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Die Gutenachtgeschichte

Im Kinderzimmer herrschte eine erwartungsvolle Stille. Meine zwei Lieblinge lagen im Bett und erwarteten eine Geschichte. 

„Was wollt ihr zwei denn hören?", fragte ich sie mit hochgezogener Augenbraue.

„Etwas gruseliges", rief Larissa und grinste mich dabei frech an.

„Nee", widersprach Leonie, „nicht schon wieder." 

Mit Schmollmund sah mich Leonie an und ihre großen, blauen Augen glitzerten feucht.

Obwohl die beiden Zwillinge waren, hätten sie nicht gegensätzlicher sein können. Auch wenn sie sich vom Aussehen her wie ein Ei dem anderen glichen, unterschieden sich ihre Charaktere. 

„Ich will etwas mit Prinzessinnen hören!"

Trotzig schlug Leonie mit der Faust auf das Kopfkissen. Eine kleine Feder wurde aufgewirbelt und segelte langsam zur Erde.

„Bäh, Prinzessinnen. Warum willst du immer sowas doofes hören?“, fuhr Larissa sie wütend an.

Bevor die zwei sich noch stärker in die Haare kriegen würden, ging ich dazwischen. 

„Jetzt ist Schluss", sprach ich streng.

Leonie zuckte sofort zusammen und sah mich entschuldigend an, während mein kleiner Rebell die Stirn runzelte.

„Heute entscheidet einmal Papa, was es zu hören gibt. Ich möchte euch erzählen, wie ich eure Mama kennengelernt habe."

Meine Äußerung erntete synchrones Augenrollen und Larissa warf sich schnaubend zurück.

„Ach Papa, die Geschichte kennen wir doch schon längst", quengelte sie, während Leonie ihr nickend zustimmte. Sie lagen bereits in ihrem gemeinsamen, weißen Hochbett und schauten mich aus großen Augen an.

„Ich weiß, meine Lieblinge", beschwichtigte ich sie, „doch ich erzähle sie so gerne. Also macht es euch bequem und sperrt die Lauscher auf."

Mir war bewusst, dass ich ihnen diese Geschichte wirklich häufig erzählte. Doch mir war es wichtig, dass sie nicht vergaßen.

Die Zwerge kuschelten sich widerwillig unter ihre Decken und warfen synchron ihre blonden Zöpfe zurück. Noch konnten sie zusammen in einem Zimmer und einem Bett schlafen. Noch waren sie klein. Irgendwie hoffte ich, dass sie immer meine kleinen Mädchen bleiben würden. Doch die Zeit war unnachgiebig und schritt unaufhaltsam voran.

„Es war an einem warmen Sommermorgen. Die Luft flimmerte über dem heißen Sand und das Meer rollte wie eine Naturgewalt auf den Strand. Ich spielte mit meinen Freunden Volleyball an einem ruhigen Abschnitt. Die Sonne brannte heiß auf uns herab und wir kamen schnell ins Schwitzen. Mein Team lag zurück, aber nur zwei Punkte."

Liebevoll strich ich über Leonies Haare. Ihre Augen waren schon geschlossen und ihre Atmung ging regelmäßig. Larissa sah mich mit ihren blauen Augen kritisch an. Die Augen ihrer Mutter. Ein kleiner Stich in meiner Magengrube machte sich bemerkbar. Mein Herz wurde schwer und es tat mir weh. Ich versuchte mit einem Lächeln meine trüben Gedanken wegzuwischen. Unbeirrt fuhr ich fort.

„Meine zwei besten Freunde und ich waren ein eingespieltes Team. Wir wussten, wenn wir zusammen hielten, wären wir unbesiegbar. Wir könnten alle Schlachten schlagen und würden siegreich daraus hervorgehen.“

Um meinen beiden Mädchen gerecht zu werden, schmückte ich die Geschichte etwas aus. Auf Leonies Lippen stahl sich ein Lächeln und sie öffnete für einen kurzen Moment ihre Augen, die im Schein der Nachttischlampe glitzerten. Zufrieden musste ich schmunzeln und erzählte weiter.

„Also setzten wir zum nächsten Angriff an. Das gegnerische Team passte ihn ab und schleuderte den Ball zu uns zurück. Er flog hoch und ich hinterher. Leider traf ich ihn nicht gut und er flog nur haarscharf am Netz vorbei."

„Und dann wurde er zurück geschmettert. Das kennen wir doch schon alles, Papa", unterbrach mich Larissa, die immer noch die Augen geöffnet hatte. 

Sie schien nicht ganz zufrieden mit meiner Ausschmückung zu sein.

Bevor ich darauf reagieren konnte, zischte ihre Zwillingsschwester ihr zu.

„Sei still, ich will es von Papa hören.“ 

Entschuldigend lächelte ich sie an. Mit einem Augenrollen kuschelte sich Larissa näher an ihre Schwester. Ich nahm mir vor, die Geschichte etwas spannender zu gestalten. Vielleicht würde ihr es dann auch mehr zusagen. Um sie nicht zu vernachlässigen, streichelte ich nun Larissa über ihre Zöpfe. Endlich schloss auch sie die Augen.

„Der Pass war so schlecht von mir, dass das gegnerische Team ihn mit Leichtigkeit zu uns zurück schmettern konnte. Es war meine Aufgabe, das Team zum Sieg zu führen. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Daher sprang ich vorwärts und warf mich in den Sand. Der sandige Untergrund kratzte mich am Oberkörper und hinterließ rote Spuren. Kurz bevor das runde Übel die Erde treffen würde, erwischte ich es mit den Fingerspitzen. Onkel Max nahm ihn entgegen und warf ihn weit in das gegnerische Feld. Das andere Team hechtete nach dem Ball, doch sie hatten keine Chance. Ein triumphierender Schrei entfuhr mir, als er im Sand landete und kleine Steine in die Luft wirbelte. Stolz trommelte ich mir auf die Brust und brüllte Onkel Max fröhlich zu. Als ich meinen Blick an ihm vorbeischweifen ließ, sah ich sie."

Regelmäßig hob und senkte sich die Brust der Zwillinge. Sie sahen so friedlich aus. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, trotzdem sah es so aus, als würden sie lächeln. Ich reduzierte meine Lautstärke, damit ich die zwei nicht aus Versehen weckte.

„Ohne sie aus den Augen zu lassen, richtete ich mich auf. Mein Blick klebte förmlich an ihr. Sie hatte einen einzigartigen, wiegenden Gang. Ihre blonden Haare wurden vom Wind hochgehoben und schwebten förmlich in der Luft. Ihre schlanken Füße versanken im Sand und hinterließen tiefe Abdrücke. Eine ihrer Freundinnen sagte etwas und ihr Lachen traf mich mitten ins Herz. Es  klang glockenklar und herzlich. Sie war das hübscheste Mädchen, das ich je in meinem Leben gesehen hatte. Als ihre blauen Augen meine trafen, blieb für mich die Welt stehen. In meinem Kopf war nur noch Platz für sie. Erst, als ein Ball mich hart am Hinterkopf traf, kam ich zurück in die Realität."

Ein kleines Lächeln huschte über Larissas Lippen. Noch war sie nicht eingeschlafen.

„Verärgert rieb ich mir über die Haare und drehte mich zu meinen Freunden um. Das war sehr hinterhältig von ihnen gewesen. Man stach einem Mann nicht in den Rücken. Alle sahen sie mich an und hielten sich vor Lachen die Bäuche. Onkel Max kam auf mich zu, packte mich an den Schultern und flüsterte mir ins Ohr: ‚Die hat es dir aber angetan.' Meine Antwort darauf lautete: ‚Eines Tages werde ich diese Frau heiraten, du wirst schon sehen.' Seine Reaktion war nur ein Grinsen." 

Meine Stimme wurde zum Schluss immer leiser und trauriger. Es fiel mir immer schwer, unsere Geschichte zu beenden. Doch auch das Ende musste erzählt werden. Mit einer Hand zog ich die Decke den Mädchen bis unters Kinn. Liebevoll sah ich sie an. 

„Ich sollte Recht behalten. Keine zwölf Monate später waren wir verlobt und ein weiteres halbes Jahr später verheiratet. Ihr kamt schon bald danach und verdoppeltet unser Glück."

Glücklich lächelte ich auf sie hinab. Wenn ich an den Moment ihrer Geburt zurückdachte, prickelte es immer aufgeregt in meinem Bauch. Nicht wie das Kribbeln bei Verliebten, welches von tausenden Schmetterlingen herrührte. Mehr wie das Kribbeln von Liebe, welches von hunderten von Ameisen stammt, die aufgeregt herumwuseln.

„Papa?", flüsterte Leonie.

Ohne, dass ich es bemerkt hatte, hatte sie ihre Augen geöffnet. Aufmunternd blickte ich in ihr kindliches Gesicht.

„Ja, mein Schatz?"

„Ich vermisse Mama."

Mein Herz schmerzte. Vor solchen Fragen hatte ich mich stets gefürchtet. Was wäre darauf bloß die richtige Antwort? Meine Augen wurden feucht und mir steckte ein Kloß im Hals. Angespannt schluckte ich ihn hinunter.

„Ich auch, mein Schatz."

„Denkst du, da, wo sie jetzt ist, ist sie glücklich?"

Eine Träne rollte meine Wange hinab und ich wischte sie schnell weg. Leonie sollte meinen Schmerz nicht sehen.

„Schatz, ich weiß es sogar. Jetzt schlaf mein Liebling."

„Ich hab dich lieb."

„Ich dich auch."

Zum Schluss gab ich beiden einen sanften Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer. Es war schon zwei Jahre her, dass sie gestorben war. Doch noch immer tat es weh. Sie fehlte uns, besonders mir. Jeden Tag sah ich mehr von ihr in meinen Zwillingen. Sie lebte in ihnen weiter. 

 

Impressum

Texte: J. M. Weimer
Cover: J. M. Weimer
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner lieben Freundin Margo. Sie hilft mir dabei, eine bessere Autorin zu werden und ließt fleißig meine Geschichten.

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