Playlist
I WANNA BE YOUR SLAVE – Maneskin
DRIVEBY – Blackout Problems
Seize the Power - YONAKA
Talk to Me – Apocalyptica, Lzzy Hale
Nowhere Generation – Rise Against
Game of Survival - Ruelle
Beggin‘ - Maneskin
Made For This – City Wolf
BLAME IT ON THE KIDS - AViVA
Death Grip – Watt White
Army - Besomoprh, Arcando, Neoni
Sweet Dreams – Besomorph
Solo – Prismo
Killer – The Ready Set
Heroes – Zayde Wolf
I‘m Not Afraid – Tommee Profitt, Wondra
Loyalität! Das war alles, was für ihn zählte! Loyalität und absoluter Gehorsam. Doch mit jedem Auftrag, den er für den Ältesten ausführte, setzten sich mehr und mehr Zweifel in seinem Herzen fest, stellten alles infrage.
Er war dazu erzogen worden, zu gehorchen, Befehle auszuführen und ein perfekter Sohn zu sein, und wo hatte es ihn hingebracht? Verstoßen von seinem eigenen Vater. Von einer Abhängigkeit in die nächste und am Ende war er in einer Schlangengrube voller notorischer Lügner gelandet. Für Quinton würde er nie genug sein, genauso wie er es nie für seinen Vater hatte sein können – auch für ihn war er bloß ein Ballast, eine Bürde gewesen, die er tragen musste. Dieses Gefühl verfolgte ihn, jagte ihn und bescherte ihm Albträume. Er wollte aus diesem Karussell ausbrechen, sich seiner Bande lösen und frei sein. Aber das war ihm nicht vergönnt.
Wut kochte in ihm hoch. Loan Ryder hatte es geschafft, er war ausgebrochen, indem er den Ältesten überlistete und sich seine Freiheit erkaufte. Kurz warf er einen Blick nach unten auf seinen Schoß. Dort ruhte das Buch, das Ryders Leben vollumfänglich verändert hatte. Er war wieder ein Mensch geworden, dem Zirkel entkommen und hatte die Stadt verlassen. Wie hatte es dieser Wurm bloß geschafft? Seit Jahren suchte er nach einer Möglichkeit, den Rat zu infiltrieren und Quinton von seinem Thron zu stoßen. Und nun war es ein einfacher Mensch gewesen, der dies vollbracht hatte? Wieso nicht er?
Damian schüttelte den Gedanken ab, wie lächerlich. Wer wollte ein schwächlicher Mensch sein, wenn man auch ein Vampir sein konnte? Er ballte seine Hand zur Faust und spürte die Kraft in ihm. Sie floss durch seine Adern und machte ihn stärker. Jahrhunderte voller Entbehrungen und Blut hatten das mit sich gebracht und er wollte es nun nicht mehr missen.
Freiheit. Danach sehnte er sich. Freiheit und … Macht. Doch stattdessen saß er nun hier in diesem Wagen, die Heizung blies trockene Luft in den Innenraum, die nicht bis in sein Innerstes vordrang, und hielt dieses Buch in den Händen. Das tückische Ding, weshalb ihn der Älteste Quinton dem jämmerlichen Menschen hinterhergeschickt hatte. Er wusste nicht, worum es sich dabei handelte, nur dass es verdammt wichtig war, es zu vernichten.
Aus Langeweile blätterte er durch die Seiten. Das Pergament fühlte sich unter seinen Fingern rau und dick an. Die Schrift war schnörkelig und leicht verblasst. Noch immer hatte er Schwierigkeiten, die Worte zu entziffern. Auch nach Jahrhunderten hörte er die Stimme seines Vaters, wenn er zum Federkiel griff: »Du bist nicht mein Sohn! Du bist ein Krüppel, ein Taugenichts, ein Niemand.«
Seine Finger zitterten leicht, während er sich auf die Buchstaben konzentrierte, die sich langsam zu Sätzen bildeten.
In seinem Kopf zeichneten sich Bilder ab, die das Geschriebene wiedergaben. Je mehr er las, desto mehr verstand er den Inhalt. Ab und an blieb er an einem Wort hängen, brauchte einen Moment, um es zu entziffern. Fassungslos starrte er auf die Seiten vor sich und hielt sich das Buch noch näher vor die Augen.
Wie konnte das sein?, fragte er sich. Wie konnte das der Wirklichkeit entsprechen, wenn der Älteste Quinton doch etwas anderes behauptete?
Nach einer weiteren Seite schloss er das Buch und starrte wie paralysiert aus dem Fenster. Er nahm schon nichts mehr von der sich veränderten Landschaft wahr. Seine einzigen Gedanken galten der Tatsache, dass ihr Schöpfer Asrath nicht von Vampirjägern getötet worden war, so wie der Älteste es behauptet hatte. Er hatte geliebt und er hatte gelebt. Wahrlich gelebt! Ein Mensch! Er war wieder zu einem Menschen geworden. Genau wie …
Die Erkenntnis traf ihn wie einen Hieb in den Magen. Deshalb wollte der Älteste den Schwächling aus der Welt schaffen, deshalb musste das Buch zerstört werden. Es und dieser menschgewordene Vampir waren der Beweis dafür, dass er sie jahrhundertelang angelogen hatte. Und nun dämmerte es ihm. Diese Offenbarung würde die gesamte Gemeinschaft der Vampire umkrempeln. Man müsste dem Ältesten Rat nun nicht mehr folgen. Man müsste nicht mehr dienen. Sie hätten keine Kontrolle mehr über die Vampire, weil es eine Alternative gäbe.
Eine, die für ihn sicher nie infrage käme, mochte er das kalte Leben eines Vampires, trotz der Unannehmlichkeiten wie das Trinken von menschlichem Blut. Als Untoter besaß er Macht, Kontrolle und war unsterblich – auch wenn er am Ende des Tages der Rolle des ungeliebten Sohnes nicht entwachsen war, entsprach dieses Leben doch eher seiner Vorstellung. Für nichts auf dieser Erde würde er all dies eintauschen wollen. Nun verstand er auch, warum es so wichtig war, dieses Schriftstück zu vernichten. Wenn dieser Umstand ans Licht käme, würden die Vampire das Herrenhaus und somit auch den Zirkel reihenweise verlassen. Quinton und der Rat würden ihre Macht verlieren, ihre Untertanen und wären am Ende nur noch Herrscher über Grund und Boden.
Der Thron ist nur so massiv wie die Säulen, auf denen er erbaut worden ist.
Sein erster Impuls war es, das Buch sofort zu zerreißen, jede einzelne Seite zu verbrennen und nie wieder darüber zu reden. Er umfasste es fester und spürte das alte Leder unter seiner Haut. In letzter Sekunde hielt er sich zurück, besann sich eines Besseren. Er starrte auf seine Hände, seine Finger hielten das Schriftstück verkrampft fest und die Knöchel traten weiß hervor. Es durfte nicht zerstört werden. Noch nicht! Nicht bevor Quinton seine Macht abgetreten hatte und er frei war. Die Vampire brauchten einen neuen Anführer, einen, der in der Lage war, sie unter Kontrolle zu halten und dieses Geheimnis weiterhin zu hüten. Doch das würde nicht Quinton sein.
Eine Idee wuchs in ihm heran, verwandelte sich in einen Gedanken und entwickelte sich zu einem diabolischen Plan, der nur darauf wartete, umgesetzt zu werden. Der Älteste Quinton würde schon sehen, was er davon hatte, ihn zu benutzen, anzulügen, ihn kleinzuhalten – seinen treuesten Anhänger und Hüter. Seine Macht würde fallen, schneller, als er es für möglich halten würde.
Er rückte seinen Hut zurecht und grinste in sich hinein. Wusste er doch nur zu gut, was das bedeuten würde: Krieg. Süßer, bösartiger und köstlicher Krieg. Wie sehr er sich darauf freute.
Der Wind peitschte mir meine Haare ins Gesicht, ließ mich trotz der sommerlichen Temperaturen frösteln. Ich spürte den muskulösen Körper des Pferdes unter meinen Schenkeln und die Kraft, mit der es voran preschte.
Die Erde vibrierte von den Dutzenden Rindern, die ich vor mir hertrieb. Ihr Muhen klang mir in den Ohren, ging mir durch Mark und Bein. Viele hatten ihre Augen vor Panik weit aufgerissen und liefen verängstigt geradeaus.
Ich hörte ein Bellen hinter mir und musste grinsen. Das war Alec, unser Hütehund. Ich kannte ihn erst seit ein paar Monaten, hatte den Vierbeiner aber mit seiner drolligen und treuen Art bereits lieb gewonnen. Auch mich konnte er gut leiden, zumindest wedelte er immer freudig mit dem Schwanz, wenn er mich sah. Zusammen waren wir ein unschlagbares Team und trieben gemeinsam die Herde für die Nacht in den Stall.
Normalerweise übernahmen das Tony, Sophias Vater, und ihre Brüder. Heute galt mir die Ehre allein. Mir war klar, dass es sich dabei um eine Probe handelte. Er testete mich, ob ich das Zeug zu einem Farmer hatte, und ob ich gut genug für seine Tochter war.
Meine Phi, die mir mein altes Leben zurückgegeben und mein jetziges um tausend Prozent verbessert hatte. Nur dank ihr schlug mein Herz wieder. Nur dank ihr musste ich mich nicht mehr von Blut ernähren und konnte wieder schmecken. Das war das größte Geschenk, das mir jemals jemand gemacht hatte, und dafür liebte ich sie.
»Heia!«, rief ich dem Pferd zu und gab ihm noch einmal die Sporen. Wir mussten an die Spitze der Herde kommen, um sie durch das offene Tor zu treiben. Die Tiere durften sich nicht am Zaun entlang verteilen, das würde bloß weitere Zeit kosten, die ich nicht hatte. Es wurde langsam dunkel und Tony ungeduldig. Das konnte ich daran sehen, wie er am Gatter lehnte und mit seinem Fuß wippte. Je näher ich ihm und seinen Söhnen kam, desto besser konnte ich seine verkniffenen Gesichtszüge erkennen.
Wir verstanden uns gut, von der ersten Sekunde an, aber wenn es um seine Tochter oder um seine Tiere ging, wurde er ernst. Familie wurde bei ihm großgeschrieben und der Zusammenhalt war ihm wichtig. Wenn ich zu den Millers gehören wollte, musste ich mich beweisen. Und das würde ich! So etwas, was Sophia mit ihrer Mutter, ihrem Vater und den drei Brüdern hatte, kannte ich nicht. Als Waisenjunge im siebzehnten Jahrhundert hatte ich elterliche Fürsorge oder Geschwisterliebe nie erlebt. Ich beneidete sie darum und hoffte daher, irgendwann gut genug zu sein, um von Tony und den anderen als vollwertiges Mitglied respektiert zu werden.
Ein Lichtblitz blendete mich und ich kniff die Augen zusammen. Ich drehte meinen Kopf Richtung Waldrand und der Lichtstrahl verschwand. Ich suchte die umstehenden Stämme und Büsche ab, um herauszufinden, woher das grelle Licht gekommen war. Doch ich entdeckte etwas anderes. Eine dunkle Gestalt trat aus dem Schatten des Waldes und zog seinen Hut wie zum Gruß.
»Scheiße«, murmelte ich. Kälte kroch mir den Nacken hinab. Sie hatten mich gefunden.
Ein Wiehern erklang und das Pferd zog an den Zügeln. Das riss mich aus meiner Konzentration und ich verlor das Gleichgewicht. Im nächsten Moment sah ich die Erde auf mich zu rasen und der Schmerz folgte nur Millisekunden später. Ich fiel hart auf meine Schulter, explosionsartig schoss er durch meinen Körper, ließ meine Wirbelsäule knacken und mich aufschreien. Dann wurde alles schwarz und ich konnte nichts mehr sehen.
Mein Kopf fühlte sich schwer an, wie in Watte gepackt, aus der ich nicht wieder herauskam. Ein Bellen erklang aus weiter Ferne. Ich öffnete und schloss meine Augen, nichts veränderte sich, die Welt blieb schwarz. Etwas zerrte an meinem Geist, wollte mich in die Schwärze hinabziehen, doch ich wehrte mich dagegen. Ich durfte nicht das Bewusstsein verlieren! Ich musste Phi beschützen. Ich musste hier weg, wir mussten hier weg. Waren nicht mehr sicher.
Endlich kam das Licht zurück. Kleine Sterne tanzten in meinem Sichtfeld und ich erkannte Umrisse. Jemand kniete über mir. Ein rundes Gesicht mit Bart und grünen Augen. Die Lippen bewegten sich, aber nur ein Brummen drang bis zu mir durch. Etwas Pelziges rückte in mein Sichtfeld und eine raue Zunge leckte mir über das Gesicht. Ich verzog es und augenblicklich verschwand sie wieder.
Mit einem Mal prasselten alle Sinneseindrücke auf mich ein und lähmten mich. Jemand brüllte meinen Namen, rüttelte an mir. Steine drückten sich in meine Seite und den Rücken. Die linke Schulter pochte und fühlte sich heiß an. Als ich sie kreisen ließ, schoss ein Schmerz bis zu meinem Nacken hinauf und ließ mich aufstöhnen.
»Beweg dich nicht, Junge. Du bist schlimm gestürzt!« Endlich verstand ich die Worte, die mir Tony entgegen brüllte. »Wieso hast du nicht aufgepasst?« Vorwurf war aus seiner rauen Stimme herauszuhören, keine Sorge oder Ärger. Er klang wie ein Vater, der seinen Sohn ausschimpfte, weil er vom Honig genascht hatte und von der Biene gestochen worden war.
Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen ob des Gedankens. Wie sehr hatte ich mir doch einen Vater gewünscht, der genau das für mich tat.
»Jetzt grins nicht so dumm. Bist du auf den Kopf gefallen?«
Ich schob ihn leicht von mir und richtete mich auf. Mein Schädel brummte und die verletzte Schulter kribbelte. Vorsichtig tastete ich mich ab, bewegte alle Gelenke durch und stellte am Ende glücklich fest, dass nichts gebrochen schien.
Die Gestalt!
Ruckartig sprang ich auf die Füße, strauchelte bei dem Versuch, schaffte es am Ende irgendwie, und humpelte auf das Farmhaus zu.
»Hey, Junge! Wo willst du hin? Du blutest!«
Ich fasste mir an die Stirn und stellte überrascht fest, dass er recht hatte. Doch es war bereits geronnen und nicht sehr viel. Das würde schnell heilen, in ein paar Minuten wäre sicher nichts mehr zu sehen.
Shit! Das stimmt ja nicht mehr, dachte ich und musste mich selbst korrigieren. Seit ich ein Mensch war, verheilten meine Wunden langsamer. Vermutlich war es eine normale Geschwindigkeit, aber weil ich mich an die Zeit vor meinem Vampirdasein kaum mehr erinnerte, kam es mir anders vor.
»Ryder! Wo willst du hin, gottverdammt?«
»Ich lasse mich von Abigail verarzten«, rief ich, ohne mich umzublicken. Ich musste hier schnell weg, bevor sie kamen. Denn wo er war, waren die anderen nicht fern. Er kam selten allein.
Alec begleitete mich ein kleines Stück, sprang aufgeregt an mir hoch und machte mir das Weiterkommen schwer. »Ich habe keine Zeit dafür, Hund!« Ich drängte mich an ihm vorbei, nur lief er mir immer wieder zwischen die Beine und um mich herum. Hinter mir erklang ein Pfiff und Alec schoss von dannen. Endlich kam ich vorwärts, ohne über den Schäferhund zu stolpern.
In Gedanken war ich bereits bei der Flucht. Am besten packten Phi und ich nur das Nötigste, nahmen den Truck und fuhren einfach los. Egal wohin, Hauptsache weg von ihnen.
Was ist mit ihrer Familie?, meldete sich eine Stimme in meinem Kopf, die womöglich mein Gewissen war. Auch sie waren in Gefahr, ab der ersten Sekunde, in der sie mich ins Haus gelassen und mir Unterschlupf geboten hatten. Niemand von ihnen wusste, wer – oder besser gesagt was – hinter mir her war. Ich hatte es auch Phi bisher nicht erzählt. Wie sollte ich erklären, dass ich von Vampiren gejagt wurde und früher selbst einer gewesen war, ohne dass ich verrückt klang und in der nächsten Psychiatrie landete?
Aber vielleicht würde gerade das sie schützen? Weil sie und ihre Familie nichts über meine Vergangenheit oder das Buch wussten, waren sie für die Vampire nutzlos. Ich entschied, dass ihnen keine Gefahr drohte. Die Vampire hatten es auf mich abgesehen und vermutlich auch auf Phi, weil sie mich geheilt hatte. Egal was die Ältesten nun von mir wollten, es konnte nichts Gutes bedeuten, dass sie ihn geschickt hatten, um mich zu suchen. Er war der beste Hüter und sicher auch Quintons Liebling. Und gerade mit dem hatte ich es mir verscherzt.
Ich brauchte viel zu lange, um endlich an der Haustür anzukommen. Sogleich stieß ich sie auf, humpelte den Flur entlang bis zur Treppe und krauchte sie hinauf. Oben angekommen, steuerte ich unser Zimmer an und hievte den Koffer unter dem Bett hervor. Dabei zog es in meiner verletzten Schulter, doch ich ignorierte den Schmerz. Mit meiner gesunden Hand, die nur ein paar Schürfwunden abbekommen hatte, griff ich in den Schrank, in die Schubläden und warf das Nötigste in den Koffer. Als dieser bereits bis zur Hälfte gefüllt war, tauchte Sophia im Türrahmen auf und sah mich mit gerunzelter Stirn an.
»Was machst du da?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen. Ihre Haare hatte sie wie immer zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, jedoch hatten sich einige Strähnen daraus gelöst und umrahmten nun ihr gerötetes Gesicht. Sie machte einen wilden und entschlossenen Eindruck auf mich.
»Wir müssen weg«, erklärte ich kurzangebunden.
»Wie, wir müssen weg?«
»Wir müssen verschwinden. Sofort!« Ohne sie zu beachten, warf ich weiterhin Kleidungsstücke in den Koffer und eilte kurz darauf ins Badezimmer, um unsere Hygieneartikel zusammenzusammeln.
»Was ist denn los? Loan! Hör auf und rede mit mir!«
»Verdammt, Phi. Wir haben keine Zeit dafür, sie haben uns gefunden!«
»Sie? Heilige, Loan! Du hast mir immer noch nichts von ihnen erzählt. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie echt sind. Mama hat mir gesagt …«
»Du hast mit deiner Mutter darüber gesprochen?« Ich hielt inne und starrte sie schockiert an. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte sie um Stillschweigen gebeten und ihr versprochen, es ihr irgendwann zu erklären. Das war zwar schon Monate her, aber … Wie hätte ich ihr es schon erzählen können? Ich hatte doch keine andere Wahl!
»Natürlich! Sie ist meine Mutter und du willst ja nicht mit mir darüber reden.« Sophia stemmte ihre Hände in die Hüften und sah mich wütend an. »Jetzt spuck es endlich aus. Wer ist hinter dir her? Die Mafia?«
Ich schüttete den Kopf.
»Die Polizei?«
Erneut ein Kopfschütteln meinerseits.
»Eine Ex-Frau?«
Perplex sah ich sie an. »Was? Nein! Ich war nie verheiratet.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das denn wissen? Du erzählst mir ja nichts.«
Ich atmete kontrolliert ein und aus, dann schloss ich den Koffer und trat auf Phi zu. Instinktiv machte sie einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände. Mein Herz verkrampfte sich und ich musste schlucken. »Vertraust du mir?«, flüsterte ich.
Sie musterte mich aus ihren blauen Augen, kniff die Lippen zusammen. Zu lange zögerte sie und ein Stechen machte sich in meiner Brust bemerkbar.
Ein Geräusch ließ mich aufhorchen und die Luft anhalten. Es klopfte an der Tür.
»Ist jemand zu Hause?«, hörte ich eine mir viel zu bekannte Stimme rufen.
»Ich komme«, flötete Abigail und mir wurde heiß und kalt zugleich.
»Nicht aufmachen!«, brüllte ich, ließ den Koffer auf die Erde fallen und Phi stehen. Sie rief mir aufgebracht etwas hinterher, aber das war mir in diesem Moment egal. Sie waren da und besaßen die Dreistigkeit, meine Familie zu belästigen. Keiner von ihnen war sich der Gefahr bewusst. Nur ich kannte ihr wahres Wesen und ihre Absicht.
Als ich endlich den Treppenabsatz erreichte, war es bereits zu spät. Eine schwarz gekleidete Person schob sich in diesem Moment an der freundlich lächelnden Abigail vorbei und lüftete ihren Hut.
»Oh, Loan! Gut, dass du da bist. Du hast Besuch.« Unschuldig sah Abby zu mir hoch und ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Ich war in diesem Moment wütend auf sie, obwohl sie nichts dafür konnte. Ich war es gewesen, der diese Teufelsbrut in ihr Heim gelockt hatte. Ohne mich würden alle auch weiterhin in Sicherheit leben. Doch nun war es zu spät und es lag an mir, das Unheil von ihnen abzuwenden.
»Hallo, Damian.«
Damians Grinsen würde mich noch bis in meinen Tod verfolgen. Wie er so vor mir stand und ich seinen Triumph an den Lippen ablesen konnte. Er hatte mich gesucht und gefunden. Und nicht nur das, er hatte direkt den Ältesten Rat mitgebracht. Oder zumindest einen Teil davon.
»Loan Ryder, es ist schön, dich so lebendig zu sehen, Bruder«, begrüßte mich die Älteste Eugenia.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Sie zu bestätigen, dass ich geheilt war, erschien mir als unklug. Und sie zu korrigieren, könnte mein Todesurteil bedeuten. Außerdem stand Abigail immer noch mitten unter uns und meine seltsame Aussage könnte auch bei ihr Fragen auslösen. Fragen, die ich ihr nicht beantworten könnte. Fragen, die sie in Gefahr bringen würden.
Daher erwiderte ich nichts, nickte bloß höflich und fragte dann: »Was kann ich für euch tun?« Ich hoffte, dass mir die Älteste meine unhöfliche Anrede nicht krummnehmen würde.
Ihr Mundwinkel zuckte und kurz sah ich etwas wie Unmut in ihren Augen aufflackern. Es war schnell wieder verschwunden und stattdessen lächelte sie mich warm an. »Ich würde sehr gern mit dir und deiner Freundin unter vier Augen sprechen.«
»Nein!«, schoss es wie aus einer Pistole aus mir heraus.
»Loan! Sei nicht so unhöflich«, schalt mich Abigail, was mir in dem Moment egal war.
Sophia schwebte in Lebensgefahr und ich würde den Teufel tun, sie direkt in das offene Messer laufen zu lassen.
»Was wollt ihr denn von uns?«
Ich drehte mich ruckartig um und starrte Sophia panisch an. Wann war sie hinuntergekommen?
Verzweifelt versuchte ich, ihr mit den Augen klarzumachen, dass sie wieder nach oben gehen soll. Ich ruckte sogar einmal mit dem Kinn in Richtung Treppe, doch sie reagierte einfach nicht.
»Welch eine Freude, dich kennenzulernen.« Eugenia trat an mir vorbei und auf Phi zu.
Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter und die altbekannte Kälte kehrte zurück. Wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie die Älteste Phi ihre Hand reichte, die sie nach kurzem Zögern ergriff. Als Eugenia fest zupackte, zuckte Phi erschrocken zusammen. In mir spannte sich alles an und ich überlegte fieberhaft, wie ich sie beschützen könnte.
Ich wusste, dass Tony irgendwo auf der Farm eine Waffe versteckte. Vermutlich in einem Tresor in seinem Arbeitszimmer. Aber ich wusste weder, wo genau, noch den Code. Also wäre das keine Möglichkeit. Die Küche war nicht weit. Ich könnte mir ein Messer schnappen, doch das würde zu lange dauern. Hier im Flur gab es nichts, was ich hätte gebrauchen können, bis auf einen ausgestopften Hirschkopf mit prächtigem Geweih. Aber wen wollte ich damit bedrohen?
»Freut mich auch«, erwiderte Phi verunsichert und ließ kurz darauf die Hand der Ältesten los. Endlich bewegte sich alles wieder in Echtzeit, machte die ganze Sache jedoch nicht besser. Ich hatte immer noch nichts, um uns zu verteidigen, und wenn ich ehrlich war, hätte ich mit oder ohne Waffe eh keine Chance gegen die Älteste. Ihre Augen waren von einem so tiefen Rot, das man nur bekam, wenn man über Jahrhunderte hinweg Vampirblut trank. Dementsprechend waren nicht nur ihre Sinne geschärft, sondern auch ihre körperliche Kraft. Trotz ihrer zierlichen Figur und ihres Alters – das ein normaler Mensch wohl auf Mitte fünfzig geschätzt hätte – würde sie selbst gegen einen Bären ankommen und ihn besiegen. Daher blieb ich lieber wachsam und überlegte weiterhin im Stillen, wie ich sie loswerden könnte, ohne dass einer von uns Schaden nahm.
»Faszinierend«, flüsterte die Älteste und drehte sich wieder zu mir. »Können wir irgendwo unter vier Augen sprechen?«
»Natürlich. Hier entlang.« Ich deutete auf die Tür in die Wohnstube direkt neben mir und Eugenia setzte sich in Bewegung. Als sie an mir vorbeiging, bedeutete ich Phi, wieder nach oben zu gehen und funkelte sie wütend an.
»Sie kommt mit.« Die kalte Stimme der Ältesten ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Mit geweiteten Augen und klopfendem Herzen sah ich Phi an, die wenig von meiner Panik mitzubekommen schien. Viel mehr wirkte sie neugierig, ja fast wissbegierig. Sie schob sich an mir vorbei, nicht ohne mir mit ihrem Ellenbogen einen Stoß in die Seite zu verpassen, den ich nicht zu deuten wusste. Ich packte sie am Arm und zog sie zurück. Doch Phi wand sich aus meinem Griff und formte mit den Lippen: »Ich will Antworten.« Ohne, dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, folgte sie Damian und Eugenia in das Zimmer.
Mit hängenden Schultern kam ich nach und bemerkte erst jetzt, dass noch ein dritter Vampir anwesend war. Ich kannte ihn nicht, seine braunen, toten Augen sahen emotionslos zu mir hinunter. Er war muskulös und schlank zugleich. Seinem Aussehen nach schätzte ich, dass es sich bei ihm um einen von Damians Schlägern handeln musste. Warum der wohl mitgekommen war?
Ich blieb im Türrahmen stehen und drehte mich in Richtung Flur um. »Abigail, kannst du bitte Tony holen gehen?«, fragte ich Phis Mutter. Sie schien noch immer nichts von der ernsten Situation zu bemerken und lächelte mich nur freundlich an.
»Sehr gern«, erwiderte sie strahlend und wandte sich zur Tür, hielt inne und drehte sich zu mir um. »Deine Schwester wirkt sehr nett, aber auch etwas verklemmt. Bleiben sie zum Essen? Ach, ich decke einfach für sie mit auf.« Damit verschwand sie und mir blieb keine Zeit, ihr zu widersprechen.
Meine Schwester? Verwirrt runzelte ich die Stirn. Dann fiel mir wieder ein, wie Eugenia mich angesprochen hatte – mein Bruder. Daher konnte ich es Abby nicht übelnehmen, dass sie eine Verwandtschaft zwischen uns vermutete. Ich schüttelte den Kopf, schloss die Tür und drehte mich zu Phi und den Vampiren um. Misstrauisch beäugte ich einen nach dem anderen. Mir gefiel es nicht, dass Sophia bei uns war. Denn wer wusste schon, wann unsere ungebetenen Gäste zum letzten Mal etwas getrunken hatten? Hoffentlich würden sie ihr Anliegen vortragen und dann wieder verschwinden. Notfalls müsste ich ihnen drohen, auch wenn das in meiner Position eher wenig wirksam wäre. Schließlich waren sie in der Überzahl und wenn sie mich finden konnten, dann auch John und Tom.
Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, richtete ich meine Worte an Eugenia und fragte mit so gleichgültiger Stimme wie möglich: »Was wollt ihr?«
»Wieso so unhöflich, Ryder? Willst du uns nicht einander vorstellen?«, witzelte Damian und sah mich dabei wie immer spöttisch an. Oh, wie sehr ich ihn hasste. Ich könnte es nicht einmal in Worte fassen.
»Sophia Miller.« Phi kam mir zuvor und reichte nun auch Damian die Hand. Dieser sah sie von oben herab an und ließ dann den Blick über ihren Körper gleiten. Ein hungriger Ausdruck erschien in seinen braun-roten Augen und er wirkte wie ein Raubtier, das seinen nächsten Snack musterte. An ihrem Holzfällerhemd blieb er – für meinen Geschmack – zu lange hängen und endete in ihrem Gesicht. Sie lief rot an und senkte schnell die Hand. Ihr war es sichtlich unangenehm, so unverhohlen von dem Hüter gemustert zu werden.
»Damian McSullan, zu Ihren Diensten.« Er verbeugte sich tief vor ihr und ich könnte schwören, ihn kichern zu hören.
Ich ballte meine Hand zur Faust und würde ihm damit am liebsten sein selbstgefälliges Grinsen aus dem Gesicht wischen. Eugenia schien sein Betragen ebenfalls auf den Magen zu schlagen, denn sie schubste ihn unsanft zur Seite und warf ihm einen warnenden Blick zu. Dann wandte sie sich mit einem süßen Lächeln an Phi und erklärte: »Bitte entschuldige das schreckliche Benehmen meines Bruders. Er hat leider keine guten Manieren beigebracht bekommen.«
»Ihr seid Geschwister?« Phis Gesicht leuchtete mit einem Mal auf und ihre Mundwinkel hoben sich. »Wie schön, euch kennenzulernen. Loan hat mir nichts über euch erzählt, nur dass eure Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen sind.«
Sei still, zischte ich sie in meinen Gedanken an, blieb jedoch stumm. Angst schnürte mir die Kehle zu und ich hasste mich dafür, dass ich in alte Muster fiel. Ich hatte mich doch geändert, mir vorgenommen, mutiger zu sein. Aber nun stand ich hier und konnte mich kaum bewegen, so sehr lähmte mich die Panik. Und das Schlimmste war, dass ich Phi nicht warnen konnte, ohne sie in Gefahr zu bringen.
Ich starrte zu Damian, der großes Interesse an Sophia zu hegen schien. Sein Gesicht zierte ein seliges Lächeln und ich wollte lieber nicht wissen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Eine Sekunde später war der Ausdruck verschwunden und stattdessen kehrte sein typisches Grinsen zurück.
Ein zartes Glucksen riss mich von Damian los und ich schenkte der Ältesten meine volle Aufmerksamkeit zu. Sie stand in ihrer prächtigen, roten, ausladenden Robe vor uns und schien darin förmlich zu versinken. Ein höhnischer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht und sie spitzte die Lippen. »Wir sind keine Geschwister, meine Liebe.«
Ein enttäuschter Laut drang aus Phis Mund und ihr Strahlen erlosch.
»Viel mehr sind wir Verbündete im Herzen.«
»Das verstehe ich nicht.« Phi runzelte die Stirn und fragte dann geradeheraus: »Wer seid ihr?«
Eugenias brennender Blick landete auf mir und sie hob einen Mundwinkel. »Du hast es ihr nicht erzählt?«
»Was erzählt?«, platzte es aus Phi heraus und sie sah mich ihrerseits scharf an.
Ich – immer noch zu keiner verbalen Antwort im Stande – schüttelte bloß den Kopf.
»Was meint sie? Loan! Sag mir bitte endlich die Wahrheit!« Phi klang mit jedem Wort, das aus ihrem hübschen Mund drang, wütender. Sie trat auf mich zu und blieb eine Armlänge vor mir stehen. Ihre blauen Augen bohrten sich in meine und schienen nach Antworten zu graben, die ich ihr nicht geben konnte. »Sag mir endlich, vor wem du fliehen musstest! Bist du nun mit denen verwandt, oder nicht? Sind meine Eltern in Gefahr? Und wenn sie nicht deine Geschwister sind, wer in Gottesnamen sind die dann?« Dabei deutete sie mit einer Hand auf die drei Vampire, die sich bedrohlich vor uns aufbauten.
Mein Mund war immer noch wie zugeklebt und meine Zunge wollte sich nicht vom Gaumen lösen. Ich betete, dass sie endlich schwieg. Sonst würde sie alles nur noch schlimmer machen.
»Liebes, ich kann dir sehr gern all deine Fragen beantworten.« Eugenias Worte ließen uns beide aufblicken. Sie hatte ihre Hände vor dem Körper gefaltet und sah uns mit einer Geduld an, die mir eine Gänsehaut verpasste.
»Nicht«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Meine Stimme klang kratzig, als hätte ich sie schon länger nicht mehr benutzt.
Phi schnaubte und würdigte mich keines Blickes. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und ruckte mit dem Kopf, der ihren Pferdeschwanz zum Schwingen brachte. »Da bin ich aber gespannt.«
Eugenia holte Luft und öffnete den Mund. »Dein guter Loan hier ist ein Vampir, obwohl ich jetzt wohl eher sagen sollte, er war einer.«
Keine Reaktion.
Eugenia fuhr fort. »Wir alle«, dabei zeigte sie auf sich und die zwei anderen Blutsauger im Raum, »sind es noch immer. Doch du musst dich nicht vor uns fürchten, wir werden dir oder deiner Familie nichts tun. Ich bin bloß gekommen, um mich davon zu überzeugen, dass Damian die Wahrheit sprach.«
Stille.
»Dein geliebter Loan gehörte einst zu uns. Doch er hat es aus einem mir unergründlichen Grund geschafft, wieder ein Mensch zu werden. Laut Damian bist du dieser Grund und ich wollte selbst sehen, was an seiner Geschichte dran und an dir so besonders ist.«
Noch immer reagierte Phi nicht und selbst Eugenia schien ihr Schweigen zu verunsichern. Kurz sah sie über ihre rechte Schulter zu Damian, der nur eine Augenbraue hochzog. Ich fragte mich, was ihn dazu bewogen hatte, sich der Ältesten anzuvertrauen. War der doch eigentlich Quintons Schoßhündchen und hörte bloß auf seine Befehle.
Schlagartig lachte Phi los, schüttelte sich und konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Sie keuchte etwas, das ich nicht verstand. Sie schien Eugenia nicht zu glauben. Das konnte gut, aber auch unglaublich mies sein. Als sich Phi halbwegs beruhigt hatte, gluckste sie bloß: »Guter Witz, und wer seid ihr jetzt wirklich?«
»Mein Name ist Eugenia Darkworth, ich gehöre dem Ältesten Rat der Vampire an und zähle zu den sieben ersten Kindern Asraths, unseres Schöpfers. Das sind Damian, der sich dir bereits vorgestellt hat, und Grag, unser Fahrer. Beide gehören ebenfalls der Vampirgesellschaft an, sind Hüter unserer Geheimnisse und Bewahrer unserer Regeln.«
Stille. Erneut und vollumfänglich. Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte sich Phi zu mir um und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an. Da ich immer noch nicht Herr meiner Stimme war, nickte ich bloß einmal. Sophia fiel die Kinnlade hinunter. Dann machte sie den Mund wieder zu, um ihn gleich darauf erneut zu öffnen. Das wiederholte sie ein paar Mal, wobei sie aussah wie ein Fisch auf dem Trockenen. Schlussendlich schüttelte sie den Kopf, hielt sich die Hände an die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen, und rieb sich über die Schläfen.
»Das kann doch nur ein schlechter Witz sein. Vampire gibt es nicht – außer in Romanen und in Filmen.«
»Oh, ich kann dir versprechen, Liebes, Vampire sind genauso real wie du und deine Familie. Und drei davon stehen direkt vor euch.«
Ruckartig machte Phi einen Schritt zurück und kam mir näher. Aus einem Instinkt heraus schloss ich sie in die Arme, aber sie stieß mich von sich. Etwas in meinem Inneren zerbrach, als ich die Panik in ihren Augen erblickte.
»Loan, sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag … sag mir, dass ich träume.« Hilflos starrte sie mich an, atmete hektisch durch den Mund und wirkte panisch.
»Es ist wahr.« Meine Stimme kratzte mir im Hals und klang rauer als sonst. Trotzdem musste sie mich verstanden haben, denn sie schüttelte erneut den Kopf und drehte sich von mir weg.
»Das ist bloß ein Traum, das kann nicht real sein.«
»Wir können es dir beweisen«, sagte Damian und eine kalte Hand umklammerte mein Herz.
Wie auf ein geheimes Signal hin bleckten alle drei die Zähne und mit Erschrecken beobachtete ich, wie sich ihre Schneidezähne verlängerten. Ihre Gesichter verzerrten sich, sie sahen nicht länger aus wie Menschen, sondern viel mehr wie die Monster, die sie in Wahrheit waren.
Dies löste mich aus meiner Starre, ich sprang vor und stellte mich schützend vor Phi. »Nein! Ihr tut ihr nichts an!«, brüllte ich und war selbst überrascht, wie fest meine Stimme klang. Doch anstatt, dass sie auf uns zukamen und ihre Zähne in unsere Hälse schlugen, schlossen sie ihre Münder wieder und Damian fing an zu lachen.
Das brachte das Fass zum Überlaufen und ich explodierte. »Verschwindet! Ich habe euch nichts zu sagen! Ihr seid hier nicht erwünscht, also haut einfach ab!« Meine laute Ansprache schien sie nicht zu interessieren, sie sahen mich immer noch ausdruckslos und leicht amüsiert an.
»Das können wir erst, wenn wir haben, was wir wollen«, erklärte Eugenia mit schneidender Stimme.
»Und was wäre das?«
»Dich!« Damian stand blitzschnell vor mir, schlug schnell wie eine Schlange zu und etwas stach in meinen Hals.
Ich schrie auf, wollte ihn von mir stoßen, doch da gaben meine Knie bereits nach und ich stürzte zu Boden. Nebel umhüllte mich, ließ mein Blickfeld verschwimmen.
»Phi. Sophia«, murmelte ich und war erschrocken, wie matt meine Stimme mit einem Mal klang.
Ein grinsendes Gesicht beugte sich über mich und ich hätte am liebsten zugeschlagen. Vielleicht sähe Damian dann nicht mehr so perfekt aus mit seiner geraden Nase, den markanten Wangenknochen und den blonden Haaren. Na ja, zumindest für kurze Zeit. Stattdessen verhöhnte er mich nicht nur mit seinem Blick, sondern auch mit seinem Lachen.
»Nimm ihn mit und lass uns von hier verschwinden. Ich will nicht mehr Aufsehen erregen als nötig.«
»Was ist mit dem Mädchen?«
Nein, Phi, tut ihr nichts, wollte ich schreien, doch kein Laut drang über meine Lippen. Mein Blickfeld schrumpfte in sich zusammen, bis nur noch ein kleiner Punkt zu sehen war. Das strenge Gesicht der Ältesten. Sie sah auf mich hinab wie auf ein Stück Dreck.
»Lasst sie. An ihr ist nichts Besonderes.«
Doch, das ist sie, wollte ich erwidern. Ich wollte so viel sagen, konnte es aber nicht. Die Müdigkeit überrollte mich und eine letzte Frage tauchte in dem Schleier meiner Gedanken auf: Wo war Sophia?
Übelkeit stieg in mir auf, Panik packte mich und schnürte mir die Kehle zu. Mein Atem ging keuchend und mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren.
Ich hatte es auf der Farm nicht länger ausgehalten. Bis zum Schluss hatte ich mich an den Gedanken geklammert, dass alles nur ein schlechter Scherz war, dass sie mich nur verarschten und gleich mein Vater hinter einem Schrank hervorsprang und April, April rief. Aber dem war nicht so. Stattdessen bleckten diese Fremden die Zähne und ich hatte mit Erschrecken beobachten müssen, wie sich ihre Eckzähne verlängerten. Damit war meine Blase geplatzt, die Realität stürzte wie kaltes Wasser auf mich nieder und ich war geflohen.
Zielstrebig war ich in den Wald gelaufen und nun peitschten mir Äste ins Gesicht und der unebene Untergrund machte mir nur allzu deutlich, dass das hier kein Traum war. Egal wie mein Verstand dagegen ankämpfte, wusste mein pochendes Herz doch bereits, dass es stimmte.
Meine Schritte wurden langsamer und stockender. Ich rang um Atem, bekam kaum noch Luft. Weiße Punkte tanzten in meinem Sichtfeld und die Ränder wurden schwarz. Ich hielt an, stützte mich an einem Baum ab, spürte die raue Rinde unter meinen Fingern und konzentrierte mich auf die Atmung. Tief ein und durch die Nase wieder aus. Ein – und aus.
Mit jedem Atemzug beruhigte sich mein Herz und der Puls raste nicht mehr. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mich umzusehen. Bisher war ich blind drauflosgelaufen, hatte sogar meine Eltern und Alec links liegen gelassen. Letzter war mir bellend gefolgt, doch als das Blätterdach immer dichter wurde, war er verschwunden. Vermutlich zurück zur Farm gelaufen.
Grünes Licht umgab mich, von der Straße, auf der ich zu Anfang noch gelaufen war, war nichts mehr zu sehen. Bäume und Büsche standen dicht an dicht und ich konnte Vögel singen hören. Ich legte den Kopf in den Nacken, starrte hinauf zu den Baumkronen und beobachtete die Äste dabei, wie sie im seichten Wind hin und her wiegten. Wäre ich nicht so aufgewühlt, könnte ich diesen Anblick genießen. Liebte ich die Natur doch über alles und würde einen Wald zu jeder Zeit einer Großstadt vorziehen.
Als mein Herz endlich wieder in einem gesunden Tempo schlug, drehte ich mich im Kreis, um mir einen Überblick darüber zu verschaffen, wo ich mich befand. Eichen und Kiefern umgaben mich, bildeten eine geschlossene Einheit, dazwischen kleine Büsche, an denen wilde Beeren hingen. Irgendwo hörte ich es rascheln, vielleicht von einem Kaninchen oder einem Hirsch.
Eine plötzliche Gänsehaut überzog meine Arme. Ich war allein im Wald, wusste nicht, wo ich hergekommen war, noch wohin ich nun laufen sollte. Die Sonne war nicht zu erkennen, somit auch nicht die Himmelsrichtungen. Nur wenig Moos war an den Stämmen der Bäume zu entdecken, die vielleicht Rückschlüsse auf meine Position hätten bieten können. Und das Schlimmste war, dass ich mein Handy nicht bei mir trug.
»Mist!«, fluchte ich leise und wischte mir mit meinem Ärmel über die Stirn. Von meinem spontanen Marathonlauf war ich völlig durchgeschwitzt, mein Hemd klebte mir am Rücken und die Jeans fühlten sich enger an. Als würde sie sich an meinen Beinen festsaugen. Es war ein unangenehmes Gefühl. Zum Glück trug ich noch immer die Gummistiefel. So waren meine Füße wenigstens geschützt.
Ein weiteres Mal drehte ich mich im Kreis. Suchte die Bäume und Äste mit den Augen ab, hoffte, dass ich dort irgendetwas entdeckte, was mir helfen könnte. Vielleicht ein Haar von mir, oder ein Stück Stoff, das sachte im Wind wehte. Doch ich bemerkte nichts dergleichen. Panik keimte erneut in mir auf und drohte, die Kontrolle zu übernehmen. Ich presste sie vehement zurück, konnte mir nicht erlauben, meinen klaren Verstand zu verlieren.
Im Kopf ging ich die wichtigsten Punkte durch, die mir mein Vater zum Überleben in der Wildnis beigebracht hatte.
Erstens: Wasser suchen.
Da ich nicht davon ausging, dass ich länger als ein paar Stunden in diesem Wald verweilen würde, war das Auffinden einer Wasserquelle eher nebensächlich.
Zweitens: Sicherer Unterstand.
Auch das war eher nebensächlich. Ich schüttelte leicht den Kopf und schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. Warum brachte mein Verstand nichts Brauchbares zustande? Ich hatte mich im Wald verlaufen, das war eine ernste Situation! Jetzt musste ich zusehen, dass ich nach Hause kam und mit Loan sprach. Er hatte mir noch einiges zu erklären.
Ich ging den letzten Punkt der Liste durch, nur der Vollständigkeit zuliebe.
Drittens: Spurensuche.
Ja! Das könnte mir helfen! Ich hatte zwar nie die Spuren von einem Kojoten und einem Hund auseinanderhalten können, aber zur Jagd auf ein Reh hatte es gereicht. Daher senkte ich schnell den Kopf, ging in die Knie und suchte den Boden nach Fußabdrücken ab.
In einem kleinen Kreis um mich herum war das Laub aufgewühlt, sicher weil ich mich mehrmals um mich selbst gedreht hatte. Erst jetzt fiel mir auf, wie dumm das von mir gewesen war, kein Wunder, dass ich die Orientierung verloren hatte.
Nach nur wenigen Sekunden entdeckte ich Spuren, die von mir wegführten. Da musste ich hergekommen sein!
Hoffnung glomm in mir auf, wärmte mich leicht von innen und vertrieb die Panik, jedoch nicht zur Gänze. Ich straffte die Schultern und folgte der Spur. Wenn ich mich ranhielt, könnte ich bis heute Abend wieder zu Hause sein. Denn, auch wenn ich die Sonne durch die Blätter nicht sehen konnte, erkannte ich an den Schatten der Bäume, dass sie tief stand. Ich hatte mein Zeitgefühl beim Laufen verloren und daher wohl nicht mitbekommen, wie spät es eigentlich war. Das rächte sich nun.
Ein Zittern packte mich. Nicht nur wegen der Aufregung und der leisen Angst, nicht wieder nach Hause zu finden. Sondern eher, weil der Schweiß auf meinem Hemd trocknete und es im Wald um mehrere Grade kühler war als auf der Weide. Doch davon wollte ich mich nicht aufhalten lassen. Ich schlang meine Arme um den Brustkorb und rieb mir über den Oberarm. So versuchte ich, mich zu wärmen, was auch so halbwegs klappte.
Nach wenigen Sekunden schlugen meine Zähne aufeinander und verursachten ein gruseliges Geräusch. Zum Glück war es im Wald nicht still, so kam mir das Klappern nicht so laut vor. Ich konnte das Zirpen von Vögeln hören, der Wind blies durch die Blätter und es raschelte zu meinen Füßen. Zu einer anderen Zeit hätte ich die Geräuschkulisse genossen, die Augen geschlossen und vielleicht etwas gedöst. Aber unter den aktuellen Umständen konnte ich mir das nicht erlauben.
Ich folgte meiner Spur einige Meilen, bis das Sonnenlicht so weit gewichen war, dass alles um mich herum nicht mehr grün, sondern grau in grau wirkte. Die Kälte war mir tief in die Knochen gekrochen, sodass ich das Schlottern nicht mehr unterdrücken konnte. Es war schon seltsam, gerade der heutige Tag war wohl der heißeste in diesem Jahr, doch im Wald fühlte es sich wie in der Arktis an. Oder ich bildete mir das nur ein und mein nasses Hemd war schuld. Egal, was es war, ich würde das Problem jetzt und sofort nicht beheben können. Stattdessen freute ich mich auf ein heißes Bad.
Je dunkler es wurde, desto schwerer konnte ich den Spuren folgen. Teilweise waren sie auch schon verwischt, als ein wildes Tier meinen Weg gekreuzt hatte. Langsam schritt ich in gebückter Haltung voran, scannte jeden Zentimeter des Bodens ab, um die Schuhabdrücke ja nicht aus den Augen zu verlieren.
Ein Geräusch ließ mich hochschrecken und ich richtete mich blitzschnell auf. Ich hielt den Atem an und spitzte die Ohren. Die Vögel waren weitestgehend verstummt, der Wind hatte sich gelegt und eine unheimliche Stille umfing mich. Gerade wollte ich mich wieder entspannen, als ich das Geräusch erneut hörte. Mein Kopf ruckte in die Richtung, aus der es gekommen war, doch ich entdeckte nichts. Es klang nach einem Ast, der unter einem schweren Gewicht zerbrochen war. Die Tiere bewegten sich meistens leichtfüßig und besonnen durch den Wald. Wer oder was da auch immer im Unterholz auf mich lauerte, musste ein Mensch sein. Einer, der sich nicht sehr häufig in der Natur befand. Der nicht wusste, wie man sich ungesehen und ungehört an jemanden heranschlich.
Für eine Sekunde hoffte ich, dass es mein Vater war. Ich hatte den Mund bereits geöffnet, um nach ihm zu rufen. Dann kam mir ein Gedanke: Warum rief er nicht nach mir? Wieso bellte Alec nicht? Er hätte ihn doch sicher mitgenommen. Dies brachte mich dazu, den Mund wieder zu schließen.
Erneut knackte es im Unterholz, dieses Mal aber hinter mir. Ich drehte mich ruckartig um, riss die Augen auf, um besser sehen zu können. Doch das war vergebene Liebesmüh. Die Schwärze hatte sich über den Wald gelegt, der Halbmond am Sternenhimmel gab zwar sein Bestes, viel brachte es jedoch nicht.
Rückwärts wich ich zurück, mein Kopf ruckte von links nach rechts. Wenn sich da tatsächlich jemand oder etwas an mich heranschlich, wollte ich nicht überrumpelt werden. Ich würde mich wehren, ich würde schreien.
Etwas löste sich aus der Dunkelheit, schoss an mir vorbei und verpasste mir fast einen Herzinfarkt. Ich schrie panisch auf und rannte los. Mir war es in dem Moment egal, dass ich nicht wusste, wohin ich lief. Ich stolperte über Wurzeln, schlug Äste zur Seite, kämpfte mich immer weiter vorwärts. Einmal drehte ich mich um und blickte zurück, aber da war nichts. Bloß Finsternis.
Als ich wieder nach vorn sah, war es zu spät. Ich rannte mitten in eine Silhouette hinein und mein Lauf wurde ruckartig gestoppt.
»Na, wohin denn des Weges, Rotkäppchen?«, fragte mich der Schatten höhnisch, seine Stimme klang glatt wie Eis
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: J. M. Weimer
Bildmaterialien: J. M. Weimer
Cover: Fantastical Ink
Lektorat: Mira Manger
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2022
ISBN: 978-3-7554-1035-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die verlorene Seele