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Kapitel 1: Drachenflug


“Es ist ein großes Glück, wenn wir Fehlern, aus denen wir lernen können, möglichst früh begegnen”

- Meister Karanir

 

                                                                                                                                                                                                                                                                            Im Tiefflug rauschte der grüne Drache mit weit ausgebreiteten Flügeln über die Baumkronen des Fichtenwaldes und blickte suchend nach unten. Seinen scharfen Augen entging nichts zwischen den Ästen, den Stämmen oder dem Waldboden. Selbst bei völliger Dunkelheit konnte er alles genau erkennen. Auf seinem schuppigen Rücken saß ein junges Elfenmädchen mit schulterlangen, schneeweißen Haaren, einem ledernen Stirnband und langen spitzen Ohren. Auf dem Rücken trug sie einen Reiterbogen mit einem Fellköcher voller weiß gefiederter Pfeile. In ihrem rechten Lederstiefel hatte sie einen silbernen Dolch. Das Mädchen trug einen weißen Fellumhang und schien mit ihren grünen Augen ebenfalls etwas zu suchen, während sie nach unten in die Tiefe zu den Baumkronen sah.
Dichte Wolken bedeckten den Nachthimmel und es war rabenschwarz über dem Wald. Eisiger Wind heulte auf und wurde zunehmend stärker.
“Ferenia, das Sternenorakel hatte gesagt, dass wir den Feuerelementarkristall mit meinem künftigen Drachenreiter finden.”, sagte der Drache mit selbstsicherer Stimme. “Außerdem wirst du dich dort dem Kampf gegen die Suchenden stellen müssen.”
“Darauf habe ich aber keine Lust! Das Sternenorakel sagt viel. Den Feuerkristall zurückzubringen, ist erst mal das allerwichtigste!” sagte das Elfenmädchen und blickte sich sorgvoll um. “Irgendwo in diesem Wald zwischen den Bäumen muss er doch liegen!”
“Dieser Wald ist aber sehr groß!” seufzte der Drache.
“Das sehe ich auch! Aber ich habe weder diesen dämlichen Teleportationszauber erfunden, noch habe ich ihn durchgeführt!” erwiderte das Elfenmädchen.
“Wenn Ukkhar es nicht getan hätte, dann hätten jetzt die Schwarzmagier den Feuerkristall und dein Drache wäre jetzt tot, statt nur mit einem verletzten Bein davonzukommen!”
“Ja, ich hoffe, dass mein Drache bald wieder gesund ist.” sagte Ferenia. “Aber wenn wir den roten Kristall nicht finden, dann gelangt er sicher in falsche Hände.”

 

Im selben Moment fing es plötzlich an, heftig zu schneien und das Elfenmädchen rief entsetzt: “Oh nein, so werden wir den Kristall nie finden! falls er irgendwo da unten gelandet sein sollte, wird er jetzt zugeschneit. Verdammt!”
Ein Schneesturm zog herauf und golfballgroße Schneeflocken wirbelten umher. Der grüne Drache konnte sich kaum noch in dem immer stärker werdenden Wind halten. Die Fichten bogen sich schon tief, als die Böen durch das Astwerk jagten.
“Es hat keinen Zweck, Ferenia. Wir müssen irgendwo landen, auch wenn die Schattenwächter schon da sein sollten.”
“Willst du ihn wirklich zu Fuß suchen?” fragte das Elfenmädchen ungläubig.
“Wenn es sein muss, ja!”
Als der Drache über einen Hügel flog, schrie das Elfenmädchen plötzlich laut “Da! Da unten!”
Auch der Drache sah es. Zwischen den Bäumen am Waldboden leuchtete etwas rotes, für einen kurzen Moment sehr hell auf.
“Da ist der Feuerelementarkristall! Da liegt er!”

                                                                                                                                                                                                                                                                      Gerade als der Drache eine freie Stelle zwischen den Bäumen fand und zum Landen ansetzen wollte, tauchte hinter ihnen aus dem Himmel ein großer, schwarzer Schatten auf, der rasant durch die letzte Wolkendecke stieß.
“Achtung, ein Nakân!” rief Ferenia, doch es war schon zu spät.
Der große Schatten war ein fledermausartiges Etwas mit langer Schnauze, leuchtend gelber Augen und messerscharfen Zähnen. In der Elfensprache wurden sie >Nakân< genannt. Der Körper der Bestie war mit einem schwarzen Fell überzogen. Es wurde von einer großen dunkler Gestalt in schwarzem Umhang geritten. Die Kapuze hatte der Reiter tief über das Gesicht gezogen.
Das Ungetüm rammte dem Drachen in die Seite, sodass das Elfenmädchen abrutschte und seitlich in die Tiefe fiel.
“Ferenia!” rief der Drache entsetzt und schlug dem schwarzen Ungeheuer seinen Schwanz mit voller Wucht ins Gesicht.
Wütend fauchte dies.
Geschickt fing das Elfenmädchen im Flug einen Ast und klammerte sich daran fest. Als dieser sich bis kurz auf den Boden bog, ließ sie los, drehte sich zweimal rückwärts und landete geschickt mit den Füßen auf dem schneebedeckten Waldboden.
Bis auf ein paar kleine Kratzer war dem Elfenmädchen nichts passiert.
Auch der dunkle Reiter sprang von dem Ungeheuer und zog noch im Sturzflug sein Schwert. Er rammte es in einen Fichtenstamm und bremste so seinen Fall im Herunterrutschen ab.
Zehn Meter vor dem Elfenmädchen landete er geschmeidig und fast geräuschlos im Schnee. Die dunkle Gestalt richtete sich auf und hob das Schwert, das noch schwärzer als die Nacht zu sein schien.
“Gib mir den Feuerelementarstein, Elfenweib!” befahl die Gestalt mit einer kratzenden, tiefen Stimme. “Dann lässt dich der Zirkel vielleicht am Leben.”
“Warum sollte ich?” rief sie, während sie ihren Bogen von der Schulter nahm.
Der grüne Drache landete neben Ferenia und stellte sich schützend hinter sie.
“Verschwinde, du Monster!” fauchte er aggressiv und spuckte einen Feuerball auf die vermummte Gestalt.
“Aarn-Karom!” rief diese blitzschnell mit erhobener Hand und eine gläserne Schutzwand in Form einer Halbkugel bildete sich zwischen dem Drachen und dem schwarzen Reiter.
Das Drachenfeuer prallte wirkungslos davon ab und schlug in eine Fichte ein, die sofort in Flammen aufging.
“Wo ist der Feuerkristall!” rief die vermummte Gestalt noch mal und hob drohend das Schwert.
“Wir haben ihn nicht, das weißt du doch!” rief Ferenia. “Ukkhar umzubringen ist euch wohl nicht gelungen, was?”
“Doch, aber der dumme Zwerg hat den magischen Stein mit einem Zauber hierher teleportiert und du weißt ganz genau, wo er ungefähr hier ankam.”
“Ja,” sagte die Elfe, “aber lieber sterben wir, als es dir zu sagen!”
“Du hast es erfasst!“
Die dunkle Gestalt sprang auf das Elfenmädchen zu und wollte mit dem Schwert zuschlagen. Doch Ferenia war schneller und machte einen Sprung nach links.
Im Flug zog sie einen Pfeil aus dem Fellköcher, den sie auf dem Rücken trug, legte ihn an und schoss ihn der dunklen Gestalt in den Unterarm, während sie geschickt wieder auf ihren Füßen landete.
Die vermummte Gestalt gab ein grässliches Quietschen von sich und ließ das Schwert fallen. Pechschwarzer Rauch drang aus der Einschusswunde, als es den Pfeil aus dem Arm zog. Dann wandte sich der Diener der Finsternis wieder dem Elfenmädchen zu.
“Dafür wirst du zahlen!”
Er schlug mit seinem Schwert seitlich mit voller Wucht auf das Elfenmädchen. Doch sie war wieder schneller und sprang drei Meter nach oben, während sich das Schwert der dunklen Gestalt bis zur Hälfte in einen Fichtenstamm bohrte.
Der ganze Baum zitterte, als die vermummte Gestalt fluchend versuchte, es wieder herauszuziehen. Doch das gelang ihr zuerst nicht.
Ferenia landete wieder geschickt auf den Füßen neben dem grünen Drachen.
Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Das machte die dunkle Gestalt nun noch rasender vor Wut. Mit einem gewaltigen Magieblitz aus seiner Hand spaltete er kurzerhand den ganzen Baum und Holzsplitter flogen in alle Richtungen.
Ferenia sah nun erschrocken nach oben, denn ein Knacken von Ästen über ihr deutete darauf hin, dass sich das fledermausähnliche Monster der Schattengestalt anschickte, durch die Baumkronen und das Astwerk zu brechen um Ferenia am Boden zu zerquetschen.
Ein grässliches Fauchen und Knurren kam aus dessen schwarzer Kehle. Heißer Speichel tropfte aus seinem Maul und lief den Baumstamm herunter, wie Harz.
Taranûr hob seinen schuppigen Kopf und steckte mit seinem Drachenfeuer die Baumkrone in Brand. Wütend schrie das Monster auf, griff panisch um sich und flog schließlich mit angesengtem Fell wieder nach oben davon.
“Steig auf, Ferenia!” rief der Drache und stellte sich in Abflugstellung auf die Hinterbeine. “Den roten Kristall finden wir hier nicht. Ich glaube, er lag etwas weiter in der anderen Richtung.”
Ferenia machte einen großen Sprung und landete auf dem Rücken des Drachen.
“Nein!” schrie die Vermummte Gestalt und warf einen Dolch, der den Drachen am rechten Flügelgelenk traf und stecken blieb.
Dieser schrie kurz vor Schmerz auf, flog aber trotzdem los und verschwand mit dem Elfenmädchen im Schneesturm.
“ICH KRIEG EUCH NOCH!!” brüllte er zornig hinterher.

Das Elfenmädchen stellte entsetzt fest, dass Blut aus Taranûrs Wunde lief und sie sehr schlimm zu sein schien.
“Ich kann nicht mehr lange fliegen!” keuchte der Drache entkräftet. “Es tut so weh!”
“Halte durch, wir müssen erst mal den Kristall finden, dann suchen wir uns einen Unterschlupf.”
“Hier in dieser fremden Welt? Bist du sicher, dass das eine so gute Idee ist?”
Das Elfenmädchen seufzte. “Du hast kaum noch Kraft zu fliegen. Für die Öffnung des Portals zurück nach Hause reicht sie bestimmt nicht aus! Also lass uns erst mal einen Unterschlupf suchen, um deine Verletzung zu behandeln. Dann sehen wir weiter.”
“Oh, nein!” rief plötzlich der Drache entsetzt. “Genau hier unten lag vorhin der Kristall, bevor uns der Suchende mit seinem Nakân angegriffen hat.”
Das Elfenmädchen blickte nach unten. “Bist du ganz sicher, dass es hier war, Taranûr?”
“Ja, da wo die Tanne mit der abgeknickten Spitze steht, da lag der Elementarkristall.”
Doch dann stellte der Drache fest, während er über der Stelle kreiste, wo vorhin noch das rote Leuchten war, dass menschliche Fußabdrücke im Schnee zu sehen waren.
“Hier war jemand, der den Kristall mitgenommen hat!” rief der Drache.
“Dann folgen wir doch einfach den Fußspuren.” erwinerte Ferenia. “Und wenn wir den Mensch finden, wissen wir auch, ob das Sternenorakel Recht hatte.”

Wieder erklang in weiter Ferne ein Schrei. Ein entsetzlicher Zornesschrei, der nur von den Nakâns kommen konnte.

Kapitel 2: Der prophezeite Drachenreiter

                                                                                                                                                                                                                                                                             Ein kleiner Junge von fünfzehn Jahren fuhr zur selben Zeit gerade auf seinem Fahrrad, so schnell er konnte. Es war Ben und er war spät dran vom Nachmittagsunterricht aus seiner Schule in Gernsbach. Wie immer fuhr er den kleinen Feldweg am Waldrand von Gernsbach nach Neudorf, einem kleinen Nebenort, wo er wohnte. Es gab zwar auch eine asphaltierte Bundesstraße, doch der Feldweg war die schnellste Strecke zwischen den beiden Dörfern.
Heute war der vorletzte Schultag vor den Weihnachtsferien und längst war es schon dunkel geworden. Ben hatte Kopfschmerzen von den vielen Mathematikaufgaben und zu allem Übel zog jetzt auch noch ein Schneesturm auf, den er weder erahnt hatte, noch in den Wetternachrichten gestern Abend erwähnt wurde. Er konnte sich an einen ähnlichen Schultag vor vielen Jahren erinnern, als auch sehr viel Schnee fiel. Aber so kräftig wie heute hatte es noch nie geschneit.
Seine schwarze Wollmütze hatte er sich bis über die Ohren gezogen. Der Wind pfiff und wurde immer stärker. Jeder Tritt in die Pedale wurde schwerer.

Plötzlich erblickte Ben rechts im Wald, etwa 100 Meter neben dem Weg einen hellen roten Punkt, der nicht verging. Es sah auf den ersten Blick aus, als hätte jemand eine bengalische Fackel entzündet, denn der rote Punkt leuchtete so hell und intensiv, dass man ihn auch durch den Schneesturm sehr gut sah.
Ben beobachtete ihn erst eine Weile, dann siegte die Neugier. Er legte sein Fahrrad in den Schnee, weil sein Ständer kaputt war und stapfte durch den inzwischen schon knöchelhohen Schnee in den Wald.
Vorsichtig ging er zwischen den ersten Bäumen hindurch und näherte sich dem roten Punkt. Jetzt konnte er erkennen, dass etwa einen Meter um den leuchtenden Gegenstand herum keine einzige Schneeflocke auf dem Waldboden lag. Der Gegenstand musste folglich sehr viel Wärme abstrahlen.
Ben erkannte, dass es keine Bengalische Fackel, oder ähnliches war. Es war ein etwa tennisballgroßer roter Stein, der sehr, sehr hell leuchtete und ihn blendete.
Ben zog sich seine Handschuhe aus und berührte vorsichtig mit einer Fingerspitze den Stein. Er war sehr warm.
Vorsichtig nahm er ihn in die Hand und plötzlich hörte der Stein auf zu leuchten.
Vor Schreck ließ er ihn fallen, hob ihn aber gleich wieder auf. Er war immer noch angenehm warm.
Ben schaute sich kurz um, dann steckte er sich den Stein in die Jackentasche und zog sich wieder seine Handschuhe an. Der Schneesturm wurde immer stärker und stärker.
Wer lässt so was hier rumliegen? dachte er sich fragend und sah sich noch mal um. Außer den schemenhaften Bäumen war in der Dunkelheit aber nichts mehr zu erkennen. Er war spät dran und hatte Hunger. Deshalb beschloss Ben, so schnell wie möglich nach Hause zu gehen.
Der Schnee ging ihm schon fast bis zu den Knien und er musste erschrocken feststellen, dass er sein Fahrrad nicht mehr fand!
“Mist!” fluchte der Junge, während er sich in den Schneewehen umsah und teilweise wie ein Maulwurf darin schaufelte. Wenn es ganz blöd kommt, muss ich morgen mit Papas Minensuchgerät wiederkommen! dachte er sich mit Galgenhumor. Bens Vater hatte so ein Gerät, mit dem man Münzen und andere vergrabene Metallgegenstände orten konnte. Schatzsuche war früher mal sein Hobby, doch seit Jahren lag das Suchgerät eingepackt auf dem Dachboden.
Es schneite inzwischen so sehr, dass man keine 50 Meter weit mehr sah. Dicke Flocken wirbelten in einem ungeheuren Tempo an ihm vorbei.
Ben wollte sich schon zu Fuß auf den Heimweg machen, da hörte er auf einmal ein lautes Rauschen in der Luft. Er blickte nach oben und traute seinen Augen nicht. Was er da sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln, doch es war da..
Eine riesige grüne Gestalt, mit fledermausähnlichen Flügeln flog zwei Meter über seinen Kopf und krachte fast ungebremst in die Schneewehen.
Der Schnee wirbelte meterhoch in den Nachthimmel und landete teilweise auf Ben.
“Was zum Teu-”
Mehr brachte Ben nicht heraus, denn er erkannte nun, dass das Wesen ein Drache war! Seine grünen Schuppen schimmerten wie Smaragde. Er richtete sich schwerfällig auf und sah sich um.
Ein Mädchen in einem weißen Fellumhang sprang vom Rücken des Drachen ab und begutachtete dessen Verletzungen.
Ben trat mit klopfendem Herzen näher und traute seinen Augen nicht. Es war ein großer, grüner Drache! Seine Schuppen leuchteten wie Smaragde und seine Augen waren leuchtend gelb mit katzenähnlichen Pupillen. Sein Kopf hatte zwei große, geschwungene Hörner und eine Reihe von Stacheln zog sich von dort über die Wirbelsäule bis zur Schwanzspitze hin. Seine fledermausähnlichen Flügeln hatten eine Spannweite von mindestens zwölf Metern.
Der Kopf des Drachens fuhr plötzlich herum und blickte Ben an, dem das Herz hörbar bis zum Hals schlug.
Ohne zu wissen, was er tat, holte er den roten Kristall aus seiner Jackentasche, der augenblicklich hell zu leuchten anfing und hielt ihn sich schützend vor sich.
Der Schnee auf dem Feld leuchtete rot wie Blut, als er das helle Licht des Steines einfing.
Der Drache schnaubte. “Stehen bleiben, Mensch!”
Dem Jungen stockte der Atem.
“Der Sprachzauber scheint zu wirken! Nun hat sich die Prophezeiung also erfüllt!” sagte der Drache und ging auf Ben zu. Das Elfenmädchen folgte ihm. Ben erkannte, dass sie lange, spitze Ohren hatte und messerscharfe Eckzähne. Ihm schauderte es.
“Du bist also der künftige Drachenreiter, den das Sternenorakel vorausgesagt hatte.” sagte sie und blickte den Jungen mit ihren grünen Augen an.
Ben stand da, mit dem leuchtenden Stein in der Hand und brachte keinen Ton heraus. Sein Puls raste wie wild und ihm war so heiß, dass er die Winterkälte gar nicht mehr spürte.
“Ich bin Ferenia. Taranûr ist verletzt und braucht Hilfe.” fuhr das fremde Elfenmädchen fort. “Außerdem werden wir verfolgt! Du kennst dich doch hier aus. Kannst du uns helfen?”
Ben starrte das Elfenmädchen an und brachte keinen Ton heraus.
“Verstehst du die Sprache, die ich spreche?”
Jetzt nickte Ben, immer noch irritiert. Was sollte er sagen? Konnte er den beiden Gestalten trauen? Oder würde ihn der Drache gleich bei der nächst besten Gelegenheit auffressen?
“Ähm, j-ja”, stammelte der Junge nach einer kurzen Pause verlegen, “ich v-verstehe dich und ihr beide k-könnt vorerst b-bei u-uns in der S-scheune Unterschlupf finden. Dort f-findet euch vorerst keiner und ihr seit erstmal g-geschützt.” Die Worte verließen ganz von alleine seinen Mund, bevor Ben überhaupt merkte, was er sagte.
Ferenia sah Taranûr an. “Du hast Recht, der Sprachzauber von Meister Karanir scheint zu wirken. Das Menschenkind versteht unsere Sprache jetzt. Wir sollten mit ihm mitgehen und zu allererst einen Unterschlupf finden.”
Der Drache nickte zustimmend. “Mein Flügel tut so sehr weh,” sagte er. “Ich kann ihn kaum mehr bewegen!”
“Wo geht es lang?” fragte das Elfenmädchen, während sie immer wieder voll Sorge in den Himmel blickte.
“Folgt mir. Wir gehen aber einen kleinen Umweg nach Hause.” rief Ben, der inzwischen seine Stimme wieder gefunden hatte.

Der Weg nach Hause erwies sich als schwieriger, als sie alle gedacht hatten. Der Schneesturm ließ zwar endlich etwas nach, doch Ben musste am Waldrand um das ganze Dorf herumgehen, um nicht von irgendwelchen Leuten entdeckt zu werden. Er konnte ja schließlich nicht einfach mit einem Drachen mitten durchs Dorf spazieren!
Der ganze Weg bis zu Bens Zuhause dauerte fast eine Stunde, denn der Schnee war auch auf den Waldwegen knietief und durchsetzt mit Zweigen. Die Äste der Bäume über dem Waldweg konnten die Schneelast nicht mehr halten und brachen gleich mit hinunter.
Mehrmals mussten sie einen Umweg nehmen, da zum Teil ganze Bäume umgeknickt waren und den Weg versperrten. Doch schließlich schafften sie es und erreichten das hinterste Ende einer kleinen Wohnsiedlung.
Bens Eltern hatten dort ein Haus mit einem kleinen Feld, auf der ein großer Schuppen stand. Von hinten schlichen sie sich durch den Wald an den Pferdekoppeln vorbei, bis zu dem großen Schuppen, den Bens Eltern verpachtet hatten. Er war groß, hatte einen rotbraunen Anstrich und zahlreiche Astlöcher in den Brettern, durch die der Wind pfiff. Im Winter werden darin die Landwirtschaftsmaschinen der Bauern und Pächter gelagert, die hier in unmittelbarer Nähe keine Scheune zum Lagern ihrer Maschinen hatten.

Ben wusste, dass sich der Schlüssel hinter der blauen Regentonne neben dem Tor befand. Der Junge öffnete damit beide Türen der Scheune und ließ Ferenia mit Taranûr eintreten. Der Drache passte problemlos herein. Der Junge nahm eine große Petroleumlampe von einem rostigen Nagel und entzündete sie.
In der Scheune stand allerlei Gerümpel. Zwei Traktoren, mehrere Mähdrescher, die mit Tüchern abgedeckt waren, und unzählige Holzkisten. Es gab nur zwei kleine Fenster am anderen Ende und keinen elektrischen Strom.
“Hier seit ihr vorerst sicher!” sagte Ben und sah sich um. Ferenia untersuchte Taranûrs Verletzung.
Der Drache brüllte kurz auf, als Ferenia mit einem Ruck den Dolch aus seinem Flügelgelenk zog.
Angeekelt warf sie ihn auf den lehmigen Boden. Ein Zischen ertönte, als sich die Waffe plötzlich in eine schwarze Rauchwolke auflöste.
“Scarennica!” fluchte sie.
Ben holte indessen aus dem Traktor einen Erste Hilfe Kasten, von der Werkbank eine Flasche Alkohol und betrachtete fürsorglich die Wunde des Drachen.
“Das wird jetzt ein bisschen wehtun, aber es muss sein!” sagte Ben und goss etwas Alkohol über die Einstichwunde.
Taranûr zuckte kurz zusammen und wimmerte etwas, als sich die brennende Flüssigkeit über die Wunde verteilte. Dann legte Ben einen dicken Verband um die Verletzung und fixierte es mit Pflasterband.
“Danke, Kleiner!” sagte Taranûr und stupste Ben mit der schuppigen Schnauze an.
“So, das muss vorerst reichen. Wie lange dauert die Verheilung?”
“Drachen erholen sich sehr schnell. In einer Woche etwa wird man davon nichts mehr sehen.” sagte Ferenia.
“Ich muss jetzt rüber zu meinen Eltern. Die machen sich sicher schon Sorgen!” stellte Ben fest. Er stellte die Petroleumlampe vor den Drachen, der sich auf den Boden gelegt hatte.
“Ich sollte euch euren Kristall lieber wieder zurückgeben.” meinte Ben und streckte seine Hand aus. Doch weder der Drache noch Ferenia machten Anstalten, ihn entgegenzunehmen.
“Nein Ben, das Sternenorakel sagte, der künftige Drachenreiter muss ihn immer bei sich tragen. Er schützt dich und leuchtet auf, wenn Gefahr droht.” sagte das Elfenmädchen.
“Welche Gefahr?”
“Ben, einige äußerst unangenehme Gestalten sind uns durch das Portal in deine Welt gefolgt, als wir den Kristall suchten.”, warnte Ferenia Ben. “Es sind Gestalten in schwarzen Umhängen, die man >Die Suchenden< nennt. Sie sind Meuchelmörder und Handlanger des Zirkels. Meist reiten sie die Nakâns, das sind große, haarige Flugwesen. Wenn du sie siehst, dann lauf um dein Leben!”
“Werde ich. Aber ich muss jetzt wirklich zurück, sonst suchen mich meine Eltern noch. Aber ich schau nach euch, sooft ich kann!” sagte Ben und stand auf.
“Pass auf dich auf, Kleiner!” sagte der Drache noch.
Der Junge schlich sich aus der Scheune und schloss das Tor. Tausend Gedanken jagten ihm durch den Kopf und es kam ihm alles wie ein Traum vor, aus dem er vielleicht jeden Moment erwachte.
Ben sah sich kurz um und eilte durch den großen Hintergarten. Dann ging er um das Haus herum, das mit Weihnachtslichterketten an der Fassade und den Fensterrahmen beleuchtet war.
Ein letzter tiefer Atemzug, dann trat Ben mit dem Schulrucksack auf dem Rücken zur Vordertür ein.


“Na endlich! Wo um Gottes Willen warst du so lange? Ich hab mir schon Sorgen gemacht!” kam schon die vorwurfsvolle Antwort von seiner Mutter, die mit einer Kochschürze um die Taille aus der Küche kam. “Und wie siehst du denn aus!? Nass und dreckig!”
“Der Schneesturm kam so plötzlich und hat mich auf dem Weg hierher überrascht!” sagte er mit einer absichtlich mitleiderregenden Stimme.
Aus der Küche kam kurz darauf ein Brummen: “Jetzt lass doch das Kind mal in Ruhe, Schatz. Ich hatte es auch sehr schwer, mit dem Auto hierher zu kommen.”
Ben war seinem Vater dankbar, dass er ihn mal wieder in Schutz nahm. Was sollte Ben auch anderes sagen? Er konnte ja schlecht seinen Eltern mitteilen, dass er einem Drachen und einem Elfenmädchen begegnet war und diese jetzt vorübergehend in ihrer Scheune wohnten!
“Zieh deine nassen Sachen aus und dusch dich! Das Abendessen ist in 5 Minuten fertig!” sagte seine Mutter und ging wieder in die Küche zurück. Aus dem Wohnzimmer hörte Ben leise die Fernsehnachrichten.
Hastig eilte er in sein Zimmer, dass oben im Dachgeschoss lag und zog seine durchnässten Sachen aus. Er betrachtete den Feuerelementarkristall und legte ihn unter sein Kopfkissen.
Dann schlüpfte er geschwind, nachdem er kurz unter die Dusche sprang in seinen Jogginganzug und eilte wieder in die Küche hinunter.
Bens Vater, ein großer, schlanker Mann mit Schnauzbart und Halbglatze saß schon am Tisch und goss sich Mineralwasser ein. Er kam selbst gerade vor 15 Minuten von der Arbeit.
Bens Mutter war ein bisschen kleiner mit schulterlangen blonden Haaren und grünen Augen. Sie hatte die Verspätung der Beiden schon geahnt und das Abendessen extra etwas später gerichtet.
Es gab panierten Fisch.
Die ganze Zeit musste er an den Drachen denken, der verletzt in der Scheune saß. Am liebsten wäre er jetzt bei ihm, obwohl er dem fremden Wesen noch nicht so recht traute. Hoffentlich sahen seine Eltern in den nächsten Tagen nicht dort nach!
Dies war zwar äußerst unwahrscheinlich zu dieser Jahreszeit, doch ein gewisses “Restrisiko” blieb immer.

“Wie war dein Nachmittagsunterricht?” fragte sein Vater während dem Essen. Er sah den jungen nicht einmal an, sondern sortierte geistig halb abwesend mehrere Akten.
“Geht so.” antwortete Ben tonlos, während er lustlos mit der Gabel im Fisch bohrte. “War total langweilig und die Hälfte der Klasse hat gefehlt. Auf dem Weg nach Hause fing es ganz plötzlich an zu schneien.”
“Sei froh, du warst wenigstens nicht mit dem Auto unterwegs. Alleine zwischen Karlsruhe und Rastatt gab es schon drei Unfälle und die Räumdienste fahren Sonderschichten.” sagte der Vater. “Ab morgen Mittag hast du ja Weihnachtsferien!”
“Jetzt hat es aber wieder aufgehört zu schneien!” stellte Bens Mutter fest und zog die Gardine am Fenster zurück.
“Gut! Wenn vielleicht kann ich dann morgen doch mit dem Auto zur Arbeit!” entgegnete der Vater.
Ben rührte den Fisch auf seinem Teller nicht an. Vielleicht mochte ihn ja der Drache essen.

Es war kurz vor 9 Uhr abends und Bens Eltern saßen satt vor dem Fernseher, als er sich leise mit etwas Essen in einem Korb, dem Elementarkristall in der Tasche und einer Decke aus dem Haus zur Scheune schlich. Seine Mutter hatte viel zuviel Fisch paniert und deshalb nahm Ben die letzten fünf mit. Er wusste nicht, ob der Drache sie fressen würde.
Ben schlüpfte durch das große Tor und verriegelte es von innen. Hier drinnen war es kaum wärmer und der Junge fror am ganzen Leib. Er legte sich die Decke enger um den Körper und setzte sich im Schneidersitz vor den Drachen .
Den Elementarkristall legte er mit den Speisen vor sich hin. Der Drache roch den Fisch.
“Für mich?” fragte der Drache.
“Ja, du hast doch sicher Hunger.”
“Und wie!” entgegnete Taranûr freudig, als er die panierten Fische nacheinander herunterschluckte, die Ben ihm ins Maul legte. Der Junge musste dabei grinsen.
“Ich weiß leider nicht, was Elfen gerne essen”, bemerkte Ben, “aber such dir aus dem Korb aus, was du magst.”
Ferenia sah sich die Sachen an. Dann nahm sie sich zwei Äpfel und eine Flasche Orangensaft, die sie vergeblich zu öffnen versuchte.
“Du musst die Verschlusskappe nach links drehen!” sagte er grinsend. Schließlich schaffte Ferenia das, was für Tim ganz alltäglich war.
Eine Weile saßen sie zu dritt am Boden um die Petroleumlampe und den Feuerkristall herum und aßen. Ben zögerte eine Weile, bevor er fragte: “Was meintet ihr damit, als ihr sagtet, ich wäre der prophezeite Drachenreiter?”
Der Drache senkte seinen Kopf auf Bens Augenhöhe und sagte: “Die Welt aus der wir kommen, ist in großer Gefahr! Eine Gruppe Schwarzmagier, die man >Den Zirkel< nennt, versucht die Herrschaft zu erringen. Es sind 4 der mächtigsten Magier, die sich der Schattensseite angeschlossen haben. Wenn sie die 4 Elementarsteine in ihre Hände bekommen, hätten sie nahezu unbegrenzte Macht!“
Ben runzelte ungläubig die Stirn “Magier?”
“Wir Drachenreiter versuchen mit allen Mitteln, den Zirkel zu zerschlagen!” fügte Ferenia hinzu. “Doch leider gibt es von uns Drachenreitern nicht mehr viele. Die meisten von uns wurden getötet, sind ins Exil geflohen oder haben sich dem Zirkel angeschlossen. Das Sternenorakel hatte uns mitgeteilt, dass wir zur Vernichtung des Zirkels die vier Kristalle der Elemente brauchen. Feuer, Wasser, Erde, Luft. Diese Steine enthalten die reinste magische Kraft der Elemente. Eine nahezu unerschöpfliche Energiequelle! Einen der Kristalle hast du gefunden.”
Ben nahm den blutroten Kristall in die Hand und betrachtete ihn. “Wo sind die anderen drei?”
“In unserer Welt Eomar an den gefährlichsten Orten!” sagte Taranûr. “Der Feuerelementarkristall kam durch einen Zufall in deine Welt, Ben. Ein schiefgegangener Teleportationszauber ist schuld daran. Einen solchen Zauber wendet man nur an, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Leider kam der Stein nicht dort an, wo er sollte.”
“Zauber? so was wie Magie gibt es doch gar nicht!” sagte Ben.
Ferenia und der Drache sahen sich gegenseitig an und lachten laut.
Nach einer Weile blickte Taranûr Ben an. “Glaubtest du an Drachen, bevor wir uns begegnet sind, Kleiner?”
Ben schüttelte den Kopf.
Ferenia fuhr sich mit der Hand durch die schneeweißen Haare und sagte: “Der Orden der Drachenreiter hat mich beauftragt, den Feuerelementarkristall zu finden. Aber mein eigener Drache Xalathar konnte leider nicht mit. Das Sternenorakel sprach von einer Prophezeiung: >Es wird ein neuer Drachenreiter aus einer anderen Welt die Elementarsteine finden und sie zusammentragen. Und es wird dein Reiter, Taranûr!<
Ben blickte den Drache an und sagte: “Ich bin der erwählte Drachenreiter und du bist mein künftiger Drache?”
Die Elfe und der Drache nickten.
Diesmal war es Ben, der jetzt hintenüber fiel und sich vor Lachen den Bauch hielt. “Hahaha, das kann nicht sein, das ist unmöglich! Ich bin ein ganz normaler 15 jähriger Junge. Ich kann nicht weg in eure Welt. Ich habe hier ein Leben! Nächstes Jahr will ich mit Meinen Eltern nach Australien.”
“Ben, du bist in Lebensgefahr!” rief das Elfenmädchen und blickte dem Jungen mit ihren grünen Augen ernst an. “Die Suchenden sind schon hier und werden dich finden und töten. Denn der Zirkel hat sie beauftragt, den künftigen Drachenreiter ausfindig zu machen und ihn kaltzustellen, bevor er mit seinem Drachen den Seelenschwur eingeht!”
Ben richtete sich wieder auf. “Was ist ein Seelenschwur?”
“Der Seelenschwur ist ein elementares Bündnis zwischen Drache und Reiter. Einmal abgelegt, sind eure Seelen und eure Gedanken für immer eins. Wenn wir in Mûrin Tar, der Schule der Drachenreiter ankommen und du deine Ausbildung beginnst, wirst du ihn mit Taranûr ablegen.” sagte Ferenia. Morgen bringen wir dir bei, wie du Magie benutzt und lehren dir die Grundkenntnisse des Kampfes.”
Ben nickte unsicher.
“Dann, wenn meine Verletzung geheilt ist, müssen wir wieder zurück!”
Ben fragte verwundert: “Was soll ich meinen Eltern sagen? Dass ein Drache mit mir wegfliegen will? Die würden mich für verrückt halten!”
“Am besten, du sagst erstmal gar nichts!” entgegnete Taranûr. “Benimm dich ganz normal und unauffällig. Gehe morgen normal deinem Alltag nach und tu so, als wäre nichts gewesen. Denke dir vorher was aus, wenn du mit uns mitkommst!”
Ben seufzte. Einerseits hatte er Angst, doch anderseits… Hunderte Gedanken flogen durch seinen Kopf, während er die Scheune verließ und wieder zu sich nach Hause ging.

Kapitel 3: Schulferien



“Anpassung ist Feigheit!” - Ben


Ben öffnete träge ein Auge, als sein Funkwecker piepte. Jeden Morgen die selbe Prozedur!, dachte sich der Junge, als er die Nervensäge mit einem Druck auf den Knopf zum Schweigen brachte. Heute war endlich der letzte Schultag vor Weihnachten, doch wie gerne wäre er jetzt in seinem warmen Bett geblieben! So warm, so weich…
Mann war das ein komischer Traum gestern! dachte er sich und richtete sich im Bett auf. Seine dunkelblonden Haare standen in alle nur erdenkliche Richtungen. Drachen? Elfen? - Verrückt!
Nun aber spürte Ben etwas sehr warmes in seiner Hand und stellte fest, dass er den blutroten Kristall noch immer festhielt.
Nein! Das kann nicht sein! Es war doch nur ein Traum!


Ungläubig betrachtete er den roten Kristall. Dann sprang er aus dem Bett und schaute aus dem Dachfenster zur großen Scheune am Waldrand rüber. Jetzt wurde er auch so langsam wieder richtig wach und all die Erinnerungen von gestern kamen ihm wieder ins Bewusstsein: Der grüne Drache, der vor ihm landete, das Elfenmädchen und der blutrote Kristall, den er um jeden Preis beschützen sollte…..
Bisher hatte Ben immer geglaubt, dass Drachen und Elfen nur in der Fantasie existieren, doch jetzt hatte er diese Wesen in der Scheune. Jedem Mensch, dem er das erzählte, würde ihn für verrückt halten!
Der Drache hatte Recht, dachte sich Ben. Ich sollte das alles erstmal für mich behalten!


Draußen war es noch stockdunkel und sehr kalt. Er musste sich schnellstmöglich um Ferenia und den Drachen in der Scheune kümmern und das Wichtigste: Dafür zu sorgen, dass seine Eltern nichts erfahren!
“Ben, aufstehen!” rief schon im selben Moment seine Mutter von unten das Treppenhaus herauf.
“Ja, ich komme gleich!” rief er mit verschlafener Stimme zurück.
Er zog sich schnell an und steckte den roten Kristall in seine Jackentasche. Ferenia, das Elfenmädchen hatte ja gesagt, er solle ihn immer bei sich tragen.
Noch gähnend ging Ben die Treppe hinunter in die Küche, wo sein Vater schon mit dem aufgeklappten Laptop am Tisch saß. In der anderen Hand hatte er seine Zeitung. Bens Mutter goss gerade Kaffee ein. Ben trank morgens fast immer Milch oder Orangensaft. Er konnte nicht verstehen, was Erwachsene an diesem Kaffee fanden und sich den ganzen Tag damit vollaufen ließen. Zahlreiche Werbeprospekte lagen auf dem Küchentisch neben einem Adventskranz. Auf einem Küchenschränkchen spielte leise ein Radio.

Ben setzte sich an den Frühstückstisch und nahm sich Müsli und Milch.
“Guten Morgen.” sagte er mit müder Stimme. Seine Haare standen noch immer wild und zottelig durcheinander.
“Aha, der Herr kommt auch mal aus den Federn und beehrt uns mit seiner Anwesenheit.” sagte Bens Mutter spöttisch. “Wenn er sich vorher noch bitte ins Badezimmer begeben würde um seine Frisur menschlich zu machen.”
Ben hasste es, wenn sie sich so zynisch ausdrückte. Es hörte sich grauenhaft an!
“Ist ja gut!”
Er stand auf, ging aus der Küche durch den Flur ins Badezimmer neben der Hauseingangstür.
Immer noch den Halbschlaf in den Augen, tastete er erst eine Weile nach dem Lichtschalter. Als er vor den ovalen Spiegel trat, um sich mit einem Kamm seine dunkelblonden Haare wieder zu einem Mittelscheitel zu kämmen, fiel dieser ihm plötzlich vor Schreck ins Waschbecken. Was Ben sah konnte er einfach nicht glauben. Es war nicht möglich und nicht erklärbar, aber es war so: Bens obere Eckzähne waren ein kleines Stück gewachsen! Zitternd vor Schreck dachte er sofort an das Elfenmädchen. Auch sie hatte ja solche spitzen Eckzähne, nur waren sie etwas länger. Zuerst regte sich wieder in seinem Unterbewusstsein der Verdacht, es handle sich um einen schlechten Traum. Doch er zweifelte langsam aber sicher immer mehr daran.
Vorsichtig hob er seine Haare und stellte fest, dass sich auch seine Ohren etwas verändert haben und nun nach oben ein wenig spitz zuliefen.
Ben schüttelte ungläubig den Kopf.
Oh nein, was passiert mit mir?, dachte er sich mit Entsetzen. Hat mich der Drache so zugerichtet? Oder die Elfe? Oder irgend ein Zauber?


Vorsichtig betastete Ben wieder seine Eckzähne, die sehr spitz und scharf waren.
“Ben kommst du heute noch? Dein Müsli wird matschig!” rief plötzlich seine Mutter durch den Flur.
Erschrocken zog Ben den Finger aus dem Mund.
“Äh- ja, sofort!”
Er kämmte sich die Haare so zurecht, dass man seine Veränderung an den Ohren nicht sah und nahm sich fest vor, heute nicht zu lachen. Dann sollte man mit etwas Glück auch seine spitzen Eckzähne nicht sehen. Außerdem nahm er sich noch vor, bei der nächstbesten Gelegenheit den Drachen diesbezüglich zur Rede zu stellen.
Unsicher und mit klopfendem Herz ging er in die Küche zurück.

“Es wird echt immer schlimmer!”, sagte Bens Vater, als er die Zeitung durchlas. “Immer mehr Überwachung in diesem Land. Online-Durchsuchung, Vorratsdatenspeicherung, automatische Kennzeichenerfassung, Einwohnermelderegister, lebenslange Steuernummer, Fingerabdrücke im Ausweis, Betonpoller vor Weihnachtsmärkten usw. Aber die Grenzen offen wie ein Scheunentor. Das muss mal einer verstehen!”
Er schüttelte verärgert den Kopf, während er Kaffee in seine Tasse nachgoss. “Ich bin kein Terrorist, oder Krimineller. Ich habe nichts zu verbergen. Trotzdem gefällt es mir nicht, unter Generalverdacht gestellt zu werden. Es gefällt mir nicht, dass der Staat mein komplettes Kommunikationsverhalten nachvollziehen kann. Natürlich behauptet die Regierung, dass es sich bei den verfassungswidrigen Online-Durchsuchungen nur um >einige wenige Fälle< handelt, aber wir alle wissen doch, dass das reine Ansichtssache ist. Wenn ich bei 82 Millionen Bürgern von >einigen Wenigen< spreche, ist das was ganz anderes, als bei 20 oder 30 Personen.”

Oh ja, das kannte Ben! Jeden Morgen, wenn er frühstücken wollte, regte sich sein Vater unnötig über Dinge in der Zeitung auf. Wenn sie im Sommer auf der Veranda im Garten frühstückten, motzte er manchmal so laut, dass sein Nachbar Herr Müller über den Zaun sah. Dann ließen beide Kraftausdrücke los, die Ben selbst niemals sagen dürfte.
“Wenn in unserem Land die Demokratie scheibchenweise zerlegt wird, warum tut dann keiner was dagegen?” fragte Ben.
Sein Vater sah ihn an und zog eine Augenbraue hoch. “Weil die meisten Bürger in diesem Land doch nicht fähig sind, mit einer Stimme zu sprechen. Ganz nach dem Motto: >Mein Haus, mein Auto, mein Gartenzaun. Alles dahinter interessiert mich nicht!“

"Ja, das stimmt irgendwo. Anpassung ist Feigheit.“ sagte Ben, während er in seinem Schulrucksack herumwühlte. Hoffentlich schreiben wir heute am letzten Schultag nicht noch eine Arbeit! dachte er sich. Das würde mir jetzt noch fehlen.
“Mann war das gestern ein Schneesturm!” bemerkte sein Vater nun, als sich Ben wieder dem Frühstückstisch zuwandte. “Fast alle, die mit dem Auto unterwegs waren, steckten fest und die Räumdienste kamen gar nicht mehr hinterher.”
“Wie wollt ihr heute zur Arbeit kommen?” fragte Ben und stellte erschrocken fest, dass seine Stimme auf einmal sehr zitterte. Die Eltern schienen es aber nicht zu merken.
“Mal schauen. Wenn es heute Nacht nicht noch mehr geschneit und die Straßen frei sind, nehmen wir das Auto. Dann können wir dich gleich zur Schule fahren.” sagte sein Vater.
Er blätterte weiter in seiner Zeitung und maulte verärgert weiter: “Ben, der Volksmund sagt: >Wer lügt, der kommt damit nicht weit!< und im wirklichen Leben stimmt das meist auch. Merk dir das mein Sohn. Wenn ein Arbeiter seinen Chef anlügt, kann er gefeuert werden! Wenn ein Handwerker seinen Bauherrn beschwindelt, muss er dafür geradestehen und wenn ein Geschäftsmann das Finanzamt bescheißt, wäre er sofort ein Fall für die Justiz. Aber ganz anders ist das mal wieder in unserer Politik!” sagte er und klopfte mit einem Finger auf die Zeitungsseite. “Durch Lügnerei, Schönreden und bunte Wahlversprechen haben sich schon seit Jahrzehnten unsere >Volksvertreter< ihre Stimmen erkauft."

Bei dem Gedanken an Taranûr durchfuhr den Jungen plötzlich ein Schreck. Wenn man hinten im Garten vor der Scheune noch Fußspuren von ihm im Schnee sah?
Mist! dachte er sich. Warum hab ich gestern bloß darauf nicht geachtet!?
Er stand sofort auf und ging aus der Küche.
“Schon fertig?” fragte der Vater.
“Ja,” entgegnete Ben knapp, “Ich muss noch ein paar Schulsachen richten.”
Er schlich sich aus der Hintertür in den Garten, am großen Fischteich und den drei Tannen vorbei und eilte zur Scheune. Erleichtert stellte er fest, dass es wieder etwas geschneit hat und man keine Drachenfußabdrücke mehr sah.
Er tastete im Dunkeln nach dem Riegel und schob vorsichtig das Tor einen Spalt weit auf. Dann schlüpfte er hinein.
Das Heu in der hintersten Ecke der Scheune hob sich etwas nach oben und zwei gelbe Augen blickten ihn an.
Ben musste grinsen.
“Ich bin´s nur”, sagte er, während er sich durch das ganze Gerümpel wühlte, dass den Weg versperrte. Auch der Drache lächelte. “Kleiner!”
Ferenia indessen saß im Schneidersitz oben auf der Fensterbank und blickte in den verschneiten Wald.
“Ich wollte kurz nach euch schauen. Habt ihr gut geschlafen?” fragte Ben.
“Sie sind noch hier.” murmelte Ferenia leise.
“Wer?” fragte Ben.
“Die Suchenden!”
Er kniete sich neben den Drachen und fragte: “Wie geht es deinem Flügel?”
“Schon besser, die Wunde heilt. Aber es tut immer noch weh… Au!”
Ben streichelte ihm über den schuppigen Kopf. “Ich pass auf dich auf. Solange du hier bist, bist du vorerst in Sicherheit!”
“Danke Kleiner!”
Ben blickte dem Drachen in die gelben Augen.
“Taranûr”
“Ja?” fragte der Drache sanft.
“Was hast du heute Nacht mit mir gemacht? Mein ganzer Körper verändert sich!”
Der Drache blickte Ferenia an. Sie musste lächeln.
“Ben, die Prophezeiung erfüllt sich. Dein Schicksal erfüllt sich!” sagte sie.
“Was meinst du mit meinem Schicksal?”
“Das zu erklären, ist etwas schwierig. Weißt du, wenn ein Mensch sich mit einem Drachen verbindet, dann fängt er langsam an, gewisse - nun ja - Eigenschaften anzunehmen. Seine Augen werden schärfer, seine Sinne ausgeprägter und sein Körper verändert sich. Ohne dass du es weißt, bist du in deinem Unterbewusstsein diese Verbindung schon eingegangen und nun erfüllt sich dein Schicksal.“
“Und welches Schicksal soll das sein?”
“Na, ein Drachenreiter zu werden!” sagte Taranûr stolz. “So wie es das Sternenorakel uns prophezeit hatte!”
“Was meinst du damit?” fragte Ben, doch er ahnte schon, was der Drache meinte.
“Komme heute Abend bei Sonnenuntergang hierher, dann erklären wir dir alles!” sagte Ferenia.
Ben blickte auf seine Uhr und stellte erschrocken fest, dass er langsam los musste. “Ich muss jetzt weg. Geht bloß nicht nach draußen vor die Tür! Wenn euch jemand sieht, ist hier die Hölle los!” mahnte Ben den Drachen. “Bis heute Abend!”
“Ben”, rief Ferenia.
“Ja?”
Die Elfe lächelte. “Ich finde, du siehst mit deinen Zähnen richtig hübsch aus, hihi”
Ben wurde knallrot im Gesicht. “Ähm, D-danke. Ich muss aber jetzt wirklich los!”
Dann schloss er das Scheunentor rasch hinter sich.
Schnell eilte er wieder durch den Garten, durch die Hintertür zurück ins Haus. Verwischte aber diesmal mit einem Tannebast die Spuren seine Schnee. Er huschte hinauf in sein Zimmer, nahm seinen Schulrucksack und ging wieder in die Küche. Seine Eltern waren inzwischen fertig mit frühstücken und zogen sich schon ihre Mäntel an.
“Hast du alles, Schatz?” fragte Bens Mutter seinen Vater, der gerade seine Aktentasche schloss.
Dieser nickte und fragte: “Ben, du auch?”
“Ja, wir können los!”
Als sie aus dem Haus gingen, machte sich Ben ein wenig Sorgen um den Drachen und das Elfenmädchen, solange er in der Schule war.
Sie stiegen in das Auto ein und fuhren rückwärts aus der Einfahrt. Ben fasste sich in die Jackentasche und fühlte die angenehme Wärme des Kristalls.

Die Fahrt zu seiner Schule in Gernsbach dauerte keine 10 Minuten. Bens Vater konnte nicht direkt vor der Schule parken und so musste Ben wie immer, wenn er hingefahren wurde, die letzten 100 Meter laufen.
Er nahm seinen Schulrucksack und fröstelte, als er aus dem warmen Auto ausstieg.
“Ich hol dich um 12 genau hier wieder ab.”, sagte sein Vater durch das halb offene Seitenfenster.
Ben nickte.
Dann ging er Richtung Schule. Auf dem Weg dorthin kam er am >Biertopf< vorbei, eine Kneipe, die Monika gehörte, der Schwester von Bens Mutter.
Es war ein dunkelblauer Kastenbau mit vier Fenstern an der Frontseite. Jeweils zwei im Erdgeschoss und zwei im ersten Stock. darüber war ein Kieselsteinflachdach.
Monika hatte es vor drei Jahren geöffnet. Zuerst lief das Geschäft sehr schlecht und sie wollte nach 6 Monaten schon Insolvenz anmelden, da kam ganz plötzlich und unerwartet der große Aufschwung. An einem Tag machte sie nun mehr Umsatz als früher in zwei Wochen!
Zuerst wunderte sie sich, dass ihre Kundschaft fast ausschließlich nur aus Frauen bestand, was in den anderen umliegenden Kneipen nicht der Fall war. Dies war auch kein Zufall wie sich herausstellte, denn schnell begriff Monika, dass ihre Kundschaft lesbisch war!
Das Gerücht schnappte sie zwar schon sehr früh auf, doch sie dachte zuerst die Leute wollten sie auf den Arm nehmen und seien bloß neidisch auf ihren Umsatz. Doch es stimmte wirklich!
Zuallererst war sie entsetzt und geschockt. Sie kam sich vor, wie eine betrogene Ehefrau, die auch immer erst als letztes Bescheid wusste…
Doch als Monika begriff, welches Geschlecht ihre weibliche Kundschaft bevorzugte, und eine Weile darüber nachdachte, war es ihr dann letztendlich auch egal. Das Geschäft lief hervorragend und im >Biertopf< war immer viel los.
Leider gab es aber auch viele böse Zungen, die absichtlich Geschichten über den >Biertopf< erzählten. In einer Großstadt wäre das das normalste von der Welt, aber Gernsbach war eine kleine Stadt im Schwarzwald. Hier kannte man sich!
Da wurde oft hinter verschlossener Hand über >Traumnächte< und >Wilde Sexorgien< getuschelt. Man könne angeblich jede Nacht Frauen in Latex sehen, die sich wild aneinander geschlungen leidenschaftlich küssten und an intimen Stellen berührten.
In Wirklichkeit stimmte natürlich nichts von all dem.
Es wurde getanzt, getrunken, gefeiert, vielleicht mal einen Kuss zwischen zwei Frauen - aber mehr nicht. Es kamen nämlich auch jede Menge nichtlesbische Frauen hierher, weil sie wussten, dass sie hier in Ruhe etwas trinken konnten, ohne gleich von betrunkenen, notgeilen Männern belästigt zu wurden.
Ben blickte während dem Vorbeigehen in den Vorgarten. Ein schneebedeckter Tannenbaum mit LED-Lichterkette leuchtete neben der Eingangstür. Um diese Zeit war der >Biertopf< noch geschlossen, denn er öffnete immer erst am späten Nachmittag, wenn die Leute von der Arbeit nach Hause kamen.
Mit rauschenden Flügeln sauste ein schwarzer Rabe über seinen Kopf und streifte seine Wollmütze. Verwundert sah Ben zu, wie er auf einem Baum neben der Schule landete.
Er krächzte zweimal.

Ben ging über die Straße in den schneebedeckten Schulhof und dachte an den Drachen. Ob er sich Sorgen um mich macht? Ob es ihm den ganzen Tag nicht zu langweilig wird und er doch vor die Tür geht und ihn irgendein Spaziergänger am Waldrand sieht?
Während er kurz anhielt, um sich den rechten Turnschuh zu binden, stellte er plötzlich fest, dass am Waldrand drei Gestalten im hüfthohen, schneebedeckten Gebüsch standen und ihn ansahen.
Da es noch fast dunkel war, konnte man sie nur schemenhaft erkennen. Doch sie waren da.
Die vermummten Gestalten trugen lange, schwarze Umhänge mit Kapuzen.
Ben konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Doch er glaubte, etwas ähnliches wie einen Schnabel zu erkennen...
Der blutrote Kristall in seiner Jackentasche wurde plötzlich wieder sehr heiß und verbrannte ihm fast die Finger.
Die Gestalten bewegten sich langsam auf Ben zu. Erschrocken stellte er fest, dass sie im Schnee keine Fußabdrücke hinterließen, sondern wenige Zentimeter über dem Boden zu schweben schienen!
Ben war wie gelähmt. “Die Suchenden!” flüsterte er leise und wollte weglaufen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Als die dunklen Gestalten immer weiter auf ihn zukamen und nur noch etwa dreißig Meter von ihm entfernt waren, deutete die erste auf ihn. Die zweite griff unter seinen Umhang…
Ben stockte der Atem vor Angst.
Mit lautem Krächzen flog der Rabe, der Ben die ganze Zeit vom Baum aus beobachtete, auf die Gestalt zu und hackte mit seinem Schnabel auf sie ein. Wütend fauchte der Suchende und verscheuchte den Vogel mit wild rudernden Armen.
Eine Hand legte sich im selben Moment von hinten auf Bens Schulter.
Erschrocken zuckte der Junge zusammen und fuhr herum.
Sein Schulfreund Alexander, der aus der selben Klasse war, grinste ihn an. “Hey, was geht ab? Warum denn so schreckhaft?”
Ben seufzte erleichtert, deutete neben sich und sagte: “Da sind drei Typen, die mich verfolgen.”
“Wo denn?” fragte Alexander stirnrunzelnd.
Ben blickte in die Richtung, wo er hindeutete und stellte fest, dass die drei Kapuzengestalten plötzlich verschwunden waren.
“Vor einer Sekunde standen sie noch da…” murmelte Ben.
Alexander zuckte mit den Schultern und meinte: “Wir sollten lieber reingehen. Wenn wir zu spät kommen, gibt es wieder Zoff!”
Ben nickte und eilte mit seinem Schulfreund in die neunte Klasse im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes. Ben kannte Alexander schon seit der fünften Klasse und zusammen haben sie schon allerhand Unfug getrieben. Wenn ihm einer glaubte, dann er.
Erleichtert stellten die beiden fest, dass der Unterricht noch nicht begonnen hatte, als sie in die Klasse stürmten. Die Stunde hatte aber immerhin schon vor fünf Minuten angefangen.
Ben und Alexander nahmen auf ihrer Bank platz und taten so, als wären sie schon seit langem da.
Das Klassenzimmer war eher klein. Es hatte vier große Fenster. Rechts neben der Tafel hing ein großes Poster >Das Periodensystem der Elemente<, daneben ein Plakat, dass die Kontinente der Erde zeigte.
Tim stellte fest, dass die Hälfte der Klasse noch fehlte.
“Wo bleibt denn unser Lehrer, Herr Albrecht?” fragte Alexander Franco, der vor ihnen saß und gelangweilt auf seiner Handytastatur rumtippte.
“Der steckt mit seiner Karre im Schnee fest und kommt erst zur zweiten.” sagte er, ohne von seinem Display aufzuschauen.
“Oh, Mist!” fluchte Ben, “Jetzt hab ich noch die Hausaufgaben vergessen!”
Alexander schob ihm sein Heft hin und sagte spaßig: “Hätte ich gestern auch fast, aber zum Glück denkt ja einer von uns beiden mit, hihi.”
Nach der Geschichte mit dem Drachen und dem Elfenmädchen und der Unterbringung in seine Scheune, hatte er an die Hausaufgaben wirklich nicht mehr gedacht.
Während Ben schnell abschrieb, legte sich eine Hand auf seinen Rücken.
Marco stand plötzlich grinsend hinter ihm.
“Hey Alter, was geht? Hast du gestern den Schneesturm gesehen?”
“Ja hab ich. Zu gut, fürchte ich!“ sagte Ben. “Ich war noch spät abends mit dem Fahrrad auf dem Nachhauseweg vom Unterricht, als plötzlich-” Dann blickte er Alexander und Marco ernst an und fragte: “Könnt ihr ein Geheimnis für euch behalten?”
“Na logisch!” antworteten sie fast gleichzeitig.
Ben überlegte, dann griff er in seine Jackentasche und holte den großen, blutroten Kristall heraus.
“Ey Alter, wo hast du das Ding denn geklaut?” hauchte Alexander.
“Ich hab das Ding nicht geklaut, sondern im Wald gefunden!” entgegnete Ben entrüstet.
Marco sagte zynisch: “Ja, sicher. Du doch nicht! Kennst du den Kevin, aus der Parallelklasse?”
Ben nickte. “Ja der wohnt neben uns in der Nachbarschaft.”
“Also,” Marco erzählte weiter, “der hatte letzte Woche dasselbe behauptet und hatte kurz darauf Ärger mit den Bullen, weil er mit seinen Kumpels einen Bruch gemacht hatte.”
Ben sah ihn fragend an. “Was für Brüche? Knochenbrüche?”
“Einbrüche, du Idiot!” zischte Marco und sah sich dabei vorsichtig um, ob nicht zufällig ein Lehrer in der Nähe war. “Du kennst ihn doch, den Kevin. Seit kurzem ist er mit dem Skinhead Sancho zusammen, doch er zieht oft noch mit seiner alten Clique durch die Stadt. Gut okay, die meisten von ihnen haben noch nichts großartiges gemacht. Vielleicht mal einen Zigarettenautomaten geknackt oder einen kleinen Kaufhausdiebstahl, aber er selbst hat schon zwölf Brüche durchgezogen!”
Es klang sehr bewundernd.
“Warum erzählst du mir so was?” fragte Ben. “Hatte er keine Angst, dass ihn die Bullen mal schnappen?”
Marco nickte. “Doch. Wie gesagt, letzte Woche war die Bullerei bei ihm, konnten ihm aber letztendlich nichts nachweisen. Bloß einer seiner Kumpel, der Stefan, war ein Vollidiot!”
Marco drehte seinen Stuhl um und setzte sich zwischen Ben und Alexander. “Passt mal auf. Der Blödmann hat Kevin und Sancho letztens die Ohren vollgetextet, er wüsste einen coolen Bruch. >Ganz ungefährlich und mindestens 6000 Euro wären da zu holen!< schwärmte er.
Während Sancho misstrauisch war, wollten aber seine Freunde unbedingt mitmachen. Natürlich war das kein richtiger Bruch. Einfach bei seinem Opa im Altenheim die Geldkassette mit seinem Ersparten aus dem Kleiderschrank genommen und wieder rausspaziert. Sein Opa hat natürlich gleich gemerkt, dass die Knete weg war und hat sofort das ganze Altenheim zusammengezetert. Und für die Bullen war das ein Kinderspiel rauszufinden, wer mit der Geldkassette zur Tür raus ist. Der ganze Laden wird nämlich rund um die Uhr videoüberwacht. Noch am selben Abend waren die Bullen bei Kevin und seinem Kumpel Stefan. Doch statt die Aussage zu verweigern, hat der Idiot ausgepackt und auch noch die anderen 12 Brüche gestanden. Er hatte behauptet, Kevin hätte ihn verführt und so.”
“Bestimmt hat Stefan von seinen Eltern Ärger gekriegt!” bemerkte Ben.
“Nein, das ist ja das krasse!” sagte Franco. “Als ihn sein Vater bei der Polizeiwache abholte, sagte er gelassen: >Jetzt sein se doch mal net so streng mit dem Jungen. Der wollte sich halt nur sein Taschengeld etwas aufbessern. Im Gegensatz zu euch Beamten, schafft der nämlich net beim Staat, wora den ganzen Monat rumfaulenzen kann und dafür ne fedde Stange Geld einstreicht.< Weißt du, an dem Abend, bevor Stefans Vater zur Polizei ging um ihn abzuholen, hatte er einen über den Durst getrunken und war sternhagelvoll, sodass die Polizeibeamten ihn gleich eine Nacht auf der Wache ließen!”
Marco konnte vor Lachen kaum noch erzählen.

Doch in diesem Moment ging die Klassenzimmertür auf und der Schuldirektor höchstpersönlich kam herein. Er hatte eine Glatze, trug einen schwarzen Pullover und blaue Jeanshosen. Er knallte einen dicken Stapel Schulbücher extra laut auf das Lehrerpult, damit diejenigen schlagartig den Kopf hochrissen, die noch auf der Schulbank dösten.
“Guten Morgen!” rief er übertrieben laut ins Klassenzimmer. “Marco, setz dich auf deinen Platz und nimm den Kaugummi raus. Da euer Klassenlehrer Herr Albrecht witterungsbedingt verhindert ist, schreiben wir heute am letzten Tag noch einen schönen Aufsatz, der natürlich benotet wird!”
Hörbares Seufzen ging durch die Klasse.
Ben stellte schnell wieder mal fest, dass sich die Zeit wie Kaugummi dahinzog. Als die Aufsätze am Ende der ersten Stunde eingesammelt wurden, kam die zweite Stunde, die Ben noch weniger gefiel. Sie hatten Mathematik.
Ben hasste dieses Schulfach, obwohl seine Noten darin eher überdurchschnittlich gut waren. Für größere Rechenaufgaben fehlte ihm einfach der Elan.
In der dritten und fierten Stunde hatten sie Physik mit Herrn Albrecht, der mittlerweile anwesend war.
Er schrieb eine Aufgabe an die Tafel:

>Eine Badewanne wird mit 70 Liter Wasser, das 20 Grad warm ist gefüllt. Wieviel Liter Wasser vom 65 Grad müssen hinzugefüllt werden, um eine angenehme Badetemperatur von 45 Grad zu erreichen?<

Ben seufzte. Soweit er wusste, gab es irgendwo in seinem Schulbuch eine Formel zu dem Thema Mischwasserberechnung.

“In der Physik werden Temperaturen in Kelvin oder Celsius gemessen“, sagte der Lehrer, “wobei null Kelvin minus 273 Grad Celsius entsprechen, dem absoluten Kältenullpunkt. Die Celsiusskala hingegen geht vom Schmelzpunkt des Wassers aus.”
Dann wandte sich der Lehrer ausgerechnet Ben zu.
“Ben, was versteht man unter der Anomalie des Wassers?”
Ben überlegte kurz, dann gab er die Antwort: “Unter der Anomalie des Wassers bezeichnet man die Eigenschaft von Wasser, die sonst kein anderer Stoff hat, nämlich sich bei Wärme und Kälte auszudehnen. Wobei Wasser bei +4 Grad Celsius die geringste Dichte aufweist.”
“Gut!”
Herr Albrecht ging zurück an die Tafel.
Gerade als Ben auf seinem Bleistift herumkaute und sich den Kopf zerbrach, wie man die Mischwasseraufgabe an der Tafel berechnete, sah er unten am Ende des Schulhofes die drei dunklen Gestalten in ihren Umhängen.
Er stieß Alexander mit dem Ellenbogen an, der fluchte, weil er deshalb gerade mit seinem Stift im Satz verrutschte.
“Ey, spinnst du!? Was ist denn?”
“Da unten, das sind die vermummten Gestalten, von denen ich dir vorhin beim reingehen erzählt habe.”
Alexander beugte sich zu ihm rüber und sah aus dem Fenster in den Schulhof hinunter.
Diesmal sah auch er die vermummten Gestalten.
“Du hast Recht. Die sehen echt gespenstisch aus und starren zu uns rauf!”
Dann blickte Alexander seinen Freund an und fragte misstrauisch: “Hast du etwas ausgefressen?”
“Hey, hier vorne spielt die Musik!” rief Herr Albrecht plötzlich Alexander zu. Dann deutete er an die Tafel. “Alexander, beantworte mir mal eine Rechenaufgabe:
Welcher Temperatur in Kelvin entspricht der Raumtemperatur von 20 Grad Celsius?”
Alexander überlegte.
293 flüsterte Ben ihm unauffällig zu
“293 Kelvin, Herr Albrecht!” sagte Alexander nach.
“Na ja, immerhin hast du aufgepasst.” sagte der Lehrer erfreut und drehte sich wieder der Tafel zu.
Die Kreide quietschte grässlich, während er eine neue Aufgabe anschrieb.
Ben blickte vorsichtig über die Fensterkante hinab auf den Schulhof.
Die dunklen Gestalten waren verschwunden.

In der letzten Stunde unterrichtete Herr Albrecht Geschichte. Er erzählte von der Weimarer Republik und dessen Zusammenfall. Ben langweilte sich fast zu Tode, er hasste dieses Schulfach und musste immer darauf achten, nicht einzuschlafen.
Dann klappte der Lehrer die Tafel zu und wandte sich der Klasse zu.
“So, die letzte Stunde ist gleich zu Ende. Wie in jedem Jahr will ich euch am letzten Schultag noch einige Dinge auf den Weg in das Weihnachtsfest geben.”
Ben verdrehte die Augen, denn er wusste, dass jetzt wieder die übliche >Jahresabschlussrede< kam. Auch Franco wusste es, denn er hatte schon seinen MP3 Kopfhörer aufgezogen.

“Also, wie ihr seht, haben wir dieses Jahr reichlich Schnee gekriegt.” fuhr Herr Albrecht fort. “Viele von euch fahren über die Feiertage weg, oder gehen Schlittenfahren. Bitte feiert Weihnachten ruhig und besinnlich, wie es sein sollte. Das gilt auch für Silvester. Feiert ruhig und normal, ohne euch zu betrinken, oder zu randalieren. Viele Feuerwerkskörper sind erst ab einem bestimmten Alter erlaubt. Bitte haltet euch auch daran! Raketen und Batterieverbundfeuerwerke sind gefährlich und bitte bastelt keine Böller selber! Auch die in Mode gekommene Pyro-Munition, die mit der Schreckschusspistole abgefeuert wird, hat es ganz schön in sich! Die meisten eurer Eltern lassen euch mit dem Zeug nämlich seelenruhig hantieren, deshalb sage ich es euch jetzt noch mal: Seid bitte vorsichtig!”

Ben sah wieder aus dem Fenster. Auf einem Ast entdeckte er wieder den schwarzen Raben, der ihn bewegungslos anstarrte.

Die Schulglocke klingelte im selben Moment und mit wildem Geschrei stürmten die Schüler aus der Klasse. Auch Ben und Alexander.
“Geh schon mal vor, ich komme gleich nach!” sagte Alexander. Er war noch damit beschäftigt, seine Schulbücher und Hefte einzusammeln, die wild verstreut auf seinem Tisch lagen.

Ben ging aus der Schule und wartete an der abgesprochenen Stelle auf das Auto seines Vaters, doch er schien sich etwas zu verspäten. Dies störte ihn, denn er wollte so schnell wie möglich zurück zu dem Drachen! An einem Döner-Imbiss kaufte sich Ben einen Kebab.
Bestimmt hat Taranûr auch schon Hunger! dachte sich Ben, während er schmatzend aß. Der Drache wird sicher-
Plötzlich zog ihm jemand von hinten die Füße weg und Ben landete unsanft im dreckigen Schnee. Sein Essen fiel ihm aus der Hand. Kurz darauf bekam der Junge einen Springerstiefel in den Rücken.
Ben rollte über den Gehweg und rappelte sich schmerzkrümmend auf.
Vor ihm standen drei Skinheads.
Den größten kannte Ben. Es war Sancho, ein stadtbekannter Neonazi. Er trug eine dicke, schwarze Bomberjacke mit der Aufschrift “88“, hochgekrempelte Jeanshosen und schwarze Stahlkappenspringerstiefel mit weißen Schnürsenkeln. Die anderen beiden waren Walther und Nico, Sanchos “rechte” und “linke” Hand.
Sie hielten in der Stadt ständig Ausschau nach Konfliktstoff.
“Wenn wir vorbei wollen (rülps), hast du Platz zu machen, oder willst du noch mal im Dreck landen?” fragte Sancho grinsend. Er hatte offensichtlich schon reichlich Alkohol getrunken. “Außerdem fressen Arier keine Döner!”
“Was habt ihr eigentlich für ein Problem, ihr Affen!?” rief Ben wütend, während er aufsprang und sich den Schnee von seiner Jacke rieb. Sein Essen lag auf dem Gehweg verteilt. “Drei gegen einen kleinen Jungen. Wie mutig!”
Sancho packte Ben mit einer Hand am Kragen und hob ihn hoch. “Wie hast du mich gerade genannt!?”
“Lass mich wieder runter!” rief Ben empört.
“Du nennst mich einen A-“
Plötzlich spürte Sancho etwas an seinem Unterarm. Es war kalt, es war glatt… es war ein Polizeiknüppel.
Wütend fuhr er herum, bereit für den nächsten Ärger.
Herr Gerbrandt, der Polizeihauptkommissar und zwei Kollegen standen hinter ihm. Weder Ben, noch die Skinheads hatten die Polizisten kommen sehen. Auch nicht den grünen Streifenwagen, der am Straßenrand parkte.
“Ganz ruhig, Freundchen!” sagte der Polizeihauptkommissar mit ruhiger fester Stimme. “Lass den Jungen in Ruhe. Zu dritt gegen einen… ist das etwa fair?"
“Der hat mich einen Affen genannt!” fuhr Sancho den Polizisten hitzig an. “Können sie sich das vorstellen? Diese kleine, rote Zecke beleidigt uns!?”
Der Polizeihauptkommissar steckte seinen Knüppel wieder ein, ließ aber weiter seine Hand darauf ruhen.
“Worauf es mir gerade jetzt zur Weihnachtszeit am meisten ankommt, ist Ruhe und Ordnung in meinem Revier! Und im Augenblick bist du der einzige, der stört. Also, lass das Kind jetzt in Frieden und mache dir vorne auf dem Weihnachtsmarkt einen schönen Nachmittag."
Walther und Nico sahen schon den Ärger mit der Polizei kommen und versuchten Sancho zum weitergehen zu bewegen, doch der machte keinerlei Anstalten, sich vom Fleck zu rühren. Er war sauer und wollte seine Interessen mit allen Mitteln durchsetzen. Koste es, was es wolle!
“Niemand nennt mich einen Affen!” rief Sancho nochmal wütend.
“Na und? Hast du Angst, du könntest einer sein?” fragte der Polizeihauptkommissar trocken belustigt.
Sanchos Glatze wurde rot vor Wut.
“Soweit ich mitgekriegt habe, habt ihr den Jungen zuerst provoziert”, fügte der Polizist hinzu. “Also, ich erteile euch dreien hiermit einen Platzverweis und sage es dir Sancho, zum letzten Mal! Wenn du nicht mit meiner Acht an der Hand aufs Revier willst, dann lasst jetzt den Jungen in Ruhe und verzieh dich mit deinen beiden schrägen Vögeln.”
“Ja, gut so!” rief plötzlich Jury Tschenkow, der Arbeitskollege von Tims Vater. Er lief gerade auf der anderen Straßenseite entlang, nach Hause. Ben kannte ihn, denn er war schon öfter bei ihnen zu Besuch gewesen, um geschäftliche Dinge mit Bens Vater zu besprechen.
“Nehmen Sie endlich diese Faschisten fest!” rief er in seinem russischen Akzent. “Die haben vor zwei Tagen in Gernsbach bei Schoeller & Hoesch am Firmenzaun mit Graffiti rumgespritzt!”
“Halt die Schnauze, Kommunist!” brüllte Sancho zu ihm rüber. “Wenn wir dich das nächste Mal wieder alleine treffen, bist du dran, du Rote Sau!”
“Hey!” fuhr ihn der Polizist an. “Noch eine solche Bemerkung und ich sperr dich auf der Stelle ein! Was glaubst du eigentlich, wer du bist?”
Herr Gerbrands Kollegen waren inzwischen näher gekommen. In der einen Hand hielten sie schon die Handschellen bereit, die andere ließen sie auf ihrer Dienstwaffe ruhen.
“Komm schon!” drängte Nico und zog ungeduldig an Sanchos Arm. Lass uns endlich gehen! Das ist doch den ganzen Ärger nicht wert!”
“Hör lieber auf deinen Freund, Sancho”, stimmte der Polizist gereizt zu, “oder willst du dich jetzt auch noch mit MIR anlegen!?”
Einen Moment war es still.
Dann strich sich Sancho mit einer Hand über die Glatze und zog mit übertriebenem Kraftaufwand seine schwarze Bomberjacke zurecht. Er blickte Ben noch kurz mit schmalen Augen an, was soviel wie >Ich krieg dich noch, Zecke!< bedeuten sollte, dann machte er kehrt und zog mit seinen beiden Freunden ab.

                                                                                                                                                                                                                                                                          Jury Tschenkow ging zu den Polizisten, als der Hauptkommissar ihn fragte: “Sind Sie sicher, dass diese Jungs mit Graffiti geschmiert haben? Wenn ja, muss ich sie bitten, beim Polizeirevier eine Aussage zu machen.” Im selben Moment kam auch Bens Schulfreund Alexander mit der Musiklehrerin und Marco aus dem Schulhof. Während dem Laufen suchte Marco etwas in seinem Schulrucksack und wäre dabei fast mit dem Kopf an ein Verkehrsschild gedonnert.

Alexander wechselte die Blicke zwischen Ben und den Polizisten und fragte: “Hast du Ärger?” 

“Das sind doch diese Skinheads!” fügte die Musiklehrerin laut hinzu, die die drei noch in der Entfernung sah. “Warum haben Sie diese Kerle nicht gleich eingesperrt?” Der Polizeihauptkommissar seufzte und sagte. “Das hätten wir ja auch fast gemacht, aber jetzt in diesem Fall hätte das gar nichts gebracht. Nach dem Gesetz müssten wir sie später sowieso wieder laufen lassen.”

Alle schwiegen einen Moment, während sich Ben den letzten Dreck von den Kleidern putzte.

”So ist das leider. Skinheads dürfen frei rumlaufen, ohne dass wir direkt was machen können. Wenn die NPD in der Gernsbacher Fußgängerzone einen Infostand hat, ist das ärgerlich”, meinte der Polizeihauptkommissar. “Aber wenn die NPD hier in den Landtag kommt, ist das gefährlich! Die nächsten Wahlen sind schon in einem halben Jahr.”

Die Musiklehrerin schüttelte ungläubig den Kopf und ging dann mit Franco weiter. Das schwarze Auto von Bens Vater kam plötzlich angefahren und parkte neben dem Polizeibus. Er stieg besorgt aus. “Oh Mann, was hat der Bengel jetzt bloß wieder angestellt?” fragte er die Polizisten und deutete beim Laufen auf Ben.

“Ist das ihr Sohn?“ fragten die Polizisten.

“Ja. Hat er was ausgeheckt? Wenn ja, werd ich ihn mir gleich hier vornehmen.” sagte er mit künstlich übertrieben strenger Stimme. Alexander musste grinsen.

“Bleiben sie ganz ruhig.” sagte der Polizeihauptkommissar. “Es geht nicht um ihn, sondern um eine Schmiererei mit Graffiti von drei Rechtsextremisten, auf die uns dieser Herr gerade aufmerksam gemacht hat.”

“Na dann ist ja gut!“ sagte er und fuhr Ben mit der Hand über seine dunkelblonden Haare. “Mensch Jury, was machst du denn hier? Hast du nicht schon Urlaub?”

“Nein, erst ab Morgen. Heute war mein letzter Arbeitstag für dieses Jahr.” sagte er.

Bens Vater blickte auf seinen Schulfreund. “Ah, Alexander. Wenn du willst, kannst du heute bei uns zu Mittag essen. Soweit ich weiß, kommen deine Eltern doch Freitags später heim, oder?”

“Ja, gerne.” entgegnete er und freute sich sichtlich.

“Heute war ein echt verrückter Freitag!” bemerkte der Polizeihauptkommissar. “Zuerst vier Kaufhausdiebstähle in Gaggenau, dann zwei Massenkarambolagen auf der Bundesstraße Richtung Rastatt und noch zahlreiche kleinere Auffahrunfälle. Viele Leute kapieren eben nicht, dass man nicht mit Sommerreifen auf verschneiten Straßen fahren soll.”

“Na ja, ich fahre jetzt mit den Kindern heim. Schönen Tag noch, Herr Wachtmeister.” sagte Bens Vater und verabschiedete sich von den Polizisten.

Als sie alle drei ins Auto stiegen, blickte Ben beim Losfahren noch mal auf seine Schule.

“Endlich Ferien!”

Kapitel 4: Magietraining




Es war später Nachmittag und Alexander war inzwischen schon nach Hause gegangen, da er heute Abend selbst noch mit seinen Eltern wegging. Er wunderte sich, warum Ben nichts mit ihm unternehmen wollte, was er sonst immer tat, wenn er Zeit hatte.
Ben hingegen sagte, dass auch er noch etwas vor habe und heute Abend unmöglich noch etwas mit ihm unternehmen könne. Von seinem Drachen sagte er natürlich nichts.
Ungeduldig wartete Ben auf die Dunkelheit.
“Willst du nachher nicht mit auf den Weihnachtsmarkt?” fragte seine Mutter.
Bens Eltern waren immer auf der Suche nach Wein, Gebäck und Duftkerzen. Vor allem die gebrannten Mandeln und Kastanien, die die Innenstadt mit einem köstlichen Duft erfüllten, machten sie schwach.
Ben schüttelte den Kopf. “Keine Lust.”
“Das ist ja mal was ganz neues! Sonst kannst du es doch kaum erwarten, wenn wir endlich Dezember haben und der Weihnachtsmarkt in der Stadt ist.”
Misstrauisch sah sie ihr Kind an.
“Du verheimlichst mir etwas!”
Ben wurde es plötzlich ganz heiß. “Nein!” log er.
“Ich habe die ganze Zeit schon so ein komisches Gefühl. Man nennt es Mutterinstinkt. Und dieser sagt mir, dass du dich seit dem letzten Schultag ungewöhnlich benimmst!”
Ben zuckte mit den Schultern.
“Hast du schlechte Noten? Oder hast du was ausgefressen!?”
“Jetzt lass doch das Kind in Frieden! Wenn Ben nicht mit will, dann bleibt er eben hier. Er ist alt genug, um zu wissen, wohin er gehen will!”
Die Stimme kam aus der Küche von Bens Vater. Dieser saß noch schwer beschäftigt an seinem Notebook. Heute war auch sein letzter Arbeitstag für dieses Jahr gewesen und die Inventurlisten mussten noch verarbeitet werden, was mal wieder einige Überstunden versprach.
Doch plötzlich fing er an zu lachen, denn sein Arbeitskollege Jury Tschenkow hatte ihm eine Mail geschickt.
Ben wunderte sich und beugte sich über das Notebookdisplay.

Hallo Rolf,
Sorry, dass ich dir erst jetzt schreibe. Hat heute bei mir in der Firma auch länger gedauert, weil wir vor Weihnachten immer so verdammt viel zu tun haben. Die letzte Materialliste für die Inventur schicke ich Dir morgen zu.
Wird höchste Zeit, dass uns der Chef endlich das magere Weihnachtsgeld aufs Bankkonto rüberschiebt. Was erlaubt sich eigentlich dieser eingebildete Fatzke? Erst gestern sah ich ihn wieder in seinem fetten Benz mit den anderen feinen Pinkeln vom Vorstand bei einer seiner unzähligen Konzernsitzungen. Sein Stiefellecker Schmitt hat gesagt, dass das Weihnachtsgeld für uns nächstes Jahr noch mehr gekürzt werden soll! Aber das ist ja mal wieder typisch in Deutschland: Den kleinen Angestellten und dem arbeitenden Volk werden immer mehr Kürzungen und Steuern aufgestraft, Bonzen, Vorstandsbarone und Wirtschaftskapitalisten dagegen schwimmen nur so in der Kohle. Aber keine Sorge! Die Gewerkschaft weiß schon bescheid und wird im Januar mal ganz andere Seiten aufziehe
n!

Übrigens, was ich Dir noch sagen wollte: Mein Bruder verkauft jetzt in seinem Fotogeschäft auch Zubehör für Kameras, wie beispielsweise spezielle Adapterlinsen, usw. Hast du nicht mal so was in der Art gebraucht?
Letzte Woche hat ein Dieb ihm eine Digitalkamera aus dem Laden geklaut, als er kurz im Lager war. So´n Typ mit Glatze und einer Bomberjacke ist einfach seelenruhig in sein Geschäft spaziert und hat sich ne Kamera mitgenommen. Mein Bruder glaubt, dass es dieser Sancho war. Die Skinheads in Gernsbach werden auch immer dreister!
Er hat natürlich sofort die Polizei gerufen, die die ganze Fußgängerzone nach ihm durchkämmt hat. Aber vergeblich. Na ja, bis die grünen Bambusröhrchen da waren, war der Kerl auch schon über alle Berge!

Wir sehen uns im Januar wieder. Frohe Weihnachten und einen Guten Rutsch!
- Jury




Bens Vater klappte den Deckel seines Notebooks zu und blickte zu seiner Frau, die schon den Wintermantel anzog.
“Wenn du dich jetzt mal fertigmachst, können wir los!” sagte sie.
Bens Vater nickte. “Ich komme schon. Muss nur schnell meinen Mantel holen!”
Draußen dämmerte es schon und die Weihnachtsbeleuchtungen an den umliegenden Häusern erstrahlten in schönem Glanz.
Ben wurde nervös und konnte es kaum noch erwarten. Nach außen ließ er sich aber nichts anmerken.
“Wir fahren jetzt los, Ben.” sagte der Vater endlich. “Essen musst du dir jetzt eben selber machen. Wir sind aber in ein paar Stunden wieder da! Willst du wirklich nicht mit?”
Ben schüttelte den Kopf.
“Na gut, dann bis später!“
Er zog sich seinen Wintermantel zu und nahm die Autoschlüssel von der Kommode neben der Hauseingangstür.
“Tschüss!” riefen beide Eltern gleichzeitig.
Ben gab nur ein Brummen von sich. Dann ging er ans Fenster und sah zu, wie seine Eltern ins Auto stiegen und aus der Hofeinfahrt fuhren.
Nur darauf hatte er gewartet!
In Windeseile zog er sich seine dunkelgrüne Jacke an und nahm den Feuerkristall aus seinem Zimmer mit. Vorher richtete er aber noch schnell einen Korb voll mit Essen für seine “Gäste” in der Scheune.

Einem Menschen Magie beizubringen, der nicht mal wusste, dass es so was gibt, ist wahrscheinlich schwieriger, als einer Kuh das Fahrradfahren!

dachte Ben, als er wie versprochen durch den Garten in die große Scheune hinter seinem Elternhaus ging.
Ferenia und der Drache erwarteten ihn schon ungeduldig.
“Na endlich! Wo warst du denn so lange!?” fragte das Elfenmädchen ungeduldig. Sie erforschte sofort das Essen in Bens Korb.
“Tut mir leid, aber meine Eltern gingen etwas später aus dem Haus.”
“Na ja, jetzt bist du ja endlich da, Kleiner!” Der Drache stand auf und streckte sich und gähnte. Ben erschauderte beim Anblick seiner nadelspitzen Zähne.
“Als erstes lehren wir dich die Grundkenntnisse der Magie.” sagte er schließlich. “Sie zu rufen und zu benutzen erfordert absolute Konzentration. Setz dich auf den Boden.”
Ben tat, wie es ihm der Drache sagte.
“Also. Um Magie benutzen zu können, musst du ihre Bedeutung kennen. Jeder Zauber, den du ausübst, erfordert das kennen der Runensymbole, die du in deinen Gedanken heraufbeschwören musst.” Der Drache zeichnete mit seiner Kralle ein Symbol auf den Boden. “Dieses Runensymbol bedeutet >Aarn< und heißt soviel wie >Erschaffen<“ sagte er und kratzte noch eine ganze Reihe weitere Runensymbole in den lehmigen Boden. Ben versuchte sich, so viele wie nur möglich einzuprägen:

Tharr = Pfeil, Geschoss
Karom = Schutz, Magische Wand
Akkara = Wasser
Maar = Erde, Boden
Thoi = Luft
Phyrro = Feuer
Farach = Blitz

“Ein Zauber besteht aus mehreren Runensymbolen.” fügte Taranûr hinzu, während Ben die Symbole anstarrte. “Dies müssen mindestens zwei, können aber bis 88 dieser Symbole sein. Je mehr Runen dein Zauber braucht, desto schwerer ist er und desto länger dauert es, ihn zu sprechen.”
Der Drache zeichnete noch weitere Symbole auf.
“Das Wichtigste beim Zaubern ist,” sagte er, “dass du nur solche Zauber anwendet, denen du körperlich gewachsen bist. Wenn du beispielsweise einen großen Stein mit Magie anhebst, dann kostet es dich genauso viel Kraft, als wenn du ihn selbst mit den Händen hochhebst. Wenn du ihn aus großer Entfernung anhebst, dann kostet es dich noch mehr Kraft, als bei einer kleinen Distanz.”
Der Junge nickte.

Ferenia trat nun dazu und legte Ben ein faustgroßes Kohlestück, dass sie in der Scheunenecke fand, vor ich hin.
“Hebe dieses Kohlestück auf Augenhöhe an!”
Ben blickte die Elfe an. “Wie denn?”
Der Drache deutete auf die >Liste< mit den Runen. “Du benötigst dazu zwei Runen. Die erste ist die Rune >Attthar<, was in deiner Sprache etwa >Fliegen< bedeutet. Die zweite Rune heißt >Mhao<. Sie bedeutet >Hochheben31 Januar 1945.
Wir haben auf der “Wilhelm Gutsloff” Gotenhafen verlassen und sind auf dem Weg nach Kiel. Ich saß gerade in meiner Kabine am Schreibtisch und beschäftigte mich mit dem letzten Papierkram. Ich sah auf die kleine Uhr, die auf dem Schreibtisch stand. Es war 21.17 Uhr und ich freute mich schon auf mein warmes Bett. Aus den Lautsprechern erklang die Rede von Adolf Hitler zum Jahrestag der Machtergreifung. Dann die erste Strophe der Deutschlandhymne.
Im nächsten Moment gab es einen so gewaltigen Knall, dass ich von meinem Schreibtischstuhl viel. Nach elf Sekunden, die mir allerdings wie eine Stunde vorkamen, kam ein zweiter Knall. Die eiserne Schiffswand erzitterte. Ich wusste genau, das waren feindliche Torpedotreffer! Als ich mich auf die Beine rappelte, warf mich ein dritter Einschlag wieder auf den Hintern.
Die Maschinen fuhren herunter und plötzlich war es still. Gespenstisch still…
Dann kam ein alarmierender Gedanke: “Raus aus dem Schiff!”.
Die “Wilhelm Gustloff” war ein Passagierschiff - gebaut für 1700 Passagiere. Zur Zeit befanden sich allerdings über 10.000 Menschen an Bord. Ich wusste, dass die Rettungsboote niemals für alle reichen würden und der Alptraum “Titanic” wiederholte sich jetzt gerade wieder…
Eine Weinflasche rollte über den Boden unter den Schreibtisch. Was das bedeutete, wusste ich: Das Schiff bekam sehr schnell Schlagseite!
Ich schnappte meine Jacke, meine Taschenlampe und rannte aus meiner Kabine auf den Gang. Etwa zwanzig Meter vor mir befand sich eine Schotttür aus Stahl, die sich bei Wassereinbruch sofort schließt. Ich wusste ganz genau - wenn die erst mal dicht ist, dann säufst du mit dem Kahn ab! Mit einem beherzten Sprung schaffte ich es gerade noch durch die Schotttür, die sich im selben Moment zu schließen begann und das nasse Schicksal derer besiegelte, die sich noch hinter mir befanden….
Eisige Ostseeluft schlug mir entgegen, als ich mit anderen Passagieren durch das Treppenhaus auf Deck kam. Geschafft! Aber in Sicherheit war ich noch lange nicht! Bewaffnete Offiziere bewachten die wenigen Rettungsbote und erschossen jeden, der sich hineinstürzen wollte. “Erst die Frauen und Kinder!” schrie einer und erschoss den nächsten Mann.
Sie meinten es ernst!
Eine rote Leuchtrakete jagte über mir in den Himmel.
“Verdammt, du bist erst 17. Noch viel zu jung, zum sterben!” dachte ich. Dann überspülte schon das Wasser das Deck und ich kletterte panisch an den halb gefrorenen Stahlseilen der Aufbauten hoch. Dort oben befanden sich die letzten Rettungsflöße, die nicht bewacht wurden. Ich warf mich hinein und stellte fest, dass schon eine Frau mit ihren beiden Kindern darin lag. Mit einem kräftigen Tritt drückte ich das Floß in das schon hochsprudelnde Wasser und wir vier paddelten alle um unser Leben. “Weg von dem Schiff!” rief ich, während wir mit unseren Händen panisch in die Ostsee hinausruderten. Das Wasser war eiskalt und schon nach wenigen Sekunden spürte ich meine Hände nicht mehr.
Hinter uns gingen plötzlich noch mal die Lichter der “Wilhelm Gustloff” an, bevor es langsam grollend in den Tiefen des Ozeans versank.
Stille…

Wir beteten, während wir halb erfroren auf dem Holzfloß zwischen tausenden Leichen auf dem Meer trieben. Gegen drei Uhr morgens kam endlich die Rettung. Ein Minensuchboot hat uns aufgenommen. Erst jetzt erfuhr ich, dass es die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten war: 9000 Tote!
Die Torpedierung durch die Russen war allerdings kein Kriegsverbrechen, da das Schiff U-Boot Soldaten und Waffen an Bord hatte. Außerdem war es auf eine so große Anzahl von Passagieren gar nicht ausgelegt. Die Fierwinden der Rettungsboote waren eingefroren und die Mannschaft war total unerfahren. Außerdem hatte die “Wilhelm Gustloff” entgegen aller Kriegsregeln Positionslichter gesetzt und war so für den Feind leicht erkennbar….



Ben schloss das alte Tagebuch und legte es wieder in die Kiste zurück. Ferenia drehte einen großen Globus.
“So sieht also eure Welt aus?”
Ben nickte. “Ja, aber das alte Ding ist schon lange nicht mehr aktuell. Viele Staaten darauf, wie Beispielsweise die DDR gibt es längst nicht mehr.”
“Was ist denn das?” fragte das Elfenmädchen und deutete auf eine Kiste.
“Das ist Opas alter Fernseher. Das ist eines der ersten Farbfernsehgeräte, die es gab.”

Ein Geräusch erklang plötzlich draußen in der Hofeinfahrt. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Ben, dass seine Eltern gerade kommen würden.
“Verdammt! Schnell zurück, bevor man dich sieht!” flüsterte Ben und beide verließen hastig den Dachboden.
Als sie im Erdgeschoss ankamen, klopfte jemand an die Tür. Es waren nicht Bens Eltern, das wusste er sofort.
Mit einer Handbewegung bedeutete er Ferenia, sich hinter ihm zu verstecken. Dann öffnete er die Tür.
Ein großer, älterer Herr mit Spitzbart und Glatze stand vor ihm-
“Hallo Junge. Ich hätte ein paar Fragen.”
Ben erschrak. Es war Herr Schmitt, der Nachbar von Herrn Müller. Mit ihm hatte Ben noch nie gute Erfahrungen gemacht. Seit er in Rente war, spionierte er den Leuten hinterher. Dies konnte er aber schon immer gut. Früher war er nämlich bei der STASI gewesen!
“Tut mir leid, aber ich habe keine Zeit!” entgegnete der Junge knapp.
“Ich bin auch gleich wieder weg.” sagte der Mann. “Nur vorhin schlichen einige äußerst merkwürdige vermummte Kapuzentypen durch die Straßen. Ich habe schon mit den anderen Nachbarn gesprochen und ihnen gesagt, sie sollen die Augen offen halten. Die Kerle sind bestimmt kriminell und gefallen mir ganz und gar nicht!”
Ben erschrak. Die Suchenden waren hier in der Gegend!
“Na schön! Ich werde es meinen Eltern nachher auch sagen!” erwiderte Ben und schloss wieder die Haustür.
“Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns hier finden!” sagte Ferenia besorgt.
“Wenn es sein muss, kämpfen wir eben!” erwiderte Ben.
Das Elfenmädchen lächelte. “Nichts anderes erwarte ich von einem Drachenreiter!”

Tock, tock, tock…
Jemand klopfte an das große Küchenfenster.
Erschrocken lugte Ben durch die Tür in die Küche. Zuerst dachte er, es wäre Besuch. Alexander, oder ein Freund seiner Eltern.
Doch auf der Fensterbank saß ein schwarzer Rabe. Er stieß mit dem Schnabel an die Glasscheibe.
Tock, tock, tock, tock….
Ben öffnete das Fenster und sah den großen Vogel verwundert an.
“Na endlich! Wird auch Zeit, dass du aufmachst, kleiner Mensch! Ich friere mir hier die Federn ab!“
Ben sah den Raben verblüfft an. Es dauerte fast eine ganze Minute, bis er einen Ton herausbrachte.
“Das Ding kann ja sprechen!” stammelte er und sah die Elfe an. “Der Rabe spricht!”
Ferenia grinste. “ Das ist der Rabe, der uns schon die ganze Zeit folgt. Er heißt Thor. Vorhin war er bei uns in der Scheune drüben und hat sich Taranûr vorgestellt. ”
“Ja,” sagte er krächzend und strich sich mit dem Schnabel über die pechschwarzen Federn. “Ich folge euch schon seit dem Tag, als Tim den Kristall fand. Und ich kann euch helfen!”
Ben drehte sich um und sah Ferenia an. “Du kennst ihn!? Ich hab noch nie einen sprechenden Raben gesehen!”
“Alle Menschen, die Magie beherrschen, können mit Tieren sprechen. Wusstest du das nicht?” fragte der Rabe.
Ben schüttelte den Kopf.
“Also, diese dunklen Kerle schleichen schon die ganze Zeit durch die Stadt und fragen die Leute aus. Sie suchen dich, deinen Drachen und Ferenia.”
Ben hob den Raben vorsichtig hoch und setzte ihn sich auf den Unterarm. “Kann ich dir was zu Essen anbieten?” fragte der Junge. “Nein danke,” krächzte Thor und blinzelte Ben mit seinen schwarzen Äuglein an. Aber ich wäre dir dankbar, wenn ich bei dir bleiben kann. Heute Nacht wird es wieder sehr kalt!”
“Natürlich darfst du bei mir bleiben!” sagte Ben lächelnd, während er über Thors schwarze Federn streichelte. Sie waren sehr weich.

Kurz darauf begleitete er Ferenia wieder zurück zu Taranûr. Er schämte sich ein bisschen dafür, dass er seine beiden Freunde in der kalten Scheune lassen musste, während er selbst in einem warmen Bett schlafen konnte.
“Setz dich zu mir, Kleiner.” sagte Taranûr und bot dem Jungen seinen warmen Bauch an.
Ben kuschelte sich an die warmen Schuppen, während er noch immer den Raben festhielt. Sanft fuhr Ben ihm durch die schwarzen Federn. Thor schien es sehr zu gefallen.

Doch schon nach kurzer Zeit fielen Bens Augen vor Erschöpfung zu, so müde und entkräftet war er. Der Junge war schon eingeschlafen, bevor er auch nur daran denken konnte, wieder nach Hause zurück zu gehen. Der Drache schloss ihn sanft mit seinen großen Flügeln zu und schlief kurz darauf selbst auch ein.
Das Elfenmädchen dagegen hielt Wache und schaute weiter aus dem Scheunenfenster in den Wald. Ihre Augen sahen perfekt in der Dunkelheit.
Irgendwo da draußen verstecken sich die Suchenden mit ihren Reittieren…

Kapitel 5: Besuch bei der Polizei


“Geltendes Recht ist noch lange keine Gerechtigkeit!” - Taranûr

Es war früher Morgen und noch dunkel, als Ben mit einem Muskelkater aufwachte.
Der Junge wunderte sich, warum alles um ihn herum so merkwürdig grün war. Als er sich vorsichtig umhertastete, stieß er mit den Fingern gegen die weiche Flügelhaut des Drachen.
Oh nein, ich bin in der Scheune eingeschlafen! dachte sich der Junge. Verdammt! Ich muss schnell zurück, bevor meine Eltern merken, dass ich weg war. Falls sie es nicht schon wissen!


Behutsam schob Ben den großen Flügel zur Seite, mit dem ihn der Drache zudeckte. Sofort fror er, denn es war eiskalt in der Scheune.
Thor hüpfte aus Bens Pulli, indem er die Nacht verbracht hatte. Seine schwarzen Rabenfedern standen wild durcheinander und er fing sofort an, sie mit seinem Schnabel zurechtzuziehen.
Ferenia indessen schlief noch tief und fest unter dem anderen Flügel. Ben musste lächeln, als er ihr friedliches Gesicht sah. Noch nie hatte er eine Elfe schlafen sehen.
Müde öffnete der Drache ein Auge und fragte Ben: “Kleiner, wo willst du so früh schon hin?”
“Ich muss zurück, bevor meine Eltern merken, dass ich weg bin. Ich schaue aber sooft ich kann nach euch!”
“Ich wünschte, du könntest länger bleiben!” seufzte der Drache.
“Ich auch,” erwiderte Ben, “aber wenn meine Eltern feststellen, dass ich spurlos verschwunden bin, werden sie nach mir suchen. Und rate mal was passiert, wenn sie euch beide entdecken!?”
Der Junge eilte mit seiner Decke und dem leeren Korb über die verschneite Wiese, als es auch schon langsam hell wurde. Wie immer ging er durch die Hintertür ins Haus, dicht gefolgt, von seinem schwarzen Raben.
Erschrocken stellte er fest, dass seine Eltern schon wach waren und in der Küche frühstückten! Mit einem schnellen Handgriff stopfte er Thor unter seinen Pulli, ohne sich um dessen Protestgekrächze zu kümmern.
“Still jetzt! Meine Eltern sind schon wach!” flüsterte er.
Aber jemand anderes war auch noch bei ihnen. Der Stimme nach musste es Herr Müller, ihr Nachbar sein.
Hoffentlich geht es nicht um meinen Drachen! dachte sich Ben. Hoffentlich hat niemand Verdacht geschöpft!
Er zupfte sich noch schnell die letzten Strohreste aus den Haaren und versteckte die Decke mit dem Korb. Dann ging Ben vorsichtig mit Herzklopfen in die Küche.
Herr Müller schien eben erst gekommen zu sein, denn er zog gerade seine Jacke aus, als Ben an den Frühstückstisch trat und so tat, als käme er von oben aus seinem Zimmer.
“Ah, guten Morgen Ben!” sagte seine Mutter, während sie ein Körbchen Brötchen auf den Tisch stellte. “Unser Nachbar frühstückt heute bei uns. Er wollte etwas mit Papa besprechen. Ich hoffe, das stört dich nicht.”
Ben schüttelte leicht den Kopf.
Solange es nicht um meinen Drachen geht…

“Also es ist etwas passiert, dass ich euch erzählen muss” sagte Herr Müller und nahm am Küchentisch Platz.
“Es geht um meinen Sohn Kevin. Gestern Abend gegen 18 Uhr wurde er zusammen mit Sancho und den anderen Skinheads von der Polizei festgenommen. Die Jungs müssen ja total durchgedreht sein! Stell dir das mal vor Rolf: Zuerst zogen sie nachmittags acht Kaufhausdiebstähle hintereinander ab und dabei sind sie nicht erwischt worden! Sie klauten hauptsächlich Handys, MP3-Player und andere Elektronikartikel. Das Zeug haben sie aber kurz danach einfach von der Gernsbacher Stadtbrücke in den Fluss geworfen. Verrückt, oder? Gleich danach brachen sie in ein Kiosk direkt hinter dem belebten Gernsbacher Weihnachtsmarkt ein. Keiner hat´s gemerkt! Die Polizei wüsste noch gar nichts davon, wenn die Skinheads es den Beamten im Vollrausch nicht selbst gesagt hätten. Denn nach dem Kioskeinbruch hatten sie reichlich Alkohol und betranken sich damit.”
Ein Stein fiel von Bens Herz. Es ging nicht um seinen Drachen, wie er zuerst befürchtet hatte.

Herr Müller trank einen Schluck Wasser und erzählte weiter: “Also… Danach zogen sie mit etwa 2 Promille im Blut gegen Einbruch der Dunkelheit randalierend durch die Stadt und hinterließen eine Spur der Verwüstung. Sie traten mit ihren Springerstiefeln auf dem großen Parkplatz vor dem Rathaus bei mehreren Autos die Seitenspiegel ab und zertrümmerten mit Teleskopschlägern zahlreiche Fensterscheiben. Eine Anzeige ist bis jetzt von den Besitzern aber noch nicht eingegangen. Direkt danach schmierten sie Hakenkreuze und rechtsextreme Parolen an einen Döner Imbiss und rissen einen Parkscheinautomaten aus seiner Verankerung. Als wäre dies nicht schon schlimm genug, gab es dann auch noch eine größere Schlägerei, als mehrere Punker aus einer Kneipe über die Straße kamen und die Skinheads fragten, was der Mist eigentlich soll. Da die Polizei den Sachverhalt an Ort und Stelle nicht klären konnte, wurden alle zusammen erstmal verhaftet. Bei ihrer Festnahme leisteten die Skinheads erheblich Widerstand und faselten ständig etwas von fledermausähnlichen, schwarzen Flugwesen am Himmel. Die Beamten machten daraufhin auf dem Revier erstmal einen Drogentest mit ihnen. Der war allerdings negativ.”
Herr Müller atmete tief durch.
Die Nakâns!, dachte sich Ben. Die Flugmonster, auf denen die Suchenden reiten!


Ben kannte Kevin. Es war der Sohn von Herrn Müller und war eigentlich ein völlig normaler Junge. Doch vor etwa einem Monat lernte er Sancho kennen und ab da änderte er sich schlagartig.
“Du solltest ihn heute mal sehen, Rolf.” sagte Herr Müller jetzt. “Du würdest ihn nicht wieder erkennen. Rasierte Glatze, Bomberjacke, Militärstiefel und auch dementsprechende rechte Musik, die er sich den ganzen Tag anhört. >Landser<, >Störkraft<, >Noie Werte< und wie der ganze Mist heißt. Auf seinem Computer habe ich kürzlich über fünf Gigabyte rechtsextreme Nazi-Musik gefunden! Keine Ahnung, wo er so was her hat!”
“Was passiert jetzt mit deinem Sohn?” fragte Bens Vater.
Herr Müller erwiderte erleichtert: “Den lässt die Polizei heute wieder frei, da er angeblich nur daneben stand und zusah. Sogar Sancho bestätigte das bei der Polizei, nachdem er stolz seine Straftatenliste gestand. Und genau das ist der Grund, warum ich hier bin, Rolf. Mir wäre es am liebsten, wenn du mit dabei bist.”
“Darf ich auch mit?” fragte Ben begeistert. Er wollte schon immer mal ein Polizeirevier von innen sehen.
Sein Vater blies kurz die Backen auf und sagte schließlich: “Hm, warum eigentlich nicht.”
“Gut“, sagte Herr Müller, “wir fahren dann mit meinem Auto.”


Es war früher Vormittag, als Herr Müller, Ben und sein Vater beim Polizeirevier in Neudorf ankamen. Es war ein schmaler, grauer Betonbau mit einem kleinen Parkplatz davor, auf den zwei Streifenwagen und ein Polizeibus standen. Der Rabe wollte unbedingt mitkommen und so zog Ben heute seine dunkelgrüne Winterjacke an, denn diese hatte sehr große Taschen in der Innenseite, wo Thor es sich problemlos bequem machen konnte.
Als sie alle drei durch den kastenförmigen Haupteingang ins Revier eintraten, kam ihnen ein angenehmer Kaffeeduft entgegen. Im Flur begrüßte sie gleich Herr Gerbrandt, der Hauptkommissar. Er hatte noch einige Akten in der Hand und deutete auf eine Tür.
“Guten Tag, meine Herrn. Bitte nehmen sie dort in meinem Büro Platz. Ich kümmere mich sofort um sie!”
Alle drei nickten.
Herr Müller seufzte, als er im Büro mit Ben und seinem Vater Platz nahm. “Ich kann mir schon denken, was sie von mir denken, Herr Wachtmeister. Glauben sie mir, es ist mir äußerst unangenehm, hier sitzen zu müssen.” sagte er, während Herr Gerbrandt mit Kevin an der Hand die Bürotür hinter ihnen schloss.
Der Polizeihauptkommissar deutete auf sein Regal neben dem Schreibtisch und sagte: “Sie sind nicht der einzige. Sehen sie mal, das sind die Anzeigen, die in den letzten zwei Wochen hier eingingen. Sachbeschädigungen, Volksverhetzung, randalierende Neonazis und Linksextremisten. Es wird immer mehr! Viele Eltern sagen, dass es ihnen peinlich ist, was aber hauptsächlich daran liegt, dass sie meistens gar nicht wissen, was ihre Sprösslinge so treiben.”
Kevin blickte nur schweigend auf den Boden.
“Dass mein Sohn Sympathie zu Sancho hegt, weiß ich erst seit kurzem. Er war ganz normal, doch dann veränderte er sich plötzlich. Er hat sich die Haare abrasiert und morgens, wenn er an den Tisch kommt, sagt er nicht >Guten Morgen<, sondern auf einmal >Heil Hitler!<”
Herr Müller seufzte. “Ich hab meinem Sohn den Umgang mit diesem Sancho verboten. Wer ist das eigentlich genau?“

Der Polizeihauptkommissar holte eine sehr, sehr dicke Akte aus dem Regal und öffnete sie.
“Sancho Schmitt, geboren am 03.07.1999. Wuchs in mehreren Heimen auf. Skinhead und bekennender Neonazi. Bezeichnet den Holocaust als >Intaktes arisches Immunsystem<. Ist schon zweimal vorbestraft wegen Volksverhetzung, Landfriedensbruchs, Verstoß gegen das Waffengesetz, Körperverletzung in 25 Fällen, Beleidigung in 32 Fällen und immer wieder Verstöße gegen Paragraph 86a - Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen. Zuletzt verurteilt vom Landgericht Rastatt zu 160 Stunden allgemeinnütziger Arbeit.”
“Warum darf so einer noch frei rumlaufen?” fragte Herr Müller.
Der Polizeihauptkommissar seufzte und sagte: “Gesetzlich sind uns meist die Hände gebunden, weil das Strafrecht hier in Deutschland einfach zu lasch ist. Erst letzten Monat jagten in Rastatt drei Skinheads einen Afrikaner durch die Innenstadt.
>Scheiß Nigger!< riefen sie, als sie ihn feige niederschlugen und mit ihren Springerstiefeln auf ihn eintraten. Er schwebte drei Tage in Lebensgefahr und konnte nur mit Mühe und Not im Krankenhaus gerettet werden. Die Polizei fasste die drei Skinheads, musste sie aber kurz darauf wieder laufen lassen! >keine Haftgründe<, so der zuständige Amtsrichter.

Bens Blick fiel auf einen Bericht, der neben ihm an der Wand hing:

                                                                                                                                                                                                                                                                             Der starke Anstieg rechtsextremer Gewalt in Baden Württemberg nimmt laut LKA und Verfassungsschutz eine besorgniserregenden Entwicklung an. Die Zahl solcher Straf- und Gewaltdelikte nahm seit letztem Jahr um 25 Prozent zu. Vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Schwarzwald, wird nationalsozialistisches Gedankengut wieder zunehmend salonfähig. Immer offener verbreiten auch Skinheads ihre Hetzpropaganda. Die Polizei beschlagnahmte in diesem Jahr so viele Tonträger, wie noch nie zuvor. Schon lange ein Dorn im Auge sind dem Verfassungsschutz die berühmten “Schulhof - CD´s” der NPD. Ihre Musik verherrlicht offen Nazi-Gedankengut: (>Der Kampf gilt auch den Linken, der ganzen roten Brut…<) hetzen sie. Außerdem bedrohen sie Demokraten: (>Ich kenne Deinen Namen, ich kenne Dein Gesicht…<) und deuten in ihren Liedern Straßburg und das Elsass als besetztes deutsches Gebiet um.
Hauptursache dafür ist aber, dass sich in den letzten Jahren die soziale Situation in unserer Gesellschaft drastisch verschärft hat. Viele Jugendliche, meist arbeitslos und ohne Schulabschluss, seien besonders empfänglich für rassistische Ideologien. Aber auch Berufsschüler und Abiturstudenten werden gezielt und systematisch angesprochen. Mit völlig unpolitischen Freizeitangeboten, wie Grillfeste oder Musikabende werde erfolgreich Nachwuchs geworben.

Ben blickte sich in dem kleinen Büro weiter um. Ein Weihnachtsbaum aus Kunststoff stand rechts auf dem großen Schreibtisch. In Wirklichkeit erhoffte er, etwas zu erfahren, dass ihm irgendwie weiterhalf. Auf den Steckbriefen und Bekanntmachungen fand er nichts über Nakâns oder die Suchenden. Stattdessen fiel sein Blick auf einen kleinen, älteren Steckbrief, der schon fast komplett überdeckt war:


VERMISST!
Joachim Huller, 16 Jahre.
Kam am 16 April nicht mehr nach Hause.
Trägt einen roten Pullover, dunkelblaue Jeans
und weiße Turnschuhe. Wurde zuletzt in der
Innenstadt gesehen. Hinweise bitte
An jedes örtliche Polizeirevier.



Darunter war ein Foto.
Ben konnte sich noch an die große Suchaktion erinnern, die damals vergeblich war. Der Junge blieb spurlos verschwunden.

“So, Kevin. Was soll das eigentlich?” fragte der Polizeihauptkommissar, während er in seiner Akte blätterte und dann zu dem Jungen aufblickte. “Warum habt ihr euch gestern in der Stadt so verhalten? Und warum trägst du so viele CD´s mit rechtsextremer Musik herum? Hört ihr so was wirklich gerne?”
Kevin lehnte sich entspannt zurück und strich sich über die rasierte Glatze.
“Das ist anders, als sie denken!“ erwiderte er gelassen. “Die rechte Musik dient bei uns als >Einstiegsdroge<, senkt die Hemmschwelle und schürt die Gewaltbereitschaft. Und nicht selten folgen dann auf Propagandaparolen auch Taten.”
“So!? Bist du öfter schon mal gewalttätig geworden?” fragte der Polizeihauptkommissar.
“Ja mehrmals!” entgegnete Kevin mit einem Klang von Stolz in der Stimme, den Ben zu gut kannte. “Du bist mit Sancho und den anderen Skinheads unterwegs und da langst du schnell hin, wenn dir einer dumm kommt. Ob das jetzt so´n Scheiß Punker ist, ne rote Zecke, oder ein dreckiger Kanake… egal! Da wird gleich voll reingehämmert, mit dem Springerstiefel noch mal nachgetreten. Oi, dann ist die Sau satt!”
Kevin sagte das in einem ruhigen und selbstsicheren Ton, als wäre sein Verhalten das normalste auf der Welt. Sein Vater war sichtlich schockiert und blickte zu den Polizisten, die sich ebenfalls kopfschüttelnd ansahen.
“Kevin! Gewöhne dir diese Weltanschauung sofort ab!” rief sein Vater empört. “Du handelst dir damit später im Leben nur Probleme ein!”
“Es ist immer dasselbe”, fügte der Polizeihauptkommissar hinzu. “Während der Tat schreien sie meist nur hirnlos >Scheiß Türke<, oder >Scheiß Ausländer<, doch vor Gericht schweigen sie sich dann fast immer aus. Wenn man sie fragt, was sie eigentlich gegen Juden, oder Ausländer haben, kriegt man fast immer keine Begründung.”
“Aber am nächsten Tag sieht man sie wieder mit einem Kebab in der Hand am Döner-Imbiss stehen.” sagte der Kollege von Herr Gerbrandt, der in der Tür stand.
Der Polizeihauptkommissar schloss die Akte. “Wir verstehen immer noch nicht, warum der Nationalsozialismus gerade auf Jugendliche so eine ungeheure Faszination ausübt. Das ganze geht jetzt jedenfalls an die Staatsanwaltschaft Rastat, wo ihr ja inzwischen bestens bekannt seit! Alles weitere entscheidet der Staatsanwalt. Für heute jedenfalls kannst du nach Hause gehen!”

Kurz darauf verließen sie das Polizeirevier wieder.
Während der Heimfahrt sagte keiner ein Wort. Kevins Vater war wirklich sauer!
Auch Ben wagte kaum etwas zu sagen. Mit einer Hand fasste er in seine Jacke und streichelte Thor. Der Rabe saß noch immer ruhig in seiner Innentasche.
“Kevin, wenn ich dir einen Tipp geben darf,” sagte Ben, “dann verweigere das nächste Mal die Aussage!”
“Wie meinst du das?” fragte er.
“Du bist nicht verpflichtet, der Polizei irgend etwas zu sagen! Auch nicht gegen Familienangehörige, nach Paragraph 55 StPO! Wahrscheinlich wirst du von den Bullen noch mal zu einer Vernehmung geladen. Auch da musst du nicht hingehen!”
“Woher weißt du das?” fragte Kevin.
“Ich kenne mich ein bisschen aus.” erwiderte Ben. “In vielen Filmen und Krimi-Büchern wird das immer ein bisschen anders dargestellt, aber es ist wirklich so! Niemand ist verpflichtet zur Polizei zu gehen, um eine Aussage zu machen. Egal ob du Zeuge, Geschädigter oder Beschuldigter bist. Du musst nur kommen, wenn dich ein Richter, oder ein Staatsanwalt vorladet! Jeder Jurist weiß, dass ein Großteil aller Anklagen, bzw. Verurteilungen nicht möglich wäre, wenn die Beschuldigten bei der Polizei einfach die Klappe halten würden!”

Er sah aus dem Fenster die vielen Bäume an der Fahrbahnseite vorbeiziehen. Die Winterlandschaft wirkte atemberaubend schön.
“Wann geht ihr auf den Weihnachtsmarkt nach Stuttgart?” fragte Ben nach einer Weile, um etwas Gesprächsleben in die Autofahrt zu bringen.
Ben war nämlich im letzten Jahr mit ihnen dorthin gefahren. Es hatte ihm so gut gefallen, dass er unbedingt wieder hin wollte.
Herr Müller überlegte. “Hmm, mal sehen. Vielleicht am kommenden Samstag, wenn es nicht wieder so sehr schneit.”
“Ach, die Autobahn müsste sicher frei sein.” bemerkte Ben. “Letztes Jahr war das nämlich auch der Fall. Auf der Landstraße dagegen, würde ich lieber nicht fahren.”
“Vor 70 Jahren hat diese Autobahn der Führer gebaut,” fügte Kevin auf einmal mit geschmeichelter Stimme hinzu, “viele Untermenschen in diesem Land sind heute eigentlich gar nicht würdig, darauf fahren zu dürfen!”
“Kevin!” rief sein Vater so laut, dass sich Ben erschrocken die Ohren zuhielt, “Fängst du schon wieder mit-”
Plötzlich trat Herr Müller so stark in die Bremsen, dass Ben kurz die Luft wegblieb. Kevin flog sein Handy aus der Hand, das nach vorne gegen den Rückspiegel krachte und diesen zum zersplittern brachte.
Doch das schien in diesem Moment seinen Vater gar nicht zu stören. Er blickte verdutzt nach vorne auf die Fahrbahn.
Ein großer Hirsch stand keine zehn Zentimeter vor der Motorhaube, und machte keinerlei Anstalten, sich von der Fahrbahn zu begeben.
Stattdessen blickte er Ben an.
Dieser blickte auch ihn verwundert an. Teils mit Angst, teils mit Verwunderung.
Er konnte jedes einzelne Haar seines rotbraunen Felles sehen. Seine Atemluft kondensierte beim Ausschnauben aus den Nüstern zu kleinen weißen Wölkchen. Doch da war noch etwas anderes. In den Augen des Hirsches schien etwas rotes zu glühen.
Ben fasste sich an seine Jackentasche, denn der Feuerkristall wurde plötzlich wieder ganz warm.
“Sowas hab ich noch nie erlebt!” sagte Kevins Vater verdutzt, während er ein paar Mal auf die Hupe drückte. “Der Hirsch will-”
Weiter kam er nicht, denn plötzlich stürmte ein zweiter Hirsch im Sekundenbruchteil aus dem Unterholz und knallte ohne Vorwarnung mit seinem großen Geweih mit voller Wucht in die hintere Beifahrertür.
Kevin schrie entsetzt auf, als das Glas zersplitterte und die Scherben auf die Rückbank flogen.
Der Hirsch knurrte böse und versuchte mit seinem Kopf durch das kaputte Fenster zu kommen, doch dies gelang ihm wegen seines Geweihes nicht.
Auch der zweite Hirsch, der auf der Fahrbahn stand und noch immer Ben anstarrte, knurrte böse und schabte mit seinen Hufen unruhig auf dem Straßenasphalt.
“Fahren sie los!” rief Ben plötzlich.
Ein dritter Hirsch stürmte aus dem Gebüsch und knallte mit dem Kopf in die Beifahrertür. Ben duckte sich noch im letzten Moment.
“Geben sie Gas!” schrie Ben wieder. “LOS, LOS, LOS!!!”
Herr Müller sah einen vierten Hirsch aus dem Wald stürmen, diesmal auf die Fahrertür zu. Im letzten Moment gab er Gas. Der Motor heulte auf und Ben wurde zurück in den Sitz geworfen, der voller Glasscherben war. Der Junge ignorierte den stechenden Schmerz und sah panisch aus den Fenstern.
Der erste Hirsch, der vor dem Auto stand, knallte gegen die Windschutzscheibe und wurde fünf Meter in die Luft geschleudert, bevor er hinter dem Auto auf den Asphalt knallte.
Doch das Tier schien sich seltsamerweise kein bisschen verletzt zu haben, sondern sprang sofort wieder auf und stürmte hinter dem Auto her. Auch die anderen drei Hirsche taten dies.
“Was zum Teufel ist bloß mit den Viechern los!?” rief Kevins Vater, während er mit Vollgas die Landstraße entlangfuhr und dabei in den Seitenspiegel blickte. Die Hirsche wurden in der Entfernung immer kleiner.
Bens Herz raste, denn er vermutete, dass die >Suchenden< dahinter steckten.
Sie können mit diversen Zaubern Tiere kontrollieren und Untote heraufbeschwören…

Als sie zu Hause ankamen, rief Herr Müller zuerst die Polizei. Diese traf auch nach wenigen Minuten ein und Herr Müller musste sich erstmal eine Standpredigt anhören, warum er unerlaubt die Unfallstelle verlassen hatte! Die Beamten glaubten es ihm irgendwie nicht, dass sie zu diesem Zeitpunkt in Lebensgefahr waren und es nur seiner beherzten Flucht zu verdanken war, dass nur das Auto demoliert war.

Ben stand bei sich zu Hause vor dem Wohnzimmerfenster und sah unten im Hof bei Familie Müller die Polizeistreife vor der Einfahrt stehen. Er blickte Thor verwundert an, der neben ihm saß. “Was hatten die Hirsche bloß gegen uns? Wurden sie verzaubert?”
Der Rabe nickte.
Zwei Polizisten befragten Kevin und seinen Vater weiter, während ein Gutachter das demolierte Unfallfahrzeug inspizierte.
Ben verließ das Haus und ging über die Straße zu Kevin, der neben seinem Vater stand.
“Und sie haben die Tiere nicht provoziert?” fragte der erste Polizist, während er sich etwas auf einen Notizblock aufschrieb.
“Nein. Es war ein Wildunfall. Wie ich schon gesagt habe-”
Ein Knipsen von einem Fotoapparat war zu hören, als der Gutachter immer wieder in halb gebückter Stellung um das Fahrzeug herumging und zahlreiche Fotos schoss.
“Aber auf dem Fahrzeug befindet sich kein Tropfen Blut.” sagte dieser plötzlich. “Auch keine Fellhaare, oder sonstige verwertbare Spuren.”
“Nun ja, etwas war schon sehr merkwürdig.” stellte Herr Müller nach einer kleinen Pause fest und blickte Ben an. “Die Hirsche hatten es anscheinend auf Ben abgesehen, denn sie starrten alle ihn an, während sie das Fahrzeug angriffen.”
Alle Augen richteten sich nun auf den Jungen. Ben wurde unwohl, denn er wusste, dass Herr Müller recht hatte!
Plötzlich fing der erste Polizist an zu lachen. Er hielt es sichtlich für einen Scherz. “Wahrscheinlich waren die Tiere hungrig und sind deshalb so aggressiv.”
Ben schaute den Polizisten an. Er glaubte nicht, dass die Hirsche ihn aus Hunger angegriffen hatten. Hirsche sind scheu. Hirsche haben Angst vor Menschen und vor Autos und vor lauten Waldstraßen. Das wäre hier in der Gegend auch das erste Mal, das Hirsche Autos angreifen. Das jemand aber vielleicht die Hirsche mit Magie auf ihn hetzte, glaubte Ben schon eher…

Ein Abschleppwagen lud fünf Minuten später das demolierte Auto auf, während die Polizisten und der Gutachter Herrn Müller mitteilten, dass sie die aufgenommenen Spuren jetzt an die Versicherung übermitteln werden.
Dann verabschiedeten sie sich und verließen die Einfahrt.

Ben indessen ging wieder zurück ins Haus und stellte fest, dass es nach Mittagessen roch. Er wollte später noch nach seinem Drachen sehen, wenn es im Haus ruhiger geworden ist.
Wenig später kam Bens Freund Alexander, als er mit seinen Eltern, Herrn Müller und Kevin zum Mittagessen am Wohnzimmertisch saß. Das Fußballspiel, dass sich die Erwachsenen angucken wollten, begann aber erst in 30 Minuten. Ben hatte heute überhaupt kein Hunger und stocherte gelangweilt in seinem Spinat herum.

“Was machst du nachher noch? Schaust du dir das Spiel an?” fragte sein Freund Alexander.
Ben schüttelte den Kopf. “Nein, du?”
“Ja, meine Eltern müssten gleich heimkommen, die schauen es mit mir an. Vielleicht kuckt auch mein Bruder mit, mal sehen.”
Ben blickte an die Decke und sagte: “Ich leg mich nachher aufs Bett und lese noch ein Buch.”
In Wirklichkeit wollte er wieder in die Scheune zu seinem Drachen, und kämpfen üben. Doch dies konnte er nicht, solange alle um ihn herum waren.
“Was liest du denn gerne?” fragte Herr Müller interessiert.
“Ach, alles, was mit Drachen oder Elfen zu tun hat.” sagte Ben und verkniff sich mit Mühe ein Lachen. Keiner durfte ja seine langen Eckzähne sehen!

“Mir wäre es lieber, du würdest für die Schule lernen, statt solchen Fantasiekram zu lesen!” sagte Bens Vater.
Herr Müller lachte: “Viele Eltern wären froh, wenn ihre Kinder überhaupt mal ein Buch in die Hand nehmen würden, anstatt nur vor dem Computer zu sitzen. In Karlsruhe war am 1. Mai eine große Büchermesse, wo ich mit Kevin war. Wenn du willst Ben, kannst du nächstes Jahr mit uns hingehen, falls sie nicht wieder so chaotisch verläuft, wie damals.”
“Wie war es da?” fragte Ben. Er interessierte sich sehr für neue Bücher und wollte unbedingt mal so eine Messe besuchen.
Herr Müller blickte Bens Vater kurz an, dann gestand er: “Nun ja, eigentlich nicht so toll. Zuerst gegen 9 Uhr morgens, als alles ruhig war, schauten wir uns um. Es war hochinteressant. Viele neue Buchautoren und Verlage lernten wir kennen. Doch weil auch parallel dazu eine Lesung zu >2000 Jahre Judentum< stattfand, versuchten gegen 10 Uhr etwa 50 Rechtsextremisten erfolgreich die Veranstaltung zu sprengen. Anfangs wehrten die jüdischen Besucher die Schläge und Tritte der Neonazis noch ab, dann griff plötzlich die Polizei ein und drohte die komplette Veranstaltung abzubrechen, falls die Nazis draußen bleiben müssten! Die Veranstalter hatten nach weiteren 30 Minuten, als die ersten Steine und Flaschen flogen, keine Wahl und mussten die Büchermesse selber abbrechen. Zahlreiche Verleger und der Zentralrat der Juden waren außer sich vor Wut: >Dass die Polizei nicht willens war uns vor den Neonazis zu schützen, ist ein Skandal!< sagten sie später der Presse.

“Wie konnte es denn dazu kommen?” fragte Bens Mutter bestürzt.
Kevin konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen, da er die Aktion damals offensichtlich sehr toll fand.
Herr Müller seufzte: ”Tja, das liegt wohl an unserem schizophrenen Rechtssystem. Einerseits ist die Bundesregierung in letzter Zeit offenbar sehr um die Sicherheit von uns Bürgern besorgt. Das behaupten sie zumindest. Da dürfen jetzt private Computer heimlich durchsucht werden, Telefon und Internetverbindungen werden 6 Monate gegen den Willen der Bürger gespeichert, Autokennzeichen mittels Kameras digital abgescannt und terrorverdächtige Passagierflugzeuge sollen einfach abgeschossen werden! Am Ausbau des Überwachungsstaates arbeitet die Regierung fleißig, doch anderseits wiederum reagieren Polizei, Politik und Verfassungsschutz auf die zunehmenden Nazi-Aufmärsche der NPD und AfD reichlich hilflos. Oder haben die Beamten nur einfach keine Lust? In der Nachbarstadt Rastatt war damals die gesamte Polizei offenbar mit viel wichtigerem beschäftigt: Eine harmlose kleine Gruppe von 100 Greenpeace Aktivisten hat zur selben Zeit friedlich gegen die Feinstaubbelastung der Innenstadtluft vor dem Rathaus demonstriert. Sofort rückte die Polizei mit voller Truppenstärke an und nahm fast alle Demonstranten für mehrere Stunden in Gewahrsam. Lapidare Antwort der Ordnungshüter: Sie hätten eine >Unangemeldete Demonstration< durchgeführt.  Gleichzeitig zogen an diesem Tag nämlich hunderte Rechtsextremisten grölend und ungehindert durch Neudorf, Gernsbach, Gaggenau, Rastatt und Karlsruhe. Keine einzige dieser Veranstaltungen war erlaubt!”

                                                                                                                                                                                                                                                                            Dann wandte er sich seinem Sohn zu und sagte: “Verflixt! Ben, morgen ist Heiligabend und ich habe deiner Oma versprochen, ihr Weihnachtsgeschenk vorbeizubringen. Das hätte ich jetzt fast vergessen. Könntest du das noch schnell machen?” Ben seufzte. Er wollte eigentlich zu seinem Drachen, anstatt jetzt am frühen Nachmittag zu seiner Oma zu fahren. Sie wohnte in Forbach und würde ihn, wenn er erstmal da war, nicht so schnell wieder gehen lassen! Als er sie das letzte Mal zum 78 Geburtstag im Sommer besuchte und dann nach einer Weile beteuerte, dass er wieder gehen müsse, um nicht zu spät so seinem Training zu kommen, hielt sie ihn solange fest, bis er ihren viel zu süßen Kakao getrunken und den ranzig schmeckenden Marmorkuchen gegessen hatte.

“Ich hatte aber eigentlich was anderes vor!” protestierte Ben.

Dessen Vater sah ihn an. “Was denn? Lesen in deinen komischen Drachenbüchern? Das kannst du in den nächsten Ferienwochen auch noch machen!“

Er holte ein dunkelgrünes Päckchen aus dem Küchenschrank, stellte es auf den Tisch und sagte: “Am besten du fährst gleich mit dem Fahrrad los, dann bist du wieder da, bevor es dunkel wird.”

Ben erschrak.

Sein Fahrrad lag nämlich noch immer unter der Schneedecke auf dem Feld, wo er im Schneesturm dem Drachen und dem Elfenmädchen begegnet war. Es zu holen, hatte er total vergessen. Da  die Schneedecke inzwischen auch nicht kleiner gewesen worden war, hätte ihm das Suchen ohne Minensuchgerät auch wenig gebracht.

“Mein Fahrrad ist aber platt!” log er schnell.

Bens Vater seufzte und legte dem Jungen, der schon freudig hoffte, er müsse jetzt doch nicht weg, einen zehn Euro Schein auf das Päckchen.

“Dann nimm eben die Stadtbahn! Du kannst dann auf dem Weg dahin deinen Schulfreund Alexander gleich nach Hause mitnehmen!”

Ben stand brummend auf, nahm im Flur seine dunkelgrüne Jacke vom Haken und machte sich fertig. Dann verließ er zusammen mit seinem Freund und dem Päckchen für die Oma, das Haus.

Kapitel 6: Flucht durch die Murg

“Falsche Hoffnungen sind gefährlicher, als falsche Ängste!” - Karanir

Es fing leicht zu schneien an, als Ben fünf Minuten später, nachdem er Alexander nach Hause gebracht hatte, am Bahnhof ankam. Das graue Päckchen für seine Oma hatte er unter dem Arm geklemmt. Neuschnee bildete sich vor dem kleinen überdachten Wartehäuschen.Thor hatte sich wieder in die große Innentasche von Bens Winterjacke gekuschelt und sah aus einem Schlitz im Kragen heraus. Seine schwarzen Rabenaugen glänzten, während der Junge ungeduldig auf die Stadtbahn wartete, die ihn nach Forbach bringen sollte. Ihm fiel die Mahnung des Drachen wieder ein: Nimm dich in Acht vor den >Suchenden<. Sie sind Nekromanten und können Tote heraufbeschwören!

Der Junge zog den Zettel mit den abgeschriebenen Runensymbolen aus der Tasche und lernte sie weiter auswendig. Ben kam sich vor, wie in der Schule beim Vokabeltraining im Englischunterricht. Mit dem einzigen Unterschied, dass ihm das Auswendiglernen der Runen mehr Spaß machte.

Aarn bedeutet Erschaffen, Phyrrho bedeutetFeuer und Tharr bedeutet Geschoss.” murmelte Ben leise vor sich hin. Dann müsste folglich der Zauber >Feuerball< ausgesprochen >Aarn-Phyrio-Tharr< bedeuten!” In seinen Gedanken leuchteten die drei Symbole plötzlich hell und rot auf. In letzter Sekunde riss er die Gedankenverbindung zu den drei Runen ab.

Willst du hier die Innenstadt in Brand setzen!?” krächzte Thor erschrocken, der mitbekam, welchen fatalen Fehler Ben fast gemacht hätte.

“Entschuldige!” erwiderte Ben leise. Unsicher blickte sich der künftige Drachenreiter um und war auch etwas erleichtert, dass er ganz alleine war.

Nun überkam ihn auf einmal ein unglaubliches Glücksgefühl: Ich habe einen Drachen zu Hause und einen sprechenden Raben! Ich beherrsche MAGIE! Kein anderer Mensch in diesem Land kann das! Nie wieder wird mich jemand bedrohen oder belästigen, hihi!

Im selben Moment kam schon die gelbe Murgtal-Stadtbahn angefahren und Ben steckte schnell seinen Zettel zusammengefaltet wieder ein. Er blickte sich noch mal suchend um, dann stieg er mit Thor unter der Jacke in die Bahn, die mit grässlich quietschenden Bremsen am Wartehäuschen stoppte und die Schiebetüren öffnete. In der Bahn saß nur eine einzige Person, wie Ben feststellte, während er am Automat einen Fahrschein löste. Eine alte Dame mit schneeweißem Haar, die mit beiden Händen krampfhaft ihren schwarzen Trolley festhielt. Ihr Gesicht war faltig und sie trug eine Brille mit runden, dicken Gläsern. Mit leerem Blick sah sie aus dem Fenster in die Innenstadt.

Ben nahm ganz hinten direkt neben der Tür platz, als diese sich auch schon schloss und sich die Bahn mit einem Ruck wieder in Bewegung setzte. Er steckte seinen Fahrschein ein und legte das dunkelgrüne Päckchen auf den Sitz neben sich. Die Fahrt nach Forbach dauerte nicht sehr lange. Sie führte Ben durch mehrere kleine Ortschaften. Schnee lag auf den Feldern und den Baumkronen der Obstbäume, die kahl in der Landschaft standen. So viel Schnee hatte Ben schon lange nicht mehr gesehen. Als der Junge mit seinem Raben nach 20 Minuten ankam, stieg er fröstelnd aus der warmen Stadtbahn aus, mit dem Päckchen für seine Oma in der Hand.

“Du hast es gut!” murrte Ben. “Du sitzt da drin im Warmen!”

“Ich bin ja auch da um dich zu beschützen, solange dein Drache nicht bei dir ist!”

Ben musste lachen. “Ach ja!? Da bin ich mal gespannt!”

Der Junge ging weiter. Glücklicherweise wohnte Bens Großmutter nur 5 Minuten vom Forbacher Bahnhof entfernt, im kleinen Nebenort Gausbach. Die meisten Gassen waren sehr eng und ermöglichten ein Durchfahren von Autos durch den vom Räumen aufgeschobenen Schnee kaum. Die Häuser wirkten alt und waren alle im Fachwerkstil gebaut. Neubauten sah man hier fast keine. Schnee lag auf den Kopfsteinpflasterstraßen, was sie besonders rutschig machte. Ben kam kurz darauf an einem sehr alten dieser Fachwerkhäuser an. Die dunkelroten Ziegeln auf dem Mansarddach und der wilde Garten machten einen schon fast mittelalterlichen Eindruck.

Ben klingelte.

>Piiiep!<

Niemand öffnete.

Vielleicht ist sie in der Kirche. dachte Ben. Da geht sie nämlich am Samstag Nachmittag oft hin.

>Piiiep!<

Wieder öffnete keiner.

Der künftige Drachenreiter war schon erleichtert, dass er den Nachmittag nicht bei seiner Oma verbringen musste und legte das Paket einfach auf die Türschwelle. Soll sie es selber mit hereinnehmen, wenn sie kommt! dachte Ben und wollte gerade das Grundstück verlassen, da hörte er plötzlich in der Wohnung Schritte. Sie waren langsam und schlurfend.

Knarrend öffnete sich die alte Eichentür. Eine Dame mit langem silbrigem Haar und runzligem aber freundlichem Gesicht blickte Ben an. Sie trug einen grünen Pullover und eine rote Kochschürze.

“Mein Enkel kommt mich besuchen.” sagte sie mit Freude in der Stimme. Sie lachte und zeigte ihre weißen Zähne. Ben hob das Päckchen von der Türschwelle auf und trat ein.

“Das gefällt mir nicht!” zischelte Thor leise aus dem Jackenkragen heraus. “Wir sollten abhauen!”

“Still!”, zischte Ben zurück. Seine Großmutter indessen ging schlurfend ins Wohnzimmer zurück, den linken Arm auf einen Gehstock gestützt.

Meine Oma hat sich irgendwie verändert, dachte Ben. Ihr Verhalten wirkt irgendwie anders, als sonst. Sie hat ein-

Dann überkam ihn plötzlich ein eisiger, schrecklicher Verdacht:

Das ist nicht meine Oma!

Er schloss sich Thors Meinung an und machte Anstalten, wieder zu gehen. “Ich wollte nur das Päckchen abgeben und dann gleich wieder verschwinden!” sagte Ben. Seine Stimme zitterte.

“Nein, nein. Trink erst mal eine Tasse Tee mit mir!” sagte seine Oma mit einem fordernden Unterton in der Stimme und deutete auf einen ledernen Wohnzimmersessel. Ben nahm Platz, obwohl eine innere Stimme ihm sagte, er solle so schnell wie möglich verschwinden. Er sah sich im Wohnzimmer um, während Thor ungeduldig in seiner Jackentasche kramte. Ben wunderte sich, wie pingelig das Zimmer aufgeräumt war. Auf einem Holzschränkchen stand ein sehr alter Röhrenfernseher, den es in diesem Zimmer schon gab, bevor Ben geboren wurde. Auf der großen Fensterbank standen Topfpflanzen. Unter dem Fenster war ein kleines Kommödchen, auf der sich eine sehr alte Nähmaschine und eine Standlampe mit gelbem Schirm befanden. Über einer breiten Ledercouch hing ein großes Bild von Konrad Adenauer, daneben ein anderes von Bens Opa, als er noch sehr jung war.

“So, da ist schon der Tee, mein Kindchen!” sagte die alte Dame und stellte ein Tablett auf den Wohnzimmertisch. Neben der Teekanne und den zwei Tassen, befand sich auf einem Teller auch ein geschnittener Marmorkuchen.

“Iss, mein Kindchen!”

Ein angenehmer Pfefferminzgeruch strömte aus dem Schnabel der Kanne, während Bens Oma das Getränk in die beiden Tassen goss.

Mach, dass du wegkommst!

“Ich hab k-keinen H-hunger und muss j-jetzt wirklich l-los!” stammelte der Junge. Der Kristall in seiner Tasche wurde wieder sehr heiß und signalisierte Gefahr. Auch der Rabe hackte mit seinem Schnabel leicht in Bens Brust.

“Nein, nein. Du gehst nirgends mehr hin, Junge!” sagte sie mit zynischer Stimme und lächelte den Jungen an.

Mit Entsetzen sah Ben, dass die Zähne seiner Oma jetzt auf einmal braungelb waren.

Sie waren weiß, als sie dir die Tür öffnete, dachte sich Ben mit blankem Entsetzen,

und du gingst hinein in das Haus, obwohl dich Thor warnte!

Mit ekelhaftem Schlürfen und Glucksen trank sie ihre Teetasse aus und verschüttete dabei die Hälfte auf ihre Schürze. Ben sah, dass sich auch ihre Augen verändert hatten. Die weiße Hornhaut war jetzt eitergelb, mit dünnen, roten Äderchen durchzogen. Ihr silbernes Haar war grau und dünn.

“Du bist nicht meine Oma!” sagte Ben. Seine Stimme klang auf einmal von weit her, als befände er sich in einem Traum.

“Meine Mutter“, sagte die alte Frau und sprach es wie >Mudda< aus, “hat mich nicht so schlecht erzogen, wie deine Eltern.”

Ben sah nun auch, dass sich ihre Kleidung verändert hatte! Der Pullover und die Schürze waren jetzt pechschwarz. Ihr Gesicht war viel faltiger und ihr Teint hatte sich in krankes Gelb verwandelt. Ihre Zähne waren nun so schwarz wie ihre Kleidung und ihre Finger glichen knöchernen Klauen.

“Jetzt iss deinen Kuchen auf!” befahl die Hexe, deren Stimme inzwischen um eine ganze Oktave höher geworden war. Sie stopfte sich mit ihren Krallen ein Kuchenstück in den Mund. Es hörte sich grässlich an, als ihre Zähne es zermahlten. Krümel fielen auf ihr knochiges Kinn, das weit hervorstand. Ihr Atem roch süß und ekelhaft. Er erinnerte vom Geruch her an Schimmel, Verwesung und Tod.

“Du bist nicht meine Oma!” flüsterte Ben wieder. “Was bist du!?”

“Wenn du schlau bist”, sagte die Hexe, “dann gib dem Zirkel den Feuerkristall zurück, denn ansonsten ereilt dich ein Schicksal, das noch schlimmer ist als der Tod! Das Schlimmste für einen Drachenreiter ist es, mit ansehen zu müssen, wie sein Drache getötet wird…”

Ben durchfuhr ein Schock. “Woher weißt du von meinem Dra-?”

Die Hexe hob wieder den Kopf und blickte den Jungen an. Ihre Augen glichen leblosen Höhlen. Eine große Spinne krabbelte aus ihrem rechten Ohr….

Das war zuviel für den Jungen! Ben sprang mit einem Satz aus dem alten Sessel und rannte zur Haustür.

“Knusper, knusper knäuschen… iss deinen verdammten Kuchen auf!” kreischte die Hexe mit kranker, heller Stimme. “Deine Mudda sollte dich Respekt als Gast lehren, Bürschchen!”

Hastig rannte Ben durch den kurzen Flur zum Hauseingang. Doch die Haustür war verschlossen! Auch panisches Rütteln am Griff half nichts.

Mit Entsetzen in den Augen suchte Ben nach einer Möglichkeit, das Haus zu verlassen. Hinter sich hörte er das Schlurfen der Hexe.

“Komm zu mir in die Küche und rein in den Ofen!” schrie sie.

Ben hastete ins Schlafzimmer auf der entgegengesetzten Seite des Flures. Das Fenster war ebenfalls verschlossen und ließ sich auch mit noch so viel Kraftaufwand nicht öffnen.

Das Schlurfen kam immer näher.

“Das Fenster!“ krächzte Thor. “Du kannst doch jetzt zaubern!”

Doch Ben packte kurzerhand einen kleinen Hocker, der neben dem Bett stand und warf ihn mit voller Wucht durch die Fensterscheibe. Ein lautes Klirren schallte durch die Gärten, als die komplette Fensterscheibe zusammenbrach.

“Das büßt du mir, Bürschchen!” kreischte die Hexe, als sie mit ihrem Gehstock die Schlafzimmertür aufstieß und Ben aus ihren toten Augen anstarrte. Eitriges Blut sickerte heraus, lief die Wangen herunter und tropfte auf den Teppichboden. Der Anblick war entsetzlich.

 

Ben zögerte nicht lange und sprang durch das Fenster nach draußen auf den schneebedeckten Rasen. Zum Glück wohnte die Hexe im Erdgeschoss. Bei einem Sprung aus einem höheren Stockwerk hätte sich Ben höchstwahrscheinlich alle Knochen gebrochen.

Thor krabbelte aus Bens Jacke heraus und flatterte hoch in die Luft. “Mir nach!”

Der Junge eilte durch den Hintergarten um das Haus herum und sprang mit einem Satz über den Jägerzaun auf die Straße. Er blickte sich in alle Richtungen um, doch niemand sonst war noch auf der Straße. Als Ben den Dreck und Schnee abklopfte und über seine Situation nachdachte, hörte er plötzlich ein komisches Geräusch.

Der Junge blickte zurück über den Zaun in das Grundstück seiner Oma.

Das schneebedeckte hohe Gestrüpp neben einem Tannenbaum bewegte sich plötzlich und ein böses Knurren drang aus der Erde. Eine dreckbedeckte, knochige Hand erhob sich aus dem halb gefrorenen Boden, der sich langsam bröckelnd auftat.

Ben stieß erschrocken einen spitzen Laut aus. Auch Thor, der gerade auf Bens Schulter landete, stieß ein Krächzen aus.

Die Erde tat sich weiter auf und ein knochiger Schädel kam aus dem Loch.

Ein Skelett, das teils mit Wurzeln und Erde überdeckt war, schickte sich an, aus der Erde zu klettern.

Das Skelett stieß ein Zischen aus, während es seine Knochen abschüttelte. Jetzt flog auch noch der letzte Dreck aus dem Rippenspalten heraus.

Ben schrie laut auf und rannte, so schnell ihn seine Beine tragen konnten in die entgegengesetzte Richtung. “Die Suchenden sind hier!” rief er panisch zu Thor. “Das muss doch alles nur ein verdammter Alptraum sein!”

“Kein Alptraum.”, krächzte der Rabe. “Ein Nekromantenzauber, der den Knochen Verstorbener neues Leben einhaucht. Die Anwendung solcher Zauber ist verboten!”

“Das interessiert die Suchenden aber offensichtlich nicht!”

Ben blickte sich während dem Rennen hektisch um, doch von den vermummten Gestalten sah er noch keine. Plötzlich blieb er abrupt stehen.

Ein Nebelfeld entstand direkt vor ihm und begann ihn einzuhüllen. Der weiße Dunst stieg aus Kanalöffnungen, Regenrinnenschächte und dem Ablauf des kleinen Dorfbrunnens heraus.

Schnell stieg die Nebelwand höher und verdeckte schon kurz darauf den Himmel über den Straßen. Nicht einmal die obersten Stockwerke der Häuser waren mehr zu erkennen. Mit dem Nebel kam auch die Dunkelheit und Kälte.

Ben hatte keinerlei Zweifel daran, dass der Nebel magisch herbeigerufen wurde, denn er war so stark und unheimlich, wie er ihn noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Der Junge eilte, so schnell ihn seine Beine trugen, die Dorfstraße entlang. Der Elementarkristall in seiner Tasche wurde so warm, dass er jeden Augenblick damit rechnete, seine Hose würde sich entzünden.

Doch die Dorfstraße war nun zu Ende und ging nach links hinunter in das Flussbett der Murg.

Hier wurden vor langer Zeit die fertigen Baumstämme der Flößerei abgeholt. Jetzt war der Weg verwildert und wirkte gespenstisch.

Ben blickte sich nach hinten um. Die Nebelwand rollte näher, wie eine riesige Flutwelle aus Wasser, nur viel langsamer.

Leider aber schnell genug, dass der künftige Drachenreiter rennen musste, um nicht in sie hineinzugeraten. Und das tat er jetzt auch. Dicht über seinem Kopf flatterte der Rabe.

Ben hastete durch das Unterholz, stolperte über Wurzeln, fiel bestimmt ein halbes Dutzend mal in den Dreck und rappelte sich jedes mal panisch wieder hoch.

Etwas verfolgte ihn.

Etwas kaltes.

Etwas dunkles, unglaublich böses und hasserfülltes.

Ben hielt kurz an, um zu verschnaufen und lehnte sich mit dem Rücken an einen Kieferstamm. Sein schwarz gefiederter Freund landete auf seinem Unterarm.

“Etwas verfolgt uns!” sagte der Rabe.

“Das hab ich auch schon gemerkt! Sag mir lieber, wie wir wieder zur Hauptstraße kommen!”

“Auf der anderen Flussseite!” krächzte Thor und deutete mit einem Flügel den Hang hinunter.

Keine hundert Meter neben ihnen rauschte die Murg durch das steil zulaufende Tal. Allerdings sehr leise, da der Wasserstand im Winter immer sehr niedrig ist.

Etwas knackte plötzlich hinter ihnen. Ben gefror der Atem.

Wieder knackte es. Dunkles Geflüster drang ihm ins Ohr. Oder war es vielleicht doch nur das Rauschen des Wassers? Schon wieder knackte es, diesmal deutlich lauter.

Mit hämmerndem Herzen schaute Ben vorsichtig um den Baumstamm herum, dorthin, wo er die Geräusche vermutete.

Er sah nur die große Nebelwand, weiter auf ihn zukommen, nur diesmal deutlich langsamer. Plötzlich dachte der Junge in dem Nebel zwei Gestalten ausmachen zu können. Die eine wies Rippen auf und schien das Skelett aus dem Vorgarten zu sein, die andere trug einen schemenhaften, pechschwarzen Umhang mit Kapuze.

Wieder Geflüster. Diesmal direkt aus dem Nebel und deutlich zu hören!

Ben rannte, wie von einer Biene gestochen los. Mit einer Hand hielt er Thor fest, damit es ihn nicht wegriss. Ängstlich klammerte er sich mit seinen Krallen in Bens Fleisch, doch den Schmerz schien der Junge gar nicht zu spüren. Die Äste auf dem halb gefrorenen Waldboden knackten und verrieten den Jungen immer wieder. Er hastete den steilen Hang zum Fluss hinunter. Wie erwartet, führte die Murg zu dieser Jahreszeit sehr wenig Wasser und große Eisflächen zogen sich zwischen den Steinen entlang.

Äste und Dornen zerkratzten Bens Gesicht, als er den Abhang hinunterschlitterte.

Er überschlug sich zweimal und landete schließlich auf dem sandigen Uferstrich.

Thor schimpfte über den Sand in seinen schwarzen Rabenfedern.

Das Blut gefror Ben, als er plötzlich eines der Nakâns über sich kreischen hörte.

“Nein! Wo kommt denn das auf einmal her!?” rief er.

Panisch suchte Ben nach einer Deckung. Das schwarze Flugmonster hatte ihn nun entdeckt und stieß aus dem Nebel herab.

“Im Flussbett gibt es keine Deckung!” stellte Thor entsetzt fest, doch dann fiel sein Blick auf ein großes, schwarzes Rohr, dass in etwa 50 Metern Entfernung aus der alten Flößereifabrik in die Murg mündet.

Drei lange Eiszapfen hingen aus der Rohrsohle in den Fluss.

Ben zögerte nicht lange und rannte mit dem Raben in beiden Händen darauf zu. Er wagte nicht sich umzuschauen, doch er hörte auch so, dass das schwarze haarige Flugmonster nur noch wenige Meter hinter ihm war. Sein Gestank eilte Ben voraus.

Ohne zu überlegen, sprang Ben mit einem Satz in das etwa ein Meter breite Rohr und schlitterte auf dem Rücken über die eisbedeckte Rohrsohle meterweit in die Finsternis. Schützend drückte er den Raben an sich, ohne sich um dessen Protestgekrächze zu kümmern.

Hasserfüllt kreischte das Monster auf und versuchte ebenfalls, in das Rohr zu gelangen. Sein Kopf und sein Hals passten hinein, doch die Schultern stießen an die Rohrkante an. Das Monster war mit seinen Flügeln einfach zu groß.

Wieder ein zorniger Aufschrei. Die Rohrwände reflektierten den Schall und dieser wirkte so gleich doppelt so laut.

Ben krabbelte auf allen Vieren weiter in die pechschwarze Dunkelheit des Rohres. Sein Herz raste. Der Gestank des Kanals war unerträglich! Aus was der Matsch bestand, durch den er krabbelte, wollte er lieber nicht wissen. Ben vermutete, dass dies das Abflussrohr der stillgelegten Papierfabrik war, die schon seit Jahrzehnten vor sich hin bröckelte.

Früher wurden hier die Abwässer der Papierproduktion in den Fluss geleitet, bis strengere Umweltgesetze dies untersagt haben.

 

Der Junge fragte sich, ob in diesem Rohr ein Monster mit scharfen Zähnen wohnte, während er sich weiter in die Finsternis hineintastete.

In der Schule erzählte man sich nämlich immer Geschichten, seit einmal Joachim, ein sechzehnjähriger Junge spurlos verschwand. Die Polizei hatte damals eine Vermisstenmeldung herausgegeben und den halben Wald mit Suchhunden durchkämmt, doch der Junge wurde nie gefunden. Ben konnte sich noch an den Steckbrief des Jungen im Polizeirevier erinnern…

Während sich der Junge weiter ängstlich durch die Finsternis tastete, rechnete er jeden Moment damit, dass er in zotteliges Fell eines Monsters mit Augen, rot wie glühende Kohlen greifen würde und dem folgenden brennenden Schmerz, wenn es ihm dann genüsslich den Kopf abbiss.

Doch das einzige, was Ben spürte, waren angefrorene Spinnweben.

Er griff in seine Jackentasche und holte sein Smartphone heraus, mit dem er bei Dunkelheit die Taschenlampenfunktion nutzte.

Er dachte an den Drachen und die Elfin.

Ich wünschte, ich wäre jetzt bei euch! Wenn ich hier drinnen sterbe, würde ich nie wieder Taranûrs warme Schuppen und seine kalte Schnauze spüren. Nie wieder werde ich Ferenias Lachen hören. Doch eines könnte ich auf keinen Fall ertragen - nämlich meinen Drachen sterben sehen zu müssen…

Ein Gefühl regte sich in Ben. Ein Gefühl, dass stärker war als die Angst vor der Dunkelheit und er jederzeit bereit wäre, seinen Drachen zu beschützen. Koste es, was es wolle!

Der schwache Lichtschein der Kamera-LED erhellte das Rohr zwar nur wenige Meter, doch Ben konnte sich zumindest mal etwas umsehen. Sein erster Blick fiel herab auf seine dunkelgrüne Jacke, die schon total dreckig und zerrissen war. Wütend fluchte er:

“Verdammt! Das war meine Lieblingsjacke! Sie hatte meine Mutter 170 Euro gekostet! Meine Eltern bringen mich um!”

Thor saß jetzt auf seinem Rücken. Im trockenen.

“Lass uns mal sehen, wie wir hier raus kommen!” krächzte er und sah sich in dem Rohr um. Inzwischen hatte das Nakân-Monster anscheinend aufgegeben und war verschwunden. Ein kleiner runder Kreis war zu erkennen, dort wo das Rohr in den Fluss mündete. Doch der Junge dachte nicht im Traum daran, sich dem Auslauf zu nähern.

Vielleicht sitzt es mit geöffnetem Maul über dem Rohr und wartet nur geduldig darauf, mir den Kopf abzubeißen, falls ich ihn herausstrecke!

Ben schrie kurz auf, als etwas über ihn krabbelte.....

Er tastete sich vorsichtig weiter in das Rohr hinein. Der Gestank nach verrottenden Papierchemikalien wurde immer schlimmer und ekelhafter. Aber wenigstens schien es hier drinnen wärmer zu sein. Das Wasser auf der Rohrsohle war jetzt flüssig und etwa zehn Zentimeter hoch. Er fror, als es in seine Hose und Turnschuhe hineinlief.

Plötzlich entdeckte Ben vor sich ein Skelett, an dem noch Fetzen von Arbeitskleidung hingen. Es lag in merkwürdig gekrümmter Stellung zwischen Ästen und anderem Treibgut, dass in den letzten Jahren hier an der Stelle hängen blieb. Auf dem Schädel trug das Skelett noch immer einen gelben Helm, wie ihn die Kanalarbeiter verwendeten.

Zwei Ratten krochen aus den Rippen heraus und sahen Ben mit ihren schwarzen Äuglein an. Sie quiekten erschrocken.

Zitternd vor Kälte erblickte er einige Meter über sich eine verrostete Einstiegsluke.

Na endlich! Das scheint eine Art Wartungsschacht gewesen zu sein.

Er legte sein Smartphone auf einen Mauervorsprung neben die Leiter, damit er etwas Licht bekam. Dann versuchte er mit beiden Händen an dem großes Rad in der Mitte zu drehen.

Sie färbten sich sofort rostrot und rochen nach Eisenstaub. Doch das Rad unter der viereckigen Revisionsöffnung war so fest angerostet, dass es sich keinen Zentimeter drehte. Auch als der Junge all seine Kraft aufbrachte, tat sich nichts.

Verdammt!

“Los, streng dich mal an!” trieb ihn Thor an, der inzwischen auf einem großen Stück Treibholz saß und angeekelt das stinkende Wasser betrachtete.

Wütend sah ihn Ben an, sagte aber nichts. Er lehnte sich gehen die Rohrwand und atmete noch einmal tief durch, bevor er sich wieder an dem Rad zu schaffen machte. Draußen würde es bald dunkel werden. Wenn er dann nicht nach Hause kam, würden sich seine Eltern Sorgen machen und früher oder später auch in der Scheune nachsehen!

Ein schlurfendes Geräusch erklang plötzlich im Rohr.

>Scht, scht, scht ,scht< machte es im Zweisekundentakt.

Ben fuhr erschrocken in alle Richtungen herum. “Lass das, Thor. Das ist nicht witzig!”

“Das bin ich nicht!” erwiderte der Rabe.

Das Geräusch war noch sehr weit entfernt, aber deutlich hörbar. Jemand kroch auf allen vieren durch das Rohr!

Panisch rüttelte Ben wieder an dem Rad, doch es wollte sich auch diesmal nicht drehen. Der Wartungsschacht blieb verschlossen.

Das Geräusch kam immer näher.

Ben! Wenn ein Mensch Todesangst hat, kann er dreimal soviel Kraft aufbringen! dachte sich der Junge. Er hatte diesen Spruch mal von einem Schulfreund gehört, doch es überkamen ihm Zweifel, ob dies auch stimmte. Mit Tränen in den Augen und aller nur erdenklicher Kraft, versuchte Ben wieder das verdammte Verschlussrad des Rohrschachtes zu öffnen. Doch diesmal fand er keinen Halt und viel der Länge nach in das eiskalte Wasser. Eine Flutwelle aus dreckigem Abwasser spülte den Raben von seinem trockenen Platz und mit jämmerlichem Krächzen ruderte er durch die Brühe.

Ben fischte ihn heraus.

>Beeen!< rief jetzt jemand mit kraftloser Stimme. Der Junge erschauderte am ganzen Körper. Hinter dieser Stimme war nämlich noch etwas anderes. Etwas entsetzlich trauriges und zorniges…

Der künftige Drachenreiter entzündete ein neues Streichholz und blickte auf die Einstiegsluke, während er mit der anderen Hand seinen Zettel mit den Runensymbolen aus der Hosentasche zog.

>Beeen!<

Er hob die Hand auf die Einstiegsluke und beschwor die Magie herauf. Dann schrie er: “Egth-Westra!”

Nichts tat sich.

Junge, konzentriere dich! verfluchte sich Ben.

Das Schlurfen war noch etwa zwanzig Meter von ihm entfernt.

>Beeen!<

“Egth-Westra!” rief der Junge und sah die Runen in seinen Gedanken hell aufleuchten. Kraft wurde aus seinem Körper gezogen, wie Kakao mit einem Strohalm aus einer Trinktüte.

Ein Knall und ein Lichtblitz durchfuhr das Rohr. Die Revisionsluke flog zehn Meter in die Luft und landete dann krachend neben Ben im Wasser, der vor Schreck aufschrie.

Der Junge schnappte sich sein Handy und blickte durch die Öffnung. Er sah einen etwa zwanzig Meter hohen, viereckigen Schacht. Eine verrostete Eisenleiter reichte bis ganz nach oben, wo mehrere helle Lichtschlitze zwischen Holzbrettern den rettenden Ausgang versprach.

Ben zögerte keine Sekunde und kletterte die Leiter hinauf. Dies war gar nicht so einfach, mit einem Raben in der Hand.

>Bleib hier, Beeen!<

Als der Junge hastig die verrosteten Sprossen hinaufkletterte und knapp die Hälfte der Strecke geschafft hatte, spürte er, dass etwas ihm folgte. Es befand sich jetzt auch unter der Einstiegsluke!

Der Weg nach oben verging wie in Zeitlupe. Ben wäre mehrmals fast abgestürzt, als die verrosteten Sprossen unter seinen Füßen abbrachen und mit einem lauten >Klang< auf die Rohrsohle prallten. Trotzdem traute er sich nicht, nach unten zu sehen.

Seine Arme taten weh und sein Gesicht war dreckig vom roten Rost. Der Zauber, mit dem er eben die Luke aufsprengte, hatte ihn viel Kraft gekostet.

Endlich erreichte er das obere Ende der Leiter. Ein kalter Wind kam ihm entgegen, als er seinen Kopf hinausstreckte. Thor flatterte ins Freie.

“Los, Kleiner! Komm raus!” trieb er ihn an.

Mit letzter Kraft hob sich Ben aus dem Schacht und setzte sich auf den Betonboden. Hastig sah er sich in alle Richtungen um. Ben war in einer verlassenen Fabrikhalle. Er wusste, dass hier früher die Papierverpackung war. Hier wurden die Eisenbahnwaggons mit den riesigen schweren Papierrollen beladen.

Die Fabrik war seit Jahrzehnten stillgelegt und drohte jeden Tag damit, einzustürzen. Die Dachträger aus Eisen waren verrostet, die meisten Dachziegel beschädigt und die großen Reihenfenstern, die aus mehreren kleinen Fenstern bestanden, waren fast alle vollständig zerbrochen.

Wind heulte durch die Fabrikhalle.

Eigentlich sollte sie schon längst abgerissen werden, doch Geldmangel der örtlichen Kommune verzögerte dies immer wieder. Dies führte letztendlich dazu, dass das Vorhaben tief unter irgendwelchen Aktenstapeln der Behörden verschwand und sich letztendlich niemand mehr für das Abrissvorhaben interessierte. Früher gab es sogar Lachse in der Murg, doch durch die Einleitung der ungeklärten Industrieabwässer verschwanden sie. Oder sie sind teilweise sogar mutiert!

 

In diesem Moment legte sich eine Hand um Bens Fuß.                                                                                                                                                                                                  

Der sanfte, aber doch feste Druck führte fast dazu, dass der Junge mit seinem Gesäß abgerutscht und senkrecht in die Tiefe zurückgestürzt wäre.

Er blickte nach unten in das Loch und sah einen Jungen.

Bens Herzschlag setzte plötzlich aus und fuhr danach mit einem mächtigen Adrenalinstoß umso schneller wieder fort.

Es war Joachim!

Es war der tote Junge aus Bens Stadt, der monatelang als vermisst galt und verzweifelt von der Polizei gesucht wurde. Joachim trug noch immer die Kleider, mit denen er auf den Steckbriefen beschrieben waren. Doch jetzt war sein roter Pullover zerrissen und durch die Löcher konnte man seine freiliegenden Rippen zwischen den Hautfetzen, die sich noch an seinem Brustkorb befanden, erkennen.

Die Reste seiner vermoderten Jeans klebten an Beinen, die so dünn wie Äste waren. Joachims Kopf hatte fast keine Haare mehr. Sein Schädel war stark skelettiert und die Augen in den Höhlen waren schneeweiß. Die Pupillen und die Augenbrauen waren verschwunden.

>Beeeen!< schrie er mit greller Stimme.

Seine Zähne waren fast alle abgebrochen und die restlichen waren gelb und hingen schief im schwarzen Zahnfleisch.

In den Löchern seiner abgefressen Nase schien sich etwas glitschiges zu bewegen.

>Beeen, ich bin gekommen, um dich zu besuchen, Beeeen!<

Ben versuchte zu schreien, doch es gelang ihm nicht. Blankes Entsetzen packte ihn, während er dem toten Jungen in die schneeweißen, leblosen Augen blickte.

Dies war kein Traum!

Joachims Hand zog wieder an Bens Fußknöchel und er rutschte weiter auf das Loch zu. Mit letzter Kraft konnte sich Ben noch an einer Steinkante festhalten.

>Komm runter zu mir, Beeen!<

Thor flog mit erbostem Krächzen über ihn und warf ihm eine große, verrostete Eisenschraube auf den Kopf, die er zuvor in der Fabrikhalle fand. Wütend fauchte Joachim.

Mit allerletzter Kraft riss nun der Drachenreiter ruckartig sein Bein los und stieß sich von dem Einstiegsloch nach hinten zurück.

Joachim zischte zornig.

Ben rappelte sich auf und rannte durch die fast leere Fabrikhalle Richtung Tür.

Zwei schneeweiße Arme, mit golfballgroßen Löchern im Fleisch, legten sich auf die Kante des Einstiegsloches, gefolgt von dem hasserfüllten Gesicht des toten Jungen.

Mit einem Knarren schwang das große Fabriktor auf und Ben hastete durch das kniehohe Gestrüpp auf den Vorplatz.

Auch der tote Teenager war inzwischen aus dem Rohrschacht geklettert. Sein zweiter Turnschuh fehlte und der fast komplett skelettierte Fuß klackte auf dem Betonboden.

In etwa 400 Metern Entfernung sah Ben eine Brücke.

Die Hauptstraße! dachte sich der Junge.

Wenn ich es bis dahin schaffe, bin ich gerettet!

Besorgt blickte er nach oben in den metallgrauen Himmel. Das Nakân Monster war verschwunden, doch der mysteriöse Nebel schlängelte sich immer noch über der Murg entlang und verdunkelte das Tal.

Auch der rote Feuerkristall in Bens nasser Hose war immer noch sehr warm.

“Verdammt!” fluchte Ben. Das Gelände der alten Papierfabrik war mit einem hohen Maschendrahtzaun umgeben und eine schwere Eisenkette versperrte die beiden Torhälften. Das große Vorhängeschloss der Kette wurde bestimmt schon seit 50 Jahren nicht mehr geöffnet und war jetzt nur noch ein einziger schwerer Klumpen aus braunrotem Rost.

“Mach es mit Magie auf!” rief der Rabe.

Geflüster drang wieder von hinten aus dem Nebel zu Ben.

Ohne zu überlegen, warf sich der Junge stattdessen einfach mit vollem Körpereinsatz gegen den Zaun. Verrostete Metallbolzen gaben ächzend nach und ein ganzer Abschnitt des Zaunes flog krachend nach hinten um.

“Na gut, so kann man es auch machen!” krächzte Thor.

Wilde Brombeersträucher und Brennnesseln zerkratzten Ben das Gesicht, als er mehr krabbelnd als laufend den steilen Hang hinaufhastete.

Als er nach einer endlos langen Zeit endlich auf der Hauptstraße ankam, zog sich der Junge mit letzter Kraft über die Leitplanke am Waldrand.

“Endlich, die Bundesstraße!” keuchte er erschöpft und zog zahlreiche Brombeerdornen aus seinem Handrücken.

Erleichtert stellte Ben fest, dass im selben Moment ein grauer Kleintransporter auf ihn zukam.

Mit ausgestreckten, wild fuchtelnden Armen machte er darauf aufmerksam, dass er unbedingt mitfahren wollte und freute sich, dass das Fahrzeug anhielt.

Die Windschutzscheibe der Beifahrertür fuhr langsam herunter.

“Wie siehst denn du aus, mein Kind?” fragte eine ältere Stimme besorgt. Ben blickte in die Fahrerkabine.

Ein älterer Herr mit Schnauzbart, roter Baseballkappe und einem scheußlich aussehendem gelben Pullover, mit aufgesticktem Santa Claus blickte ihn fragend an.

Ben dachte sich schnell eine Geschichte aus:

“Ich war mit meinem Fahrrad unterwegs“, jammerte er mit künstlicher, mitleiderregender Stimme, “als ich plötzlich die Böschung herabsegelte und in eine Schlammpfütze fiel. Können Sie mich bitte nach Neudorf mitnehmen?”

Er merkte nicht, dass Bens Begleiter direkt auf dem Dach saß und dabei war, seine schwarzen Federn zu reinigen.

Er blickte nur kopfschüttelnd an dem Jungen hinunter und musterte ihn noch mal von den dunkelblonden, dreckverklebten Haaren bis hinab zu den triefenden Turnschuhen. Dann meinte er: “Nun ja, einen schlauen Eindruck machst du mir nicht gerade. Wohl zu dumm zum Fahrradfahren, wie? Mmmh, na gut. Hops hinten auf! Hier vorne sitzt du mir mit deinen schlammigen Klamotten nicht hinein. Hab nämlich erst vorgestern die Sitzbezüge reinigen lassen!”

Ben nickte erleichtert.

“Und duck dich, wenn die Bullen an uns vorbeifahren! Will nicht am letzten Tag vor Heiligabend meinen Wisch abgeben.”

Ben stieg seitlich über die Pritsche auf und stellte dabei fest, dass der Fahrer zusammengeschnürte Weihnachtsbäume transportierte.

Wahrscheinlich für den Rastatter Wochenmarkt. dachte sich Ben, während sich der Kleinlaster ruckartig wieder in Bewegung setzte.

Ben fror am ganzen Leib durch den Fahrtwind und kauerte sich zwischen die Bäume, so tief er konnte. Thor hielt er schützend unter sich. Auch er fror, trotz seiner dicken Federn.

Der blutrote Elementarkristall, den er aus der Tasche zog, kühlte langsam ab, war aber immer noch warm genug, um sich daran die eiskalten Hände zu wärmen. Ben war froh darum, als diese langsam wieder auftauten.

Die Augen des Drachenreiters wollten schon zufallen, als der graue Kleintransporter wenig später stark abbremste.

Ben blickte hoch und erkannte die Ortstafel von Neudorf.

“Absteigen! Ab hier musst du laufen!”

Ben sprang sofort von der Pritsche und tastete sich noch mal ab, ob er den Runenzettel und das Wertvollste - den Elementarkristall noch hatte.

Erleichtert klopfte er auf die hintere Karosserie.

“Danke, auf Widersehen!” rief Ben nach vorne.

Als Antwort bekam er nur ein Brummeln aus der Fahrerkabine.

Ben eilte hinein in das Dorf, während der Kleintransporter hinter ihm wieder weiterfuhr und nahm die unauffällige Waldstraße zu seinem Elternhaus. Den Raben hatte er wie immer in der Jackeninnentasche. Diese war zwar längst durchnässt, aber immerhin warm.

Inzwischen war es schon stockdunkel geworden und Ben fühlte seine Füße vor Kälte nicht mehr. Zu allem Übel, setzte jetzt noch leichter Schneefall ein.

Als er endlich zu Hause ankam, durchquerte er wie immer den hinteren Garten und schlich sich durch die Hintertür ins Haus.

Aus dem Wohnzimmer drang das Geräusch einer TV-Talkschow und erleichtert hörte Ben seine Eltern lachen.

Wenn sie vor dem Fernseher sitzen, dachte er, vergessen sie schnell die Zeit. Das Fußballspiel müsste ja inzwischen auch längst vorbei sein.

Ben eilte hinauf in sein Dachgeschosszimmer und schloss es von innen ab. Frierend ging er ins Badezimmer und legte den Feuerelementarkristall und seinen durchweichten Zettel mit den Runensymbolen auf das Schränkchen mit den Körperpflegemitteln. Dann stellte er sich mit samt seinen Kleidern unter die Dusche und drehte das Wasser auf maximale Hitze.

Entspannt seufzte er und schloss die Augen. Die Kälte in seinem Körper wich augenblicklich und nach etwa fünf Minuten war er auch wieder sauber.

Der Naturschlamm aus der Murg löste sich nämlich zu seinem Erstaunen sehr leicht von Textilien.

Nur wusste der Junge nicht, wie er es seinen Eltern beichten sollte, dass seine beste Jacke futsch war!

Auch der Rabe bekam ein Bad. Ben ließ vorsichtig heißes Wasser über seinen gefiederten Körper laufen und half ihm, mit einer Zahnbürste den Sandschlamm aus seinen Federn zu putzen. Dann trocknete er ihn mit einem Handtuch. Die Prozedur schien dem Raben jedoch sehr zu gefallen.

Dann zog sich Ben nackt aus und hängte seine nassen, aber sauberen Klamotten an die Wäscheleinen über der Badewanne, die sich direkt neben der Dusche befand.

Schnell trocknete auch er sich mit einem Handtuch ab und zog einen frischen Trainingsanzug an.

Hungrig eilte er hinab ins Wohnzimmer.

“Ah, mein Junge! Hast du das Paket abgegeben?” fragte Bens Vater, während er auf seine Armbanduhr sah. “Du warst aber sehr lange weg.”

“Ja.” stimmte Ben hinzu und wunderte sich, warum seine Stimme nicht zitterte. “Aber Oma wollte unbedingt so lange mit mir Tee trinken.”

Ben konnte seinen Eltern schlecht erklären, dass sich seine Oma in die Hexe aus der Geschichte >Hänsel und Grethel< verwandelt hatte und ihn in den Ofen stecken wollte. Sie hätten ihn höchstwahrscheinlich für geisteskrank gehalten!

“Hast du Hunger?” fragte Bens Mutter.

Ben nickte.

“Dann musst du dir in der Küche wieder selbst etwas machen. Wir haben schon längst gegessen!”

Ben seufzte und tappte in die Küche zu der Edelstahlkühlkombination und öffnete die Tür.

Mein Drache und Ferenia müssen schon fast verhungert sein! Ich sollte ihnen etwas bringen! dachte sich Ben.

Seine Eltern lachten immer noch vor dem Fernseher, als der Junge eine Viertelstunde später mit einem großen Korb und zwei Flaschen Orangensaft leise das Haus durch die Hintertür verließ und zur Scheune schlich. Er blickte sich wie immer besorgt um, ob ihn niemand beobachtete. In fast allen Häusern war schon das Licht erloschen und die Menschen lagen entweder im Bett, oder saßen vor den Fernsehgeräten.

Frau Kotter, eine Nachbarin bereitete Ben die meisten Sorgen. Sie wohnte neben Herrn Müller und war eine giftige alte Schachtel die allen Kindern in der Nachbarschaft das Leben schwer machte. Seit sie in Rente war, hatte sie dafür nämlich Zeit - zuviel Zeit! An die letzte Silvesterparty konnte sich Ben auch nur allzu gut erinnern. Als sie damals nämlich gegen 19 Uhr fröhlich feierten, klingelte die alte Schreckschraube an der Tür und hielt wieder eine ihrer Standpredigten, die in Kraftausdrücken, wie >Kifferbande< und >Drogenparty< und noch anderen vulgären Worten endete. Bens Eltern versprachen kurzerhand, bis zum Feuerwerk um Mitternacht etwas ruhiger zu feiern, was sie auch taten. Sie spielten Karten, Monopoly und Schach. Doch dann um Mitternacht rächte sich Ben und warf ihr extra laute Würfelkanonenschläge in den Vorgarten unter die Fenster. Auch mehrere Vogelschreck-Knallkörper ließen ihr zu dieser Stunde keinen Schlaf

Während Ben grinsend daran dachte, schob er das Scheunentor auf und betrat das Gebäude.

 

“Taranûr, Ferenia. Wo seit ihr?”

“Hier hinten, Kleiner!” rief der Drache und hob freudig den Kopf. “Was hast du heute bloß den ganzen Tag gemacht? Wir haben lange auf dich gewartet!”

Ben setzte sich neben den Drachen und stellte den Korb mit den Nahrungsmitteln neben sich ab. Ferenia sah sofort hinein und freute sich über Kiwis und Orangen.

                                                                                                                                                                                                                                                                             “Ich hatte heute einen echt miesen Tag!” antwortete Ben und blickte dem Drachen in die gelben Augen. “Zuerst wollte ich nach dem Mittagessen zu euch kommen, doch dann meinte mein Vater unbedingt, ich soll zu meiner Oma um ihr ein Weihnachtsgeschenk zu bringen. Doch dann..."

Ben erzählte seinem Drachen alles. Von der Flucht aus dem Haus seiner Oma, die Angriffe der Suchenden und der Untoten Wesen im Flussbett der Murg, bis hin zur Heimfahrt auf dem Kleintransporter.

Er zeigte den beiden ein Foto von der Fabrikruine, dass er im Sommer zuvor mit seiner Drohne gemacht hatte. Damals hatte Ben die Idee, unheimliche Orte, an die er sich nicht hintraute, einfach aus der Ferne zu erkunden..

 

 

 

“Die Suchenden waren schon bei deiner Oma.” stellte Ferenia fest. “Sie haben die Fähigkeit, sich in die Gestalt zu verwandeln, die sie durch Körperkontakt berühren. Folglich haben die Suchenden deine Oma besucht, bevor du dort ankamst.”

“Aber wenn die Gestalt nicht meine Oma war, wo ist dann meine wirkliche Oma abgeblieben? Schließlich hat sie sich ja nicht in Luft aufgelöst!”

“Ben”, sagte das Elfenmädchen und legte dem Jungen ihre Hand auf die Schulter, “wenn die Suchenden sich der Gestalt einer Person bemächtigen, dann töten sie meist die echte Person.”

“Soll das heißen, sie haben meine Großmutter getötet?”

Ferenia nickte. “Tut mir leid!”

Ben schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf.

“Nein! Das kann nicht sein!”

Dann überkam ihn noch ein schlimmerer Gedanke. Wenn man sie fand, wird die Polizei bestimmt glauben, dass Ben die alte Dame auf dem Gewissen hat. Immerhin war er nämlich der letzte, der bei ihr war. Die Geschichte mit der Verwandlung in eine Hexe, würde ihm garantiert kein Staatsanwalt abkaufen

“Ben, du musst mit uns kommen, wenn ich in ein paar Tagen wieder fliegen kann.” sagte der Drache ernst und blickte dem Jungen in seine Tränenaugen. “Und so lange verlässt du nicht das Haus! Wenn Deine Eltern dich wieder irgendwo hinschicken, mach ihnen irgendwie klar, dass du nicht willst. Täusche eine Krankheit vor und leg dich ins Bett oder lass dir sonst was einfallen!”

Der Drachenreiter nickte schluchzend.

“Und jetzt geh nach Hause und schlaf dich erst mal aus! Morgen früh üben wir wieder und das kostet dich viel Kraft!”

Ben stand auf und verließ die Scheune.

“Passt auf euch auf, hier draußen!”

Taranûr blickte Ben nach.

“Du auf dich auch, Kleiner!”

Dann schob Ben das Tor zu.

Kapitel 7: Überfall bei Nacht



“Kämpfe niemals zu oft gegen den selben Feind, denn sonst lehrst du ihn deine Kampfkünste!”
- Napoleon Bonaparte


“Scheiß-Nigger, wir kriegen dich!!” schrie Sancho.
Der Skinhead stürmte mit seinen beiden Glatzkopfkameraden Nico und Walther die Straße entlang. Ein junger Afrikaner von etwa 22 Jahren, der gerade vom Weihnachtsmarkt auf dem Weg nach Hause war, rannte etwa 40 Meter vor ihnen um sein Leben. Er hatte schwarze, schulterlange Dreadlock-Haare, trug eine olivgrüne Winterjacke, blaue Jeanshosen und weiße Turnschuhe. Von seiner rechten Schläfe tropfte Blut.
Dicht hinter ihm folgten die drei Skinheads.
Es war gerade 23 Uhr und zu dieser Zeit war in den kleinen Seitenstraßen von Gernsbach fast nichts mehr los. Die Lichter in den meisten Häusern waren längst erloschen. Nur ab und zu sah man ein paar betrunkene Männer aus diversen Kneipen nach Hause wanken.
Ursache des Streites zwischen Sancho und dem Afrikaner war zu viel Alkohol. Die drei Skinheads betranken sich mal wieder in einem Gernsbacher Bierkeller. Kurz darauf fingen sie an, antijüdische und Hitlerverherrlichende Hassparolen zu grölen. Als sie dann auch noch die erste Strophe der “Horst Wessel Liedes” sangen und dabei randalierten, wurden sie kurz darauf von dem Wirt und drei starken LKW- Fahrern, die Stammgäste waren, vor die Tür gesetzt. Die Skinheads ließen ihre ganze Wut erst mal an einer Telefonzelle aus, die sie bis zur Unkenntlichkeit zusammentraten. Als der junge Afrikaner, der zufällig vorbeikam, fragte was der Blödsinn soll, machte er den entscheidenden, verhängnisvollen Fehler. Er provozierte noch zusätzlich die ohnehin schon gereizten Skinheads.
Als ihn ein mit SS-Runen gravierter Schlagring am Kopf traf, rannte er vor ihnen davon. Verzweifelt rief er um Hilfe.
“Das bringt dir nichts, Nigger! Wärst du lieber in Afrika bei den Affen geblieben!” schrie Senko.
Entsetzt stellte der junge Schwarze fest, dass die Skinheads immer mehr aufholten! Sie waren nun keine 10 Meter mehr hinter ihm. Schlitternd hetzte er um eine Kurve und eilte über den großen Parkplatz eines inzwischen geschlossenen Einkaufszentrums. Dahinter war das Industriegebiet von Gernsbach.
Es bestand hauptsächlich aus zahlreichen leerstehenden Fabriken und einem Metallschrottplatz.
Die Straßen waren hier nun nicht mehr geteert und bestanden fast nur noch aus grobem Schotter. Der junge Schwarze hörte direkt hinter sich die Skinheads. Sie konnten trotz ihrer schweren Springerstiefel unglaublich schnell rennen.
“Gleich haben wir dich, Bananenfresser! Zu Jesus beten, nützt dir jetzt auch nix mehr, hahahaha!”
Er eilte an mehreren Fabrikgebäuden vorbei, in der Hoffnung, die Skinheads irgendwie abzuschütteln. Doch sie waren direkt hinter ihm. Er konnte ihren Atem hören.
Ein Baseballschläger landete im nächsten Moment krachend auf dem Hinterkopf des Afrikaners. Gleichzeitig zog ihm ein Springerstiefel die Beine im Rennen weg.
Der junge Schwarze flog etwa vier Meter weit durch die Luft, dann landete er der Länge nach in einer eisbedeckten Schlammpfütze und rutschte noch drei Meter weit hindurch. Er stöhnte vor Schmerz.
Die Skinheads lachten dreckig.
“Ich hab dir doch gesagt, wir kriegen dich, Nigger!” rief Walther.
Sancho war etwas langsamer gewesen und erreichte die anderen erst jetzt. Sein Atem ging stoßweise.
Als der Afrikaner aufstehen wollte und sich mit beiden Armen hochstemmte, drückte ihm Sancho seinen Springerstiefel in den Rücken und er fiel zurück in die Pfütze. Blut lief aus seiner Nase und er hatte unzählige Hautabschürfungen.
“So, Nigger! Hier in unserer Stadt reißt kein Bananenfresser ungestraft das Maul auf. Jetzt zeigen wir dir mal-”
Plötzlich brach Sancho mitten im Satz ab und hielt inne. Eine gewaltige Nebelwand rollte plötzlich auf die vier Personen zu und schloss sie innerhalb weniger Sekunden ein.

“Hey, Sancho, was ist das für´n Scheiß!?” fragte Nico, der sich ängstlich umsah. Ihm war jetzt gar nicht mehr nach prügeln zumute. Der Nebel war kalt, feucht und einfach nur unheimlich. Ein Stimmengewisper schien leise daraus hervorzukommen….
Über ihre Köpfe rauschte plötzlich ein riesiger Schatten. Er zog einen großen, spiralförmigen Turbulenzluftstrom hinter sich her, den man in dem dichten Nebel gut erkennen konnte.
Der junge Afrikaner stand indessen auf und rannte davon. Die Skinheads schienen das aber erst gar nicht zu bemerken. Sie starrten einfach nur in den Nebel, noch immer ihre Baseballschläger in der Hand. Dieser wurde nun so dicht, dass man keine 10 Meter weit mehr sah. Kleine Wassertröpfchen bildeten sich auf ihren Schlägern, die an der Unterseite abtropften.
“Sancho, lass uns besser abhauen!” drängte Walther. “Das gefällt mir nicht!”
Sancho funkelte ihn zornig an. “Hast du schiss?”
“Nein, aber-”
“Verdammt!” rief Sancho. “Wo ist jetzt der Nigger hin!?”
“Da!” sagte Nico und deutete nach vorne. “Da ist was im Nebel!”
Eine schemenhafte Gestalt trat langsam aus dem Nebel heraus, auf die drei Skinheads zu. Sie trug einen langen schwarzen Umhang. Das Gesicht konnte man durch die Kapuze nicht erkennen.
“Was bist du denn für einer!?” fragte Sancho mit aggressivem Unterton.
Der Suchende trat vor die drei Skinheads. Dann griff er unter seinen Umhang, holte einen kleinen Lederbeutel heraus und warf ihn Sancho zu. Dieser fing ihn reflexartig auf und öffnete ihn. Einige große Goldnuggets kullerten in seine offene Handfläche. Dem Skinhead verschlug es die Sprache.
Eine Stimme, kalt wie Eis sagte zischend: “Wir suchen jemanden. Einen Jungen. Er geht hier in die Schule und soweit wir bis jetzt erfahren haben, heißt er Ben. Es ist außerordentlich wichtig für uns, dass wir erfahren, wo er sich zur Zeit aufhält.”
“Die Scheiß-Zecke mit den dunkelblonden Haaren? Der, der uns das letzte Mal den Ärger mit den Bullen vor der Schule eingebrockt hat? Ja, den kennen wir!” entgegnete Sancho hitzig. “Na ja,… ehrlich gesagt nur flüchtig. Soweit wir von Kevin, einem unserer Skin-Kameraden wissen, wohnt er neben ihm in dem kleinen Nebenort Neudorf am obersten Haus. Dort wo der Wald und die Felder anfangen!”
Der Suchende verbeugte sich leicht. “Danke, ihr habt uns sehr geholfen!”
Dann öffnete er plötzlich seinen Umhang und breitete ihn seitlich mit beiden Armen aus, als wären es zwei Flügel. Die drei Skinheads bemerkten, dass in der Innenseite des Umhanges hunderte kleine Lebewesen mit Flügeln hingen. Sie sahen aus wie Libellen, waren aber pechschwarz und hingen mit dem Kopf nach unten da. An ihren Hintern hatten sie zangenähnliche Klammern, mit denen sie sich am Umhang festhielten. Ihre libellenähnlichen Doppelflügel bewegten sich leicht, als würden sie in einer Briese flattern. Allerdings war es gerade total windstill.
Ein einzelnes der libellenähnlichen Kreatur surrte aus dem Umhang heraus und landete auf Sanchos rechten Arm, direkt unter seiner Landser-Tätowierung. Ein kurzer brennender Schmerz, dann sah er entsetzt, dass das dünne, schwarze Lebewesen immer dicker wurde. Sein Bauch schwoll an und die Farbe verwandelte sich von Schwarz über dunkelrot, bis zu hellrot.
Panisch schlug Sancho mit seinem Baseballschläger auf den ekelhaften Blutsauger, dessen Bauch schon die Größe eines Golfballes angenommen hatte! Dreimal schlug er darauf, doch sein Schläger federte immer wieder ab. Beim vierten Mal zerplatzte es mit einem >Pflatsch< und ein Schwall Blut spritzte ihm ins Gesicht.
Schreiend zog er den spitz zulaufenden, haarigen Kopf samt Rüssel heraus. Eine eiterähnliche Flüssigkeit tropfte daraus noch nach.
Nico schrie panisch: “Mensch, Sancho, jetzt lass uns endlich von hier abha-”
In diesem Moment rief der Suchende etwas und alle Blutsauger flogen unter seinem Umhang hervor. Sie fielen über die drei Skinheads her und landeten auf ihren Körpern. Panisch schlugen sie wild fuchtelnd um sich. Nico rannte weg. Eines landete auf Walthers linkem Auge. Er schloss es reflexartig, aber das nützte ihm gar nichts. Der Rüssel des kleinen Blutsaugers durchbohrte sein Lied und drang in den Augapfel ein. Panisch kreischte er, als er spürte, wie sein Auge in sich zusammenfiel. Er fiel schreiend und krümmend zu Boden. Im nächsten Moment drangen zwei Blutsauger links und rechts in seine Ohren ein. Tief in seinen Gehörgängen spürte Walther kurz darauf ein höllisches Brennen… Dann war er taub und konnte keinen Ton mehr hören. Nicht mal seine eigenen Schreie.
Sancho lag am Boden und schlug nach mindestens zehn Blutsaugern, die in seine Bomberjacke krochen und ihn stachen. Unzählige saßen auf seiner Hose. Als sie über ihr Fassungsvermögen hinaus tranken und teilweise von selbst zerplatzten, spürte er warmes Blut - sein Blut - in die Hose laufen. Panisch sprang er auf, rannte blind gegen ein Verkehrsschild, fiel wieder hin und schlug dabei mit dem Kopf auf dem Schotterboden der Straße auf.
Langsam verlor er das Bewusstsein….
Nico war schlauer. Obwohl sich auch an ihm unzählige Blutsauger festsetzten, rannte er in eine Telefonzelle, die in etwa 30 Metern Entfernung stand und schloss sich darin ein. Sofort stürmten alle Blutsauger darauf zu.
Man konnte die Farbe der Telefonzelle gar nicht mehr erkennen, so viele dieser kleinen Lebewesen klebten auf ihr drauf und versuchten, an den schmackhaften >Inhalt< zu kommen. Das ist nur ein Alptraum. Das ist nicht real!


Dann konnte man von außen erkennen, wie die Telefonzelle unter den tausenden Blutsaugern zu implodieren schien und Nico einen letzten Todesschrei ausstieß, während der ganze Schwarm über ihn herfiel.
Der Suchende inzwischen beugte sich über Sancho, der längst schon keinen einzigen Tropfen Blut mehr im Körper hatte. Er war dünn, trocken und verschrumpelt, wie eine alte Mumie!
“Vielen Dank für die Information und auf Widersehen!” zischelte der Suchende, hob seinen Lederbeutel mit den Goldnuggets wieder auf und steckte ihn ein. Die Blutsauger flogen inzwischen wieder auf den Suchenden zu und krochen allesamt innerhalb weniger Sekunden wieder unter seinem Umhang.
Dann verschwand die dunkle Gestalt wieder im dichten Nebel.

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Kalter Nebel….

Flüsternder Nebel…

“Ben, wir kommen… wir kommen… wir kommen…!”

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“NEIN!” schrie Ben, als er schweißgebadet in seinem Bett hochschreckte. Panisch sah er sich in alle Richtungen um.
“Keine Panik, Kleiner! Du hattest nur einen Traum!” sagte Thor.
Der Rabe saß auf dem Nachttisch wie ein schwarzer Wächter und sah den Jungen an. Seine Augen glänzten, wie schwarze Perlen.
Keuchend ließ sich Ben zurück ins Kopfkissen fallen und blickte auf seinen Radiowecker, der neben Thor stand. Es war 2.45 Uhr, mitten in der Nacht.
Er legte sich beide Hände an den Kopf. “Okay, ganz ruhig!” sagte Ben zu sich. “Es war nur ein Traum! Nur ein dummer Traum! Es wäre nämlich auch zu schön, wenn Sancho so ein Schicksal ereilt. Die Suchenden wissen nicht, wo du bist und sie werden auch nicht kommen, um dich zu holen!”
“Du hast von den Suchenden geträumt?” fragte der Rabe.
“Ja!”
“Das ist ein schlechtes Omen!”
“Das sind Raben auch, sagt man!” murrte Ben.
“Hey, das meine ich Ernst!” gab Thor giftig zurück. “Drachenreiter haben die Gabe, gewisse Dinge im Voraus zu erkennen.”
“Wirklich?“ murmelte Ben besorgt. “Du meinst, in Träumen?”
Der Rabe nickte.
“Verdammt!“, fluchte Ben. “Er war so real! Ich konnte alles genau hören“
“Was denn?” fragte der Rabe und hüpfte auf Bens Brust.
“Alles, was die Suchenden Sancho gefragt haben. Wo ich wohne und so.”
Der Rabe lief über die Bettdecke zu Bens Kopfkissen.
Besorgt drehte sich der Junge hin und her und versuchte wieder einzuschlafen. Doch es gelang ihm nicht mehr. Nach einiger Zeit stand er auf und ging die Treppe hinunter in die Küche. Aus dem Kühlschrank nahm er sich ein Glas Milch und ging wieder nach oben in sein Zimmer. Milch trank er immer, wenn er nicht schlafen konnte.
Fröstelnd legte er sich zurück ins Bett und trank sein Glas leer. Für Thor hatte er einen Keks mitgebracht, der ihn gierig mit dem Schnabel zerhackte und runterschlang.
“Aber mach mir nicht so viele Krümel in mein Bett!” sagte Ben.
Der Rabe verharrte kurz, während er ihn mit schräg angelegtem Kopf ansah. Dann hackte er weiter auf dem Keks rum, als wäre nichts gewesen.
Ben machte sich Sorgen um Ferenia und Taranûr. Sie saßen ganz alleine in der dunklen Scheune.
“Wenn ich sie doch bloß hier bei mir hätte!” flüsterte der Junge. “Dann könnte ich wenigstens etwas ruhiger schlafen…”
“Du hast ja mich!” sagte der Rabe und hüpfte wieder dem Jungen auf die Brust.
Ben lächelte und streichelte den Kopf des Raben.
Nach einer Weile griff er unter sein Kopfkissen und blickte den Feuerkristall an. Er war eiskalt und signalisierte keine Gefahr.
Ben betrachtete, wie sich das wenige Licht, das das Display seines Radioweckers abstrahlte, sich darin brach. Der Kristall war wunderschön und Ben hätte ihn um nichts in der Welt wieder hergegeben.
Er schob ihn nach einer Weile zurück unter sein Kopfkissen und schloss wieder die Augen. Doch Einschlafen konnte er wieder nicht. An der Decke hing ein Bild, auf dem eine ganze Schafherde abgebildet war. Jedesmal, wenn er nicht einschlafen konnte, sah er es an und zählte die Schafe. Meistens schlief er vorher ein, doch manchmal schaffte er es, alle zu zählen. Deshalb wusste er auch jetzt schon, dass es genau 299 Stück waren.
Er hörte ganz leise das Ticken der Wanduhr, die draußen im Flur stand.
Tick.. tick… tick… tick…
Bens Augenlieder wurden schwerer und der Schlaf griff mit weichen Fingern nach ihm.
Tick… tick… tick…

Plötzlich riss ihn ein so lauter Blitzknall aus dem Schlummer, dass er sofort senkrecht im Bett stand. Er hallte noch sekundenlang in seinen Ohren.
“Verdammt! Was war das denn!” rief er. Es hörte sich so an, als hätte jemand einen sehr lauten Feuerwerkskörper im Flur vor seinem Zimmer gezündet. Doch Ben wusste, dass das am unwahrscheinlichsten war.
Wieder ein ohrenbetäubender Knall, der die Hauswände zum vibrieren brachte. Sofort sprang der Junge aus dem Bett.
Im nächsten Moment bemerkte er, dass Rauch in der Luft lag! Beißender, ekelhafter, stinkender Rauch, der ihm die Sicht nahm.
“Raus aus dem Bett!” schrie Thor und flatterte durchs Zimmer.
Im Flur piepste der Feuermelder und Ben zog sich in Windeseile an. Er blickte dabei aus dem Fenster und sah mit Entsetzen eines der Nakâns im Sturzflug auf das Hausdach zukommen!
Im letzten Moment duckte sich der Junge reflexartig, als auch schon der Schwanz des Flugmonsters während des Überfluges mit voller Wucht auf das Dach schlug und ein zwei Meter großes Stück herausriss! Dachziegelsplitter rasselten in Bens Zimmer, als er sich schreiend vor Schreck auf den Boden warf. Er hörte, wie unten jemand gegen die Haustür trat und sie aufbrach. Im nächsten Moment hörte er seine Eltern schreien.
Wieder ein Knall. Die Wände wackelten…
“Die Suchenden!” rief Ben entsetzt. “Sie wollen den Feuerelementarkristall! Sie wollen Taranûr!”
Er griff in sein Bett, das schon voller Dachziegelsplitter war und zog unter seinem Kopfkissen den roten Kristall heraus, der wieder so hell wie eine Bengalfackel glühte und ihn regelrecht blendete.
Geschwind wickelte er ihn in ein Tuch ein, damit er sich nicht die Finger verbrannte und steckte ihn sich in die Hosentasche.
Wieder flog das Nakân-Monster über das Dach und schlug diesmal auf das linke Dachfenster ein. Glassplitter, Firstziegel und gebrochene Dachsparren regneten auf die Hofeinfahrt. Bens Zimmer glich einem Trümmerfeld! Noch nie hatte er von hier oben aus einen so unfreiwilligen Ausblick in die Landschaft…
Als der Nakân wieder das Haus überflog und ein Teil des Daches abdeckte, sprang ein Suchender von dessen Rücken direkt durch das Loch im Dach. Ben stockte der Atem, als er in seinem Zimmer landete und schon im nächsten Moment eine schwarze Schwertklinge aus seinen Umhang hervorzog.
“So sehen wir uns wieder, Drachenreiter. Oh Verzeihung, aber ich glaube soweit wird es mit dir nicht mehr kommen!” Die vermummte Gestalt lachte dreckig und hob eine Hand. Ben stellte schockier fest, dass sie fast nur aus Knochen bestand und 7 Finger hatte!
“Aarn-Farach!” rief die Gestalt und ein Blitz schoss schon im nächsten Moment aus der Zeigefingerspitze auf Ben zu. Seiner schnellen Reaktion war es zu verdanken, dass das Geschoss seinen Kopf nur um 5 Zentimeter verfehlte und am anderen Ende des Zimmers in seinen großen LCD Fernsehapparat einschlug, den es regelrecht zerfetzte. Dann holte die dunkle Gestalt mit dem Kurzschwert aus und streifte Ben am Arm. Dieser schrie spitz auf und rollte sich am Boden ab.
“Aarn Karom!” rief Ben jetzt und stellte sich im Gedanken die Runen vor, die den Zauber freisetzten. Eine dünne gläserne Wand bildete sich vor ihm wie ein Schutzschild. Er spürte, wie der Zauber ihm die Lebensenergie entzog. Schon nach wenigen Sekunden fühlte er sich so, als hätte er einen 4000 Meterlauf gemacht.
Wieder hob der Suchende den Zeigefinger…
“Aarn-Fa-”
Weiter kam er nicht. Denn ein kurzes Surren ertönte plötzlich hinter ihm, dann ein grässlicher Aufschrei der Vermummten Gestalt. Ein Pfeil steckte in seinem Rücken. Ben erkannte Ferenia im Treppenhaus, die ihn ernst ansah.
“Du tätest gut daran, jetzt mit Thor, mir und Taranûr zu verschwinden!” rief das Elfenmädchen, während es einen weiteren Pfeil aus dem Köcher zog und auf den Suchenden zielte.
“Das war dein letzter Fehler, Elfenweib!” rief dieser und zog mit einer Hand den Pfeil aus dem Rücken. Wieder strömte für einen Augenblick schwarzer Rauch aus der Wunde.
Ben musste seinen Schutzzauber lösen, da er sich vor Schwäche kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er hörte unten in der Wohnung Glas zersplittern und Feuer knistern.
“Meine Eltern!” rief er entsetzt.
“Ben, du kannst ihnen nicht mehr helfen! Die Suchenden haben sie eben mit Magie getötet und das haben sie bei dir gerade auch versucht!” schrie Ferenia. “Du musst hier verschwinden.”
“Nein!” schrie Ben mit Tränen in den Augen und riss sich los. Er blickte vom Treppenhaus nach unten in den Flur. Dort lag seine Mutter in einer Blutpfütze und blickte mit leblosen Augen an die Decke.
“NEIIN!” schrie er wieder.
Ferenia packte ihn kurzerhand und schubste ihn aus dem Loch im Dach. Er fiel schreiend fünf Meter tief und landete etwas unsanft in dem hohen Gebüsch neben der Garage. Ben verhedderte sich etwas in der Weihnachtsbeleuchtung, stand danach aber schreiend wieder auf und riss sie sich vom Leib.
Thor flog auf den Suchenden zu und hackte mit seinem spitzen Schnabel wie besessen in sein Gesicht. Schreiend fuchtelte die vermummte Gestalt, während Rauch aus den Wunden in seinem Gesicht strömte. Der Rabe war darin schon nicht mehr zu sehen.
Taranûr kam im selben Moment um die Hausecke gelaufen, rutschte ein Stück auf der zugefrorenen Einfahrt entlang und schlug dabei versehentlich mit seinem Schwanz bei zwei Autos, die am Gehweg parkten, die Seitenscheiben ein.
Ferenia sprang nun mit Thor im Arm hinterher und landete geschickt auf den Füßen, noch immer den Bogen schussbereit in der Hand.
Durch das Fenster erkannte Ben, wie zwei der Suchenden das untere Stockwerk durchforsteten und alle Schubladen und Schränke durchwühlten. Sie schienen den Drachen in der Hofeinfahrt noch gar nicht bemerkt zu haben.
“Ben, Ferenia, steigt sofort auf meinen Rücken!” befahl der Drache.
“Kannst du denn schon wieder fliegen?” fragte Ben besorgt.
“Ich muss es versuchen. Hast du den Kristall?”
Ben nickte und stopfte den Raben in seine Jackentasche.
“Dann nichts wie weg hier!”
Ben stieg total ungeschickt auf Taranûrs schuppigen Körper, gefolgt von Ferenia, die es wesentlich besser konnte und Ben hochschob.

“Hört auf zu plündern, ihr Idioten!” rief der Suchende, während er aus dem Loch im Dach auf die Einfahrt herunter sah. Noch immer strömte Rauch aus den Wunden in seinem Gesicht, die ihm Thor zugefügt hatte. “Das Pack versucht abzuhauen!”
Der Drache stieß sich von der Hofeinfahrt ab und schlug kräftig mit den Flügeln. Die Wunde tat Taranûr noch immer weh, doch er verkniff sich den Schmerz und trug seine Reiter schnell höher. Mittlerweile stand Bens Elternhaus lichterloh in Flammen. Einer der Suchenden blickte aus dem unteren Wohnzimmerfenster und murmelte eine Zauberformel, während zwei Blitzgeschosse aus seiner Hand schossen. Beide verfehlten den Drachen und seine Reiter nur um wenige Zentimeter und schlugen auf der Straßenkreuzung weiter vorne ein. Sie rissen beide links und rechts jeweils ein drei Meter tiefes Loch in die Asphaltdecke.
“Aufsteigen und hinterher!” rief einer der Suchenden, während mehrere Nakân- Flugmonster im Hof vor Bens brennendem Elternhaus landeten.
Der Weisenjunge blickte mit Tränen in den Augen nach unten und sah, wie mehrere Fahrzeuge mit Blaulicht die Straße Richtung Neudorf entlangfuhren.
“Meine Eltern sind tot!” schluchzte Ben mit Tränen in den Augen. “Und das alles nur wegen dem verdammten Stein!”
Die Stadt wurde immer kleiner und kleiner, während sie höher stiegen.
“Ben, es tu-” der Drache hielt inne und beendete den Satz nicht.
Die Schnittwunde an Bens Unterarm brannte so stark, dass ihm langsam schwarz vor Augen wurde und er in Ohnmacht fiel.
Eine gnädige Dunkelheit umfing ihn.

Kapitel 8: Die Schule der Drachenreiter



Ben glitt zwischen Dunkelheit und Licht und jedes Gefühl zwischen Raum und Zeit war verschwunden. Sein Kopf schmerzte unerträglich und die Wunde an seinem Arm, die ihm der Suchende zugefügt hatte, brannte wie flüssiges Feuer.
Nach einer unendlich langen Zeit schaffte er es mit Mühe, die Augen aufzuschlagen. Er blickte in ein schuppiges Drachengesicht. Zwei gelbe Augen schauten ihn besorgt an.
“Ben, hörst du mich?”
Mit einem kleinen Ruck, der dem Jungen aber wie ein gigantischer Kraftaufwand vorkam, nickte er.
Die Mine des Drachen erhellte sich sofort sichtbar.
“Er kommt zu sich!” flüsterte er freudig.
Ben blickte sich mit einem weiteren Kraftaufwand um und stellte fest, dass er sich in einem großen Zimmer befand. Es war dunkelblau gestrichen und hatte drei große, rechteckige Fenster. In der linken, hinteren Ecke stand ein langer Tisch mit zwei Stühlen, an der rechten Wand ein großer, dunkelbrauner Schrank. Der Geruch von frischer Medizin lag in der Luft. Es roch so ähnlich wie beim Zahnarzt.
Ben stöhnte leise vor Schmerz und Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Er fühlte sich so miserabel, wie noch nie in seinem Leben.
Gerade, als er wieder eindöste, öffnete sich die Tür neben seinem Bett und ein großer Mann mit schneeweißem Haar, einem langen Bart und grauer Robe betrat den Raum.
Der Drache, der wie ein Wächter neben Ben am Bett stand, sah den Mann besorgt an.
“Meinem Reiter geht es sehr schlecht.”
“Es ist das seltene Xefhen-Schlangengift, mit dem die Suchenden ihre Klingen einreiben. Kommt ein Drachenreiter damit in Kontakt, stirbt er höchstwahrscheinlich. Nur wenn nicht, ist er danach für immer immun dagegen.”
Dann blickte er Taranûr an. “Ihr Drachen seit von Natur aus immun gegen dieses Gift. Du wurdest doch auch von den Suchenden mit einer ihrer Klingen verletzt”
Der Drache nickte und hob den Flügel. An der Stelle, wo ihn damals der Dolch traf, sah man fast nichts mehr. “Ab und zu sticht die Wunde noch etwas, aber in zwei Wochen sieht und spürt man nichts mehr davon”. Dann blickte er wieder besorgt auf Ben.
“Wird er es schaffen?”
Der Mann mit der grauen Robe legte seine Hand auf Bens nasse Stirn. “Er hat hohes Fieber, aber er kämpft mit aller Kraft dagegen an.”
Er öffnete eine kleine Tasche und holte mehrere Fläschchen heraus. In einer kleinen Schale mischte er die Flüssigkeiten penibel genau. Dann beugte er sich über Ben.
“Trink das, Junge!”
Mit aller Kraft, die Ben aufbringen konnte, hob er den Kopf und trank die Medizin. Sie schmeckte wie Essig und Ben kniff die Augen zusammen, während er sie hinunterwürgte.
“Es enthält Kräuter, die die Vergiftung etwas eindämmen. Den Rest muss sein natürliches Immunsystem selbst schaffen.”
Er blickte den Drachen an. “Am besten, du bleibst bei ihm. Drachenreiter sind viel stärker, wenn ihr Drache in ihrer Nähe ist.”
Taranûr nickte.
Im selben Moment kam Ferenia ins Zimmer und machte eine Verbeugung. “Meister Karanir, ich bin gekommen, wie ihr es wünscht.”
“Du kümmerst dich um den neuen Drachenreiter. Rufe nach mir, wenn etwas sein sollte. Ich muss wieder zurück an die Arbeit.”
“In Ordnung.“ Ferenia setzte sich auf die Bettkante und hielt Bens Hand, während dieser wieder eindöste. Auch Taranûr blieb bei ihm und stand neben dem Bett, wie ein riesiger Gargoyle-Steinwächter. Er legte seine Kralle auf Bens Brustkorb und tat alles nur erdenkliche, um ihm zu zeigen, dass er immer bei ihm sein würde, egal was kommt.

Ab und zu kam der Junge wieder kurz zu sich, schlief aber dann gleich wieder ein. Ben hatte Fieber, dass in Wellen mal stärker, mal schwächer wurde. Er fühlte sich wie ein glühendes Stück Kohle, heiß und trocken. Krämpfe jagten ab und zu durch seinen Körper und er hatte jeden Moment das Gefühl, sein Kopf würde explodieren.
Ihr habt meine Eltern umgebracht, dachte er sich, aber mich besiegt ihr nicht so leicht. Ich kämpfe und wenn ich wieder gesund bin, dann räche ich mich an euch! Dann nützt euch euer feiges Gift auch nichts mehr, denn dann bin ich immun dagegen!
Dieser Gedanke brannte sich in ihn ein wie glühendes Metall in Holz und er kämpfte mit all seiner Kraft gegen das Gift in seinem Körper.

Irgendwann wachte er wieder auf, als es draußen stockdunkel war. Er fragte Taranûr, der immer noch an der selben Stelle neben dem Bett wachte, wie lange er geschlafen habe.
“Vier Tage!” antwortete der Drache.
“Warst du die ganze Zeit an meiner Seite?”
Der Drache nickte.
Ben streichelte seine schuppige Schnauze. “Danke!”
Ungläubig sah sich Ben nun um. Ferenia saß an dem kleinen Schreibtisch und mixte etwas in einem Glas, was sie kurz darauf Ben zu trinken gab. Als er sich im Bett hochbeugte, um besser trinken zu können, spürte er, dass das Fieber deutlich zurückgegangen war. Auch seine Krämpfe und Kopfschmerzen waren verschwunden. Die Stelle am Arm, wo ihn der Dolch des Suchenden traf, war schon gut verheilt.
Ben lächelte erleichtert. Doch Ferenia sagte: “Du bist über dem Berg Ben, aber gesund noch lange nicht! Leg dich wieder hin!”
Der Junge gab Ferenia das leere Glas zurück und sank wieder erschöpft in das Kissen.
“Und wieder mal haben es die Suchenden nicht geschafft, mich zu töten!” sagte Ben lachend, dankbar noch am Leben zu sein.
Meister Karanir sah ab und zu nach Ben. Er war froh, dass es der Junge geschafft hatte, gab ihm aber vorsichtshalber trotzdem noch etwas Medizin. Abends erzählte ihm Taranûr oft Geschichten, von Trollen, Kobolden, Weißwölfen und anderen Wesen, die die umliegenden Wälder bewohnten.


Am nächsten Morgen wachte Ben sehr früh auf. Das letzte bisschen Fieber war nun verschwunden und er fühlte sich wieder so wie immer. Taranûr, der gestern Abend neben ihm eingeschlafen war, freute dies sichtlich, als er seine gelben Augen öffnete.
“Kleiner, wie geht’s dir?”
Ben überlegte kurz. “Eigentlich ganz hervorragend. Ich fühle mich wieder richtig gut!”
Der junge Drachenreiter stieg mit wackeligen Beinen aus dem Bett und machte ein paar Schritte.
“Danke, Taranûr, dass du die ganze Zeit bei mir geblieben bist. Das hat mir sehr viel Kraft gegeben.”
Die Zimmertür wurde plötzlich von einer Drachenschnauze sanft aufgestoßen und ein roter Drache, der etwas größer als Taranûr war, betrat das Zimmer. Seine Schuppen hatten die Farbe von Bens Feuerelementarkristall.
“Ferenia, mein Schatz. Ist der junge Drachenreiter wieder aufgewacht?”
Das Elfenmädchen sah den Drachen an. “Ah, Xalathar, schön dich zu sehen. Das ist der prophezeite Drachenreiter Ben!”
Der rote Drache näherte sich mit seinem großen Kopf Ben, der vorsichtig seine schuppigen Wangen mit einer Hand berührte und sagte: “Hallo Xalathar. Du bist Ferenias Drache.”
Xalathar nickte. Seine Augen waren grün und leuchteten wie Smaragde. Dahinter schien etwas helles zu leuchten. “Und du bist der, den uns das Sternenorakel prophezeit hat. Meine Reiterin hat mir schon alles erzählt. Tut mir leid, wie die letzten Tage für dich verlaufen sind, Ben.”

Ben begutachtete sein großes Zimmer jetzt zum ersten Mal richtig. Es hatte ein riesiges Panoramafenster am hinteren Ende. In der linken Ecke stand ein großer Schreibtisch. Ein riesiges Bücherregal stand daneben und beinhaltete mehr Wissen, als er wahrscheinlich je lernen könnte.
“Unten im Keller haben wir auch eine Bibliothek, Kleiner. Langweilig wird’s dir bestimmt nie!”
Ein großer Kleiderschrank stand direkt neben seinem Bett, das fast doppelt so groß war, wie sein altes zu Hause.
Ben ging an den Schreibtisch, auf dem ein Zettel lag:

Lieber Ben,

Willkommen auf Mûrin-Tar, der geheimen Schule der Drachenreiter. Wenn du diese Zeilen lesen kannst, dann funktioniert mein Zauber, der es dir ermöglicht, unsere Schrift zu lesen. Wir freuen uns, dich bei uns zu wissen. Die letzten Tage waren sicher schwer für dich und einige Tage Freizeit nach der Krankheit hast du dir verdient. Du kannst dir die Schule und das Gelände in aller Ruhe ansehen und Ferenia wird dich mit Aterix sicher gerne herumführen. Zur Zeit seid ihr die einzigen drei Drachenreiter bei uns und habt das ganze Gelände für euch. Wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, beginnt dein Unterricht. Die Schulbücher liegen schon auf deinem Schreibtisch bereit. Sollte etwas sein, kannst du mich jederzeit unten im Büro besuchen.

Gruss Karanir




Der Junge leerte seine Hosentaschen und begutachtete die wenigen Dinge, die er noch aus seiner Welt mitgebracht hatte. Leider konnte er bis auf Ausnahme des Feuerelementarkristalls, davon hier fast nichts mehr gebrauchen: Zwei Kaugummis, einen Luftballon, den Schlüssel für sein Fahrradschloss, sein Handy, einen 20 Euro Schein, zwei blaue Kugelschreiber und einen USB Stick.
Ben blickte sich in dem Zimmer um und entdeckte eine große Tür, die in ein Badezimmer führte. Es war mit unzähligen hellblauen und weißen Mosaiksteinchen und Muscheln ausgelegt und hatte ein riesiges Kuppeldach aus Glas. Blumen in verschiedenen Farben wuchsen in kleinen Beeten.
“Das ist ja schon fast ein Tempel!” hauchte Ben fasziniert.
Ferenia trat hinter ihm ins Zimmer, doch er merkte es gar nicht.
“Meister Karanir hat dir schon heißes Kräuterwasser eingelassen.” bemerkte das Elfenmädchen, während Ben erschrocken herumfuhr. “Er sagte, nach der Krankheit wird dir ein Medizinbad sicher gut tun.”
Ben nickte. Darauf hatte er jetzt auch Lust!
“Geh ruhig ins Wasser, Ben.” sagte Ferenia.
“Ich… kann nicht…” murmelte er verlegen und wurde rot im Gesicht.
“Was kannst du nicht?” fragte die Elfe verwundert.
Ben holte tief Luft. “Ich kann mich nicht ausziehen und in ein Badebecken steigen, wenn ein Mädchen zuguckt!”
Die Elfe musste lachen. “Hihihi, na gut. Ich geh ja schon raus. Wenn du was brauchst, mein Zimmer ist genau nebenan. Soweit ich weiß, hat Meister Karanir dir auch ein paar neue Kleider aufs Bett gelegt.”
Ben nickte. Dann vergewisserte er sich noch mal, ob er jetzt auch wirklich alleine war, bevor er sich auszog und in das heiße Kräuterbecken stieg.
Ben seufzte erleichtert, als er darin versank und mit einem Mal schien die ganze Last der letzten Woche von ihm abzufallen. Entspannt ruderte er durch das große Becken, das etwas mehr als einen Meter tief war. Die Kräuterstückchen, die im Wasser trieben, kannte Ben natürlich nicht, aber sie dufteten hervorragend und erinnerten etwas nach Pfefferminz.
Eine schuppige Schnauze stieß sanft die Holztür zum Badezimmer auf und Taranûr trat herein. Ben rief entsetzt: “Nein, nicht dass du mit deinen Krallen den schönen Mosaikboden beschädigst!”
Doch der Drache lachte nur. “Nein, Ben. Dieser Boden geht ganz sicher nicht von Drachenfüßen kaputt. Die ganze Schule wurde so gebaut, dass die Drachen ihren Reitern überall hin folgen können. Die Räume und Türen sind extra groß, damit wir durchpassen und die Fußböden sind auch stark genug, Kleiner.”
Dann streckte er seine Nase über das Becken. “Wie ist es so im Wasser!?”
“Finde es doch heraus!” rief Ben grinsend und spritzte dem Drachen eine Handvoll Wasser ins Gesicht.
“Na warte! Das wirst du büßen, Kleiner!” sagte Taranûr lachend und spritzte mit seinen Klauen zurück. Gleich darauf war eine riesige Wasserschlacht im Gange, die keiner von beiden verlieren wollte. Doch schon nach zwei Minuten musste Ben kapitulieren. Der Drache war einfach zu stark.
Lachend ließ sich Taranûr hineingleiten, wobei er fast den halben Inhalt des großen Beckens verdrängte. Das Wasser floss rauschend in Abflussrohre, die sich versteckt unter Natursteinen befanden.
Auf einer Ablage am Beckenrand entdeckte Ben eine große Bürste, mit der er Taranûrs grüne Schuppen putzte und schrubbte.
Der Drache genoss dies sehr.
Nach einer halben Stunde stieg Taranûr aus der riesigen Wanne wieder heraus und hob mit seiner Schwanzspitze ein Handtuch auf, das zusammengefaltet auf einem Stein lag. Dies warf er Ben zu.
“Kommst du raus? Unten gibt es nachher Essen!”
Ben nickte. “Ja, ich hab auch Hunger!”
Während Taranûr den riesigen Baderaum verließ, trocknete Tim sich noch ab. Dann ging auch er zurück in sein Zimmer nebenan. Ben betrachtete die Kleider, die auf seinem Bett lagen und zog sie an. Ein braungelbes ledernes Fransenshirt, eine dicke Schnürlederhose und knöchelhohe, braune Lederstiefel. Dann blickte Ben in den Spiegel neben dem Kleiderschrank und musste grinsen. Er machte nun eher den Eindruck eines wilden Indianerkriegers, als eines Schülers, der Magie erlernte, doch das Outfit gefiel ihm irgendwie. Er ging auf das große Fenster zu und blickte nach draußen. Der Anblick verschlug ihm fast die Sprache.
Vor Mûrin-Tar lag ein großer See, tiefblau und glatt wie ein Spiegel. Dahinter ein Gebirge, das so gewaltig war, das es Ben wieder zuerst dachte, er träume. Die schon sehr tief stehende Sonne zauberte ein wunderschönes Farbenspiel auf die Schneebedeckten Gipfel und die Wolken darüber. Ben wollte sich hier unbedingt ALLES SOFORT ansehen, doch sein Magen war anderer Meinung. Nachdem er tagelang nichts gegessen hatte, schien er jetzt danach nur so zu schreien.
Ben ging durch das riesige Zimmer, nahm den Feuerkristall und steckte ihn in einen Lederbeutel, den er nun immer am Gürtel trug und ging hinaus auf den Flur. Auch dieser war extra groß gebaut, damit die Drachen der Schüler auch hindurchpassten.
Er ging eine Tür weiter und klopfte bei Ferenia dreimal an.
“Ben, bist du´s?”
“Ja.“ antwortete er.
“Komm nur herein, ich beiße nicht, hihi!”
Ben trat unsicher ein.
Ferenia saß an ihrem Schreibtisch und sortierte einige Schriftrollen. Ben stellte fest, dass auch ihr Zimmer so riesig war. Xalathar lag vor dem Bett auf dem Boden und blickte Ben mit seinen grünen Augen an.
“Ah, der junge Drachenreiter besucht uns? Wunderbar! Vielleicht möchte er ja nachher etwas mit uns essen? Und dann könnten wir alle zusammen ein bisschen spielen. Ich würde gerne mal mit ihm die Schule erkunden, oder ihn fragen, was er schon alles über Magie weiß, oder-”
“Jetzt sei doch mal wieder still, du rotes Ding!” rief Ferenia lachend. Dann wandte sie sich Ben zu. “Tut mir leid, aber Xalathar ist ein richtiges Plappermaul. Wenn er erst mal anfängt zu reden, dann hört er so schnell nicht mehr auf!”
“Ich bin kein Plappermaul!” entgegnete der rote Drache und streckte dem Elfenmädchen seine gespaltene Zunge heraus.
Ben musste grinsen.
“So, aber jetzt lass uns etwas essen!” rief Ferenia und stand auf. “Meister Karanir sitzt bestimmt schon unten und wartet.”
Das Elfenmädchen holte aus ihrer Schreibtischschublade ein zweites Lederstirnband heraus und ging zu Ben. “Halt mal kurz still.” sagte sie, während sie es Ben um den Kopf band. “Das ist ein magisches Stirnband, dass dir beim Lernen helfen wird. Vor langer Zeit hat es mir Meister Karanir geschenkt.”
“Danke.” sagte Ben verlegen.
Dann gingen sie zusammen den großen Flur entlang. Die beiden Drachen folgten ihnen. Im Abstand von etwa zehn Metern hingen wunderschöne Lampen an den Flurwänden, die ein sanftes, blaues Licht abstrahlten. Erstaunt sah Ben sich die Bilder an, die an den Wänden hingen. Sie zeigten Drachen mit ihren Reitern in schwindelerregenden Flugmanövern.
Als der Flur zu Ende war, ging es vor ihnen eine riesige Treppe hinunter in eine große Versammlungshalle. Ben staunte, denn sie war so groß, wie ein Fußballplatz und war ebenfalls von einer riesigen Glaskuppel überdacht.
“Jetzt nach rechts in den Speisesaal!” flüsterte das Elfenmädchen.
“Ich glaube, ich muss Meister Karanir nach einem Plan fragen.” sagte Ben. “Diese Schule ist ja riesig!”
Zwei riesige Flügeltüren öffneten sich, als Ben mit Ferenia und den beiden Drachen in den großen Speisesaal eintraten. Ben staunte, als er die vielen verschlängelten Blumenbeete und Bäume sah, die sich mitten im Raum befanden.
An einem großen Panoramafenster stand ein Junge in Bens Alter mit einem blauen Drachen!
“Aterix, schau mal, wer da ist!” rief Ferenia.
Der Junge drehte sich zu Ben um und grinste. Ben sah, dass auch er spitze Eckzähne hatte, obwohl er kein Elf war.
“Hallo Ben.” sagte der Junge und machte eine Verbeugung. “Mein Name ist Aterix. Du musst der neue Drachenreiter sein. Ich sehe, du bist ein Mensch.”
Ben nickte. “So wie du.”
Dann sah er den Drachen an, dessen Schuppen von tiefstem Blau waren. Die Augen leuchteten klar und rein wie ein Ozean.
“Das ist mein Drache Steceria. Sie ist ein weiblicher Drache, weißt du und sie kann wunderschön singen.” sagte Aterix. “Im Rätselraten hab ich sie auch noch nie schlagen können.”
Ferenia lachte. “Das wirst du auch nie schaffen. Drachen haben eine Schwäche für Rätselspiele und können sie von Natur aus im nu lösen.”
“Wie lange bist du schon auf Mûrin-Tar?” fragte Ben Aterix.
“Hmm, ich glaube drei Jahre.”
Ben sah sich um. “Sind wir drei die einzigen Drachenreiter hier?”
Der Junge nickte. “Ja, Ben. In Augenblick schon. Dann sind hier noch Meister Karanir und die Hexe Eike, die in der Küche für uns das Essen macht und ansonsten in ihrem Labor mit Experimenten brodelt. Die meisten Drachenreiter sind auf Missionen unterwegs, oder haben sich ins Exil zurückgezogen. Zur Zeit herrschen dunkle Machtverhältnisse in unserer Welt Feo. Solange der schwarze Zirkel überall seine Hand im Spiel hat, lebt es sich gefährlich als Drachenreiter. Deswegen halten wir uns auch meist von Städten fern, denn da wimmelt es nur so von Spitzeln. Der Zirkel tötet jeden Reiter, der sich ihm nicht anschließt.”
Dann blickte der Junge Ben an.
“Du und Taranûr müsst noch den Seelenschwur ablegen, soweit ich weiß.”
Ben blickte seinen Drachen an. “Ja, das müssen wir noch.”
“Du hast Angst davor, Kleiner.” sagte plötzlich Steceria und blickte Ben mit ihren saphirblauen Augen an. “Das sehe ich dir an.”
Ben nickte. “Ja, etwas schon.”
Das Drachenmädchen schlang ihren Schwanz um Aterix und drückte ihn sanft an sich. “Das war bei ihm genauso. Doch dann war er stolz darauf, seine Seele mit meiner verbunden zu haben!”
“Wenn ein Reiter mit seinem Drachen den Seelenschwur ablegt,” sagte Ferenia jetzt, “dann ist das ein Bündnis für alle Ewigkeit. Eure Körper und Geiste sind für immer eins. Was dein Drache spürt, spürst auch du und umgekehrt.”
Ben schluckte.
“So, da ist euer Essen!” sagte eine Grüne Gestalt, die plötzlich einen seltsamen Rollwagen in das Zimmer schob. Sie war etwas mehr als einen Meter groß, hatte grüne Haut und große, schwarze Augen. Seine spitzen Ohren standen weit vom Kopf ab.
“Phyrrho!” knurrte der Kobold und entzündete mit dem Finger zwei Teelichter, die auf dem Tisch standen.
“Was ist denn? Noch nie einen Kobold gesehen?” fragte die Gestalt Ben.
Der Junge schüttelte den Kopf.
“Hehe, na ja irgendwann ist immer das erste Mal, nicht wahr? Hier ist euer Essen. Guten Appetit!”
Dann ging die grüne Gestalt wieder in die Küche.
“Schon komische Gestalten, diese Kobolde.” stellte Ben fest.
Ferenia musste grinsen. “Er ist Eikes Zauberlehrling. Warte mal ab, bis du mal nach Graufurt kommst. Da wimmelt es nur so von diesen grünen Dingern!”
“Ja und ehe du dich versiehst, ist dein Geldbeutel weg!” fügte Aterix hinzu.
Ben nahm sich vom Trolley einen Teller mit Salat. Das Gewächs hatte er zwar noch nie gesehen, aber es schmeckte fantastisch.
Ben betrachtete eine Kanne mit Lilafarbener Flüssigkeit, die er sich dann misstrauisch in ein Glas einschenkte.
“Das ist Khered-Nektar. Schmeckt süß und gut!” sagte Aterix, doch das hatte Ben schon festgestellt, als er sich gierig nachschenkte.
Ben musste feststellen, dass es kein Fleisch gab. Als er nachfragte, erfuhr er, dass dies auf Mûrin-Tar normal sei.

Draußen wurde es schon dunkel, als Ben mit Taranûr auf die riesige Wiese vor Mûrin-Tar trat und sich das ganze Schulgebäude von außen ansah. Es duftete überall nach frischem Gras und seltsamen Blumen. Der Anblick von Mûrin-Tar verschlug Ben fast die Sprache.
Das Schulgebäude war fast komplett aus weißem Stein gebaut, bestand aus mehreren Komplexen und überall ließ man Kletterpflanzen an den Wänden emporwachsen. Etwa zwanzig Meter vor dem Haupteingang standen zwei riesige Obelisken.
Jedes Zimmer hatte große Fenster und ein riesiges Kuppeldach. In der Mitte stand das Hauptgebäude, dass Ben schon von innen kannte.
“Im unteren Stockwerk ist die Küche und Meister Karanirs Büro.” sagte Aterix, der plötzlich neben ihnen stand. “Im zweiten Stockwerk die Bibliothek und im dritten die inneren Schulungs und Übungsräume.” Dann sagte Aterix: “Ich gehe rein, kommst du mit?”
“Ja gleich.” erwiderte Ben.
Während die Sonne immer tiefer sank, saß er mit seinem Drachen Taranûr einfach nur im Gras und entspannte sich. Ben wusste nicht, wann er das zum letzten Mal getan hatte. Die frische Luft und der Geruch der Pflanzen war wunderbar.
“Hast du Heimweh, Kleiner?” fragte Taranûr und stupste Ben mit der Schnauzenspitze an.
“Nein. Kein bisschen. Ich fühle mich wohl hier.” sagte Ben ruhig, während gerade die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden.
“Das freut mich.” sagte der Drache und sah zu den ersten Sternen auf.
Auch Ben blickte nach oben und staunte.
Am Abendhimmel sah er zwei Monde zwischen den Sternen stehen! Der größere von ihnen hatte einen leicht rötlichen Schein, der andere war weiß, mit einigen grauen Flecken, so wie den, den Ben von der Erde kannte. Beide Monde waren mit Einschlagskratern übersät und hatten eine pickelige Oberfläche.
“Ihr habt ja zwei Monde!” rief Ben.
“Nein, es sind drei!” sagte Aterix jetzt, als er wieder zu den beiden trat. Der dritte geht aber erst in fünf Stunden auf.
Der junge Drachenreiter setzte sich neben Ben ins Gras und sagte: “Der große rote heißt Trûmor. Der silberne Finktrur und der Grüne, der deutlich größer ist als die anderen beiden, heißt Unktrur. Du kannst ihn morgen sehen, wenn die Sonne aufgeht.”
Der Drache stupste Ben wieder an. “Lass uns jetzt reingehen. Es wird schon dunkel.”
Ben nickte.

Kapitel 9: Ausbildung




“Höre niemals auf anzufangen. Fange niemals an, aufzuhören!”
-Steceria


Es war früher Morgen, als Ben von einer nassen Zunge geweckt wurde, die ihm übers Gesicht leckte. Protestierend wehrte er im Halbschlaf Taranûrs schuppiges Gesicht von sich ab und lachte.
“Hör auf, das kitzelt!”
“Aufstehen, Kleiner!” flüsterte der Drache. “Heute wird ein langer, harter Tag für dich!”
“Ja, ist ja gut!” murmelte Ben, noch im Halbschlaf und richtete sich im Bett auf. Die Sonne ging langsam auf und erhellte die Kuppel über Bens Zimmer.
Ben stand auf und ging zum Fenster.
Unten auf der Wiese vor dem Haupteingang stand Ferenia und übte den Schwertkampf mit Aterix.
“Die anderen sind längst wach und haben schon gefrühstückt!” kam die vorwurfsvolle Antwort von Taranûr. “Das sind nicht so Schlafmützen, wie du!”
“Ist ja gut, ich komm ja schon!” sagte Ben und eilte kurz darauf mit seinem Drachen auf den großen Flur. Geschickt zog Taranûr mit seinem Schwanz die Tür von Bens Zimmer hinter sich zu.
Ben stellte fest, dass seine Haare wild in alle Richtungen standen und er strich sie sich flüchtig zurecht, während er in den Speisesaal eilte.
Steceria saß am Fenster und blickte zu ihrem Reiter hinaus. Ihre blauen Schuppen reflektierten das hereinfallende Sonnenlicht und zauberten blaue Leuchtspuren in alle Richtungen an die weißen Wände.
“Aha, der Herr kommt aus den Federn!” kam schon die vorwurfsvolle Antwort des Drachenmädchens.
Ben gab darauf keine Antwort. Er trank ein Glas Milch und aß ein paar Früchte aus einer Obstschale. Der Junge kannte sie nicht, aber sie schmeckten lecker. Die erdbeergroßen, blauen Kugeln erinnerten ihn entfernt an kleine Zwetschgen, schmeckten aber eher nach Feigen. Den lilafarbenen Saft, der neben der Milch stand, trank er ebenfalls. Dann ging er hinaus auf die Wiese zu Ferenia und Aterix.
Die beiden übten kämpfen und bestritten dabei einen Schwertkampf, den keiner von beiden verlieren wollte. Gespannt sah Ben zu, wie Ferenia geschickt jeden von Aterix Schlägen parierte.
Nach einer Viertelstunde, als immer noch kein Sieger feststand hörten sie plötzlich auf und blickten Ben an. Sie schienen ihn im Eifer des Gefechts erst jetzt bemerkt zu haben, dass der junge Drachenreiter ihnen zusah.
“Ah, gut dass du hier bist. Du kannst gleich mitmachen!” bemerkte Ferenia.
“Ich kann nicht mit einem Schwert kämpfen!” sagte Ben.
“Dann lernst du´s eben!”
Aterix warf Ben seine Waffe zu, die der Junge nur mit Mühe auffangen konnte.
Ferenia musste sich ein Grinsen verkneifen. Dann sagte sie: “Los, greif mich an!”
Mit beiden Händen hob Ben das Schwert, dass einen goldenen Schimmer auf der Klinge hatte und griff Ferenia an, doch die wich seinem Schlag mit Leichtigkeit aus und zog ihm schnell beide Füße weg.
Ben fiel der Länge nach ins Gras.
“Steh auf!” sagte sie lachend.
Ben stand auf und ging wieder in Stellung, die Waffe mit beiden Händen umklammert.
“Viele machen den Fehler, eine Einhandwaffe mit beiden Händen zu heben.” sagte Aterix jetzt. ”Fang den Mist am besten gar nicht erst an!”
Ben nickte und nahm die Waffe in die rechte Hand.
Diesmal griff Ferenia an und drang ihn mit ungeheurer Schnelligkeit nach hinten weg. Ben konnte ihre Schläge nur mit allergrößter Mühe parieren.
“Ferenia, du siehst doch, dass der Junge noch nie ein Schwert in der Hand hatte,” rief Kalabar, der aus dem Gebäude kam. Seine roten Schuppen glänzten wunderschön in der Sonne. “Jetzt nimm mal einen Zahn zurück, bis sich der Junge an die Waffe gewöhnt hat!”
Ferenia blickte ihren roten Drachen an und nickte. Dann wandte sie sich wieder Ben zu, der schon nach fünf Minuten schmerzen in seinem Arm hatte und die Waffe kaum noch heben konnte. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Doch so leicht wollte sich der Junge nicht geschlagen geben und ging nun in die Offensive.
Mehr prügelnd, als mit gezielten Schlägen kloppte er auf Ferenias Verteidigung ein und für einen Moment sah es so aus, als hätte das Elfenmädchen Schwierigkeiten, seinen Angriff zu widerstehen. Doch dann entwaffnete sie ihn mit einem gezielten Doppelschlag und Ben spürte ihre kalte Schwertklinge an seinem Hals.
“Tot!”
“Verdammt!” fluchte Ben.
“Du warst nicht schlecht für den Anfang, Kleiner!” sagte Taranûr. “Dafür, das du noch nie mit einem Schwert gekämpft hast, warst du wirklich gut. Aber du weißt ja: Übung macht den Meister!”
“Jaja,” murrte Ben, während er Aterix die Waffe zurückgab. “Das du das sagst, habe ich erwartet. Trotzdem Danke!”
Taranûr stieß Ben seine Schnauze in die Seite und sagte: ”Geh doch mal zu Meister Karanir. Er soll dir aus dem Waffenlager ein vernünftiges Schwert geben, das zu dir passt!”
Ben nickte und fragte den Drachen: “Kommst du mit?”
“Na klar, Kleiner.”
Ben ging durch die Eingangshalle zu Meister Karanirs Büro, während Ferenia und Aterix weiterkämpften. Als er anklopfen wollte, ging die Holztür wie von Geisterhand auf. Unsicher trat Ben ein. Am hinteren Ende des Büros stand ein riesiger Schreibtisch aus grauem Holz. Unzählige Schriftrollen, Tintenfläschchen und Bücher lagen darauf. Auf einem Totenschädel flackerte eine Kerze.
Meister Karanir saß am anderen Ende des Schreibtisches und blickte den Jungen an.
“Ben braucht zum Üben eine Waffe.” sagte Taranûr, der seinen Kopf in das Zimmer streckte. “Er kann so gut wie gar nicht kämpfen!”
Karanir lachte. “Das dachte ich mir schon. Weißt du, Taranûr, da wo Ben herkommt, scheint das Kämpfen mit Waffen wohl den Kindern nicht mehr beigebracht zu werden. Leider. Deshalb sind dort die Menschen auch so schwach gegenüber den Mächten der Finsternis und den Handlangern des Zirkels.”
Dann sah der bärtige Mann den Jungen an. “Ich komme gleich. Dann gehen wir runter in das Waffenlager und du suchst dir eine Waffe aus, mit der du in den nächsten Tagen übst.”
Ben nickte schluckend.
Der Mann wühlte noch eine Minute auf dem Schreibtisch herum, dann stand er auf und ging mit Ben und dem Drachen aus dem Zimmer.
Als sie durch mehrere Korridore und Flure schritten, hatte Ben alle Mühe, sich den Rückweg zu merken. Mûrin-Tar war sehr, sehr groß.
Nach einer weiteren Abbiegung ging es eine breite, flache Wendeltreppe hinunter. Das Tageslicht schwand mehr und mehr. Stattdessen erhellten mehrere Fackeln den folgenden Flur. Alle zehn Meter war auf der linken und rechten Flurseite eine große Holztür mit zwei Fackeln daneben. An der letzten Tür angekommen, machte Meister Karanir eine kurze Handbewegung und sie öffnete sich von alleine.
“So, da sind wir!” sagte er.
Ben trat in einen riesigen Raum voller Waffenregale, Schränke und Vitrinen. Er sah sich in dem riesigen Arsenal um. Hiermit könnte man problemlos eine größere Armee ausstatten. In Regalen standen Langschwerter, Kurzschwerter, Krummsäbel, Äxte und Speere. An Wandhalterungen hingen Bögen und Schilde verschiedener Größen. An der anderen Wand waren mehrere Ständer, die Rüstungen und Helme trugen.
“Kannst du mit einem Bogen umgehen?” fragte Meister Karanir.
Ben schüttelte den Kopf.
“Das solltest du dann so schnell wie möglich lernen. Am besten von Ferenia. Sie ist eine meisterliche Bogenschützin, wie die meisten Elfen.”
Ben sah sich Pfeile in verschiedenen Größen und Formen an, die in Bündeln ordentlich sortiert in mehreren Vitrinen lagen. Einige hatten weiße Federn, andere farbige. Manche Pfeile hatten an der Spitze eine winzige Glasampulle, die beim Auftreffen auf das Ziel ein Gift, oder einen Zauber freisetzten. Dann gab es wiederum normale Pfeile mit Stahlspitze, Doppelklingenspitze, Mondsichelspitze und letztendlich die grüngelben Übungspfeile, die keine Spitzen hatten.
Ben sah sich die vielen Bögen in verschiedenen Größen und Formen an. Einige waren sehr groß und benötigten enorm viel Kraft zum Spannen der Sehne. Andere waren kleiner und praktischer zu handhaben, hatten aber wesentlich weniger Reichweite.
Während sich Meister Karanir für einen Augenblick mit Taranûr unterhielt, fiel
Bens Blick auf eine kleine Holzkiste, die mit einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt war. Sie stand kaum sichtbar direkt neben den Regalen mit den Langschwertern und eine unsichtbare Kraft erregte Bens Neugier.
Er öffnete sie, vorbei der Staub auf dem Deckel nach hinten wegrutschte und eine kleine aufsteigende Wolke erzeugte.
Ein Schwert lag in der Kiste, in einem Tuch eingewickelt. Ben sah, wie es ihm fasziniert zufunkelte. Die seltsame Waffe hatte einen grünen Schimmer auf der fast einen Meter langen, silbernen Klinge, die scharf wie ein Rasiermesser war. Am Schwertgriff war ein Drachenkopf mit zwei Smaragden in den Augen angebracht und zwei riesige, fledermausähnliche Flügel spreizten sich dort, wo der Griff in die Klinge überging.
“Nein!” rief plötzlich Meister Karanir, der sich wieder Ben zugewandt hatte und merkte, was der Junge entdeckt hatte. “Leg es wieder zurück! Das Schwert gehörte einst einem Verräter der Drachenreiter!”
Doch Ben schien die Worte des alten Mannes gar nicht gehört zu haben und sah sich weiter die Klinge mit brennender Faszination an, ohne den Blick abzuwenden.
Ein grünes Leuchten schien die Klinge zu durchdringen und die Smaragdaugen des Drachenkopfes leuchteten hell auf. Ein Kribbeln ging durch Bens Hand.
“Das Schwert will ich haben!” rief Ben und sah nun den alten Mann an, dem es die Sprache verschlug.
“Das Schwert gehörte Natkan, ein Drachenreiter, der uns an den Zirkel verraten hat! Er hat fünf meiner Schüler getötet, bevor ich ihn mit meinem Schwert…” Der alte Mann stoppte im Satz und blickte zu Boden. “Du weißt nicht, was du da in der Hand hast…”
“Das Schwert ist ein Drachentöter!” rief Taranûr und gab ein abstoßendes Grunzen von sich.
Ben drehte es und stellte fest, dass es genau für seine Hand gemacht war. Es war leicht, perfekt ausbalanciert und unglaublich… schön!
“Das oder keins!” murmelte Ben entschlossen, ohne seinen Blick von der Klinge abzuwenden. Dann sah er entschlossen den Drachen an. “Taranûr, dieses Schwert wird durch meine Hand eine neue Geschichte schreiben!”
Der Drache sah Ben besorgt an. “Das Schwert ist ein Drachentöter! Willst du das Ding so sehr?”
“Ja!”
Meister Karanir seufzte ebenfalls. “Wenn du es unbedingt haben willst…. dann nimm es!”
Ben strahlte übers ganze Gesicht. “Danke!” rief er freudig.
Doch Taranûr gab nur ein Schnauben von sich und meinte: “Such dir noch einen Bogen aus und höre dabei wenigstens einmal auf meinen Rat!”
“Wie du willst, Drache.” sagte Ben lachend, während er sein neues Schwert in die Scheide schob, die ebenfalls in der Holzkiste lag.
“Dieser Bogen könnte zu dir passen!” meinte Meister Karanir und nahm einen kleineren Reiterbogen aus dem Wandregal. “Er hat nicht sehr viel Reichweite, lässt sich aber sehr leicht spannen!”
Ben nahm ihn in die Hand und zog die Sehne zurück. Er benötigte sehr viel Kraft dafür. Er wunderte sich, was Karanir unter “sehr leicht” verstand.
“Schwächling!” spottete Taranûr.
“Er muss noch seine Muskeln trainieren, wie all unsere Schüler. Wenn er erstmal vernünftig mit einem Schwert umgehen kann, dann hat er auch mehr Kraft. Und wenn er den Seelenschwur mit dir eingegangen ist, dann ist er ein richtiger Drachenreiter und wesentlich stärker als jetzt.”
Der Drache nickte.
Ben nahm einige der Übungspfeile aus der Vitrine und steckte sie in einen braunen Lederköcher. Dann ging er mit Taranûr und Karanir aus der großen Waffenkammer.
“Gehe mit deinem Drachen hinauf auf das Übungsgelände zu Ferenia und Aterix. Dort kannst du trainieren.”
Ben nickte. “Zeigst du mir den Rückweg nach oben?”
Der Drache lachte. “Natürlich, Kleiner!”

Als sie durch den großen Haupteingang auf das Übungsgelände schritten, sah Ben, wie Aterix und Ferenia eine Pause machten. Im Schneidersitz saßen sie im Gras und schienen zu meditieren.
Ben setzte sich zu ihnen und zeigte den beiden sein neues Schwert.
“Schaut mal, was für eine tolle Waffe ich habe!” sagte Ben stolz. Er zog das Schwert aus der Scheide und schwang es durch die Luft.
Ferenia und Aterix sahen ihn entsetzt an. “Ben, diese Waffe… Hat Meister Karanir sie dir gegeben?”
Ben nickte. “Ja, ich bestand darauf. Dieses Schwert ist wunderschön und passt genau in meine Hand.”
“Es ist ein Drachentöter und gehörte einst dem Verräter Natkan, der sich mit dem Zirkel verbündet hat.” sagte Aterix. “Meister Karanir spürte ihn eines Tages auf und tötete ihn. Dabei starb auch sein Drache Zharr. Weißt du Ben, Drachen, die mit ihrem Reiter den Seelenschwur eingehen, sterben erst dann, wenn ihr Reiter getötet wird und umgekehrt.”
“Ich weiß. Meister Karanir hat mir die Sache von Natkan erzählt. Aber diese Waffe wird den Zirkel vernichten!” entgegnete Ben entschlossen.
Die beiden Drachenreiter sahen sich an, dann sagte Ferenia: “Wie du willst, aber zeige das Schwert lieber nicht in den Städten herum, sonst hält dich noch jemand für einen Freund des Zirkels!”
Ben nickte.
“Ben, hast du schon mal mit einem Bogen geschossen?” fragte Taranûr.
Der Junge schüttelte den Kopf.
“Hinter der Schule ist ein Übungsfeld mit Zielscheiben. Dort kannst du üben!”
Ben wandte sich den beiden anderen Drachenreitern zu. “Kommt ihr mit?”
“Warum nicht.” sagten Aterix und Ferenia fast gleichzeitig. “Ein bisschen Übung schadet uns sicher auch nicht. Wir holen nur noch schnell unsere Bögen aus unseren Zimmern.”
Taranûr schubste Ben mit der Schnauze an. “Ich komme natürlich auch mit!”
“Natürlich…” murmelte Ben mit einem Lächeln auf den Lippen.

Es war inzwischen schon Vormittag geworden, als Ben mit den beiden anderen Drachenreitern auf dem Schießstand hinter der Schule ankam. Der Junge war immer noch verblüfft über die Größe der Schule. Fast eine Viertelstunde brauchten sie zu Fuß vom Haupteingang bis hierher. Ein Weg, der mit weißen Kieselsteinen ausgelegt war, führte verschlungen über das ganze Schulgelände, das fast so groß wie Bens Heimatstadt war! Weiße Drachenfiguren und wasserspeihende Gargoyles standen überall auf den Wiesen. Blumen und Bäume, die Ben nicht kannte, wuchsen überall. Jetzt erkannte Ben auch den dritten Mond aufgehen. Es war Unktrur, mit der grünlichen Oberfläche, wie Taranûr es ihm gestern gesagt hatte.
Ben sah sich die blauweißen Zielscheiben an, die in etwa 100 Meter Entfernung aufgestellt waren. Er nahm den Reiterbogen und die Übungspfeile von der Schulter und zog einen Pfeil aus dem Lederköcher.
“Ben, du zielst zu hoch!”
Doch Ben ließ den ersten Übungspfeil fliegen. Dieser driftete nach links ab und landete etwa fünf Meter neben der Zielscheibe im Gras.
“Versuchs noch mal und lasse dir beim Zielen Zeit.” flüsterte Aterix, der direkt hinter Ben stand. “Ziele etwas tiefer und halte vor dem Schuss den Atem an.”
Ben nickte und legte den zweiten Übungspfeil an die Sehne. Als er ihn abschoss, sah er schon während dem Flug, dass er diesmal genauer flog. Er blieb am äußersten Ende der Zielscheibe stecken.
“Schon besser, Kleiner!” sagte Taranûr.
Im selben Moment schoss Ferenia einen Pfeil mit ihrem Bogen auf Bens Zielscheibe. Er traf genau in die Mitte. Das Elfenmädchen lächelte.
“Ferenia, du hast Magie benutzt! Das ist nicht fair.” rief Kalabar, der eben mit Steceria auf dem Schießstand eintraf.
“Na und?” entgegnete Ferenia. “Das lernt Ben auch noch.”
Die beiden Drachen beobachteten Ben, der sich zum dritten Schuss bereitmachte und den Bogen hob.
“Ich glaube an dich, Kleiner!” flüsterte Taranûr Ben ins Ohr.
Der Junge schoss den Pfeil ab, der diesmal gerade flog und fast die Mitte der Zielscheibe traf.
Ferenia staunte.
“Siehst du, man kann es auch ohne Magie schaffen!” sagte Taranûr stolz und küsste Bens Stirn. “Ich bin stolz auf dich, Kleiner!”
Ben lächelte.
“Versuche es weiter!”
Ben schoss den gesamten Köcher leer und traf nun fast immer den mittleren roten Kreis. Jetzt hatte er ein Gefühl für die Waffe entwickelt. Doch das Wichtigste war: Er hatte Freunde, die immer an ihn glaubten. Das war nämlich in Bens alter Heimat kaum der Fall gewesen.
“Aterix, es ist schon Mittag.” sagte Steceria und streckte ihren Hals zu ihm herunter. “Es gibt bald Essen in der Schule.”
“Super!” rief Aterix und sprang auf. “Ich hab nach dem Training soo einen Hunger!”
Steceria wandte sich Ben zu. “Nach dem Essen übst du aber wieder weiter.”
Ben nickte und ging dann vor zu der Zielscheibe, wo er all seine Pfeile mit einem >Plop< herauszog und einsammelte. Nachdem sie im Köcher verstaut waren, gingen sie alle zusammen nach vorne zum Haupteingang der Schule. Ferenia roch als erste den leckeren Geruch von Gemüse und… Pudding!

Kalabar verdrehte schon die Augen, denn er wusste, dass Früchtepudding Ferenias Lieblingsessen war.Ben ging als letzter hinein und folgte den beiden Drachenreitern und ihren Drachen. Auch Meister Karanir kam aus seinem Büro und ging in den Speisesaal. “Mal sehen, was Eike für uns gekocht hat.” sagte er. Ferenia hatte sich nicht geirrt. Es gab Pudding in 3 Sorten! Ben setzte sich an den Tisch und betrachtete all die Speisen. Das meiste Gemüse kannte er nicht, was seine Neugier erregte und so nahm er erstmal von allem ein bisschen.

Besonders gut schmeckten ihm die orangefarbenen Kugeln, die ihn von der Größe an Kirschen erinnerten. Sie schmeckten aber eher nach Radieschen. Hinterher machte sich der Junge über den Pudding her, den Ferenia schon fast aufgegessen hatte.

Den allerletzten Rest schnappte sich Aterix.

Die Drachen indessen aßen am liebsten Fisch aus dem Sternensee, der sich direkt vor der Schule befand. Sie liebten es, wenn Eike sie panierte und mit Gemüse füllte. Heute waren es besonders dicke Exemplare.Als alle satt waren, gingen sie wieder nach draußen und legten sich zu einem kurzen Mittagsschlaf ins Gras. Fast alles was hier wuchs, war völlig neu für Ben. Die Blumen in den großen Beeten, der Geruch der Pflanzen und das Rauschen der Blätter an den Bäumen, die ganz anders aussahen, als Ben sie kannte. Viele waren rund und hatten Farben, die selbst der längste Herbst aus Bens Welt nicht hervorbringen konnte.

Ferenia saß wieder im Schneidersitz da und schien geistig zu meditieren.

“Ich übe die Gedankensprache.” sagte sie, als sie Bens verwunderten Blick bemerkte.

“Drachenreiter können in ihren Gedanken zu ihrem Drachen sprechen. Vorraussetzung dafür ist langes und intensives Training.”

“Das möchte ich auch können!” sagte Ben und blickte zu Taranûr.

Ferenia lächelte. “Immer eins nach dem anderen. Übe du erstmal den Kampf und die Magie. Alles andere kommt von zeit zu zeit dazu!”

Und genau das tat Ben.Während des gesamten Nachmittages übte der Junge weiter die Grundkenntnis der Magie. Mittlerweile konnte er fast alle 88 Runen auswendig. Meister Karanir hatte ihm ein kleines Buch gegeben, wo all die Runen drinstanden und deshalb brauchte Ben ab jetzt auch seinen zerknitterten Zettel nicht mehr.

Einen kleinen Stein hochzuheben war für Ben inzwischen längst kein Problem mehr und er musste lächelnd an den Tag in der Scheune denken, wo es ihm unglaublich schwer fiel, ein Stück Kohle anzuheben.

 

Als die Sonne tiefer sank, legte sich Ben ins Gras und blickte in die Wolken. “Das war ein anstrengender Tag!” keuchte er. Taranûr machte es sich ebenfalls im Gras bequem und legte seinen Kopf beben Bens.

“Ja, das war anstrengend für dich, aber notwendig. Morgen üben wir beide das Fliegen. Du machst schnelle Fortschritte Kleiner und ich bin wirklich stolz auf dich!”

“Danke Taranûr, dass du an mich glaubst. Das gibt mir sehr viel Kraft.”

Ben legte seine Hand auf Taranûrs Schnauze. “Wann werden wir unseren Seelenschwur ablegen?”

“Wenn Karanir meint, dass du dazu bereit bist. Wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen!”

Ben schluckte. Ein bisschen Angst davor hatte er.

“Karanir hat dir einige Bücher auf dein Zimmer gebracht. Er sagt, du sollst sie heute Abend lesen.”

“Was sind das für Bücher?”

Der Drache lächelte geheimnisvoll. “Lies sie, dann weißt du´s!”

Ben seufzte und blickte wieder hoch in die Wolken. “Ich glaube ich war noch nie in meinem Leben so glücklich!” murmelte er.

“Der Drache sah ihn mit seinen gelben Augen an. “Gefällt es dir wirklich so gut hier auf Mûrin-Tar?”

Ben nickte. “Ja, sehr sogar! Besonders stolz bin ich, dass du an meiner Seite bist und immer an mich glaubst!”

Taranûr lächelte und gab Ben einen Kuss auf die Stirn. “Das werde ich immer und ich hab dich sehr lieb, Kleiner!”

Kapitel 10: Eomars Völker




Ben kam auf seinem Zimmer an, als es draußen schon längst dunkel war. Der Drache folgte ihm Schritt für Schritt.
Auf seinem Schreibtisch, neben dem Lederbeutel mit dem Feuerkristall lagen mehrere Bücher, die sich Ben sofort durchlesen wollte. Doch zuerst suchte der Junge vergeblich nach einem Lichtschalter an der großen, tropfenförmigen Schreibtischlampe.
Der Drache sah ihm zu.
“Taranûr, wie macht man hier das Licht an?”
“Du musst gegen die Spitze der Lampe blasen!”
Ben sah den Drachen ungläubig an, versuchte es dann aber. Der Junge war erstaunt, als plötzlich ein sehr helles, weißgelbes Licht erstrahlte.
“Hey. Das ist ja ne tolle Erfindung!” sagte Ben, während er auf dem Stuhl Platz nahm und sich seine neuen Bücher durchsah:

- Völkerkunde
- Magie
- Zeitgeschichte

“Meister Karanir hat gesagt, dass es wichtig ist, dass du die verschiedenen Völker und Rassen auf Eomar studierst.” sagte Taranûr, während er um den Schreibtisch herum zu Ben schritt. “Es gibt so viel, dass du lernen musst, bevor du dich auf die Suche nach den Elementarkristallen machst.”
Ben blickte nachdenklich den roten Feuerelementarkristall an, der auf dem Schreibtisch in seinem halb geöffneten Lederbeutel lag. “Wie sehen denn die anderen aus?” fragte er schließlich den Drachen. “Sind sie genauso geschliffen? Sind sie größer oder kleiner?”
Der Drache überlegte kurz. “Hmm, das wissen wir nicht genau. Sie sind schon seit Jahrhunderten verschollen, an den gefährlichsten Orten von Eomar. Gerüchte liegen in der Luft, dass der Erdelementarkristall in der Kryptahöhle liegt, dort wo all die toten Krieger hingebracht werden und Untote ihre Grabbeigaben bewachen. Der Luftelementarkristall befindet sich auf der Burgruine >Wolkenspitze<. Sie liegt auf dem höchsten Berg von Eomar. Dort oben werden die Schätze von Eisgolems und Greifen bewacht. Aber das sind natürlich nur Gerüchte.”
Der Junge seufzte. “Also an den gefährlichsten Plätzen der Welt - na toll!”
Der Drache stupste ihn mit der Schnauze an. “Sei froh, denn sonst hätte sie schon der Zirkel.”
“Wenn die mächtigsten vier Magier dieser Welt die Kristalle nicht finden,” erwiderte Ben, “wie soll ich das dann schaffen?”
Taranûr beugte seinen Kopf auf Bens Gesichtshöhe und blies ihm durch die Haare. “Weil du einen Drachen hast, der an dich glaubt. Weil du Freunde hast, die dir dabei helfen, weil das Sternenorakel dich segnet und weil du in ein paar Wochen ein starker Drachenreiter bist, deshalb!”
“Wann werde ich das Sternenorakel sehen?” fragte Ben.
“Wenn du es willst. Dort werden wir dann auch den Seelenschwur ablegen!”
Der Junge schluckte. Er hatte Angst davor.
Dann schlug er das erste Buch auf und las darin. Über ihm schwebte Taranûrs Kopf und folgte mit seinen gelben Augen Bens Finger, als er murmelte:

Kapitel 1 - Die Magie

Die wichtigste Waffe eines Drachenreiters ist neben Bogen und Schwert die Beherrschung der Magischen Energie. Es gibt viele Arten der Magie und jeder Drachenreiter sollte sich auf eine von ihnen spezialisieren:

Die Weiße Magie gehört zu der ersten Magiestufe, in die Drachenreiter normalerweise unterwiesen werden. Sie dient der Heilung und Stärkung. Der wichtigste magische Zauber für einen Drachenreiter und seinen Drachen ist der Heilzauber. Besonders hochrangige Magier können auch Schwerste Verletzungen innerhalb weniger Sekunden heilen.
Sehr viele Drachenreiter haben es in dieser Art der Magie zur Meisterschaft gebracht.

Mentalmagie ist eine sehr einfach zu lernende Magiestufe, die auch den dümmsten Menschen beigebracht werden kann. Dazu zählt beispielsweise, das Hypnotisieren, Blenden und Verwirren von Gegnern. Das Unsichtbarmachen und Tarnen gehört allerdings zum schwierigeren Teil.

Elementarmagie: Das Beherrschen und Kontrollieren der Elemente. Dazu zählt: Feuermagie, Eismagie, Wassermagie, Erdmagie, und Luftmagie.
Die völlige Kontrolle über die Elemente ist nur hochrangigen Magiern und Drachenreitern möglich, die mindestens einen der vier Elementarkristalle besitzen. Seit längerem sind diese allerdings verschollen..

Schwarze Magie: Das Beschwören und Herbeirufen von Dämonen, Skeletten und anderer finsterer Kreaturen.
Da schon sehr viel Böses mit dieser Magie angerichtet wurde, ist die Verwendung dieser Magieart (außer in Notwehr) in ganz Eomar bei Todesstrafe verboten!
Zu der Schwarzen Magie gehört unter anderem die Nekromatie, Das verfluchen seiner Opfer, das absaugen der Seele und die Todesmagie. Bis auf die >Suchenden<, und den Zirkelmagiern gibt es niemanden außer Meister Karanir, der diese Zauberstufe noch beherrscht.

Teleportation:
Das Teleportieren ist ein sehr praktischer Zauber, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Allerdings kostet er den zaubernden sehr viel Kraft. Das Teleportieren ist ein Zauber der höchsten Magiestufe. Viele junge Drachenreiter, Menschen, Aragoniern oder sonstige Hobbyzauberer sind am Eigenversuch schon gestorben. Wenn man den Zauber nicht richtig wirkt, kommt man nämlich in mehreren Teilen am Zielort an!! Deshalb wird den Jungen Drachenreitern in der Ausbildung der Teleporterzauber für sich selbst und ihre Drachen nur dann beigebracht, wenn sie einige einfache Gegenstände unbeschädigt teleportiert und die Prüfung dieser Zauberstufe abgeschlossen haben.


“Kapitel 2 Alchemie”, murmelte Ben.

Tränke brauen:

Die Fertigkeiten, gute Tränke zu brauen, gehört zu den höchsten Stufen des Wissens in Mûrin-Tar und der Alchemie überhaupt. Es gibt verschiedene Tränke, die entweder die Magische Energie (Mana) des Trinkenden regenerieren, ihn für kurze Zeit unsichtbar machen, seine Lebensenergie regenerieren oder ihm spezielle Fertigkeiten verleihen. Für jeden Trank sind eine leere Flasche, ein Destillierapparat und die nötigen Zutaten erforderlich.
Einige Tränke sind sehr leicht zu brauen, andere extrem schwierig. Hier sind einige Tränke aufgeführt:

Für gute: Heiltränke benötigst du getrocknetes und zerpulvertes Königskraut, für einen guten Magietrank brauchst du das Pulver der blauen Nachtschattenblume.
Ein universales Gegengift erzeugt man aus Aciria und Königskraut zusammen.
Die anderen Tränke sind wesentlich schwieriger herzustellen. Sie dienen unter anderen dazu, die Haut des trinkenden zu härten, was ihn resistenter gegen Pfeile und Schwertstiche macht.
Es gibt den Mondschattentrank, der den Trinkenden für kurze Zeit unsichtbar macht, und den Krafttrank, der die Muskelkraft verfünfzigfacht.
Zu hoher Konsum schließt Risiken und Nebenwirkungen nicht aus!


Auf den folgenden Seiten fand Ben jede Menge Rezepte und Anleitungen zum Brauen verschiedenster Tränke. Da dies ihm allerdings nicht weiterhalf, schloss er das Buch und nahm das nächste vom Stapel. Fasziniert las Ben:


Völkerkunde
Monster, Tiere und Völker auf Eomar


Riesenhöhlenspinne:

Riesenhöhlenspinnen sind große Krabbelspinnen, mit einer Art Fell und haben an ihrem Schwanz, sowie an den Vorderkiefern jeweils einen Giftstachel, der das Opfer lähmt. Sie können in völliger Dunkelheit sehen, attackieren aber meist nur kleinere Tiere, wie Schafe oder Füchse. Allerdings greifen sie auch Elfen, Aragoner, Zwerge und Kobolde an, wenn sie sich gestört fühlen. Sie leben im Wald, im Unterholz oder an spinnenseidenkokons in den Ästen, von wo sie sich auf ihre Opfer herabfallen lassen. Sie leben etwa 200 Jahre.


Schattenläufer:

Schattenläufer gehören wohl zu den faszinierendsten, aber auch den meist gefürchtetsten Landwesen von Eomar. Sie schlafen tagsüber in dunklen Höhlen und gehen nachts auf Jagt. Auch sie sehen gestochen scharf bei völliger Dunkelheit. Sie ähneln von ihrem schwarzen Fell und den Reißzähnen stark den Werwölfen, nur sind Schattenläufer viel größer und haben noch zwei spitze Hörner auf dem Kopf.
Egal ob Aas oder Frischfleisch - Schattenläufer fressen alles was lecker schmeckt: Schafe, Wölfe Kobolde.
Doch am besten schmeckt ihnen Menschenfleisch…


Golem:

Golems sind große Wesen aus Stein, Lehm, Metall, Lava, oder Eis, denen durch Magiern Leben eingehaucht worden ist. Da sie sehr langsam sind, kann man ihnen leicht ausweichen. Sie können aber mächtige Schläge austeilen und ganze Bäume entwurzeln. Angeblich bewachen sie wichtige Orte.


Werwolfhund:


Sind Tagsüber von normalen Hunden kaum zu unterscheiden (Braungraues Fell, lassen sich sogar streicheln), doch bei Vollmond verwandeln sie sich in schwarze Biester mit Klauen und Reißzähnen. Sie gehen dann auf die Jagd nach Fleisch, wobei es ihnen egal ist, welches Fleisch. Je heller der Mond steigt, desto intensiver die Verwandlung und desto aggressiver sind sie. Es heißt, in seltenen Nächten, wenn Trumor, Finktrur und Unktrur gleichzeitig voll am Himmel stehen, seien sie nahezu unbesiegbar!


Kapitel 2: Untote Wesen


>Suchender<

Die >Suchenden< sind mysteriöse, vermummte Gestalten, die im Auftrag des Zirkels diverse Aufträge erfüllen. Sie sind als Spione oder Meuchelmörder bekannt. Sie beherrschen Magie bis zu einem hohen Grad und sind in der Lage, sich zu tarnen, um ihr ahnungsloses Opfer zu überfallen. Neben diversen Kampftechniken ist ihre bevorzugte Waffe die Nekromatie.


Lich

Der Lich gehört zu den seltensten und gefürchtetsten Wesen aus der Gruppe der Untoten. Sie beherrschen Magie und sind in der Lage Fluchzauber wirken zu lassen (Lähmung, Vergiftung, etc.). Sie bewachen die Kryptas und andere wichtige Orte, an denen sich Schätze verbergen.


Frostskelett:

Frostskelette bestehen nur aus gefrorenem Wasser und magischer Energie. Sie dienen Serenia und können Eismagie wirken lassen. Sie sind sehr langsam und ungeschickt, dafür greifen sie aber ihr Opfer fast immer in Gruppen an. Die >Suchenden< beschwören sie meistens dann, wenn kein Untergrund aus Erde vorhanden ist.

Schattenritter: 

Schattenritter sind längst gestorbene Krieger, durch dunkle Magie ihrer friedlichen Ruhe beraubt. Verhalten sich ähnlich wie Frostskelette, nur bestehen sie aus echten Knochen und können keinerlei Magie wirken. Dafür sind sie sehr stark. Sie tragen meist die rostige Rüstung, mit denen man sie beerdigt hat.

Völker : 

Elfen: 

Über die Elfen ist sehr wenig bekannt, da sie sehr zurückgezogen hinter dem Quadrahorn Gebirge im tiefen Westwald leben. Sie sind etwa so groß wie die Menschen, haben lange, spitze Ohren und spitze Eckzähne. Man sagt, sie haben es in der Magie zur Meisterschaft gebracht. Elfen sind gefährliche Fernkampfkrieger.Nur Elfen lassen die Drachen auf ihren Rücken reiten. (Und ganz selten auch einen Arlianer oder Menschen) 

Goblins: 

Goblins leben hauptsächlich im Dunkelwald und den Hochebenen des Mittelgebirges. Sie sind zwar wegen ihrer Fruchtbarkeit ein großes Volk, doch wegen ihres schlechten sozialen Verhaltens gelang es ihnen nie sich als Staat oder Gemeinschaft zu organisieren. Sie lügen, betrügen, sind schmutzig und unglaublich faul. Ihre Flinkheit und Stärke machen sie aber zu mächtigen Verbündeten im Falle eines Krieges. Da sie nicht sehr intelligent sind, kann man sie leicht betrügen. Doch wehe dem, den sie dessen überführen - Ihre Rache ist gefürchtet! 

Menschen: 

Die Menschen leben hauptsächlich im mittleren Teil von Eomar. Wegen ihrer kurzen Lebensspanne gelang es ihnen nie, einen dauerhaften Staat, oder ein großes Königreich zu gründen. Obwohl sie dies immer wieder versuchten, zerspalteten Kriege sie jedesmal wieder in mehrere kleinere Ländereien und Herzogtümer.  

Aragoner: 

Die Aragoner sind eine Mischung aus Elf und Eidechse. Sie gehen auf zwei Beinen, haben eine schuppige, grüne Haut und können sogar unter Wasser atmen. Ihre Rasse besteht, wie bei den anderen Völkern auch, aus zwei Geschlechtern. Sie bevölkern den Raum um das Ostmeer und waren den Elfen gegenüber stets loyal. Sie sprechen genauso wie die Elfen die alte Sprache und können diese auch lesen und schreiben.Wegen ihrer Stielaugen und der schuppigen Haut lösten sie bei den Menschen und Goblins Abscheu und Vorurteile aus, was vor langer Zeit auch zu einigen kleineren Kriegen führte. 

Zwerge: 

Im Gegensatz zu den Elfen, Menschen und den Aragoniern, sind Zwerge von einem ganz anderen Schlag. Sie haben eine Vorliebe für alles technische und mechanische. Außerdem sind sie die besten Schmiede der Welt!Nur Zwerge wissen, wie man Bergwerke klug anlegt und Erz abbaut. Die Menschen, die auch Erze förderten, verloren ihr technisches Wissen nach dem letzten Krieg.Zwerge leben nicht an der Oberfläche, sondern in großen Städten, kilometertief unter der Erde. Sie leben hauptsächlich vom Export von Erzen, Edelsteinen und dem Import von Nahrungsmitteln und anderen Lebensprodukten.Zu Drachen und Elfen haben Zwerge allerdings schlechte Beziehungen. Warum weiß niemand, doch es wird vermutet, dass es auf generationenlangen Vorurteilen beruht.Zwerge sind extrem stark und gefährliche Nahkampfkrieger. Meister Karanir kam nach einiger Zeit herein und beobachtete Ben und Taranûr .Die beiden waren so vertieft in den Unterricht, dass sie ihn gar nicht bemerkten.

“Wie habt ihr es geschafft, all die Jahrhunderte so gut miteinander auszukommen?” fragte Ben. “Die Welt aus der ich komme, ist anders. Dort werden Menschen von anderen Menschen verfolgt und umgebracht, nur weil sie eine andere Hautfarbe, Religion oder politische Ansichten haben. Auf Eomar gibt es aber so viele verschiedene Völker und Rassen…”

“Das liegt daran,” sagte Taranûr, “dass die meisten Völker aufeinander angewiesen sind. Die Zwerge zum Beispiel haben keine Ahnung vom Ackerbau oder von Viehzucht. Ohne den Lebensmittelimport anderer Völker in ihre unterirdischen Städte müssten sie verhungern. Genauso umgekehrt. Ohne Erz, Buntmetalle oder Edelsteine aus den Bergen könnten die Menschen wiederum keinen Handel treiben. Und die Elfen sind zwar stark, aber leider nicht besonders fruchtbar. Kinder sind bei ihnen sehr, sehr selten. Wenn sie so viele Kriege führen würden wie die Menschen aus deiner Welt Ben, dann wären sie schon lange ausgestorben!”

Ben blickte aus dem Fenster auf den Sternensee. Die Wasseroberfläche war glatt wie ein Spiegel und die beiden Monde spiegelten sich darin.

“In meiner Welt mussten im letzten Jahrhundert 50 Millionen Menschen ihr Leben lassen, wegen einem einzigen Diktator.” sagte Ben tonlos. “Unfassbar, was vier von ihnen anrichten könnten, wenn sie dazu noch nahezu unbegrenzte magische Macht besitzen würden!”

“Methadar, Zykan, Araxian und Gorinor. Das sind die vier abtrünnigen Magier.” entgegnete der Drache. “Methadar ist ein Feuermagier. Er will den Kristall hier auf dem Tisch um jeden Preis, dann wäre er nahezu unbesiegbar. Zykan ist ein Meister der Erde. Er kann Skeletten und längst gestorbenen Kriegern mit dem Erdkristall extrem viel Macht verleihen und ganze Armeen von ihnen erschaffen.”

“Ben, es gibt etwas, dass ich dir noch zeigen wollte.” sagte Meister Karanir und stellte den Leinensack vor Bens Schreibtisch. “Ich habe sie in einer Abstellkammer gefunden und ich bin mir sicher, dass sie dir gefällt.”

Ben stand auf, ging um den Schreibtisch und öffnete den Leinensack. Hervor kam eine wunderschöne Rüstung aus grünen Drachenschuppen! Sie war leicht wie Stoff, aber hart wie Stahl. Die Drachenschuppen waren genauso grün, wie Taranûrs.

Ben fuhr mit der Hand darüber und blickte Meister Karanir lächelnd an. “Danke!”

“Probier sie doch gleich mal an!” rief Taranûr freudig. “Dann bist du genauso grün, wie ich, hihi!”

Ben strich über die Schuppen. “Morgen früh. Ich bin jetzt zu müde dazu.”

 

Kapitel 11: Der erste Drachenflug


Ben wachte gutgelaunt in seinem Bett auf und schob die Felldecke beiseite. Ausgeschlafen streckte er sich und gähnte, während ihn die ersten Sonnenstrahlen im Gesicht kitzelten. Taranûrs Kopf lag neben Ben und seine gelben Augen sahen ihn schon erwartungsvoll an.
“Bist du schon lange wach?” fragte Ben.
Der Drache hob den Kopf und nickte. “Ja. Ich konnte kaum schlafen heute Nacht. Du aber hast geschnarcht!” sagte er und kitzelte Ben mit seinen schuppigen Händen.
Der Junge lachte und versuchte, sich zu wehren, doch Taranûr war viel stärker.
“Hör auf!” rief Ben lachend.
Nach einer Weile ließ der Drache von Ben ab und der Junge zog sich sein braungelbes Lederhemd wieder zurecht.
“Hast du immer so wilde Haare, wenn du morgens aufwachst?” fragte Taranûr neckend und blies Ben durch seine langen Haare.
Der Junge grinste nur.
“So, heute fliegen wir beide!” sagte Taranûr freudig. “Nach dem Frühstück steigst du auf meinen Rücken und dann jagen wir den Wind!”
Ben nickte freudig. Den letzten Drachenritt bekam er gar nicht richtig mit und er erinnerte sich nur äußerst ungern an die Nacht, als die Suchenden sein Elternhaus zerlegten.
Ben und Taranûr gingen aus dem Zimmer den Flur entlang zum Speisesaal. So langsam aber sicher kannte sich der Junge in dem Teil des Gebäudes aus. Heute war Ben allerdings der erste unten im Speisesaal und der grüne Kobold war gerade dabei, den Frühstückstisch zu decken. Ben blickte nach oben durch die riesige Glaskuppel und entdeckte wieder den großen, grünen Mond Unktrur.
“Aaah, da steht aber jemand früh auf!”
Ben drehte sich um und entdeckte Steceria, die Ben anlächelte. Ihre blauen Schuppen glitzerten wunderschön. Hinter ihr stand Aterix, immer noch mit Schlaf in den Augen.
“Wieso früh?” entgegnete Ben und stemmte die Arme in die Hüften. “Gestern hast du mich geneckt, weil ich später nach unten kam und heute bin ich dir wohl so früh.”
Steceria schritt anmutig an ihm vorbei und schubste ihn frech mit ihrem Schwanz. Ben reagierte sofort. Er packte das Ende blitzschnell und biss leicht hinein.
Das Drachenmädchen fauchte auf und wirbelte herum, doch Ben, der genau damit rechnete, hatte sich schon zwischen ihren Beinen versteckt. Wie eine Raubkatze wirbelte Sterecia hin und her, doch sie fand den jungen Drachenreiter nicht.
Taranûr musste bei dem Anblick so laut lachen, dass die Wände leicht erzitterten. Das Ganze war einfach zu komisch!
“Na warte! Komm raus, damit ich dich durchkitzeln kann, du frecher Mensch!” fauchte Steceria.
“Nö, du musst dich schon anstrengen und mich finden!” rief Ben lachend und schlich um ihre Beine.
Doch das Drachenmädchen hatte ihn jetzt entdeckt. Sie packte ihn mit ihren starken Armen und warf ihn zu Boden. Der Junge wollte aufstehen, doch das Drachenmädchen hielt ihn gut fest.
“So, jetzt hab ich dich!” sagte Steceria und schleckte ihm mit ihrer Zunge das Gesicht ab.
“Igitt! Lass mich wieder los!”
“Dich loslassen? Hmm… Nur wenn du mir ein Rätsel richtig beantwortest!” sagte das Drachenmädchen und blinzelte Ben erwartungsvoll an.
“Soll das ein Witz sein? Lass mich aufstehen!”
“Pass auf: >Ich habe Beine, kann aber nicht laufen. Ich habe Federn, kann aber nicht fliegen. Ich will Ruhe. Aber nicht die meine, sondern deine<. Was bin ich?”
Ben seufzte. “EIN BETT! Das Rätsel kennt doch jeder. Und jetzt lass mich aufstehen!”
Steceria schüttelte ihren schuppigen Kopf. “Das war zu leicht? Gut! Dann gebe ich dir jetzt ein richtig schwereres Rätsel.”
Ben stöhnte genervt. “Lässt du mich dann aufstehen?”
“Vielleicht… Also: >Wer mich hat, der will mich nicht. Wer mich verliert, hat´s schlecht. Wer mich gewinnt, freut sich, weil er mich dann los hat<

Was ist das?”

Ben überlegte lange. Dieses Rätsel kannte er nicht und Steceria schien es geahnt zu haben. Hämisch lächelte sie und drückte ihn fester. Doch dann plötzlich fiel dem Jungen eine mögliche Lösung ein.

“Ein Gerichtsprozess!” rief Ben. “Und jetzt lass mich los, Steceria! Taranûr, jetzt sag ihr mal, sie soll mich los lassen.”

Doch sein grüner Drache schien mit wichtigerem beschäftigt zu sein. Taranûr schleckte nämlich gerade eine große Schale auf dem Frühstückstisch aus. Er fragte mit künstlich abwesender Stimme: “Häh? Ist was?”

Ben schob Stecerias schuppige Hand von seiner Brust. Das Drachenmädchen ließ es diesmal geschehen und wandte sich ebenfalls dem Frühstückstisch zu.

“Das war unfair!” sagte Taranûr schmatzend.

“Na und?” gab Steceria kokett zurück. “Er hat mich mit seinen spitzen Eckzähnen in den Schwanz gebissen!”

“Ach, das hast du doch kaum gespürt!” erwiderte Taranûr grinsend.

“Darum geht es nicht. Wer einem Drachen in den Schwanz beißt, oder drauftritt, der bereut es immer!”

Ben aß auch etwas aus Taranûrs Schüssel und brobierte das Essen. Es schmeckte lecker, doch Ben konnte es keiner Speise zuordnen, die er aus seiner alten Heimat kannte.

“Was ist das?” fragte der Junge.

“Es ist besser, wenn du´s nicht weißt. Aber iss ruhig, wenn es dir schmeckt. Ich bin satt!” sagte Taranûr und schleckte sich mit seiner Zunge über die Schnauze.

Ben streichelte die schuppige Flanke des Drachen und lehnte sich entspannt an ihn. “Du bist so süß, wenn du futterst!” sagte der Junge grinsend.

Taranûr küsste Ben auf die Stirn. “Und du bist süß, wenn du schläfst.”

Ferenia schritt in den Speisesaal, gefolgt von ihrem roten Drachen. “Wehe, ihr habt mir nichts übriggelassen!” rief sie.

Alle lachten.

“Das würden wir doch nie wagen!” gab Steceria zurück.

 Es war schon sehr warm vor der Schule, als Ben mit Taranûr hinaus auf den Rasen zwischen die weißen Obelisken gingen. Ben bekam auf einmal weiche Knie und der Mut verließ ihn.

“Hast du Angst vorm Fliegen?” fragte Taranûr und sah seinen Reiter besorgt an.

“Ein bisschen.”

Taranûr lachte und legte seinen rechten Flügel behutsam um den Jungen. Dann sah er ihn mit seinen gelben Augen an. “Ich habe immer an dich geglaubt und werde auch jetzt nicht an dir zweifeln. Vertrau mir und steig auf meinen Rücken.”

Ben kletterte etwas ungeschickt auf den schuppigen Rücken und schlang seine Arme um Taranûrs Hals.

Erst jetzt bemerkte Ben, dass Meister Karanir mit Ferenia und Aterix sie beobachteten. Vor dem Haupteingang standen sie und sahen den beiden gespannt zu.

“Bist du bereit, Kleiner?” fragte der Drache mit sanfter Stimme.

Ben gab keine Antwort und klammerte sich um den schuppigen Hals, so fest er konnte. Sein Herz raste vor Anspannung.

Taranûr brüllte vor Freude, dann stieß er sich vom Boden ab und schlug ein paar Mal mit seinen großen Flügeln. Das Sonnenlicht schien durch die dünne Haut und Ben konnte hunderte kleiner Äderchen sehen. Ein starker Luftstrom wirbelte ihm durchs Haar. Als er aber nach unten blickte und sah, wie hoch sie waren, zitterte er. Mûrin-Tar war nur noch ein kleiner Punkt im grünen Wald. Unter ihnen sah er den weißen Sandstrand des Sternensees und die unendlichen Wälder daneben. Im Osten auf der hinteren Seite des Sternensees sah er ein gewaltiges Gebirge, dass aber nicht näher zu kommen schien, obwohl sie darauf zuflogen. So groß und weit war der See. In der Mitte erkannte er eine kleine Insel. Der vorbeiströmende Wind war warm und angenehm. Seine Angst wich mehr und mehr. Stattdessen machte sich ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihm breit.

Ich reite einen DRACHEN! dachte sich Ben und lächelte glücklich.

“Festhalten, Kleiner!” rief plötzlich der Drache und machte eine Linksrolle um sich. Die Erde drehte sich einmal über Bens Kopf und der Junge schrie vor Schreck auf. Der Drache lachte.

Ben drehte es den Magen um und er musste alle Mühe aufbringen, sich nicht zu übergeben. Doch dann rief er jubelnd: “Taranûr, das… ist fantastisch!”

Jetzt legte der Drache die Flügel an den Körper und stieß steil herab. Ben schrie vor Freude, als er plötzlich keine Schwerkraft mehr spürte. Taranûr wurde immer schneller und schneller, während er genau auf den Sternensee herabstürzte. Das Wasser war klar und Ben konnte einige Fische sehen, die panisch tiefer tauchten, als der Drache der Wasseroberfläche immer näher kam.

Ben hatte eine Vorahnung und klammerte sich noch fester an Taranûr.

Mit einem Knall schlug der Drache auf das Wasser auf und Ben konnte noch gerade Luft holen, bevor ihn eine harte Wasserwand traf und einschloss. Nur mit Mühe konnte sich der junge Drachenreiter an Taranûrs Hals festhalten, während der Wasserstrom an ihm zog.

Das Wasser war kühl und erfrischend. Mit einem Haps verschlang der Drache einen roten Fisch, der ihm leichtsinnigerweise vor die Schnauze kam. Dann tauchte er tiefer und drehte sich freudig wie eine Schraube um die Achse. Das Sonnenlicht brach sich unter der Wasseroberfläche und Ben sah Taranûrs Schuppen wunderschön glänzen. Wie ein riesiges Krokodil paddelte der Drache mit seinem Schwanz und nahm schnell Fahrt auf.

Als Bens Lungen nach Luft zu schreien begannen, nahm der Drache noch mehr Geschwindigkeit auf und stieß vertikal durch die Wasseroberfläche.

Im richtigen Moment öffnete er seine Flügel und schlug ein paar mal auf und ab. Bens lederne Kleider waren klatschnass und seine Haare klebten ihm im Gesicht. Die Schuppen des Drachen glänzten jetzt durch die Nässe wie Edelsteine, als das Sonnenlicht direkt darauf schien. Grün und wunderschön, wie ein Smaragdberg. Ben schmiegte sich an die Schuppen und spürte ihre Wärme. Er konnte sogar Taranûrs Herzschlag spüren und seine Atemzüge hören.

“Taranûr, das war fantastisch!” schrie Ben durch den warmen Sommerwind, der seine Haare schnell trocknete. Der Junge lachte glücklich und dachte daran, dass er noch vor wenigen Tagen in einem Schneesturm fror, bevor er seinem glücklichen Schicksal begegnete.

Taranûr teilte Bens Freude und flog jetzt noch verrückter. Er machte Loopings und Sturzflugrollen, kippte mal links und mal rechts ab. Da seine Schuppen inzwischen wieder trocken waren, konnte sich Ben nun auch problemlos festhalten. Der Wald, über den sie jetzt flogen, war ein einziger Teppich aus grünen Baumkronen. Ben konnte sich an ein Foto vom Brasilianischen Regenwald erinnern, dass er in der Schule in einem Atlas sah. Dieser Wald war aber noch riesiger. Einige Bäume waren fast 300 Meter hoch und so dick, wie ein ganzes Haus! Riesige feuchte Nebelwolken zogen sich über ihn hinweg.

“Da unten leben die gefährlichsten Tiere und Monster von Eomar!” warnte der Drache. “Auch wenn der Wald schön aussieht, er ist gefährlich!”

“Ich werde mir merken!” rief Ben zurück.

Die Sonne strahlte einen unbeschreiblich schönes Licht durch die obere Wolkenschicht, während der Drache immer höher stieg. Das letzte bisschen Furcht war nun verschwunden und Ben schloss die Augen, während er lachend die Arme ausbreitete. Der Wind flatterte ihm durchs Haar und rauschte an Taranûrs Schuppen vorbei, wobei ein unbeschreiblich schöner Ton entstand.

“Das ist der schönste Tag meines Lebens!” rief Ben. “Ich liebe das Fliegen!”

Der Drache stieß einen kleinen Feuerball aus und flog lachend durch das Loch in der Wolke, das dieser verursachte.

“Jetzt weißt du, wie sich ein Drache am Himmel fühlt. Fliegen wir in Zukunft öfter miteinander?”

“Ja, jede freie Minute!” rief Ben glücklich.

Taranûr drehte sich wieder um die eigene Achse, während Ben sich diesmal nur mit den Beinen festhielt und die Arme ausgestreckt ließ. Diesmal allerdings spürte er kein bisschen Furcht mehr.

Die Sonne war schon untergegangen, als Taranûr mit Ben vor Mûrin-Tar landete. Sie waren heute fast den ganzen Tag geflogen!

Unfassbar, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man etwas glückliches erlebt. dachte sich der Junge, während er von Taranûrs Rücken stieg und seine Glieder streckte. Dann küsste er dem Drachen sanft auf die Schnauze und lächelte glücklich. “Taranûr, das war der schönste Tag meines Lebens. Danke für den wunderbaren Flug. Ich liebe dich über alles!”

Taranur schleckte dem jungen Drachenreiter übers Gesicht. “Ich liebe dich auch Kleiner!”

Ben blickte auf Mûrin-Tar, während es schon dunkel wurde.

“Mal sehen, ob wir noch was zu Essen kriegen!” rief Ben, während er durch den Haupteingang hastete. Sie waren viel zu lange weggeblieben und Ben befürchtete, dass man sich schon Sorgen um ihn machte.

Drinnen war alles dunkel.

“Sie sind bestimmt schon alle zu Bett gegangen.” flüsterte der Drache.

Ben schlich leise die große Wendeltreppe hinauf zu seinem Zimmer. Es überraschte den jungen Drachenreiter, wie gut er schon im Dunkeln sehen konnte! Viel schärfer und klarer, als jemals zuvor!

“Taranûr, ich kann im Dunkeln sehen! Hat das mit meiner Verwandlung zu tun?”

Der Drache entgegnete flüsternd: “Ja, Kleiner. Du kannst bald so gut sehen, wie alle Drachenreiter, aber das dauert noch ein bisschen.”

Ferenia war auf ihrem Zimmer. Ihre Tür war angelehnt und ein Lichtstrahl fiel auf den Flur. Ben klopfte an.

“Komm rein Ben.” sagte Ferenia. Sie saß neben Xalathar und las ihm etwas aus einem Buch vor. Im Schein der Deckenlampe glitzerten Xalathars Schuppen wie rote Rubine.

“Wie war dein Flug, Ben?” fragte das Elfenmädchen.

“Fantastisch!” Der Junge lächelte übers ganze Gesicht.

Kapitel 12: Das Sternenorakel


Es war mitten in der Nacht, als eine feuchte Drachenschnauze Ben sanft anstieß, der tief und fest schlief.
“Wach auf, Kleiner!” flüsterte Taranûr Ben ins Ohr. “Wach auf!”
Verschlafen hob Ben den Kopf. “Was ist denn los?”
“Das Sternenorakel ruft uns zu sich.”
Ben blickte den Drachen verwundert an. “Was meinst du?”
“Ich hatte eben einen besonderen Traum.” sagte Taranûr. “Das Sternenorakel erwartet uns, um uns etwas mitzuteilen. Außerdem hat es gesagt, dass du jetzt bereit für unseren Seelenschwur bist.”
“Wann? Jetzt gleich?”
“Ja!” antwortete der Drache.
“Aber Taranûr, es war doch nur ein Traum. Schau mal raus. Es ist mitten in der Nacht!”
Der Drache schwieg einen Moment, während er die Sterne über sich ansah. Dann flüsterte er: “Ben, vertraust du mir?”
“Natürlich!” antwortete der Junge.
“Genauso vertraue ich meinen Träumen. Bei uns Drachen sind Träume anders, als bei euch Menschen. Sie verraten uns Dinge. Seltsame, masterische Dinge. Manchmal auch die Zukunft.”
“Und das Sternenorakel hat gesagt, wir sollen jetzt kommen?”
“Ja!”
Der Junge kletterte aus dem Bett und blickte den Drachen immer noch ungläubig an. “Na gut. Wenn du deinen Träumen so sehr vertraust, dann lass uns dorthin fliegen. Aber sollten wir nicht noch den anderen Bescheid sagen? Vielleicht möchten sie mitkommen”
Der Drache schüttelte seinen schuppigen Kopf. “Lass sie schlafen. Sie erfahren es morgen von uns. Der Seelenschwur betrifft sowieso nur uns beide.”

Ben folgte Taranûr durch das Gebäude. Obwohl Ben im Dunkeln schon sehen konnte, war alles doch noch etwas fremd für ihn. Nachts erweckte die Schule der Drachenreiter einen ganz anderen Eindruck.
Die vielen Drachenstatuen aus weißem Stein, die überall herumstanden, wirkten im Mondschimmer lebendig. Ben hatte das Gefühl, dass ihn tausend Augen in diesem Moment beobachten. Die Bilder an den Wänden schienen sich zu verändern und auch die Ritterrüstungen, die verstaubt in den Ecken standen, wirkten unheimlich.
Draußen auf dem Hof war es stockfinster und ein kühler Nachtwind blies durch den umliegenden Wald, als Ben mit seinem Drachen die Schule verließ. Ein Heulen von Wölfen war in der Entfernung zu hören.
“Meister Karanir schläft sicher schon lange.” sagte Ben. “Wenigstens ihm sollten wir sagen, wo wir hinfliegen.”
“Nein, lass ihn schlafen. Los, steig auf meinen Rücken!”
Der Drache breitete seine Flügel aus, während der junge Drachenreiter aufstieg. Dies gelang ihm trotz der Dunkelheit schon wesentlich besser, als beim letzten Mal. Die Insel auf dem See war nur als kleiner Punkt zu erkennen. Schwarz und weit entfernt.
Taranûr stieß sich mit den Hinterbeinen ab und schlug mehrmals kräftig mit den Flügeln. Nachts zu fliegen, war für Ben etwas ganz besonderes. Er hatte es zwar schon einmal gemacht, doch das war damals etwas anders. In jener Nacht, als die Suchenden seine Eltern getötet und die Nakâns sein Haus zerlegt hatten, erlebte er den Nachtflug mit Ferenia auf Taranûrs Rücken nur kurz, bevor er in Ohnmacht fiel.
Wieder stieg dieser unbeschreibliche Hass in ihm hoch. Doch nach einer Weile musste sich Ben eingestehen, dass sich sein Leben hier in der neuen, unbekannten Welt keinesfalls verschlechtert hat. Im Gegenteil! Er hatte einen Drachen, einen echten Drachen, von denen er immer gedacht hatte, es gäbe sie nur in Märchen.
Bevor er Taranûr damals im Schneesturm begegnete, glaubte Ben immer, Drachen wären hässlich, schleimig und böse und ihre Lieblingsbeschäftigung wäre es, Jungfrauen zu fressen und Dörfer in Brand zu setzen. Doch Drachen waren anders. Sie waren intelligent, liebten Rätzel, Spiele und Witze und sie hatten eine so wunderbare, schuppige warme Haut!
Ben legte seinen Kopf auf die Schuppen und lächelte.
Taranur, mein Drache.

Der grüne Mond zauberte ein Glitzern auf die Wasseroberfläche des Sternensees, während der Drache dicht über der Wasseroberfläche auf die Insel zuhielt. Langsam, ganz langsam wurde sie größer. Ben glaubte, eine Art Pyramide zu erkennen, die auf einem Hügel stand. Um den Hügel herum war ein riesiger Wald. Die Insel wurde immer größer und hatte einen weißen Sandstrand, der an vielen Stellen golden glitzerte.
Taranûr erreichte ihn nun und glitt über die Dünen und Baumkronen. Die Blumen am Boden dufteten besonders stark.
Jetzt erkannte Ben die Pyramide erst richtig. Sie war etwa 200 Meter hoch, hatte auf allen Vier Seiten Stufen und bestand aus einem seltsamen dunkelblauen Glaskomplex. Wie die Schuppen eines Drachen waren mehrere kleine Glasfensterchen übereinander auf der gesamten Stufenfläche angereiht. Es reflektierte teilweise das schwache Licht der Sterne.
Taranûr landete direkt vor der Pyramide. Der Boden bestand aus zartem, weißem Sand, der sanft zwischen seine Krallen glitt. Dem Drachen schien das zu gefallen.
Ben sprang von Taranûrs Rücken ab und ging langsam auf die Pyramide zu.
“Wahnsinn!” rief Ben, und hob ein kirschgroßes Goldnugget auf. Er entdeckte, dass der ganze Boden davon voll war.
“Taranur, das ist echtes Gold!”
“Ja und?” fragte der Drache. “Die liegen hier überall rum!”
Ben steckte sich den Nugget in seinen Lederbeutel und ging mit Taranûr auf die Pyramide zu.
Ein dreieckiger Eingang befand sich in der Mitte.
“Keine Angst, Kleiner! Ich bin hinter dir!” flüsterte der Drache, der ihm folgte.
Er hatte erst Probleme, durch den kleinen Eingang zu kommen, schaffte es aber dann doch.
Ben musste dabei grinsen.
Der Boden bestand aus schwarzem, glänzendem Stein. Flüsternde Stimmen, die aus den Wänden zu kommen schienen, umgaben Ben und den Drachen.

“Der junge Drachenreiter aus der fernen Welt ist hier!”
Die Stimme kam von überall her und klang kristallklar. Erschrocken sah sich Ben um, doch Taranûr beruhigte seinen Reiter: “Keine Angst, Kleiner! Das Sternenorakel kann man nicht sehen!”
“Genau das beunruhigt mich gerade!”
Ben sah sich unsicher um. Tausende Lichter glitzerten in dem Gestein. Meterhohe Kristalle ragten aus dem Boden empor. Sie spiegelten das schwache Sternenlicht, dass durch die Glaskuppel fiel.
“Hab keine Angst, Menschenkind! Du bist hier in Sicherheit.”
“Wo bist du? Was bist du?” rief Ben laut.
“Ich bin überall auf dieser Insel. Ich bin das Sternenorakel.”
Die kristallklare Stimme war so hell, das sie Ben weder einem männlichen, noch einem weiblichen Wesen zuordnen konnte. Sie kam auch aus den Kristallen, die überall um ihn herum wuchsen.
“Ihr beide seid hierher gekommen, um für immer eins zu werden.”
“Ja!” antworteten Ben und Taranûr fast gleichzeitig, während sie sich kurz ansahen.
“Der letzte Drachenreiter hat sich entschieden.” sagte jetzt das Sternenorakel. “Doch seid gewarnt! Wenn eure Seelen erst mal eins sind, lässt sich dies nicht wieder rückgängig machen! Für alle Ewigkeit seit ihr aneinander gebunden. Was einer von euch fühlt, das fühlt auch der andere. Schmerz, Trauer, Freude….”
Taranûr senkte seinen Kopf und antwortete: “So sei es!”
Wenn dies euer Wunsch ist, dann setzt euch jetzt voreinander auf den Boden.
Ben und Taranûr taten, wie es das Sternenorakel gesagt hatte.
Der Junge kniete sich mitten im Saal auf den Boden. Auch der Drache setzte sich, direkt vor den Jungen. Dann senkte er den Kopf und blickte dem Jungen tief in die ängstlichen Augen.
Bens Herzschlag raste und Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Noch nie in seinem Leben war er so aufgeregt. Nicht mal an dem Tag, wo er in dem Abflussrohr gefangen war um Schutz vor den Nakâns zu finden.
Tief in seinem Innern spürte der junge Drachenreiter ein Kribbeln. Eine Verbindung zu dem Drachen, die immer stärker zu werden schien. Er konnte Taranûrs Herzschlag spüren, als wäre es sein eigener. Er konnte tief in den gelben Augen des Drachens etwas erkennen. Es war der Spiegel zu seiner eigenen Seele.
Vertiefe deine geistige Verbindung, Ben. Öffne deinem Drachen deine Seele und nimm ihn an, als wäre er ein Teil von dir!
Ben schloss die Augen und ließ die seltsame Kraft durch seinen Körper strömen. In seinem Unterbewusstsein wehrte er sich anfangs noch dagegen, doch dann ließ er es geschehen und gab sich dem neuen Gefühl hin.
Es war ein angenehmes, warmes Gefühl, zu spüren, wie die Verbindung zwischen ihm und seinem Drachen immer intensiver wurde.
Die Stimme des Sternenorakels hallte in seinem Kopf: Schwörst du, die Aufgaben und Pflichten eines Drachenreiters zu erfüllen und immer für deinen Drachen da zu sein? Die Antwort auf diese Frage, die Ben gab, sollte nun für alle Ewigkeit sein Schicksal besiegeln und sein Leben bestimmen:
“Ja, ich schwöre!” antwortete der Junge.
Der Drache blickte Ben stolz an.
Taranûr. Schwörst du, deinen Reiter zu beschützen und deine Aufgabe als gebundener Drache zu erfüllen, bis zum Tod?
Der Drache senkte den Kopf und antwortete: “Ja, ich schwöre es!”
So sei es! Ihr habt euer Schicksal gewählt! antwortete das Sternenorakel.
Im selben Moment jagte ein so gewaltiger Energiestoß durch Bens Herz, dass er glaubte, zu verbrennen. Eine Hitze, so stark wie ein glühendes Schwert schnitt sich in Bens Herz und auch Taranûr knurrte.
Der Junge fiel hintenüber auf den Rücken und schlug unsanft mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf. Ben blickte noch ein letztes Mal in die gelben Augen des Drachen, bevor er das Bewusstsein verlor.

Das rhythmische Geräusch von Flügelschlägen und der kühle, vorbeibrausende Wind weckten Ben auf. Er sah sich um und stellte fest, dass er sich wieder auf Taranûrs Rücken befand. Er hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr und wunderte sich zuerst, warum es so dunkel war.
“Wie fühlst du dich, Kleiner?” fragte der Drache, der schon bemerkt hatte, das sein Reiter wieder aufgewacht ist.
“Gut.” sagte der Junge nach einiger Zeit. “So gut wie schon lange nicht mehr. Was ist eben mit mir passiert?”
“Du hast das Bewusstsein verloren, nachdem sich unsere Seelen verbunden haben. Das kommt bei fast allen Drachenreitern vor.”
Ben sah sich um. Sie befanden sich wieder über dem großen See und flogen in Richtung Mûrin-Tar.

“Ben. Ich weiß, was passiert ist, kann man nicht mehr ungeschehen machen.” sagte der Drache. “Aber ich stelle dir jetzt eine Frage. Beantworte sie bitte aus deinem Herzen heraus. Wenn du die Möglichkeit hättest, wieder zurückzukehren in deine alte Welt… Wenn deine Eltern noch leben würden und wenn man alles so wiederherstellen könnte, wie es vorher war… Würdest du lieber dorthin zurückkehren, oder hier bei uns bleiben?”
Die Frage, die ihm der Drache stellte, war für Ben sehr einfach zu beantworten. Er musste nicht lange überlegen. “Nein, Taranûr. Hier bei euch bin ich glücklich. Hier fühle ich zum ersten Mal wie zu Hause.”

Er küsste seinem Drachen auf die Schnauze und umarmte ihn.

Impressum

Texte: Drachenstein
Bildmaterialien: -
Lektorat: -
Übersetzung: -
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2013

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