwas zu ahnen seinen Kaffee getrunken. Dann habe ich das Messer aus der Küche genommen und es in sein Herz gestoßen. Aber das reichte mir nicht. Es war nicht genug. Also habe ich wieder zugestochen. Und wieder und wieder. Und jetzt ist er tot.“ Damit beendete sie ihre Geschichte. Noch immer sah sie Marti nicht an.

Stille. Debby sagte nichts mehr und Marti musste noch das Gesagte verdauen. 

„Aber… warum… Warum haben Sie dann den Mord gemeldet? Warum haben Sie gestanden? Sie wären frei gewesen.“

„Frei bin ich schon lange nicht mehr. Jeder muss für seine Sünden büßen und jetzt bin ich an der Reihe. Ich habe drei Frauen getötet und meinen Mann.“

„Ihr Mann hat die Frauen getötet.“

„Aber es war meine Schuld. Er hat sie meinetwegen getötet.“

„Warum haben Sie sich nicht bei Ihren Eltern gemeldet, Debby? Sie hätten Sie wieder aufgenommen. Sie suchen immer noch nach Ihnen.“

„Nein. Ich will nicht, dass sie es wissen. Maria ist damals in der Folterkammer gestorben. Deren Tochter gibt es nicht mehr. Ich bin schon so lange tot, Officer. Zuerst hat er mir mein Leben genommen, dann habe ich seins genommen. Und jetzt will ich endlich nur noch ins Gefängnis und meine Strafe antreten.“

„Sie könnten weniger Jahre kriegen, wenn man ihre Geschichte hören würde. Man würde sich um sie kümmern.“

„So wie meine Nachbarin sich um mich kümmern wollte? Nein, Officer. Das brauche und will ich nicht. Wissen Sie, die Menschen urteilen so schnell, obwohl sie nichts verstehen. Sie können nicht verstehen, dass ein Mädchen mit ihrem Peiniger schläft ohne sich zu wehren. Es ihm sogar anbietet. Dann ist es nämlich ihre eigene Schuld. Dann hat sie ihn nämlich dazu verführt. Sie ekeln sich und wollen nichts damit zu tun haben. Haben Sie daran gedacht, dass eine der drei Frauen vielleicht ihre Freundin war, Officer? Dann habe ich sie nämlich getötet.“

Er brauchte eine Weile um zu antworten.
„Ja, daran habe ich schon gedacht.“, gab er leise zu.

„Dann hassen Sie mich. Ekeln Sie sich vor mir. Gehen Sie nach Hause und machen Sie ihren Job. Aber kommen Sie nie wieder hierher. Sie haben es geschworen, Officer, und eigentlich sind sie ein ehrlicher Mensch. Niemand wird diese Geschichte je erfahren. Mit mir und Ihnen wird sie sterben und nichts wird je an uns erinnern.“

Marti konnte nur nicken. Sie saßen noch ein paar Minuten schweigend zusammen, bis Marti aufstand und sich verabschiedete.

„Kommen Sie gut nach Hause, Officer.“

„Auf Wiedersehen, Debby.“

Doch sie schüttelte den Kopf. Marti verließ eilig das Zimmer, der Aufseher sah ihm noch ein wenig neugierig hinterher.

 

Er fuhr schneller als es die Vorschriften erlaubten.
Zuhause wartete sein Partner auf ihn mit einer Kiste Bier.
„Du hast nicht abgeschlossen.“ Er reichte ihm eine Flasche. „Alles in Ordnung?“

Marti starrte das Bier in seiner Hand an. Schließlich nickte er.
„Ja, alles in Ordnung. Hast du mich beim Chef verpfiffen?“

„Was? Nur weil du mal früher abhaust? Unsinn, du bist doch mein Partner.“ Er stieß mit Marti an und sie sahen sich irgendeine billige Sitcom im Fernsehen an.
Er trank an diesem Abend mehr als sonst.

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Tag der Veröffentlichung: 03.03.2016

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