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Tödliche Stille


… genau in dem Moment kam jemand ums Leben.

Sieben Jahre zuvor saß hilflos und verängstigt eine Frau in einem Keller in der Großstadt. Die Dunkelheit verschluckte alles, wenn man sich die Hand vor die Augen hielt konnte man nur unscharfe Schatten erkennen. Durch das kleine Kellerfenster, auf der anderen Seite des Raumes, fiel ein magischer Schimmer Mondlicht. Doch er gab der Frau keine Hoffnung mehr. Ein Schwall von Angst überkam sie, als sie das schrille Klingeln von oben hörte. War es soweit? Würde sie jetzt sterben? Panisch riss sie an dem Seil mit dem sie gefesselt war. Alles Leid, dass sie in den letzten Wochen erlebt hatte, lief noch einmal wie ein Film in ihrem Kopf ab, als sich polternde Schritte der Kellertür näherten. Die Tür öffnete sich, genau in dem Moment, in dem sich der Knoten ihrer Fessel löste. Sie war schlau genug, um zu wissen, dass jede unüberlegte Handlung ihr jetzt das Leben kosten würde. Er schloss die Tür und trat in das fahle Mondlicht. In den letzten Wochen hatten ihre Augen selten Licht gesehen und das nutzte sie jetzt als ihren Vorteil. Als er vor sie trat, um sie vermutlich zu schlagen, sprang sie so schnell sie konnte auf, wobei ihr ganz schwindelig im Kopf wurde. In der Sekunde, in der er wie erstarrt vor ihr stand und nicht zu begreifen schien, was da grade passierte, schlug sie ihm mitten ins Gesicht. Als er vor Schmerzen aufschrie, rannte sie so schnell sie konnte zur Tür. Sie tastete hektisch nach der Türklinke, dann lief sie blind vom Licht der Deckenlampe mit einer Hand immer an der Wand entlang. Er schrie ihren Namen und das sie stehen bleiben solle, doch sie hastete weiter. Sie stolperte die Treppe hinauf und stürmte am Treppenabsatz zur Tür. Immer wieder drückte sie die Klinke nach unten, doch die Tür war verschlossen. Sie hörte sein kaltes Lachen, das sie einst so verführerisch gefunden hatte, jetzt war das einzige, was es auslöste Angst. Jetzt stand er direkt hinter ihr, sie spürte seinen Atem im Nacken. Sie wollte sich nicht umdrehen, sie wollte nicht in diese stahlblauen Augen gucken.
„Weist du, du bist anders als die anderen. Du bist nicht dumm. Was die ganze Sache irgendwie traurig macht, dass ich dich töten muss“, sagte er gespielt bedauernd und sie hörte, wie er sein Messer aufklappte. Wieder versuchte sie verzweifelt die Tür zu öffnen. Sie schloss ihre Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Als sie sie wieder öffnete, betrachtete sie die Tür genauer. Es war eine Alte Tür, die weiße Farbe war an den meisten Stellen schon abgeblättert und das nackte Holz kam zum Vorschein. Unten war eine Metallleiste befestigt, ziemlich locker. Sie konnte trat sie gegen die Tür, doch die Leiste zitterte nur ein wenig. Er lachte, doch sie versuchte es noch einmal, die leiste fiel ab. Er lachte.
„Denkst du, du kannst die Tür eintreten?“ Er ging ein paar Schritte zurück und schaute die Treppe hinunter. Sie bückte sich und hob die Leiste auf. Die Panik, die eben in ihr aufgekeimt war, verwandelte sich in blanke Wut. Sie drehte sich um, ging einen Schritt in seine Richtung und schlug ihm die Metallleiste mit voller Wucht auf den Hinterkopf. Er ging wie ein nasser Sack zu Boden.

Als sie an diesem Morgen, sieben Jahre später aufwachte, machte sie sich einen Kaffee und holte dann die Zeitung aus dem Briefkasten. An das traumatische Erlebnis von damals, dachte sie seltener, was sie vielen Stunden beim Therapeuten verdankte. Sie setzte sich an den Tisch, die Kaffeetasse in der Hand und nahm die Zeitung. Die Schlagzeile traf sie wie ein Schlag:


Ausbruch aus dem Gefängnis, Jonathan M. auf der Flucht

Ohne es zu realisieren fiel ihr die Kaffeerasse aus der Hand und der schwarze Kaffee verteilte sich auf dem Küchenboden, als die Tasse zersprang. Eine halbe Stunde später saß sie immer noch regungslos da. Dann nahm sie sich zusammen und las den Text unter dem unscharfen Bild ihres Entführers.

Vor sieben Jahren, ermordete Jonathan M. dreizehn stumme Frauen,
nachdem er sie Wochen lang in einem Keller gefangen hielt. Sein
vierzehntes Opfer Luzie G. entkam jedoch, nach einer mutigen Flucht […]
Nun ist Jonathan M. gestern Nacht auf entkommen. Die Polizei möchte sich
zu genauerem noch nicht äußern. Es wird jedoch vermutet, dass er Hilfe
von innen oder außen hatte.
Die Polizei bittet um Hinweise aus der Bevölkerung. [mehr dazu S. 7]

Sie legte die Zeitung auf den Tisch und stand langsam auf. Wie in Trance fegte sie die Scherben ihrer Tasse zusammen, wischte sie den Kaffee auf und wickelte ihr schärfstes Küchenmesser in ein Stück Stoff. Sie ging in den Flur, zog den Mantel über und betrachtete noch einmal die lange Narbe auf ihrer Wange, die er ihr zugefügt hatte.
Sie fuhr mit der Bahn Richtung Stadtmitte, wo an diesem Samstagmorgen noch nicht viel los war. Beim Konzerthaus, stieg sie aus, überquerte mit eiligen Schritten die Straße und ging zum Hintereingang. Ihr Herz schlug rasend schnell, als sie die Tür zum Keller öffnete. Sie war erneuert worden, die alte Tür, die ihr das Leben gerettet hatte, war einer modernen Tür mit einer Plastikklinge gewichen. Ein Schild warnte davor, die Tür niemals abzuschließen. Sie schnaubte verächtlich. Dreizehn Frauen waren dort unten gestorben und jetzt sollte die Tür nicht mehr verschlossen werden. Langsam ging sie die Treppe hinunter. Von oben hörte sie, das Orchester proben. Es spielte das Lied, bei dem sie ihn kennengelernt hatte. Sie ging bis zur vorletzten Tür auf der linken Seite des Ganges und blieb stehen. Grade als sie die nur angelehnte Tür aufstoßen wollte, spürte sie die Klinge eines Messers in ihrem Rücken.
„Es ist zum Sterben schön, dich wieder zusehen, Luzie.“, sagte Jonathan langsam. Mit dem Messer in der Hand, ohne auf das Messer in ihrem Rücken zu achten, drehte sie sich blitzschnell um. In dem Moment hörte das Orchester auf zu spielen und jemand kam ums Leben.

Impressum

Texte: Kimberley Reith
Bildmaterialien: Kimberley Reith
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2012

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