Cover

Vorwort

Alles, was beginnt, findet auch irgendwann ein Ende. Auch diese Geschichte muss einmal enden und manchen von euch wird es schwer fallen, von den geliebten Figuren Abschied zu nehmen.

Doch das gute an Büchern ist, dass man sie immer mal wieder aus dem Regal hervorziehen, aufschlagen und erneut in die Welt abtauchen kann. Falls dich, geneigter Leser, irgendwann die Sehnsucht packt, zögere nicht und beginne die Geschichte von vorn. Denn sie ist dazu da, gelesen und geliebt zu werden.

Etwas, was zu Anfang als Kurzgeschichte gedacht war, entpuppt sich am Ende als Mehrteiler. Aus wenigen hundert Worten, wurden tausende. Wer kann also sagen, ob das wirklich das Ende ist?

Sei daher also nicht traurig, wenn du die letzte Seite dieses Werkes umblätterst und das Wort ENDE am Fuße eben jener letzten Seite vorfindest. Denn, wo es ein Ende gibt, fängt auch immer irgendetwas an.

Prolog

 

Der Kies knirschte unter meinen Schuhen, während ich zum Herrenhaus hinaufschlich. Es war erschreckend leicht gewesen, über die efeuberankte Mauer zu klettern und ungesehen bis hier vorzudringen. Das verdeutlichte die Arroganz der Vampire, sie hielten sich für die überlegene Spezies, aber leisteten sich nicht einmal Videokameras.

Kurz warf ich einen Blick über die Schulter. Sophia war dicht hinter mir, drückte sich ebenfalls an die Steinmauer des Hauses. Sie lächelte mich an, wodurch sich ihr Grübchen in ihre Wange grub. Ich grinste zurück. Dann wandte ich mich wieder unserer Aufgabe zu: in das Herrenhaus eindringen und nach den Tagebüchern Asraths suchen.

An der nächsten Ecke angelangt, blieb ich stehen und Sophia tat es mir gleich. Zaghaft reckte ich den Hals und besah mir den Hintereingang. Er wurde durch ein spärliches Licht beleuchtet, der Rest des Gartens – oder wie man dieses heillose Durcheinander an Pflanzen auch immer nennen wollte – lag im Dunkeln. Das war der perfekte Ort für uns, einzusteigen. Genau, wie wir es vorher geplant hatten. Ich wusste noch zu gut, was für ein Aufwand es gewesen war, die Blaupausen aus dem Stadtarchiv zu besorgen und alles zu kopieren. Aber dank Phis Überredungskünsten war es uns schlussendlich gelungen, den alten Mann im Archiv davon zu überzeugen, dass wir von den Besitzern für Umbauarbeiten beauftragt worden waren.

Ich drehte mich zu Sophia um und flüsterte: »Wie ich es mir gedacht habe, ist der Hintereingang unbewacht. Falls die Pläne stimmen, müsste dort die Küche sein. Wenn wir die durchqueren, sollten wir auf die Treppe für Bedienstete treffen, so kommen wir in die oberen Stockwerke.«

Phi nickte energisch, doch in ihren Augen konnte ich die Unsicherheit sehen, die sie seit Tagen begleitete. »Und warum warst du dir noch einmal so sicher, dass die Tagebücher in der Bibliothek sind und nicht in den Katakomben? Laut deinen Beschreibungen müssten sich dort unten meilenweit nur Tunnel befinden.«

Mit ihrem Widerspruch hatte ich gerechnet. Sie war einfach nicht überzeugt von meiner Argumentation, dabei war sie schlüssig. Anstatt die Augen zu verdrehen, atmete ich tief durch und setzte mindestens zum zehnten Mal mit meiner Erklärung an: »Laut den Erzählungen der Ältesten verschwand Asrath im 14. Jahrhundert. Damals gab es nur einen Teil der Katakomben. Die dienten vermutlich zur Aufbewahrung der Verlorenen. Die restlichen Strecken kamen erst in den folgenden Jahrhunderten dazu. Ergo konnte Asrath sie zu seinen Leb… äh …« Ich bemerkte meinen Fehler und korrigierte mich: »Also zu seiner Zeit gab es die nicht. Und da Quinton sehr überrascht über das Tagebuch war, das dir in die Hände gefallen ist, wurden sie weder gefunden noch entfernt. Und wo versteckt man Bücher besser als in …?« Ich ließ den Satz unbeendet und sah Sophia herausfordernd an.

Sie seufzte. »Ich hasse es, wenn du recht hast.«

Zufrieden grinste ich sie an und wartete auf eine Antwort.

Nach ein paar Sekunden gab sie nach und murmelte: »In einer Bibliothek.«

»Korrekt!«, sagte ich etwas zu euphorisch und blickte mich im nächsten Moment um, ob uns jemand gehört hatte. Als sich nichts rührte, wandte ich mich wieder Phi zu. »Zufällig ist der Eingang in die Katakomben in der Bibliothek. Mich würde es nicht wundern, wenn sich Asrath genau diesen Ort zur Aufbewahrung seiner Tagebücher ausgesucht hat.«

»Und was machen wir, wenn sie da nicht sind?«

»Dann suchen wir weiter.«

»Aber –«

Ich unterbrach sie: »Phi, bitte!« Ich griff nach ihren Händen, verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Die ganze Zeit in der Hocke zu sein, war auf Dauer anstrengend. »Vertrau mir! Ich gehörte einmal zu dieser Gesellschaft, wenn sie jemand versteht, dann wohl ich.«

Sie biss sich auf die Lippe, ließ den Blick über meine Schulter schweifen. Es folgten ein paar Sekunden des Schweigens und meine Ungeduld stieg. Je länger wir hier saßen, desto eher könnten wir entdeckt werden. Dann, endlich, sah sie mich wieder an und lächelte zart.

»Okay, ich vertraue dir.«

»Genau wie früher«, witzelte ich. »Da hast du auch immer gezögert.«

Sie boxte mich und ich ließ ihre Hand los, ruderte mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Wundert dich das? Du warst echt unheimlich«, zischte sie.

»Lieb dich auch«, erwiderte ich und kehrte ihr den Rücken zu. Mit dem Blick erfasste ich die Tür. Nirgends regte sich etwas, kein Geräusch drang an mein Ohr – was eigentlich noch viel gruseliger war als ein Kratzen aus der Dunkelheit. Nicht einmal Vögel waren zu hören. Ob das an der späten Uhrzeit lag? Wir waren um kurz nach Mitternacht hier angekommen. Dennoch erschien mir diese Ruhe nicht normal.

Bevor mich meine Paranoia in Besitz nehmen konnte, setzte ich mich in Bewegung und schlich zu der Tür. Erst als Phi neben mir kniete, hob ich den Arm und umschloss den Knauf. Vorsichtig drehte ich an dem kalten Metall und … natürlich war die Tür verschlossen. »Hast du …«, flüsterte ich und in der nächsten Sekunde schob sich Phi an mir vorbei.

Sie hatte eine kleine Tasche in der Hand, in der es glitzerte. »Lass mal den Profi ran«, scherzte sie.

Ich rückte zur Seite und sie machte sich am Schloss zu schaffen. Erst schob sie einen Dietrich hinein, dann einen zweiten. Ich bewunderte sie dafür, dass ihre Hände so ruhig blieben. Trotz der stressigen Situation.

Um nicht untätig zu sein, sah ich mich um, ob wir noch immer unentdeckt waren. Aber aufgrund des schwachen Lichts der Lampe über unseren Köpfen war das nicht leicht. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir quasi auf dem Präsentierteller waren. Die einzige Lichtquelle beschien die Tür und somit uns. Schnell richtete ich mich auf, wollte die Lampe zerschlagen, da hörte ich ein Klicken.

»Geschafft«, flüsterte Phi und drehte den Knauf. Die Tür ließ sich problemlos öffnen.

»Schnell rein.« Ich drängte mich nach ihr ins Innere. Leise schloss ich die Tür und stellte mich an das Fenster daneben. Ein dünner weißer Vorhang hing davor, gab genug Sicht auf den Garten preis. Ich starrte nach draußen, wartete ab, ob sich etwas tat. Mein Herz pochte laut gegen meine Brust. Drei Schläge wartete ich, als sich dann immer noch nichts rührte, atmete ich erleichtert aus und zeigte Phi den Daumen.

Ab jetzt durften wir nicht mehr reden oder sollten Gespräche zumindest auf ein Minimum reduzieren. Zwar hatte nicht jeder Vampir ein geschärftes Gehör, aber es gab ein paar unter ihnen. So auch Damian, und der war der Letzte, dem ich hier begegnen wollte.

Ohne das Licht einzuschalten, schlichen wir vorwärts. Der Schein der Außenlampe zeichnete Linien auf den Boden und machte es uns leichter, den Weg zu finden. Im Haus war alles still und nur wenig beleuchtet. Die Treppe in den ersten Stock fanden wir schnell. Dort brannten alte Glühbirnen, sie flackerten und strahlten in einem orangenen Schein.

Als ich die erste Stufe betrat, knarzte sie. Ein Fluch verließ meinen Mund, woraufhin ich mir vor Schreck die Hand darauf presste. Ich lauschte, war da eine Stimme zu hören? Oder flüsterte bloß das Holz? Nichts rührte sich, also ging ich weiter, trat mehr auf die Ecken, die weniger ächzten. Die Treppe war steil und beschrieb einen Bogen. Oben angekommen, versperrte uns ein Vorhang die Sicht. Phi erschien an meiner Seite und ich legte mir einen Finger an die Lippen. Ab jetzt betraten wir gefährliches Gebiet. Auch wenn ich glaubte, dass sich die Vampire über Nacht alle unter der Erde aufhielten und – na ja – Vampirdingen nachgingen, befand sich der Eingang in die Katakomben eben genau hier in der Bibliothek.

Vorsichtig schob ich den schweren Stoff zur Seite und linste in den Raum. In der Bibliothek standen einzelne Kerzen, deren Flammen sanftes Licht spendeten. Das Regal, das eine verborgene Tür beinhaltete, war in Sichtweite. Es sah so harmlos aus mit all den Büchern. Niemand würde vermuten, dass sich dahinter Unsagbares abspielte.

Ich wartete. Erst eine Minute, dann zwei. Meine Füße kribbelten und meine Beine wurden schwer. Dennoch schaffte ich es nicht, den ersten Schritt zu machen. Wenn wir aus unserem Versteck hervortraten, könnten wir jederzeit entdeckt werden. War es das Risiko wirklich wert? Ich drehte mich zu Phi um, öffnete den Mund.

Blitzschnell legte sie ihre Hände auf meine untere Gesichtshälfte und funkelte mich wütend an. »Du ziehst nicht wieder den Schwanz ein!«

»Wieder?«, nuschelte ich unter ihren Fingern. Wann hatte ich denn das letzte Mal …?

»Wir haben es bis hierhin geschafft, also reiß dich zusammen.« In ihren blauen Augen flackerte der Ehrgeiz. Sie wollte genauso sehr wie ich wissen, was hinter dieser Prophezeiung steckte, von der Brünhild kurz vor ihrem Ableben gesprochen hatte. Wenn nicht sogar mehr. Und nur die Tagebücher würden darüber Ausschluss geben können.

Ich nickte zur Bestätigung, woraufhin sie ihre Hände von meinen Wangen nahm.

»Also los.« Ohne noch eine weitere Sekunde zu verschwenden, schlüpfte sie in die Bibliothek. Ein Klicken ertönte und ein kleiner Lichtkegel wanderte über die Regale.

Etwas verzögert folgte ich ihr, wandte mich der rechten Seite zu und schaltete ebenfalls meine Taschenlampe ein. Der Schein traf auf verstaubte Buchrücken und augenblicklich begann ich zu suchen. Mit den Fingern fuhr ich über die Bücher, hatte dabei den Kopf meist schief gelegt, um die Titel zu entziffern. Manche waren mit Gold in den Buchrücken gestanzt worden, manche mit einfacher schwarzer Tinte geschrieben. Wenige konnte ich leicht lesen, aber ich suchte ja auch nicht nach einem gewöhnlichen Buch. Sondern nach den Tagebüchern des Urvampirs Asraths, dem Vater aller Untoten und ersten Vampir.

Wir waren beide vertieft ins Suchen, sodass ich zu spät die gedämpften Stimmen und Schritte wahrnahm. Als die geheime Tür hinter den Regalen links neben mir aufschwang, kam ein gepresstes Keuchen über meine Lippen. Ich war von der Regalwand aus nicht zu sehen, Sophia jedoch stand mitten im Rampenlicht und starrte die eintreffenden Vampire mit großen Augen an.

»Was in …« Ein Fluch wurde ausgestoßen, in der nächsten Sekunde flammte das Licht über mir auf.

Ich musste die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden. Ein Schrei erklang, mein Herz zog sich zusammen.

»Sophia!«, brüllte ich, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Blinzelnd sah ich mich um, schirmte die Augen mit der Hand ab. Ich entdeckte Sophia immer noch auf der anderen Seite stehend, ein schwarzhaariger Vampir hatte sie gepackt und ihren Arm auf den Rücken verdreht. In ihrem Gesicht stand Schmerz.

Augenblicklich hechtete ich vor, hob die Arme ergebend und versuchte, zu verhandeln. »Wir sind nicht hier, um Ärger zu machen. Wir suchen nur etwas.«

Die dunklen, rötlich schimmernden Augen des Vampirs richteten sich auf mich. Er hatte eine markante Kinnpartie und breite Schultern. Es versetzte mir einen Stich. Warum sahen alle Vampire besser aus als ich? Ich schüttelte den Kopf. Das war jetzt nicht von Bedeutung.

»Loan Ryder«, tönte eine schnarrende Stimme hinter mir.

Das Blut gefror in meinen Adern. Eine Gänsehaut überzog meinen Nacken. Ganz langsam drehte ich mich herum, die Hände immer noch erhoben. Auf dem Treppenabsatz stand niemand Geringeres als Damian McSullan. Der Vampir, dem ich neben Quinton am wenigsten begegnen wollte.

»Oh, hi Damian«, begrüßte ich ihn mit schwacher Stimme. »Lange nicht gesehen.«

Er überwand die letzte Stufe ins Zimmer. Sein kalter Blick ruhte auf mir. »Ich dachte, ich hätte mich bei unserer letzten Begegnung deutlich ausgedrückt.« Er ließ die Worte wie eine Drohung in der Luft hängen.

»Ja, ich weiß. Wir wollten auch … ähm, die Stadt verlassen. Aber … dann ist uns eingefallen, dass wir noch etwas erledigen müssen.« Gequält lächelte ich ihn an.

Das Ganze lief ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Vampire hätten alle unten sein sollen, bei ihren Partys oder was sie sonst alles Unaussprechliches dort unten veranstalteten.

Damians rechte Augenbraue zuckte nach oben. »Und das wäre?«

»Äh …« So weit hatte ich nicht gedacht. Mein Gehirn fühlte sich aktuell wie Kaugummi an. Zäh und verklebt. Kein sinnvoller Gedanke wollte mir einfallen.

»Asraths Tagebücher«, stieß Sophia keuchend hervor.

»Es gibt noch mehr?« Damians Augen weiteten sich nur um Millimeter, trotzdem fiel es mir auf.

Innerlich verfluchte ich Sophia. Das Geheimnis um die Tagebücher hätte ich gern etwas länger geheim gehalten. Da es nun schon draußen war, konnte ich es auch zu meinem Vorteil nutzen.

»Ja. Brünhild hat uns mitgeteilt, dass es noch mehr geben soll. Asrath hat sie anscheinend versteckt.«

»Und ihr vermutet, dass sie hier sind.«

»Offensichtlich.« Ich konnte es mir nicht verkneifen, eine patzige Antwort zu geben.

»Und warum sucht ihr sie?«

»Weil …«, setzte ich an, verstummte dann aber wieder. War es sinnvoll, Damian die Wahrheit zu sagen? Würde er uns helfen? Vermutlich nicht. Er war schließlich gern ein Vampir, genoss es und nutzte es regelmäßig aus. Sein inneres Streben schien eher der Macht zu gelten als dem sterblichen Leben.

»Weil?«, hakte Damian nach. Er kam einen Schritt auf mich zu, ich stolperte rückwärts.

Ein Schrei drang aus Sophias Kehle und ich wirbelte herum. Der Grobian hatte ihren Arm unnatürlich weit verdreht, sodass er drohte, aus dem Gelenk zu springen.

»Da soll etwas über die Prophezeiung stehen!« Ich starrte Damian wütend an. »Sag deinem Affen, dass er gefälligst die Finger von meiner Freundin lassen soll.«

»Prophezeiung?« Damian überging meine Drohung. Gedankenverloren legte er den Kopf schief und fixierte einen Punkt hinter mir.

»Ja, dieses ganze Vampirding.« Ich hob in einer allumfassenden Geste die Arme. »Das soll laut Brünhild vom Vater ausgesprochen worden sein.«

»Vater? Eine Art Fluch also?« So hatte ich das noch nie gesehen. »Und das würde bedeuten, dass er gebrochen werden kann?« Sein Blick klärte sich wieder und er sah mich an.

Schweiß rann mir den Nacken hinab, als ich nickte. »Kannst du jetzt bitte …« Weiter kam ich nicht.

»Töte sie!«

Mir blieb das Herz stehen. Wie in Zeitlupe drehte ich mich um, sah die blanke Panik in Sophias Augen und den hungrigen Glanz des Vampirs. Ich machte einen Satz vor, doch ich war zu langsam.

Der Schwarzhaarige packte Sophia am Nacken, hob sie mit einem Ruck hoch und warf sie aus dem Fenster. Glas splitterte, ein Schrei drang aus meiner Kehle. Sophia hatte den Mund geöffnet, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Ich erreichte das Fenster. Ein dumpfes Geräusch, ein Aufprall. Dann sah ich das Blut.

Wie eine Märchenprinzessin lag Sophia im Gras, ihr Zopf hatte sich gelöst und nun breiteten sich ihre Haare offen auf dem Boden aus, fast als würden sie einen Heiligenschein bilden. Glassplitter glänzten neben ihr auf dem Boden. Dunkles Blut sickerte aus einem offenen Bruch am Bein und aus ihrem Hinterkopf.

Gelähmt starrte ich nach unten. Sophia war tot, das wusste ich, auch ohne ihren Puls zu überprüfen. Etwas in mir zerbrach, genau wie das Fenster zuvor. Brennende Hitze schoss durch meine Adern, die Hilflosigkeit verwandelte sich in Wut.

»Und jetzt wirst du sterben!«, rief Damian mir hämisch zu. »So habe ich es euch versprochen, und ich halte meine Versprechen.«

Immer heißer wurde mir, ich hörte Knochen knacken, mein Sichtfeld verschwamm, wurde daraufhin noch schärfer, sodass ich selbst die feinen Schnitte in Sophias Gesicht erkennen konnte. Ein tiefes Knurren drang aus meiner Brust. Rache flutete meinen Verstand und in der nächsten Sekunde wurde die Welt rot.

Kapitel 1

Damian

 

Damian starrte fassungslos auf die Szene vor ihm. Eine Verwandlung ging durch den lächerlichen Menschen. Das Reißen von Stoff war zu hören, Ryders Kleidung platzte an den Nähten auf. Seine Gestalt wuchs in die Höhe, sein Schädel verformte sich, wurde spitzer, wie der eines Hundes. Außerdem sprießten plötzlich überall Haare auf seinem Körper. Mit einem Brüllen streckte sich das, was einmal Loan Ryder gewesen war.

Damian stolperte einen Schritt rückwärts. Das Monster holte mit einer krallenbesetzten Pfote aus, traf den Vampir, der Sophia aus dem Fenster gestoßen hatte, und schickte ihn ihr hinterher. Mit einem Schrei stürzte er hinaus und ein dumpfes Geräusch zeugte von seinem Aufprall. Ryder – besser gesagt das behaarte Vieh – drehte sich zu Damian um. Es hatte Lefzen, aus denen der Speichel tropfte. Spitze Zähne ragten aus einer fellüberzogenen Schnauze. Aus schräg stehenden Augen sah er sich um, ihre Pupillen groß, die Iriden fast schwarz.

Ein Wolf, schoss es Damian durch den Kopf. Aber wie konnte das sein?

Das Monster stürzte auf ihn zu und Damian sprang zur Seite, fürchtete, dass es gleich die Klauen in seinen Leib schlagen würde. Stattdessen ignorierte Ryder ihn, stolperte die paar Stufen zum Flur hinunter in Richtung Haupteingang und rannte fort – auf allen vieren. Seine Schritte und der hektische Atem hallten noch nach, bis er verschwand. Erst als sie verklungen waren, trat Damian ans zerbrochene Fenster und blickte nach draußen. Die Gestalt kletterte gerade über die Mauer, mit nur einem Satz. Ryder rannte auf den Waldrand zu, der sich hinter dem Anwesen erstreckte. Einen Moment später wurde er von den Bäumen und der dort herrschenden Dunkelheit verschluckt.

Schmerz einem Nadelstich gleich durchfuhr ihn, in der nächsten Sekunde war er verklungen. Damian hatte so etwas Ähnliches schon einmal gespürt, aber dieses Mal war es anders. Verwunderung machte sich in ihm breit, was konnte das bedeuten?

Ein Stöhnen ließ Damian den Blick senken. Oswin rappelte sich gerade hoch und renkte seine Schulter ein, die beim Sturz ausgekugelt sein musste. Er sah zu Damian hinauf und dieselbe Verwirrung spiegelte sich in seinen Augen wider. Ein weiteres Stöhnen erklang und zu Damians Überraschung regte sich auch das kleine Menschlein.

Die Rothaarige fasste sich an den Kopf, verzog das Gesicht vor Schmerz und kämpfte sich dann auf die Unterarme. Das Bein war noch immer gebrochen, doch mit einem Knacken richtete es sich. »Was zum …«, nuschelte sie und sah sich um. Als sie Oswin erblickte, der sie mit gerunzelter Stirn musterte, kreischte sie auf und rutschte zur Seite, was ihr erneut ein Stöhnen entlockte.

Fasziniert starrte Damian das Menschlein an. Sie hätte tot sein müssen. Er ergriff den Fensterrahmen, kletterte hinauf und machte einen Schritt vor. Die Luft sauste an ihm vorbei, im richtigen Moment ließ er sich auf ein Knie fallen und bohrte die Faust in den Rasen, um seinen Sturz abzufangen. Macht durchströmte ihn, pulsierte in ihm. Seit er von dem Blut der Vanatoren getrunken hatte, war er nicht mehr derselbe Vampir. Er richtete sich auf, den Blick starr auf das verängstigte Mädchen gerichtet.

»Du müsstest tot sein«, stellte er nüchtern fest.

»Was?«, zischte sie und sah ihn verständnislos an.

Er überbrückte die geringe Distanz zwischen ihnen, musterte ihren Körper. Die Hose war blutdurchtränkt, aber das Bein heil und gesund. Die Haare am Hinterkopf blutverklebt, doch das Mädchen wach. Er kniete sich vor sie ihn. Etwas war seltsam. Dass sie diesen Sturz überlebt hatte, war nicht das einzig Merkwürdige. Der Älteste legte den Kopf schief, kniff die Augen zusammen. Die Rothaarige rutschte von ihm weg, schien sich unwohl unter seinem forschenden Blick zu fühlen. Er scannte sie von oben bis unten. Ihr Körper war in einer außerordentlichen Geschwindigkeit geheilt. Wie konnte das sein? Sein Blick verharrte auf ihrem Brustkorb, mehrere Sekunden lang. Als er begriff, sog er scharf die Luft ein und erhob sich abrupt. »Bei Asrath! Du hast dich verwandelt!«

Die Rothaarige riss die Augen auf, rappelte sich umständlich auf. »Was? Verwandelt? Wo … wo ist Loan?«

Damian schnaubte. Oswin knurrte, als er sich wohl ebenfalls an den verlausten Pelz erinnerte, in den sich Ryder verwandelt hatte. Damian deutete zur Mauer und erklärte gelangweilt: »Er ist abgehauen.« Oswins Schultern sanken erleichtert herab.

»Du lügst!«, spuckte ihm das Mädchen entgegen.

Ein süffisantes Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Das spielt keine Rolle. Viel interessanter ist es, herauszufinden, warum du jetzt eine von uns bist.« Neugierig umrundete er sie, musterte sie von allen Seiten.

»Was? Ich gehöre nicht zu euch!« Ihr Protest klang kläglich und sie zitterte am ganzen Leib.

Während Damian sie umrundete, verfolgte sie ihn mit ihrem Blick, umschlang dabei ihren Oberkörper mit den Armen, um das Beben zu unterdrücken. »Bist du vor Kurzem gebissen worden?«

Sie lachte trocken auf. »Nur von dir.«

Schock flutete seinen Körper, dicht gefolgt von Erkenntnis. Das war es also gewesen. Schadenfreude mischte sich unter die anderen Gefühle. Ihre Augen weiteten sich, als sie es ebenfalls begriff. »Das ist Wochen her.«

Damian rieb sich gedankenverloren über das Kinn, musterte das Mädchen nun mit ganz anderen Augen.

»Ja, ich … seitdem fühle ich mich etwas anders«, flüsterte sie abwesend.

»Das erklärt aber noch lange nicht, warum du dich nach dem Sturz verwandelt hast. Nach meinem Biss warst du definitiv am Leben, du hast geatmet und ich habe dein Herz schlagen hören. Jetzt ist da nichts mehr«, fasste Damian zusammen und realisierte erst in diesem Moment, dass es stimmte. Er konnte ihren Herzschlag nicht mehr hören. »Und du hältst die Luft an«, fügte er sachlich hinzu. Auch wenn er eine solche Situation bisher nie erlebt hatte, blieb er überraschend gelassen.

Als hätte er damit etwas in ihr ausgelöst, atmete sie tief durch. »Ich …« Dann verstummte sie. Ihr Brustkorb senkte sich, hob sich daraufhin nicht. Sie brauchte nicht mehr zu atmen, sie war wahrlich eine von ihnen.

»Wie faszinierend«, wisperte Damian, faltete seine Hände und legte beide Zeigefinger an seine Lippen. Er hatte das Mädchen vor Wochen gebissen, sie war das Weibchen dieses Ryders, der sich – nun ja – in einen Wolf verwandelt hatte. Einen Werwolf? Aber erst nachdem sie aus dem Fenster gefallen war. Und der Einzige, der sie gebissen hatte, war er selbst. Das bot nicht nur einige Komplikationen, sondern auch Chancen.

»Quinton muss davon erfahren«, unterbrach Oswin seine Gedanken.

Augenblicklich zuckte Damian zusammen und senkte die Hände. »Nein!«, fuhr er ihn an. »Niemand wird hiervon erfahren!«

Oswin wirkte nicht so, als würde er dem Befehl Folge leisten. Damian traute ihm nicht. Er war einer von Quintons Männern. Loyal dem verhassten Ältesten gegenüber und damit eine Gefahr. Bevor Oswin auch nur blinzeln konnte, war Damian bereits an seine Seite getreten und schlug ihm die Zähne in den Hals. Ein Kreischen erklang hinter ihm und ein Keuchen seitens Oswins. Innerhalb weniger Sekunden hatte er den Vampir leergesaugt. Dieser sackte besinnungslos auf die Knie. Damian packte Oswin am Hals und mit einem Ruck brach er ihm das Genick. Ein Knacken ertönte, er sackte zur Seite und fiel zur Erde. Dort blieb der Vampir liegen und würde es auch weiterhin. Aus kalten, toten Augen starrte er ins Leere.

Der Älteste drehte sich zu dem Mädchen um, schritt mit federnden Schritten auf sie zu. »Und nun zu dir. Warum seid ihr gekommen? Nur wegen der Tagebücher?«

Sie schluckte und ihre Unterlippe bebte. »D-das kann ich dir nicht sagen.«

Damian lachte hart auf. Das Grinsen konnte er nicht länger unterdrücken. Mit einem Hochgefühl im Bauch, dass durch seinen ganzen Körper prickelte, trat er dicht an sie heran. »Ich fürchte, du hast keine andere Wahl. Denn wenn es stimmt, was du sagst, bist du mir nun untergestellt.«

Sie riss ihre Augen noch ein Stück weiter auf. Angst spiegelte sich in ihren blauen Iriden. »Was willst du damit sagen?« Ihre Stimme glich einem Flüstern.

»Alles zu seiner Zeit, wo bleibt denn sonst der Spaß?«

Ihr Kopf ruckte hin und her, als wäre sie auf der Suche nach jemanden. Aber vielleicht hielt sie auch nur Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit.

»Denk gar nicht erst daran, zu fliehen. Ich werde dich überall finden. Du bist allein. Dein Geliebter ist getürmt und hat dich hier zurückgelassen – wohlgemerkt mit mir.« Er erhaschte wieder ihre Aufmerksamkeit und zwinkerte ihr anzüglich zu. »Der kommt sicher so schnell nicht wieder, schließlich hält er dich für tot.«

»Tot?«, wisperte sie.

Damian deutete erst auf das Blut an ihrer Kleidung, dann auf das zerbrochene Fenster weit über ihnen. »Natürlich. Kein Sterblicher überlebt einen solchen Sturz. Du jedoch schon, und das ist merkwürdig.« Er kniff die Augen zusammen. »Spürst du schon den Hunger?«, fragte er aus reiner Neugier.

Ihr Blick lag auf ihren Hosenbeinen, aus großen Augen starrte sie das noch feuchte Blut an. Die Frage schien sie zu überfordern. »Ja, ich habe Hunger«, stellte sie mit matter Stimme fest.

»Dann sollten wir dir vielleicht etwas zu trinken besorgen?« Damian feixte sie an. Die anfängliche unangenehme Begegnung mit dem Wurm Ryder und seiner Kleinen entwickelte sich zu einer spannenden Möglichkeit. Die Verwandlung des Mädchens warf viele Fragen auf, aber wenn sie wirklich durch sein Gift verwandelt worden war, würde er nun alle Antworten von ihr bekommen, die er verlangte. »Komm«, rief er ihr zu und drehte sich schwungvoll um. Ohne zurückzublicken, ging er zum Hintereingang des Hauses. In der Luft lag ein fremder Duft, nach Eisen und Blut. Damian begriff, hier mussten die zwei ins Innere des Gebäudes gedrungen sein. Er machte sich eine geistige Notiz, die Hintertür in Zukunft besser zu sichern. Dank seines feinen Gehörs nahm er die zarten Schritte des Mädchens wahr. Sophia, fiel ihm ein. Nun schien es angebracht, sich ihren Namen zu merken.

In der Küche angekommen, öffnete er den Kühlschrank und holte einen Blutbeutel heraus. Die Vampire lagerten dort immer ein paar Beutel für den Notfall. Falls ein Artgenosse halb verhungert oder verletzt hier ankam. Den Beutel legte er mittig auf dem Tisch ab, ließ eine Hand darauf ruhen. »Wenn du davon trinkst, wirst du wahrlich ein Vampir.«

»Und wenn nicht?«

»Wirst du sterben.« Er zog die Hand zurück und ließ sie entscheiden.

Ihre Augen huschten hin und her, schienen nichts richtig fassen zu können. Damian nahm sich einen Moment, um sie eingehender zu mustern. Sie trug schwarze Kleidung, eine weite Hose und ein langärmliges Shirt mit einem Rollkragen. Ihr Haar hatte sich beim Sturz aus dem Zopfgummi gelöst und hing ihr nun wild um den Kopf, am Hinterkopf klebten einige Strähnen vom getrockneten Blut zusammen. Der Duft stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn daran, dass er auch bald etwas zu sich nehmen sollte. Sie gab ihm Rätsel auf. Warum hatte sie sich erst so spät und nur nach ihrem physischen Tod verwandelt? Er hatte damals schon von dem Jägerblut gekostet und war dadurch stärker geworden. Konnte es damit zusammenhängen?

»Sei nicht so dumm!«, fuhr er sie an, woraufhin sie zurückschreckte. Es wirkte fast, als würde sie den Tod vorziehen. Ein Knurren drang aus seiner Kehle. »Ich befehle dir, zu trinken.«

Ein Ruck ging durch ihren Körper, mechanisch bewegte sie sich wieder auf den Tisch zu, als würde sie eine äußere Kraft dazu zwingen. Und diese Kraft war er.

»Wie …?« Überraschung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.

»Beiß zu und trink!«, befahl er ihr.

Erneut liefen ihre Bewegungen mechanisch ab, sie wehrte sich gegen seinen Befehl, hatte aber keine Chance. Ihre Eckzähne verlängerten sich, sie griff nach dem Beutel. Eine Sekunde später vergrub sie ihren Kiefer in dem Plastik und begann zu saugen.

Das würde ein großer Spaß werden.

Kapitel 2

 

Sophia

 

Durst überstrahlte all meine Gefühle, so etwas wie Schmerz empfand ich nicht einmal. Dabei müsste ich welchen spüren. Schließlich war ich aus einem Fenster gefallen – daran konnte ich mich erinnern, an den Aufprall nicht mehr.

Etwas passierte mit meinen Zähnen, Speichel sammelte sich in meinem Mund. Ich rang den Ekel nieder, den ich bei dem Gedanken verspürte, gleich das Blut eines fremden Menschen zu trinken. Der Geruch von Plastik drang in meine Nase, dann biss ich in den Beutel hinein. Ich schloss die Augen, saugte vorsichtig. Kühle Flüssigkeit benetzte meine Zunge. Eine Geschmacksexplosion ließ mich innehalten. Das Blut schmeckte fantastisch, eine Spur nach Schokolade, aber auch herb wie Kaffee. Ein leicht metallischer Geschmack überlagerte alles, war dabei nicht unangenehm. Ein Brennen kitzelte meine Kehle und zwang mich dazu, heftiger zu saugen. Der Beutel zwischen meinen Fingern leerte sich nach und nach, wurde immer flacher, bis nichts mehr herauskam. Ich öffnete die Augen und starrte auf meine Hände. Das Plastik schimmerte im Schein des Mondes, der Beutel war bis auf den letzten Tropfen leer. Zwei Einstichstellen zeugten von meinen spitzen Zähnen – Vampirzähnen.

Erschrocken warf ich den Blutbeutel von mir. Er fiel auf den Tisch, rutschte bis zu Damian hinüber. Der Vampir, der mich damals im verlassenen Einkaufszentrum mit seinem Biss gerettet hatte. Hatte er es erneut getan? Mich gerettet? Dieses Mal jedoch mehr als unfreiwillig.

»Jetzt, da du satt bist, sollten wir vielleicht noch einmal sprechen.«

Ich hob den Kopf, um ihn anzusehen. Er stand im Schatten, sodass ich nur seine Silhouette erkennen konnte. »Ich wüsste nicht, worüber.« Ich reckte das Kinn, wollte ihm nicht zeigen, wie es in meinem Inneren aussah.

Ein Kichern drang zu mir herüber. Damian beugte sich vor, stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab. Ein Mondstrahl traf sein Gesicht und ich konnte seine glühend roten Augen erkennen. Der Anblick schickte einen Schauer über meinen Rücken, erinnerte mich an den Tag im Einkaufszentrum, wie er einfach drei Menschen vor meinen Augen ermordet hatte.

»Warum traut ihr euch hierher? Sind es wirklich die Tagebücher oder sucht ihr etwas anderes?« Er verengte die Augen.

Ein unangenehmer Druck entstand in meiner Brust. Ich wollte ihm an den Kopf werfen, dass ihm das nichts anging, aber ich konnte nicht. Die Wahrheit drohte mir, über die Lippen zu schlüpfen, weshalb ich sie verzweifelt zusammenpresste.

Ein schiefes Grinsen teilte seinen Mund und ließ die weißen Zähne hervorblitzen. In seinen Augen funkelte es. »Sprich!«

Der innere Druck wurde schlimmer und ich konnte nicht länger stumm bleiben. Ich setzte zum Sprechen an, hatte schon die Wahrheit auf der Zunge, dann lenkte ich schnell um. »Und was sollte das sein?« Die Worte platzten aus mir heraus, während ich heftig den Atem ausstieß. Was war los mit mir? Sonst war ich doch auch immer tough und konnte mich gegen solche Arschlöcher wie Damian durchsetzen. Stattdessen bedrängte mich das Verlangen, jedem seiner Worte Folge zu leisten.

»Vielleicht eine Möglichkeit, euch an mir oder Quinton zu rächen? Schließlich hat er nicht nur die Vampirjäger auf euch gehetzt, sondern auch mich.« Seine rechte Augenbraue wanderte nach oben, berührte beinahe seine blonden Haarspitzen, die in die Stirn fielen.

»Pf, du denkst kleinlich. So eine große Rolle nehmt ihr nicht mehr in unserem Leben ein«, erwiderte ich schnippisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich freute mich, wieder die Kontrolle über meine Zunge zu haben.

»Nicht mehr?« Erneut lächelte er breit, sah dabei verdammt gefährlich aus. Dann wurde sein Ausdruck wieder dunkel, das Grinsen verschwand. »Was ist es dann? Was steht in diesen Tagebüchern?«

Ich biss mir auf die Unterlippe, kämpfte gegen den Drang an, sofort drauf loszureden. Zu meinem Glück hatte ich selbst keine Ahnung, was für Informationen in diesen Büchern standen. Brünhild hatte vor ihrem Tod bloß erwähnt, dass es mehr gebe und sich darin ein Hinweis auf die Prophezeiung verberge. Die Prophezeiung, die Asrath zum ersten Vampir gemacht und die Brünhild ein so langes Leben geschenkt hatte.

»Also?« So schnell, dass er vor meinen Augen verschwamm, umrundete er den Tisch und trat an meine Seite. Ich wich zurück, doch er stellte sich vor mich, legte beide Hände auf die Tischplatte und hielt mich so an Ort und Stelle. Sein Gesicht kam meinem unangenehm nah und ich wich automatisch zurück, sodass sich die Tischplatte in meinen Rücken bohrte. »Was steht in den Büchern? Sag es mir!«, knurrte er.

Ich schluckte. Er wirkte in diesem Moment so gefährlich wie ein wildes Tier. Erneut schnürte der Druck meine Brust ab, zwang mich dazu, die Wahrheit zu sagen. Bevor ich den Mund öffnen konnte, um zu antworten, legte sich eine Hand um meinen Hals und er drückte zu. Obwohl ich nicht zu atmen brauchte, schmerzte es. Ich hatte keinen Zweifel, dass er mir mit einem Handgriff das Genick brechen konnte. Zwar waren Vampire zäher als Menschen, doch ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er seinen Begleiter mit bloßen Händen getötet hatte. Er packte noch fester zu, sodass bloß ein Krächzen aus meinem Mund kam. Als er bemerkte, dass ich ihm antworten wollte, lockerte sich sein Griff. Endlich konnte ich Luft holen, um zu sprechen. »Es geht um die Prophezeiung«, flüsterte ich rau. Wütend über mich, dass ich so einfach mit der Wahrheit rausgerückt war, zog ich die Brauen zusammen.

Damian verengte die Augen, musterte mich. »Das hat Loan schon behauptet, bevor er Oswin aus dem Fenster geworfen hat. Noch etwas?«

Ich überlegte fieberhaft, rollte einen Gedanken in meinem Kopf hin und her. Mir war schon länger aufgefallen, dass sich die Prophezeiung nicht wie eine verhielt. Normalerweise warnten sie vor etwas oder verbargen die Rettung in ihren verschlungenen Worten. Aber diese Prophezeiung war anders.

»Es ist ein Fluch«, wisperte ich, sprach das erste Mal meine Vermutung aus.

Damian lachte auf. »Also so schlimm kann meine Anwesenheit für dich nicht sein. Ich bin seit Kurzem ein Ältester, und viele Vampire würden dafür töten, dass ich ihre Nähe suche.«

Ich schüttelte den Kopf, er hatte mich falsch verstanden. »Nein, der Vampirismus ist ein Fluch.«

Die Hand verschwand von meinem Hals und der ehemalige Hüter trat einen Schritt zurück. Auch wenn es nicht nötig war, holte ich tief Luft. Die Erleichterung, die ich sonst bei jedem Zug verspürt hatte, blieb aus. Es war faszinierend und erschreckend zugleich, dass ich nun ohne Sauerstoff überleben konnte.

Stumm starrte mich Damian an, seine Augen ruhten auf meinem Gesicht, schienen durch mich durchzusehen.

Ich rieb mir den Hals und fragte mich, ob ich einen Bluterguss zurückbehalten würde. Aus einem Instinkt heraus legte ich Zeige- und Mittelfinger an mein linkes Handgelenk. Das Ergebnis sollte mich nicht erschrecken, tat es aber doch: Ich hatte keinen Puls. Ich war sprichwörtlich … oder doch eher wortwörtlich tot?

Mit einem Mal erwachte der Älteste wieder zum Leben und trat mit erhobenem Finger auf mich zu. »Das soll heißen, es gibt nicht nur ein Heilmittel, das jeden Vampir in einen unsterblichen Menschen verwandelt und seine Geliebte gleich mit, sondern auch den gesamten Vampirismus beendet?« Ich konnte die Tonlage in seiner Stimme nicht deuten. Sie war eine Mischung aus Wut, Argwohn und … Furcht?

»Genau kann ich es nicht sagen. Wir haben die Tagebücher ja noch nicht gefunden.«

Erneut verfiel er ins Grübeln, senkte den Kopf.

Während er abgelenkt war, blickte ich mich um. Die Küche sah genauso aus, wie Loan und ich sie vor wenigen Stunden betreten hatten. Der Ausgang lag direkt vor mir, wenn ich schnell genug war, könnte ich …

»Und ihr wollt den Fluch brechen?« Damians Stimme riss mich aus meinen Fluchtplänen.

Mein Kopf ruckte zu ihm und ich starrte ihn aus großen Augen an. »Das … kann ich gar nicht genau sagen. Aber wir haben Brünhild versprochen, die Tagebücher zu suchen und Quinton zu entmachten. Er ist es, der die Vampire davon abhält, wieder ein glückliches menschliches Leben zu führen.«

In Damian arbeitete es, das konnte ich daran sehen, dass sein Kiefer mahlte. »Okay, wo sollen diese Bücher sein?«

»In der Bibliothek«, schoss es aus meinem Mund wie aus einer Pistole. Perplex schlug ich meine Hände vors Gesicht. Warum war ich zu so einem Plappermaul verkommen? Konnte ich denn nichts für mich behalten? Damian musste bloß eine Frage stellen und die Antwort sprudelte nur so aus mir heraus.

»Gut, dann lass uns direkt anfangen.«

Ich hätte nicht gedacht, dass mich heute noch etwas überraschen konnte, aber Damian hatte es gerade getan. Mir fiel die Kinnlade hinunter. »Du willst mir helfen?«

Ein falsches Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Wenn ihr Quinton aus dem Weg räumen wollt, bin ich dabei.«

Skeptisch kniff ich die Augen zusammen. Dass er eigene Pläne hatte, las ich ihm an der Nasenspitze ab. Aber vielleicht war eine vorübergehende Zusammenarbeit keine schlechte Idee. So lange, bis ich Loan wiedergefunden hatte. Loan! Wo war er bloß?

»Ich bin unter einer Bedingung damit einverstanden.« Ich reckte das Kinn. Schweigend sah mich Damian an, sein Gesicht eine ausdruckslose Maske. »Ich möchte wissen, was du mit Loan gemacht hast. Ist er noch hier?«

Wieder zupfte ein Lächeln an seinem Mundwinkel. »Ich sagte doch, dass er in den Wald geflohen ist.«

»Das glaube ich dir nicht! Was hast du mit ihm gemacht?«

Ein dunkles Lachen drang aus seiner Kehle. »Wenn du mir das schon nicht glaubst, wirst du die Wahrheit erst recht nicht ertragen.«

»Wieso?«

»Weil du es mir ebenfalls nicht glauben würdest.« Er lächelte mich schief an.

Verwirrt blinzelte ich. »Was meinst du damit?«

Er lachte auf, nahm sich den Hut vom Kopf und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Damit meine ich, dass die Prophezeiung wohl mehr beinhaltet als ein Happy End.«

Mir gefiel nicht, dass er in Rätseln sprach. Daher machte ich einen Schritt auf ihn zu und pikste ihm mit meinem Zeigefinger in die Brust. »Sag schon!«

Damian sah auf mich herab. Es wurde mucksmäuschenstill zwischen uns. Nur das Ticken der Küchenuhr, die ich erstaunlich laut wahrnahm, störte die Ruhe. Langsam neigte er den Kopf, bis sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. »Na schön, du wolltest es so. Dein Freund hat sich verwandelt. In einen Werwolf.«

»In einen Werwolf?« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Wollte er mich verarschen? Schlussendlich platzte Gelächter aus mir heraus, das mir die Tränen in die Augen trieb. Ich konnte mich nicht mehr halten. »Sind wir hier bei Twilight, oder was?«, keuchte ich zwischen zwei Lachanfällen. Ich verlor immer mehr die Beherrschung, da Damian nicht so wirkte, als hätte er einen Scherz gemacht. Das Lachen schlug in Hysterie um, nach kurzer Zeit verstummte es. Ich räusperte mich und setzte neu an: »Du willst mich doch verarschen?« Die Frage war nur halbherzig gestellt.

»Ich wünschte, es wäre so. Dein Freund hat sich einfach die Haut vom Körper gerissen und den guten Oswin – Asrath hab ihn selig – hinter dir aus dem Fenster geworfen. Am Ende war er nackt, hatte am ganzen Körper Fell und eine Schnauze wie ein Hund. Wie ein hässlicher Hund.«

Perplex blinzelte ich. Den Schock musste ich erst einmal verdauen. »Ein Werwolf? Aber er ist doch gar nicht gebissen oder gekratzt worden«, murmelte ich. »Äh, gibt es Werwölfe überhaupt?« Fragend sah ich den Experten für Übernatürliches an. Schließlich zog ich mein bisheriges Wissen bloß aus Hollywoodfilmen.

Ein Grunzen drang aus Damians Brust. »Bis gestern hätte ich über diese Frage gelacht und mich über dich lustig gemacht.« Dann wurde er ernst. »Seit heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

»Wir müssen die Tagebücher suchen, vielleicht steht in ihnen etwas, das uns helfen kann.« Ich nickte energisch, als müsste ich mich selbst von diesem Plan überzeugen. Und so war es irgendwie auch. In der letzten Stunde hatte sich mein Leben um hundertachtzig Grad gewendet. Na gut, eigentlich hatte es schon viel früher angefangen, bergabzulaufen. Schon vor der Entführung durch die Vampirjäger. Vielleicht an dem Tag, als ich Loan das erste Mal begegnet war, in dieser Bar.

»Und was erhoffst du dir?« Damian hob nun beide Augenbrauen.

»Einen Hinweis, die Prophezeiung oder einen Zauber. Keine Ahnung, einfach irgendwas«, stammelte ich. »Also, hilfst du mir jetzt oder nicht?« Meine Entschlossenheit brachte mich dazu, Damian erneut in die Brust zu piksen. Vielleicht lag es daran, dass ich bereits einmal gestorben war und mich nun unbesiegbar fühlte.

Dieses Mal fing er meine Hand ab, packte sie und zog mich an sich heran. Sein Duft nach Rauch und Tannennadeln drang in meine Nase. Mir war bisher nie aufgefallen, wie gut er roch. Augenblicklich versank ich in dem Geruch und starrte zu seinen roten Augen hinauf. Was tat ich da? Ich schüttelte den Kopf, klärte meine Gedanken.

»Wir scheinen ab jetzt Partner zu sein, zumindest für kurze Zeit. Dir sollte jedoch klar sein, dass dir das noch lange nicht die Erlaubnis gibt, mich zu berühren.«

»Dasselbe gilt für dich«, flüsterte ich. Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen, aber irgendetwas brodelte in mir und wollte raus. War es das untote Leben, der Vampir in mir oder das Blut?

Damians Mundwinkel hob sich leicht und er ließ mich los. »Ich mag die neue Sophia, sie hat Biss.« Ich musste ein Lächeln unterdrücken, ich wollte nicht, dass er sah, wie viel mir dieses Kompliment bedeutete. »Na dann komm mit, Kleine.«

»Kleine?« Wütend stemmte ich die Hände in die Hüften, was er nicht mehr sehen konnte, da er mir bereits den Rücken zugekehrt hatte. Über diesen Spitznamen mussten wir unbedingt noch reden!

Kapitel 3

 

Loan

 

Die Erde unter meinen Pfoten fühlte sich roh an. Äste peitschten durch mein Fell, Wind pfiff an meiner Schnauze vorbei. Die Geräusche des Waldes drangen an meine Ohren: das Rascheln der Blätter, der Ruf eines Uhus. Und dann das Getrappel von Hufen. Augenblicklich blieb ich stehen, reckte die Nase in die Luft.

Ich nahm einen herben Geruch wahr. Er kam aus östlicher Richtung. Speichel sammelte sich in meinem Mund. Mein Magen knurrte und ich wusste, da war etwas zu fressen. Ich preschte los, in die Richtung, aus der der Geruch kam. Immer darauf bedacht, mich gegen den Wind zu bewegen, damit mich das Wild nicht wittern konnte.

Als ich ganz nah an meine Beute herangekommen war, wurde ich langsamer, drückte meinen Körper auf den Boden, sodass mein Bauch über die Blätter strich, ohne ein Geräusch zu machen.

Eine Lichtung tat sich vor mir auf. Darauf standen sechs Rehe und grasten friedlich. Der Geifer lief meinen Kiefer hinab. Ich konnte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Julia Weimer
Bildmaterialien: Lina M. artist
Cover: Fantastical Ink
Lektorat: Mira Manger, Herzgestein Lektorat
Korrektorat: Simone Weidner, Franziska Hornhues, Saskia Heinz, Theresa Busse
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2024
ISBN: 978-3-7554-6726-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Damit ich endlich in Frieden ruhen kann

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