Mai, 1958
....und bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Onkel, John Edmont Osborne, am 29.03.1958 auf Ichaboe verstarb. Er wurde am 4. April auf dem dortigen Friedhof beigesetzt.
Unter seinen persönlichen Gegenständen befand sich, neben einer Abschrift seines Testaments, auf dessen Inhalt ich hier aus verständlichen Gründen nicht näher eingehen möchte, auch Ihre Adresse, die es mir ermöglichte, Ihnen diese Zeilen zu schreiben. Das Original des Testaments ist bei einem Notar in Lüderitz, Südwestafrika, hinterlegt.
Als seinem einzigen Angehörigen möchte ich Ihnen seine Sachen gerne persönlich aushändigen und würde mich freuen, wenn Sie mich deshalb in der nächsten Zeit in meinem Büro aufsuchen könnten.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Colin M. Davis
Superintendent
Den Kopf des Schreibens zierte ein Wappen, gehalten von zwei stilisierten Seevögeln und einer Krone darüber. Ich legte den Brief zur Seite und blickte über die sanften Hügel, die an diesem Spätherbstnachmittag in weiches, goldenes Licht getaucht waren. In der Ferne schimmerten blassviolett die Konturen des Tafelbergs, Wahrzeichen des Kaps der Guten Hoffnung. Über den weiß getünchten Arbeiterhütten im Schatten der alten Eukalypten am Bach kräuselten sich dünne Rauchschleier in einen Himmel, der zu brennen schien. Der Duft von Maisbrei und gekochtem Hammelfleisch wehte zu mir herüber, wie auch das Geräusch von klapperndem Blechgeschirr, Kinderlachen und Gesprächsfetzen. Ein Hund kläffte. All das wirkte auf mich wie eine Szene aus einem Gemälde von Gabriel de Jongh.
Der Mai war schon fast zu Ende und hier auf der Veranda des alten Farmhauses spürte ich, wie sich sachte, ja, fast unmerklich, ein erster leichter Biss in die frühe Abendluft stahl, Vorbote eines nicht allzu fernen Winters. Ich fröstelte leicht, konnte mich aber nicht entschließen, jetzt schon ins Haus zu gehen. Ich wollte dieses friedvolle Bild noch ein paar Minuten länger genießen.
Schon bald würde ich diese Gegend wieder für eine Weile verlassen. Mit dem Beginn des Herbstes war für mich die Saison am Kap zu Ende. Dann begann auf den Feldern, den Weingärten und Obstplantagen die Ernte und während dieser Zeit und den darauffolgenden Wintermonaten gab es für jemanden wie mich hier nichts mehr zu tun. Ich verdiente mir meinen Lebensunterhalt mit dem Versprühen von Pflanzenschutzmitteln im Gebiet um Stellenbosch und Paarl, einem der fruchtbarsten Landstriche in der westlichen Kapprovinz. Für diesen Zweck hatte ich mir eine gebrauchte Piper PA-18 Super Cub gekauft und sie speziell für diese Aufgabe umgerüstet. Das Geld dafür hatte ich mir mit Hilfe der hiesigen Farmergenossenschaft von der Bank geliehen. Tant Sina Oosthuizen war meine Wirtin und Eigentümerin dieser Farm. Seit dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren bewirtschaftete sie die kleine Obstfarm am Fuße des Simonsberges ganz allein. Sie hielt das Zimmer, das ich bei ihr gemietet hatte, das ganze Jahr über für mich bereit; sie hatte mich, da sie selbst nie eigene Kinder gehabt hatte, längst innerlich für sich adoptiert.
Während der Saison war die Arbeit auf den Feldern hart. Dann wurde von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geflogen, auch an Sonntagen, nicht selten begleitet vom heftigen Protest der strenggläubigen Buren in der Gegend. Die Unentbehrlichkeit meiner Aufgabe einerseits und die ihnen von der Niederdeutsch Reformierten Kirche eingehämmerte Gottesfurcht andererseits stürzte sie immer wieder in tiefe Gewissenskonflikte, die sie bisweilen wenigstens durch lautstarke Proteste zu verdrängen suchten. Dominee Harmse, der alte Pfarrer mit dem zerzausten weißen Haarkranz, hatte dem für diesen Frevel Verantwortlichen schon mehrfach mit den schlimmsten Höllenqualen im Jenseits gedroht, aber was sollte man machen? Die Farmer hier lebten nun mal vom Erlös ihrer Produkte. Sie hatten keine andere Wahl.
Lediglich bei schlechtem Wetter unterbrach ich den Flugbetrieb. Dann saß ich meist im Hangar herum und lauschte dem ohrenbetäubenden Lärm der Regentropfen, wenn sie auf das Wellblechdach über meinem Kopf prasselten, immer in der Hoffnung, dass es bald aufklaren möge. Manchmal hatte ich bereits mit der Arbeit begonnen, wenn hinter den Bergen von Hottentots Holland plötzlich ein Gewitter aufzog. Ich landete dann irgendwo auf einem Feldweg und wartete im engen Cockpit, bis der Guss vorüber war. Meist dauerten diese Sommergewitter nicht lange und ich konnte schon bald mit meiner Arbeit fortfahren.
Reich konnte ich bei diesem Geschäft natürlich nicht werden, aber es genügte zum Leben. Ich konnte die Raten für das Flugzeug bezahlen und war mehr oder weniger unabhängig. Den Herbst und Winter über versuchte ich mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten und verdiente mir mit sporadischen Aufträgen ein paar Pfund nebenbei. Ich flog Ersatzteile für schwere Erdbewegungsmaschinen an entlegene Baustellen im Busch oder Blutkonserven von den einzelnen Spendersammelstellen im Hinterland nach Kapstadt. Manchmal ging es weit hinauf nach Norden, tief ins Richtersveld und Namaqualand hinein, bis nach Port Nolloth, einem kleinen Fischerkaff an der Atlantikküste, wo es gelegentlich vorkam, dass sich die riesigen Sardinenschwärme aus noch unbekannten Gründen weit aufs Meer hinaus verzogen hatten. Dort suchte ich dann im Auftrag der Fischfabriken als „Fish-Spotter“ das Meer nach den Heringsschwärmen ab. Vom Flugzeug aus waren sie mit etwas Erfahrung ganz gut auszumachen. Über Funk gab ich dann ihre Positionen an die Fabriken durch, was den Trawlern Zeit und den Fabriken eine Menge Geld ersparte.
Bald würde die Sonne hinter den Bergen versinken. Ich goss mir noch etwas von dem dunklen Pinotage ein, der genau hier in dieser Gegend Ursprung und Heimat hatte. Das Glas wurde von den letzten Sonnenstrahlen erfasst, die sich darin in unzählige rubinrote Farbsplitter brachen, sich über den Brief ergossen und diesen wie ein Warnsignal dunkelrot aufleuchten ließen.
Beim Anblick der Zeilen kehrten meine Gedanken wieder zu dessen Inhalt zurück. Wer zum Teufel war dieser John Osborne, der da so urplötzlich in mein Leben getreten war, nur, um es im nächsten Augenblick bereits wieder zu verlassen, indem er das Zeitliche segnete? Dem Schreiben zufolge war ich angeblich sein einziger Angehöriger, aber das musste gar nichts bedeuten. Vielleicht gab es ja noch weitere Verwandte, von denen man nur noch nichts wusste. Ich hatte keine Ahnung und im Grunde interessierte es mich auch nicht sonderlich - oder etwa doch? Auf jeden Fall musste ich mir selbst eingestehen, dass mich die Angelegenheit mehr zu beschäftigen begann, als mir lieb war, und darüber ärgerte ich mich ein wenig. Möglicherweise lag es daran, dass ich selbst nur sehr wenig über meine eigene Vergangenheit wusste.
John Edmont Osborne. Ich hatte diesen Namen noch nie gehört, aber auch das war nicht weiter ungewöhnlich. Mein Familiensinn hatte sich bisher in recht engen Grenzen gehalten und beschränkte sich auf meine Mutter. Meinen Vater hatte ich nie kennen gelernt. So weit mir bekannt, starb er, als ich noch keine zwei Jahre alt war, während eines Angelausfluges am Strand an Herzversagen. Ich konnte mich auch nicht erinnern, dass Mutter jemals einen John Osborne erwähnt hatte. Rätselhaft erschien mir darum die Tatsache, dass sich ausgerechnet meine Adresse unter Osbornes Habseligkeiten befunden haben sollte. Und das war der eigentliche Grund für meine erwachende Neugier.
Und außerdem ... wo zum Teufel lag Ichaboe?
Vor meiner Abreise hatte ich in Kapstadt noch einiges zu erledigen und beschloss daher, der Einladung von Davis noch in derselben Woche zu folgen. Zwei Tage später bestieg ich Tant Sinas klapprigen Ford Pickup und machte mich auf den Weg, dem Geheimnis von John Osborne und seinem augenscheinlichen Interesse an meiner Person auf den Grund zu gehen.
Ich fand das im Kolonialstil erbaute Verwaltungsgebäude in einer stillen, von Eichen gesäumten Seitenstraße, nicht weit von der Nationalgalerie entfernt. Über dem Eingang bemerkte ich das Wappen wieder, welches ich vom Brief her bereits kannte - die beiden Seevögel mit der Krone darüber, das Ganze umrahmt von einem goldenen Blätterkranz.
„Superintendent Davis? Erster Stock, Zimmer 106", kam die knappe Auskunft aus dem Munde eines griesgrämig drein blickenden Pförtners am Schalter neben der Eingangstür. Ich machte mich auf die Suche und fand das Büro, wo mich seine Sekretärin bereits erwartete. Da ich mit südafrikanischen Beamtinnen bisher nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht hatte, wollte ich von vornherein jeder Diskussion aus dem Weg gehen und reichte ihr daher nach einem Nicken wortlos das Schreiben. Sie warf einen kurzen Blick auf den Brief, den sie vermutlich selbst erst wenige Tage zuvor geschrieben hatte.
„Haben Sie einen Termin mit dem Superintendenten, Mr. Osborne?", fragte sie mich überraschend freundlich.
„Nein, leider war mir dies in der Kürze der Zeit nicht möglich. Ich komme aus Stellenbosch und da ich in Kapstadt noch etwas ..."
Sie unterbrach mich. „Einen Moment bitte“, sagte sie, erhob sich und entschwand nach kurzem Anklopfen im Büro 106.
Die Tür öffnete sich erneut und hinter ihr erschien ein großer schlanker Mann mit rosigem Gesicht und einem wirren schlohweißen Haarschopf. Ich schätzte ihn auf über siebzig und dachte: 'Ziemlich ungewöhnlich für einen Beamten, in diesem Alter noch zu arbeiten.' Er verhielt einen Augenblick lang in der Tür und musterte mich mit zwei lebhaften grauen Augen. Ein Lächeln huschte über seine Züge. Ex royal Navy, schoss es mir bei seinem Anblick unwillkürlich durch den Kopf, als er einige Schritte auf mich zukam und mir seine Hand entgegenstreckte.
„Guten Tag, Mister Osborne, wie schön, dass Sie meiner Einladung so schnell folgen konnten, kommen Sie doch herein".
Ich folgte Davis in ein sehr großes, helles Büro. Zwei Wände wurden von Regalen eingenommen, die bis an die Decke reichten und mit Büchern, Akten und Zeitschriften vollgestopft waren. Vor einem der Regale der ebenfalls überquellende Schreibtisch. Links und rechts neben der Tür befanden sich zwei große Glasvitrinen, in denen sich zahlreiche ausgestopfte Vögel, Federn und Eier befanden. Soweit ich das beurteilen konnte, handelte es sich ausnahmslos um Seevögel. Die der Tür gegenüberliegende Wand bestand aus einer riesigen Fensterfront, die den Blick auf einen verwilderten Garten, der eher die Dimensionen eines Parks hatte, freigab. Ein paar mächtige Eichen bildeten neben hohen schlanken Palmen einen ungewöhnlichen Kontrast. Dazwischen leuchteten helle Farbtupfer - Büsche und Sträucher in den flammenden Rot-, Gelb- und Orangetönen des Herbstes. Hinter dem Garten schien das Gelände steil anzusteigen, um dann in die fast senkrechten Hänge des Tafelbergs überzugehen. Vor der Fensterfront waren einige kostbare handgeschnitzte Sessel aus Stinkwood um einen niedrigen Tisch aus dem gleichen Holz gruppiert. Der Tisch war mit Fachzeitschriften und Magazinen übersät, obenauf ein gläserner Ascher mit einer Pfeife darin. Daneben eine Dose Rum and Maple, dessen schwerer süßlicher Duft den gesamten Raum füllte. Dies sah mir beim besten Willen nicht wie das Büro eines Beamten aus, sondern wirkte eher wie das geräumige Arbeitszimmer eines Wissenschaftlers. Ich wusste zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht, dass Superintendent Davis nichts anderes war. Ein Wissenschaftler, genauer gesagt, Ornithologe.
Davis bemerkte meinen Blick, schaute dann einen Moment lang unschlüssig, wie mir schien, in den Garten hinaus, so als ob er nicht recht wüsste, wie er beginnen sollte. Dann hatte er sich gefasst und machte eine einladende Handbewegung in Richtung Sitzgruppe.
„Nehmen Sie Platz, Mr. Osborne. Leider ist der Anlass Ihres heutigen Besuches bei mir ja ein eher ..."
„Nein, nein Mr. Davis, lassen wir das, “ unterbrach ich ihn, „ich bin, ehrlich gesagt, nur aus reiner Neugier zu Ihnen gekommen. Sie müssen wissen, dass ich durch Ihren Brief zum ersten Mal von diesem … Onkel erfahren habe. Ich habe bisher von seiner Existenz nichts gewusst. Umso überraschter war ich zu lesen, dass Sie ausgerechnet meine Adresse unter seinen Sachen gefunden haben wollen. Ich kann mir das überhaupt nicht erklären und einen Ort namens Ichaboe kenne ich ebenso wenig."
Davis schmunzelte, als er sagte:
„Nun, die Frage, wie er in den Besitz Ihrer Anschrift gekommen ist, kann ich Ihnen natürlich nicht beantworten, aber über Ichaboe könnte ich Ihnen eine ganze Menge erzählen. Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir, Mr. Osborne?"
„Sehr gern."
Nachdem er an der Tür ein paar Worte mit seiner Sekretärin gewechselt hatte, kam er zurück und nahm ebenfalls in einem der bequemen Sessel Platz. Er angelte einen ledernen Beutel aus der Innentasche seines Tweedjacketts, entnahm ihm eine Pfeife und nach einem fragenden Blick auf mich begann er, sie mit seinen knotigen Fingern überraschend geschickt zu stopfen. Er zündete sie an, während seine aufmerksamen Augen mich unentwegt beobachteten.
„Wissen Sie, es ist kaum zu fassen“, sagte er, „Sie sind Ihrem Onkel wie aus dem Gesicht geschnitten. Als ich Sie vorhin sah, hätte ich schwören mögen, ihn selbst hier vor mir zu sehen. Wir kennen - wir kannten uns schon seit 1915, als ich meinen Dienst beim Department antrat."
„Waren Sie mit ihm befreundet?", fragte ich eher aus Höflichkeit als aus echtem Interesse.
„Oh ja, ich glaube, dass ich das sagen darf. Er war der beste Vorarbeiter, den wir je auf den Inseln hatten; einer von der alten Sorte, wissen Sie. Ich selbst war einige Jahre lang mit wissenschaftlichen Studien dort beschäftigt und eine Zeitlang half er mir auf Possession, einer Insel etwas weiter südlich von Ichaboe. Dort lernten wir uns näher kennen. Wenn Sie etwas Zeit haben, erzähle ich Ihnen ein wenig von ihm."
„Gern, ich wollte Sie ohnehin darum bitten. Es fällt mir schwer, mir einen Verwandten vorzustellen, der sich aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, für mich zu interessieren schien - und zwar offenbar so sehr, dass er sich die Mühe gemacht hat, meinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Erstaunlich daran finde ich, dass er danach nie versucht hat, Kontakt mit mir aufzunehmen. Das macht doch keinen Sinn, oder finden Sie das nicht auch merkwürdig?"
„Ach, Mr. Osborne, das dürfen Sie nicht überbewerten. Vielleicht hatte er Ihre Adresse erst vor kurzem erfahren und wollte sich bei seinem nächsten Besuch bei Ihnen melden; wer weiß schon, was da in ihm vorgegangen ist. Er war manchmal schon etwas kauzig, der alte John, aber schließlich hat er sein ganzes Leben auf diesem Felsen verbracht und die Einsamkeit dort draußen ... Na ja, Sie verstehen schon."
Ich unterbrach ihn schroff: „Nein! Ich verstehe überhaupt nichts. Wieso Einsamkeit? Und außerdem - wo liegt eigentlich dieses ... Ichaboe?"
Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
„Dass Sie von Ichaboe noch nichts gehört haben, verwundert mich nicht. Wir sind schon ein etwas seltsamer Haufen, müssen Sie wissen. Über unsere Arbeit sprechen wir nicht gern - aus guten Gründen, wie Sie gleich verstehen werden. Also, um es vorweg zu nehmen, Ichaboe ist eine Insel, aber am besten fange ich wohl damit an, Ihnen zu erzählen, wer Ihr Onkel war und wie er dorthin gelangt ist. Übrigens, kennen Sie die Küste von Südwestafrika?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin zwar in Lüderitz, jenem Ort, den Sie in Ihrem Brief erwähnten, geboren, aber als mein Vater starb, war ich gerade eineinhalb Jahre alt. Wir sind dann von da fortgezogen und auch nie wieder dorthin zurückgekehrt."
Es klopfte. Davis Sekretärin öffnete die Tür und brachte den Tee. Auf einem Tablett stand neben den üblichen Utensilien eine Flasche mit altem bernsteinfarbenen KWV Brandy und zwei Gläser. Davis bedankte sich und bat sie, dafür zu sorgen, dass er für den Rest des Tages nicht mehr gestört würde. Nachdem er, den Tee ignorierend, jedem von uns einen großzügigen Schluck von dem Brandy eingeschenkt hatte, lehnte er sich bequem in seinen Sessel zurück und begann zu erzählen:
„Vor der Küste von Südwestafrika, die sich von der Mündung des Oranje im Süden über eine Strecke von etwa acht- oder neunhundert Meilen nach Norden bis hinauf zum Kunene, dem Grenzfluss zum Nachbarland Angola, erstreckt, gibt es etwa ein Dutzend winziger Inseln, manche von ihnen kaum mehr als einen Steinwurf vom Festland entfernt. Schon die Bezeichnung 'Insel' ist für den größten Teil von ihnen eine schmeichelhafte Übertreibung. Bei den meisten handelt es sich um kaum mehr als große baum- und strauchlose Felsklippen inmitten einer mörderischen Brandung. Das Besondere an ihnen jedoch ist die Tatsache, dass sie über und über mit dem 'weißen Gold', dem Guano, einem natürlichen und hochgeschätzten Düngemittel, bestehend aus den Exkrementen Millionen dort nistender Vögel, bedeckt sind.
Und genau das ist die Aufgabe unserer Behörde - den Schutz der Vögel und Robben vor Wilderern aller Art zu gewährleisten. Ohne unsere intensiven Bemühungen wären diese Tiere längst von dort verschwunden. Schon damals, als das Festland noch eine Kolonie der Deutschen war, gehörten die Guanoinseln politisch bereits zum Kap der Guten Hoffnung. Sie standen und stehen somit noch heute unter dem ganz besonderen Schutz der britischen Krone. Die Guanoinseln sind in zwei Gruppen aufgeteilt, jede von ihnen unter der Leitung eines Vorarbeiters - wobei ich persönlich die Bezeichnung 'Inselvogt' bevorzuge, da sie die Arbeit, die diese Männer dort leisten, präziser beschreibt. Sie haben, neben dem Schutz der Vögel und Robben, ähnliche Aufgaben zu erfüllen wie damals die alten Deichgrafen in den flachen Küstengebieten Nordeuropas.
Die Inselvögte leben also zusammen mit einigen Arbeitern auf einer dieser Inseln, von wo aus sie in regelmäßigen Abständen die restlichen Inseln in ihrem Gebiet, auf denen jeweils zwei Mann stationiert sind, kontrollieren und dort nach dem Rechten sehen. In ihrem Zuständigkeitsbereich vertreten sie das Gesetz. Sie sind Vorarbeiter, Verwalter der Vorräte, Bürgermeister, Arzt und Pfarrer, alles in einer Person. Neben dem Schutz der Vögel bildet die Verwaltung der Vorräte eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Das nahe Festland ist nämlich eine der grimmigsten Wüsten der Welt. Das bedeutet, sämtliche Medikamente und Lebensmittel, jeder Sack Mehl, jede Kartoffel, aber auch jede Büchse Corned Beef oder Zwieback, jeder Löffel Kaffee, ja, sogar jeder einzelne Tropfen Wasser muss auf dem Seeweg über 700 Meilen von Kapstadt aus zu den Inseln gebracht werden. Wenn den Bewohnern dort irgendein Produkt ausgeht, ist es unmöglich, mal eben schnell in einen Laden um die Ecke zu gehen. Es können Monate vergehen, bis die nächste Lebensmittellieferung eintrifft. Der Einkauf und die Vorratshaltung sind daher äußerst wichtige Aufgaben, da sie für die Bewohner der Inseln von existentieller Bedeutung sind. Ebenso verhält es sich mit der Gesundheitsversorgung. Weit und breit gibt es keinen Arzt und erst recht kein Krankenhaus. Die Vorarbeiter sind die Einzigen, an die sich die Leute in einem Notfall wenden können. Da es sich aber auch bei ihnen nur um einfache Menschen und nicht um geschulte Mediziner handelt, hängt das Leben der Erkrankten oder Verletzten oftmals allein von der Erfahrung und der Geschicklichkeit dieser Männer ab. Alec, Johns Vater, hatte einmal ein dickes medizinisches Handbuch von einem Schiffswrack gerettet und es wie einen Schatz gehütet. Als sein Vater starb, nahm John das Buch an sich und es hat ihm als äußerst wertvolles Nachschlagewerk bis zum Schluss gute Dienste geleistet.
Mit dem Wasser ist es nicht anders. Da auf den Inseln manchmal mehr als zehn Jahre lang kein einziger Regentropfen fällt, ist Trinkwasser das kostbarste Gut und entsprechend wird es behandelt. Wie bereits erwähnt, wird das Wasser per Schiff zu den Inseln gebracht, wo es in große eiserne Tanks gepumpt und anschließend hermetisch abgeschlossen wird. Auf diese Weise bleibt es über einige Monate trinkbar. Nach einer Weile schmeckt es zwar ziemlich fad, aber daran haben sich die Inselleute längst gewöhnt, ebenso wie an den Durchfall, den es mit der Zeit verursacht."
Ich nippte an meinem Glas und spürte, wie sich eine wohlige Wärme in meinem Magen auszubreiten begann.
Davis fuhr fort:
„Einmal im Jahr, etwa ab Mitte März, wird der Guano 'geerntet', denn um diese Zeit ziehen die Vögel in ihre Winterquartiere nach Norden. Dann schicken wir eine Mannschaft von etwa 200 Arbeitern mit der Gamtoos von Kapstadt aus die Küste hinauf zu den Inseln. Hier sind die Männer für die nächsten drei bis vier Monate damit beschäftigt, den Guano von den schroffen Felsen der winzigen Inseln zu kratzen. Bei diesen Arbeitern handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes fast ausschließlich um den 'Kehricht' aus der Roeland Street, Galgenvögel allesamt und Tagediebe. Es sind aber auch solche dabei, die einen anderen triftigen Grund haben, für eine Zeitlang aus Kapstadt zu verschwinden. Sie fressen sich hier eine Weile durch und verdienen sich dabei auch noch etwas Geld. Für einige von ihnen bezahlt sogar die Polizei die Strafen, um sie wenigstens für ein paar Monate los zu sein.
Sobald die Männer eine Insel vom Guano befreit haben, werden sie zur nächsten gebracht, um dort damit fortzufahren, die penetrant nach Ammoniak riechenden Vogelexkremente von den Felsen zu schaben. Ihre Arbeit ist hart und eintönig. Die Guanomänner auf den Inseln, auf denen sie leben, arbeiten - ja, und manchmal auch sterben, sind raue Gesellen; viele von ihnen hat der Alkohol zerstört, anderen hat im Laufe der Zeit der Genuss von Dagga das Hirn zerfressen, sie schwachsinnig gemacht. Die meisten jedoch kommen immer wieder, einige von ihnen schon viele Jahre, um dort auf diesen trostlosen, sturmumtosten Klippen für ein paar Monate eine Art Zombiedasein in Lumpen und Isolation fristen.“
„Und Ichaboe ist eine von diesen Inseln?", fragte ich ungläubig.
„Ja, so ist es. John hat auf einigen der Inseln gearbeitet, aber die meiste Zeit verbrachte er auf Ichaboe und Mercury, und das insgesamt über vierundachtzig Jahre."
„Über achtzig Jahre?", fragte ich, „was muss das bloß für ein Mensch gewesen sein?"
Davis fuhr unbeirrt fort. „Er sagte einmal zu mir, und das ist noch gar nicht so lange her, muss während eines seiner letzten Besuche hier gewesen sein: Viele mögen mich für einen verlorenen Hund halten, aber ich könnte nie woanders leben. Hier bin ich geboren - und hier will ich auch sterben.“
„Er wurde bereits dort geboren?" Nun war ich vollends verblüfft.
„Ja. Schon sein Vater hat die längste Zeit seines Lebens dort verbracht. Er hieß übrigens genau wie Sie, Alexander Osborne, aber alle, die ihn kannten, nannten ihn Alec. Er war der erste Osborne auf den Inseln und kam bereits im Jahre 1828 nach Ichaboe, nachdem er als Elfjähriger sein Elternhaus in England verlassen hatte. Das ist eine verdammt lange Zeit auf einer Insel von der Größe weniger Fußballfelder - und vielleicht waren es wirklich verlorene Jahre. Mit Sicherheit waren es aber auch Jahre voller Abenteuer und Tragödien - von den Entbehrungen einmal abgesehen.“
Mehr aus Neugier als aus echtem Interesse fragte ich Davis, was Osborne während seiner Zeit auf der Insel verdient haben mochte.
Dieser schüttelte den Kopf mit den dünnen weißen Haaren. Er wusste, worauf ich hinaus wollte.
„Ach, wissen Sie, das Gehalt auf den Inseln war nie besonders. Es dauerte Jahre, bis man £6.- im Monat verdiente. Und Ichaboe brachte damals immerhin £45.000.- im Jahr ein. Nein, das Geld war es nicht. Ich glaube eher, dass es dieses Leben in völliger Freiheit war - und noch so ein paar andere Dinge."
Diese 'anderen Dinge', erfuhr ich, umfassten nicht zuletzt das Plündern von Schiffswracks, von denen es an dieser gottverlassenen Küste eine ganze Menge gegeben haben muss.
„Aber darüber sprach John nicht gern, was Sie verstehen werden“, sagte Davis, „nicht umsonst trägt diese Küste den bezeichnenden Namen Skelettküste. Das meiste Geld wird er aber mit dem Gemüse und seiner Schweinezucht verdient haben. Wissen Sie, irgendwie hatte John es geschafft, neben dem Gemüseanbau und allem Anderen eine profitable Schweinezucht aufzubauen. Er fütterte die Tiere mit Gemüse, Küchenabfällen und Eicheln, die er sich speziell zu diesem Zweck aus Kapstadt kommen ließ. Wenn sie dann schlachtreif waren, lud er eines der Tiere und etwas frisches Gemüse in sein Boot und segelte damit nach Lüderitz. Hier erzielte er immer einen guten Preis, denn auch dort waren frische Lebensmittel kaum erhältlich und etwas ganz Besonderes.
Nach der Entdeckung der Diamanten im Jahre 1908 wurde das Festland gegenüber zum Sperrgebiet erklärt. Auf meine Frage, ob er sich nach so vielen Jahren ungetrübter Freiheit, in denen er das Küstengebiet fast ausschließlich für sich allein hatte, nicht sehr eingeengt vorgekommen sei, antwortete er mir mit einem verschmitzten Lächeln und einem eigentümlichen Glanz in den Augen: Nein, ganz im Gegenteil. Von nun an ruderten wir noch viel öfter hinüber. Er war nicht bereit, auch nur ein einziges weiteres Wort über dieses Kapitel zu verlieren. Ich nehme an, er wird seine Gründe gehabt haben“, sagte Davis mit einem Augenzwinkern.
Er wirkte inzwischen etwas erschöpft, aber nachdem er seine Pfeife erneut gestopft hatte, fuhr er fort:
„Von allen Vogelinseln vor der Küste Südwestafrikas ist Ichaboe die Kleinste, und hätte es zwischen ihr und der offenen See nicht eine kleine Felsgruppe namens Little Ichaboe gegeben, jeder Sturm hätte die Insel einfach fortgespült. So aber blieb ihr dieses Schicksal erspart. Sie hat eine Größe von etwa sechseinhalb Hektar, ist also kaum mehr als ein winziger Felsen aus grauem Granit, Schiefer und Quarzgestein inmitten einer kochenden Brandung. Aber auf der ganzen Welt gab und gibt es keinen Ort, der je eine dickere Guanoschicht aufzuweisen gehabt hätte. Wir Ornithologen wenden eine bestimmte Methode an, um große Vogelpopulationen zu zählen und ich kann Ihnen sagen, dass während einer guten Saison täglich mehr als zwanzig Millionen Basstölpel, Kormorane und andere Seevögel die Insel zum Nisten aufsuchen. Natürlich ist es möglich, dass wir uns dabei um ein paar Millionen nach oben oder unten geirrt haben, aber was spielt das bei einer solchen Zahl schon für eine Rolle? Die Luft ist ständig erfüllt vom Geschrei der Vögel, vom Kreischen hungriger Jungvögel, vom millionenfachen tumultartigen Flirren schlagender und flatternder Flügel. Dazu der ständige Wind, die Brandung und nicht zuletzt der beißende Gestank des Ammoniaks. Ein Albtraum!
Sämtliche Gebäude auf der Insel sind an ihrem nördlichen Ende auf einem Areal von der Größe eines durchschnittlichen Vorstadtgrundstücks zusammengepfercht. Zwischen den einzelnen Gebäuden und den Brutplätzen hat man eine hohe Mauer errichtet. Ohne diese Mauer würden die Vögel Gebäude und Bewohner wie eine riesige Welle einfach unter sich begraben. Zurzeit sind wir dabei, im Lee der Insel große hölzerne Plattformen zu errichten. Sie schwimmen auf leeren Ölfässern wie Flöße auf dem Wasser. Auf diese Weise werden die Brutplätze erweitert und es können noch mehr Vögel auf Ichaboe nisten."
Draußen vor dem Fenster war es inzwischen dunkel geworden. Auch im Büro war es finster. Nur die Glut seiner Pfeife erhellte ab und zu schwach das Gesicht des Superintendenten, der nun schwieg. Ich spürte, dass er müde geworden war und erhob mich aus dem Sessel.
„Entschuldigen Sie, Mr. Davis, aber Ihre Geschichte hat mich so gefesselt, dass ich nicht gemerkt habe, wo die Zeit geblieben ist. Hoffentlich habe ich Sie nicht zu lange aufgehalten."
„Eh? Nein, nein, natürlich nicht." Er schien nur langsam aus einer längst vergangenen Zeit in die Gegenwart zurückzukehren.
„Schon gut, auch ich habe die Zeit völlig vergessen, und dabei gibt es noch so viel über die seltsamen Inseln vor der Küste von Südwestafrika zu erzählen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Fahren Sie hin, lernen Sie die Insel und ihre Geheimnisse selbst kennen. Wenn Sie wollen, lasse ich Ihnen ein Empfehlungsschreiben ausstellen. Damit kommen Sie auf jede dieser Inseln und können sich dort frei bewegen. Das ist das wenigste, was ich für meinen alten Freund John tun kann. Ich glaube, er hätte es gern gesehen, wenn sich sein Neffe für jene Orte interessiert, wo er gelebt hat und schließlich gestorben ist. Das ist, müssen Sie wissen, eine seltene Ehre, denn nur wenige erhalten je eine Besuchserlaubnis für die Inseln. In Ihrem Fall können wir, glaube ich, eine Ausnahme machen.“
„Oh danke, natürlich, ich nehme diese Einladung gerne an, denn Sie haben mich mit Ihrem Bericht sehr neugierig gemacht.”
Davis erhob sich ebenfalls aus seinem Sessel und ging zu seinem Schreibtisch. Er knipste die Schreibtischlampe an, die den Raum nur schwach erleuchtete.
„Ach ja, das Wichtigste hätte ich fast vergessen; Johns Sachen und das Testament. Ich glaube, ich hatte es bereits in meinem Schreiben erwähnt. Also, das Original liegt bei einem Notar in Lüderitz. Es besteht nur aus einer einzigen Seite, von der ich eine Abschrift unter seinen Sachen fand. Darin hat er Sie als seinen alleinigen Erben eingesetzt. Was immer das bedeuten mag. Wie ich bereits erwähnte, Reichtümer hat er sicherlich nicht sammeln können. Erwarten Sie also nicht zu viel, Mr. Osborne.”
Er öffnete eine in der Bücherwand hinter dem Schreibtisch eingelassene Tür und holte einen Koffer aus ehemals hellem Schweinsleder hervor. Der Koffer war alt und völlig zerschrammt. Eines der Schlösser fehlte ganz und das andere hing, nur von einer einzigen Niete gehalten, nutzlos herum. Rechts und links wurde er von zwei breiten Lederriemen mit großen glänzenden Schnallen zusammengehalten.
„Ich weiß nicht, ob der Notar Ihnen mehr sagen kann, aber ich bin fast sicher, dass dieser Koffer seine gesamte Habe enthält. Er gehört Ihnen.”
Etwas unsicher griff ich danach. Er war schwerer, als ich erwartet hatte. Ich bedankte mich bei Davis und er versprach, mir die Empfehlung für seine Inseln in den nächsten Tagen zuzusenden. „Sehr gern", sagte ich mehr aus Höflichkeit als echtem Interesse.
Draußen hatte inzwischen ein leichter Nieselregen eingesetzt. Der nasse Asphalt glänzte ölig im Schein der wenigen Laternen. Der Bürgersteig war mit einer dicken Schicht herabgefallener Blätter bedeckt. Sie dämpften meine Schritte und das Geräusch der Tropfen, die von den Bäumen fielen. Feuchte Zweige schienen nach mir zu greifen. Ich lief so schnell ich konnte, wobei ich darauf achtete, nicht auf dem glatten Blätterteppich auszurutschen. Die Straße war wie ausgestorben und ich fröstelte. Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und schob mir den Hut tief ins Gesicht. Mit jedem Schritt wurde der Koffer schwerer. Ab und zu wechselte ich, trug ihn mal in der rechten, dann wieder in der linken Hand.
Zwei Straßenblocks weiter wurde es heller. Die ersten Geschäfte tauchten auf. Eine Apotheke, eine Schneiderei und an einer Ecke ein Portugiesenmarkt, der noch geöffnet hatte. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, hatte ich am Nachmittag Tant Sinas Wagen abgestellt. Ich betrat den Laden, der auch als Café diente, und bestellte mir zwei Koeksisters, ein typisch südafrikanisches, in Sirup gekochtes oder frittiertes und zu einem Zopf geflochtenes Gebäck. Dazu trank ich eine Tasse Kaffee. Völlig durchnässt machte ich mich schließlich mit meinem museumsreifen Koffer auf den Heimweg.
Als ich die Farm erreichte, war es fast Mitternacht, und weil der Wagen keine Heizung besaß, war ich völlig durchgefroren und beschloss, trotz der späten Stunde ein heißes Bad zu nehmen. Das warme Wasser tat mir gut und ich dachte noch einmal über all das nach, was mir Davis erzählt hatte. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, hatten mich seine seltsamen Inseln vor der Küste von Südwestafrika in ihren Bann gezogen.
Ich verließ die Wanne, wickelte mich in einen Bademantel und setzte mich auf einen Stuhl, den ich neben das Bett gerückt hatte. Den Koffer legte ich auf das Bett. Voller Spannung öffnete ich die breiten Riemenschnallen und klappte den Deckel zurück, ohne zu wissen, was mich erwartete. Obenauf lag eine Uniformmütze, darunter eine säuberlich zusammengefaltete Uniformjacke aus festem dunkelblauem Wollstoff. Sechs große Messingknöpfe schimmerten matt im Licht der Petroleumlampe auf dem Nachttisch. In jeden Knopf war das Wappen, das ich nun bereits zweimal gesehen hatte, eingestanzt, die beiden Basstölpel mit der Krone darüber - das Wappen der Inselleute, wie ich inzwischen wusste. Auf der Jacke ein zusammengefaltetes Stück Papier. Ich hob es auf und faltete es auseinander. Zum ersten Mal erblickte ich John Osbornes Handschrift. Es war eine Kopie seines Testaments. Die wenigen Sätze waren in einer steilen, klaren Kursivschrift auf das Papier niedergeschrieben. Der Text war kurz und bestand nur aus einigen wenigen, aber präzisen Sätzen, in denen er verfügte, das seine ganze irdische Habe seinem Neffen Peter Alexander Osborne übereignet werden sollte. Ich überflog die wenigen Zeilen zwei- oder dreimal. Dann legte ich das Blatt zur Seite und begann, den Inhalt des Koffers auf dem Bett auszubreiten. Unter der Uniformjacke, auf einer Hose aus dem gleichen Stoff, lagen zwei Paar Schuhe, fest in braunes Packpapier gewickelt. Das eine Paar war schwarz und auf Hochglanz poliert, das andere derbe Arbeitsstiefel mit großen grauweißen Flecken darauf. An den Sohlen, zwischen den Profilrippen, klebte getrockneter Vogelkot mit kleinen Federresten dazwischen. Es folgte ein dicker weißer Seemannspullover mit Rollkragen, zwei Paar Wollstrümpfe, Unterwäsche, ein altmodischer Rasierapparat, ein Päckchen von einem Bindfaden sorgfältig zusammengehaltener Briefe und zwei gerahmte Fotografien. Das eine Bild, etwas überbelichtet, zeigte zwei Männer vor einem großen dunklen Schild. Beide trugen Uniformmützen und blickten direkt in die Kamera. Nach dem Text auf dem Schild zu urteilen, musste die Aufnahme auf Ichaboe entstanden sein. Auf dem Schild stand:
NOTICE.
This Island of Ichaboe is this day taken possession of for, and in
The name of Her Britannic Majesty Queen Victoria and is
Hereby declared a dependency of the Cape of Good Hope.
21st June 1861. Sd. OLIVER J.JONES
CAPTAIN H.B.M.S. FURIOUS
All claims to right of Soil or territory on ICHABOE are to be
made to His Excellency the Governor of the Cape of Good Hope
GOD SAVE THE QUEEN
Es war die Proklamation der Inbesitznahme Ichaboes durch die englische Krone. Bei welchem der beiden Männer es sich um meinen Onkel handelte, war unschwer zu erkennen. Die Ähnlichkeit mit mir war zu offensichtlich und das beunruhigte mich auf eine seltsame Weise.
Das zweite Foto, ein ovales Bild in einem silbernen Rahmen, zeigte das Porträt einer Frau. Sie war sehr jung und hatte ein hübsches Gesicht. Das kurze dunkle Haar wurde von einem breiten Stirnband gehalten, was ihr ein wenig das Aussehen einer Indianerin verlieh. Dieses Gesicht mit den lachenden Augen kannte ich nur zu gut – meine Mutter. Aber wie um alles in der Welt kam John Osborne zu diesem Foto? Sie müssen sich also gekannt haben. Warum hatte sie diesen Namen nie erwähnt? Gab es da noch mehr, was ich nicht wusste? Die Sache wurde immer komplizierter.
Neben den beiden Fotos lag ein fest in Ölpapier gewickeltes und verschnürtes Paket, etwa von der Größe eines Schuhkartons, nur etwas breiter. Es war ziemlich schwer für seine Größe. Ich zögerte einen Augenblick; dann, von Neugier gepackt, holte ich mein Taschenmesser hervor, durchschnitt die Schnur aus Hanf und begann, das Paket auszuwickeln. Unter dem Papier befand sich eine große flache Keksdose aus Blech. Ich öffnete sie und darin, nochmals in einen weichen Lappen eingewickelt - eine Pistole.
Ich erkannte die Waffe sofort - es war der Vater der modernen Luger. Eine 7.65er, die erste automatische Waffe ihrer Art. Ich wusste, dass sich darin ein Magazin mit acht Schuss Munition befand. Ein prächtiges Sammlerstück, aber auch die Waffe eines Killers. Ich untersuchte die Pistole. Ihre wunderbare Ausgewogenheit und der sich nach vorn verjüngende Lauf waren unverkennbar. Der Abzug und das Schloss waren länger als ihr modernes Gegenstück, aber die Schönheit lag nicht nur in ihrer Funktionalität, sondern auch in der Gravur und den Intarsien aus Gold und Platin im Griff. Sogar das halbmondförmige Rückschlagfedergehäuse trug feine Gravuren. Ich drehte die Waffe auf die andere Seite. In der Abdeckplatte über dem Rahmen war eine kreisförmige feine Gravur aus Gold - in deren Mitte, meisterhaft herausgearbeitet, die Figur einer Oryx-Antilope und darunter, tief in das Metall hineingetrieben, die kunstvoll geschwungenen Initialen A.B.
Zum Teufel noch mal, wer war nun wieder A.B? Auf jeden Fall konnte es sich nicht um die Waffe von Osborne handeln. Dann müsste es J.O. heißen. Egal, ich konnte und wollte mir jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Außerdem war ich inzwischen todmüde und morgen war auch noch ein Tag. Unter der Keksdose, ebenfalls in das Paket eingewickelt, befand sich ein in dunkles, brüchiges Leder gebundenes Buch. Es schien sehr alt zu sein. Die Seiten vergilbt, einige hatten sich bereits aufgelöst. Vorsichtig schlug ich es auf. Auf der ersten Seite konnte ich die nur sehr schwach lesbaren Worte entziffern:
Logbook of HMS Atlantic Sovereign 1734
Ein Schiffslogbuch! Vorsichtig begann ich darin zu blättern. Die erste Hälfte des Buches enthielt eine Menge Positionsangaben und, soweit ich das in der Kürze enträtseln konnte, Eintragungen über die Geschehnisse an Bord dieses Schiffes, die ich zunächst nicht weiter beachtete. Vorsichtig glitten meine Finger weiter. Ich bemühte mich, die Seiten nicht noch mehr zu beschädigen. Dann hörten die Eintragungen plötzlich auf, um auf der übernächsten Seite erneut zu beginnen, diesmal aber nicht von der gleichen Person geschrieben. Ab dieser Stelle war das alte Schiffslogbuch offenbar zu einem Tagebuch umfunktioniert worden. Es war das Tagebuch von Alexander Osborne - dem Vater meines Onkels? Ganz offensichtlich hatte ihm das Buch nicht von Anfang an zur Verfügung gestanden, denn es begann mit einer Art Zusammenfassung seiner ersten Jahre auf Ichaboe, um dann irgendwann mit der Gegenwart zu verschmelzen. Ich begann zu lesen und hatte binnen weniger Minuten alles um mich herum vergessen. Ich tauchte hinab, hinein in eine andere, längst vergangene Zeit, in die Welt von Alexander, dem ersten Osborne auf Ichaboe.
Oktober 1828
Von einem kräftigen Südwester getrieben, kämpfte sich die Antarctic stampfend die einsame Westküste des südlichen Afrika hinauf nach Norden. Der Wind riss und zerrte in den Wanten, und durch den ungeheuren Druck in den von Feuchtigkeit und Kälte steifen Segeln wurde das Schiff steuerbords so tief ins Wasser gedrückt, dass das Deck immer wieder von eisigen Wogen überspült wurde. Im grellen Licht der noch hoch am Himmel stehenden Nachmittagssonne und im Sprühdunst der aufgewühlten See war die ohnehin fast konturlose Küste im Osten nur schemenhaft zu erkennen. Außer dem Mann am Ruder befanden sich noch zwei weitere Personen auf dem Achterdeck des kleinen Schoners. Zwei Männer, die unterschiedlicher kaum sein konnten: Captain Benjamin Morrell und sein erster Maat Jonathan Mc Iver, mit seinen zweiunddreißig Jahren ein äußerst erfahrener Seemann; breit, stämmig und mit einem mächtigen kahlen Schädel, der auf einem viel zu kurzen Hals aufgepfropft schien. Morrell selbst, obwohl auch er durchaus kräftig gebaut, wirkte neben Mc Iver fast zierlich. Er hatte feine sensible Züge, kluge helle Augen, eine hohe Stirn und schwarzes, leicht gelocktes Haar. Für einen Seemann, der die meiste Zeit im Freien verbrachte, wirkte er seltsam blass.
Morrell gehörte zu jenen amerikanischen Walfängern, die bereits irgendwann im 18. Jahrhundert vor dieser namenlosen Küste auftauchten. Eine genaue Jahreszahl über ihr Erscheinen gab es nicht, da bisher noch keine Unterlagen gefunden wurden, die hierüber Aufschluss hätten geben können.
Diese amerikanischen Seeleute auf ihren kleinen Schiffen setzten sich auf ihren abenteuerlichen Reisen den gleichen Gefahren und Risiken aus wie ihre Vorgänger, die portugiesischen Entdecker dieser Gewässer, als diese sich 200 Jahre früher, auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien, tief in den Südatlantik hinunter wagten. Und doch: Von allen Seefahrern, welche die Welt je kennengelernt hatte, waren sie die schweigsamsten. Für sie war es Ehrensache, über die Wal- und Robbenfanggründe, die sie hier und anderswo entdeckten, Außenstehenden gegenüber kein Sterbenswort zu verlieren. Verschlossen und wortkarg kehrten sie mit ihren wertvollen Ladungen, bestehend aus Walöl und Robbenhäuten, in ihre Heimathäfen zurück, um schon bald und ebenso still und unspektakulär, wie sie gekommen waren, erneut in den Weiten des Ozeans zu verschwinden.
Es waren mutige, unternehmungslustige Männer, die durch ihr beharrliches Schweigen die Geschichtsbücher der Welt ganz sicher um so manch faszinierende Seite betrogen haben.
Zumindest weiß man, dass amerikanische Walfänger bereits im Jahre 1763 vor der afrikanischen Küste aufgetaucht waren, von wo aus sie weiter nach Süden vordrangen. In einigen Berichten aus dem späten 18. Jahrhundert wird der Name Woolwitch Bay, das heutige Walvis Bay, als Hafen, den sie bei ihren Fahrten anliefen, erwähnt. Diese Männer verbrachten viele Monate an den entlegensten Stränden und Inseln dieser Welt und es gab keinen Ort, der ihnen als zu einsam oder zu weit entfernt schien, wenn es dort nur genügend Wale oder Robben zu jagen gab.
Sie waren die Entdecker einer ganzen Anzahl von Inseln im südlichen Atlantik. Ihre Toten verscharrten sie einfach an einsamen Stränden im Schnee oder unter ein paar Steinen. Einzig ihre großen gusseisernen Kessel, in denen sie den Walspeck auskochten, ließen sie manchmal als stumme Zeugen ihres Wirkens in irgendwelchen gottverlassenen Buchten zurück, wo sie noch heute vor sich hin rosten. Sie beanspruchten keine Inseln oder Küsten, weder für sich noch für ihr Land, und hinterließen keinerlei Unterlagen über ihre abenteuerlichen Reisen, die sie sogar bis hinunter an die antarktische Packeisgrenze führten. Niemand berichtete über ihre Ausdauer oder die großartigen navigatorischen Leistungen, die sie auf ihren Fahrten zwischen Eisbergen und Stürmen, die mit Geschwindigkeiten von mehr als einhundert Meilen in der Stunde auf dem Südatlantik über sie hinweg fegten, bewältigten. Und doch verdienen sie dafür höchste Anerkennung.
Glücklicherweise gab es unter ihnen wenigstens einen oder zwei Kapitäne, die schließlich bereit waren, ihr fast schon mönchisches Gelübde zu brechen und über ihre Reisen zu berichten. Der erste, der die Aufmerksamkeit der Welt auf die Küste und Inseln von Südwestafrika lenkte, war eben jener Captain Benjamin Morrell aus New York, der Mann auf dem Achterdeck der Antarctic.
Eine umstrittene Gestalt in jener Zeit.
Captain Morrell, ein brillanter Navigator, erfolgreicher Robbenjäger und Händler ..., ein unterhaltsamer Schriftsteller, aber auch ein romantischer Lügner, schrieb ein amerikanischer Kritiker über ihn im Jahre 1822. Ein anderer nannte ihn gar den amerikanischen Münchhausen.
Charles Enderby, Inhaber der in Großbritannien überaus bekannten Walfang-und Robbenpelzfirma Enderby Brothers, sagte einmal öffentlich: Ich habe so viel über diesen Morrell gehört, dass ich es nicht für ratsam halte, mit ihm jemals irgendeine wie auch immer geartete geschäftliche Verbindung einzugehen.
Morrell war über viele Meere gesegelt. Einige Male hatte ihn seine Frau begleitet. Erstmals wurde man auf ihn aufmerksam, als er im Jahre 1823 eine bemerkenswerte Reise in die Antarktis unternahm, die noch heute die Geografen beschäftigt. Im Sommer jenes Jahres befand er sich mit seinem Schoner Wasp auf Robbenjagd vor den Kerguelen, einer kleinen Inselgruppe im südlichen Indischen Ozean, als er sich entschloss, weiter westwärts zu den eisbedeckten South-Sandwich Inseln zu segeln.
Seinem Logbuch und eigenen Angaben zufolge führte ihn diese Reise noch ein ganzes Stück weiter nach Süden, als es vor ihm je einem anderen Schiff gelungen war - und es ist durchaus möglich, dass er als erster Amerikaner den antarktischen Kontinent zu Gesicht bekam. Es war während einer sogenannten offenen Saison und Morrell befand sich so weit südlich, dass sein Schiff häufig von gewaltigen Eisinseln eingeschlossen war. Für seine Fahrt zu den South Sandwich Inseln benötigte er 66 Tage. Nahezu täglich fegten Schnee- oder Hagelstürme über die Wasp hinweg. Morrell berichtete, dass er noch weiter nach Süden gesegelt wäre, hätte er über die für ein solches Unternehmen notwendigen Navigationsinstrumente verfügt.
Als er sein Ziel erreichte, fand er dort zwar keine Robben, stattdessen entdeckte er an den Küsten etliche natürliche Häfen und einige Vulkane. Als er die Öffentlichkeit über seine Entdeckungen informierte, nannte man ihn einen Lügner. Seitdem wurden jedoch viele Details aus seinen Berichten von anderen, die nach ihm dort waren, bestätigt. Während dieser, aber auch auf seinen späteren Reisen, hat Morrell immer wieder nach angeblich vorhandenen Inseln, die von anderen „gesichtet" worden waren, gesucht. Einige von ihnen erklärte er für nicht existent - zum Beispiel die Auroras und die Insel Sachsenberg. Und er behielt Recht. Bei beiden musste es sich wohl um Wolkengebilde oder andere Phänomene gehandelt haben, die fälschlicherweise für Land gehalten wurden. Inzwischen wurden sie aus den Seekarten gestrichen.
Die Existenz einer dieser angeblichen Inseln jedoch, nämlich Bouvet Island, einer einzelnen aus dem Südatlantik herausragenden Bergspitze, konnte er dagegen bestätigen. Die Insel ist selbst mit modernen Sextanten und Chronometern nur schwer zu entdecken.
Wie gesagt, ein ungewöhnlicher Mann, dieser Captain Morrell.
Vor wenigen Tagen waren sie aus dem Hafen von Kapstadt ausgelaufen, wo sie erst vor kurzem, von New York kommend, nach einem Abstecher zu den Kapverdischen Inseln eingetroffen waren. Die Mannschaft, müde und erschöpft von der langen Reise, hatte sich auf eine längere Verschnaufpause am Kap gefreut, aber diese wurde ihnen nicht gegönnt. Morrell, getrieben von steter Unrast und einem eisernen Willen, hatte es dort nur gerade so lange ausgehalten, wie sie benötigten, um frisches Wasser und Proviant aufzunehmen. Er trieb seine Männer zur Eile. Sie schufteten von früh bis spät, um alles Nötige an Bord zu schaffen und zu verstauen. So dauerte ihr Aufenthalt in diesem brodelnden Hexenkessel am äußersten Ende der Welt nur ganze sechs Tage.
Als sie erfuhren, wie bald es wieder losgehen sollte, stahlen sich zwei Besatzungsmitglieder in einer mondlosen Nacht von Bord. Sie wollten der Eintönigkeit auf See wenigstens für eine Weile entfliehen und hielten sich so lange versteckt, bis ihr Schiff den Hafen verlassen hatte. Ein alltäglicher Vorgang in jener Zeit; war doch der Reiz, den diese Stadt auf viele Seeleute ausübte, unwiderstehlich.
Kapstadt! Am südlichsten Zipfel Afrikas gelegen, auch Kap der Guten Hoffnung oder Kap der Stürme genannt. Beide Bezeichnungen trägt diese Stadt zu Recht. Reichtum und Elend lagen hier dicht beieinander. Die prächtige Hauptstraße, die Heerengracht mit ihren eleganten Geschäften und dem gepflegten Park entlang der Strand Street - tagsüber wurde sie von schönen Frauen in bunten, duftigen Kleidern, von Kaufleuten, Schiffskapitänen und Offizieren der nahen Militärgarnison bevölkert. Hier traf man sich; hier hatten sie ihre Clubs und „Captains Rooms".
Nur wenige Schritte von der vornehmen Heerengracht entfernt verlief die Breèstreet. Wer sich hierher verirrte, fand sich plötzlich in eine andere Welt versetzt. Es war die Welt der Seeleute und Habenichtse. Hier herrschte ein Völkergemisch, so schrill und bunt, wie es nur eine Hafenstadt wie diese hervorbringen konnte. Der untere Teil der Breèstreet war ebenso heruntergekommen und verdreckt wie der Ratcliff Highway, eine Straße, die von der Breèstreet abknickte und direkt hinunter ans Meer und von dort hinaus in alle Himmelsrichtungen führte. Hier trafen sich Männer aus allen Ecken und Winkeln dieser Erde. Hier soffen und hurten sie und hier bestahlen sie sich gegenseitig, um dann wieder für eine Weile auf ihren Seelenverkäufern aufs Meer hinaus zu verschwinden. Menschliches Treib- und Strandgut, die meisten von ihnen vom Schicksal ans Ufer dieses ungewöhnlichen Schmelztiegels am Fuße des Tafelberges gespült und vergessen. Viele von ihnen ohne Heuer. Sobald ihre Schiffe die Bucht verlassen hatten, verdingten sich einige von ihnen als Hafenarbeiter. Andere hielten sich mit kleineren Diebstählen über Wasser. Der Rest versuchte sein Glück und verschwand ins Hinterland. Die meisten von ihnen hat man nie wieder gesehen. Sie blieben für immer verschollen, aufgesogen von den geheimnisvollen Weiten Afrikas.
Die Breèstreet säumten Spelunken allerübelster Sorte - sogenannte Boarding Houses, die in kurzer Zeit wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Hier versoffen die Seeleute ihren letzten Penny, bevor sie wieder auf ihre Schiffe zurückwankten, zurück zu monatelanger Eintönigkeit, aber auch zu unmenschlich harter Arbeit an Bord bei Hitze, Sturm und Kälte.
In den Tavernen und Boarding Houses ging es hoch her. Das lärmende Gegröle der angetrunkenen Männer drang bis tief in die Nacht auf die Straße und die „Damen des Hauses" umschwirrten sie so lange, bis ihre Geldbeutel restlos geleert waren. Natürlich wussten diese Männer, was hier mit ihnen geschah, aber es machte ihnen nichts aus. War es doch genau das, wovon sie auf See, während unendlich langer Nächte in Isolation und Einsamkeit unter Deck in ihren feuchten, übelriechenden Kojen und Hängematten, träumten. Einen schlanken, glatten Arm um die Schulter oder die weiche Schwellung einer Frauenbrust in der Hand zu spüren. Oh Gott! Allzu gern gäbe jeder von ihnen dafür seinen letzten Penny, und sei es nur für ein paar Stunden, die sie die raue Wirklichkeit vergessen ließen.
Als Ersatz für die beiden verschwundenen Seeleute nahm Morrell einen Fischer aus der Gegend namens Kalkuhn an Bord, einen dünnen, fast mageren gelben Mann mit verkümmerter Nase und schräggestellten Augen. Er hatte ein verkrüppeltes Ohr - eine krebsrote Wucherung dort, wo normalerweise die Ohrmuschel war. Sie erinnerte ein wenig an den karbunkelartigen Lappen eines Truthahns. Vielleicht daher sein Name Kalkuhn, der in der Sprache der Buren nichts anderes als Truthahn bedeutet. Eine schwarze Ölhaut schlotterte ihm um seinen dürren Körper. Ein echter Hottentotten-Nomade.
Der zweite Ersatzmann war der Engländer Alexander Osborne, ein kräftiger und erfahrener junger Seemann mit pechschwarzem Lockenkopf und leuchtend blauen Augen. Sein Schiff, die Dreimastbark Southern Cross, war erst vor wenigen Monaten mit einer Ladung Waliser Kohle an Bord in die Tafelbucht eingelaufen. Er war auf die gleiche Weise wie so viele vor ihm hier hängen geblieben - hatte sich eines Tages im Morgengrauen von Bord geschlichen und solange versteckt, bis sein Schiff den Hafen wieder verlassen hatte.
Als jüngstes von elf Geschwistern in einem kleinen Dorf in Sussex geboren, trieben ihn Armut und Not bereits als Elfjährigen aus dem Elternhaus. Er schlug sich zunächst nach Portsmouth durch, von wo aus er eine Weile auf britischen Handelsschiffen über die Weltmeere segelte. Als sie Kapstadt erreichten, war er siebzehn und auf See bereits ein „alter Hase". Der Anblick des mächtigen Tafelberges beeindruckte ihn zutiefst. Noch nie hatte er einen schöneren Ort gesehen. Er fand das Gewühle im Hafen und den umliegenden Straßen ungeheuer aufregend. Die Sonne schien warm von einem strahlend blauen Himmel auf seinen nackten Oberkörper, als er über den gepflasterten Platz vor den Lagerschuppen am Hafen schlenderte. Hier boten Straßenhändler aller Schattierungen und Sprachen lärmend ihre Waren feil. Sie verkauften riesige Langusten für einen Penny das Stück. Es gab gekochte Pinguineier, Tüten mit Rooibostee, eingemachte saure Feigen, Fischfrikadellen und Konfeit, in Sirup gekochte und darin eingelegte Wassermelonenschalen. Den rauen Kapbrandy bekam man für Sixpence die Flasche.
Er blickte den Ratcliff Highway hinauf zur Breèstreet, hinter der die gewaltige schiefergraue Kulisse des Tafelbergs emporwuchs. Sanft ansteigend und dicht bewaldet zunächst, um dann kahl und schroff fast senkrecht in den klaren Himmel zu stoßen. Oben war der Berg in der Tat flach wie ein Tisch; genauso, wie es ihm die Seeleute, die schon einmal hier waren, erzählt hatten. Ein gläserner, blassblauer Himmel wölbte sich über diese wunderbare Stadt.
Noch am gleichen Tag beschloss er, sein Schiff zu verlassen und einige Zeit hier zu verweilen. Wieder an Bord, packte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen und ließ sich am nächsten Morgen noch vor Tagesanbruch lautlos über die Reling gleiten. Er versteckte sich auf einem kleinen Kutter mit einem spanischen Skipper, der nicht weit von der Southern Cross entfernt festgemacht hatte. Er wusste, dass er sich so lange verbergen musste, bis sein eigenes Schiff ausgelaufen war. Als das geschehen war, gab er sich zu erkennen. Der Skipper, selbst einmal auf ähnliche Weise hier „eingereist", hatte Mitleid mit dem Jungen und ließ ihn an Bord bleiben. Sie segelten die Küste hinauf nach Norden und zwölf Tage später wieder hinunter. Zurück in Kapstadt, wurde er von der Polizei entdeckt.
„Du hast Glück", meinten sie, „dein Schiff ist weg. Treib dich nicht herum und such dir eine Arbeit, dann passiert dir nichts.“
Und so kam er ans Kap. Er beherzigte den Rat, den ihm die Polizeibeamten gegeben hatten und machte sich an Land auf die Suche nach einer Arbeit.
In der Tafelbucht wurden gerade einige gestrandete Schiffsrümpfe abgewrackt. Hier fand er, was er suchte. Leider dauerte der Job nicht sehr lange; er musste sich nach einer neuen Heuer umsehen. Im Hafen lag der Schoner Antarctic. Die Mannschaft löschte eine Ladung Robbenfelle und nahm Wasser und Proviant auf. Osborne sprang an Bord, ging mutig auf Captain Morrell zu, tippte sich an die Mütze, unter der keck eine schwarze Locke hervorlugte, und sagte: „Thank you for a job, Sir.“ Morrell musterte den jungen Mann von oben bis unten. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über seine Züge. Er nickte. Der Junge kam ihm wie gerufen.
Fünf Minuten später schleppte er schwere Packen mit stinkenden Robbenfellen vom Schiff hinunter in einen nahegelegenen Schuppen am Kai und volle Kisten mit Proviant an Bord. Zwei Tage später, mit der Nachmittagsflut, liefen sie aus. Ihr Ziel waren die Fanggründe entlang der südwestafrikanischen Küste nördlich des Oranje. Die See war ruhig und von der untergehenden Sonne zinnoberrot gefärbt, als sie die schützende Tafelbucht hinter sich ließen und das Schiff von der leichten Dünung erfasst wurde.
Sie segelten die Küste hinauf und erreichten zwei Tage später den Olifants River, dessen Mündung Morrell auf seine Schiffbarkeit untersuchen wollte. Am nächsten Morgen entdeckten sie etwa drei Meilen nördlich der Flussmündung einen großen Felsen, der von Robben nur so wimmelte. Hier machten sie reiche Beute und Morrell gab dem Felsen den etwas prahlerischen Namen „Morrell´s Island".
Fünf Tage später befanden sie sich auf der Höhe der Mündung des mächtigen Oranje, der die Grenze zum südwestafrikanischen Niemandsland bildete. Alexander, oder Alec, wie er genannt wurde, stand am Ruder und Captain Morrell, den Flüsse zu faszinieren schienen, untersuchte, mit dem Rücken am Mast gelehnt, durch sein Fernrohr aufmerksam die Küste.
„Osborne, gehen Sie noch ein wenig näher hinein. Die Mündung scheint von Sandbänken versperrt. Also passen Sie gut auf."
Die lange Brandungslinie war im Sprühdunst nur unklar auszumachen und tatsächlich schien die Strömung vor der Mündung ein undurchdringliches Gewirr von Sandbänken geschaffen zu haben. Jedenfalls war nicht zu erkennen, an welcher Stelle der Fluss das Meer erreichte. Sie kreuzten eine Weile vergebens hin und her.
„Schade, bei diesem Wind ist an eine Landung nicht zu denken!", rief Morrell Mc Iver zu, „kehren wir um! Ein paar Meilen südlich von hier habe ich eine kleine Bucht entdeckt. Wir werden dort ankern und auf besseres Wetter warten!"
Mc Iver rief den Männern an Deck ein paar Befehle zu und nur wenige Minuten später befanden sie sich wieder auf dem Weg in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nun hatten sie den Wind von vorn und mussten gegen ihn ankreuzen. Gegen Abend erreichten sie schließlich die kleine Bucht, von der Morrell gesprochen hatte. Sie war winzig, bot jedoch wegen einer an ihrem südlichen Ausgang etwa 150 Meter weit ins Meer hinausragenden Landzunge einen wirksamen Schutz gegen die heftigen Seen. Zwei Männer kauerten im Bug und starrten angestrengt in das dunkle, fast schwarze Wasser. Mc Iver hatte einen weiteren Mann in den Ausguck geschickt, um nach verborgenen Untiefen und Riffen auszuschauen. Behutsam tasteten sie sich in die Bucht hinein.
Dann rasselten die Anker in die Tiefe, das Schiff kam zum Stillstand und drehte den Bug in den Wind, der weiter stark aufgefrischt war.
Der nächste Tag begann grau und trübe. Dichter Nebel hatte sich über den Strand und die Bucht gelegt. Es schien, als würde er sich den ganzen Tag über halten. Gegen zehn Uhr war der Spuk jedoch vorüber. Innerhalb von nur wenigen Minuten lichtete sich der Nebel und verzog sich hinaus aufs Meer. Die plötzliche klare Grelle ließ die Schatten der hohen Felswand dahinter hart und tiefschwarz erscheinen. Die See hatte sich etwas beruhigt und Morrell hielt es deshalb nicht länger an diesem Ort. Es trieb ihn zurück an die Mündung des Oranje. Er gab Befehl, die Anker zu lichten und drei Stunden später lagen sie nur eine Kabellänge von der Brandungslinie vor der Flussmündung entfernt vor Anker. Sie ließen eines der beiden Walboote zu Wasser.
Der Fluss, übrigens der größte im südlichen Afrika, verbreiterte sich hier zu einer riesigen delta-artigen Lagune. Wie von Morrell befürchtet, war diese von der See durch ein Gewirr von unzähligen Sandbänken und Barrieren, die sich je nach Wasserstand und -menge fortwährend zu verändern schienen und in Bewegung blieben, völlig abgeschnitten.
Morrell und sechs Männer, unter ihnen auch der junge Osborne und der Fischer Kalkuhn, machten sich daran, die Flussmündung näher zu erforschen, aber so sehr sie sich auch bemühten, sie ließ sich nicht eindeutig ausmachen. Am späten Nachmittag gaben sie auf und machten sich auf den Weg zurück zum Schiff.
Am nächsten Morgen gab Morrell den Befehl zur Weiterfahrt. Sie hielten sich so nahe wie nur irgend möglich an der Küste. Kalkuhn entpuppte sich hierbei als äußerst wertvoller Navigator. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens in diesen Gewässern zugebracht und kannte sie wie kein anderer. Die Wüste, die gleich hinter dem Strand begann, wechselte ständig ihr Gesicht. Eine flache fahlgelbe Dünenlandschaft, manchmal fast durchsichtig wie Rauch, urplötzlich abgelöst von wild zerklüfteten Klippen, die schwarz und steil aus dem Meer emporwuchsen, um kurz darauf erneut zu verflachen und einer grellweißen, in der Sonne glitzernden Salzpfanne zu weichen. Ihr folgte ein Tal, in dem sich der Sand auf unheimliche Weise wie ein breiter Strom nach Norden bewegte, langsam, unaufhörlich und unerbittlich.
Am nächsten Tag erreichten sie die Bucht von Angras Juntas mit ihren orangegelben Dünen im dunstigen Hintergrund.
Die portugiesischen Seefahrer waren im 15. Jahrhundert die ersten Europäer in diesen Gewässern. Sie trafen sich manchmal in der Bucht von Angras Juntas mit den drei kleinen Inseln darin, Sinclair und Plumpudding - die dritte hatte noch keinen Namen. Später sollte sie einmal, zu Ehren einer Boardinghouse-Besitzerin in der Breëstreet, den Namen Black Sophie erhalten. Den Namen Angras Juntas hatten die Portugiesen diesem Ort einst gegeben. In solch halbwegs geschützten Buchten ankerten sie mit ihren winzigen Schiffen. Ihre Kapitäne trafen sich dann bei diesen seltenen Gelegenheiten, um Erfahrungen auszutauschen oder sich über ihre weiteren Pläne zu beraten.
An diesem Tag war die See ungewöhnlich ruhig, und auf den drei Inseln wimmelte es von Robben. Das Schlachten dauerte bis Sonnenuntergang und den ganzen nächsten Tag über. Erst am übernächsten Morgen gab Morrell das Zeichen zum Aufbruch. Das Wetter hatte gehalten und sie segelten weiter nach Norden, immer hart an der Küste entlang, ständig auf der Suche nach neuen Robbenkolonien. Wie immer hatte Mc Iver im Bug und im Ausguck Männer postiert, um das Wasser nach Riffen abzusuchen. Sie segelten an einem riesigen, etwa 70 Meter hohen, steil aus dem Meer herausragenden Felsengewölbe vorbei, das aussah wie das aufgerissene Maul eines gigantischen Krokodils, offen gehalten von einer ebenso großen Felssäule.
Immer weiter folgten sie dieser leblosen Küste nach Norden und erreichten gegen Mittag einen bizarren Alptraum aus schwarzem Fels. Die Stadt der Toten: Doodenstad, eine Ansammlung von Häusern, Straßen und Kirchen-, aus massivem Fels, von dem vorherrschenden Südwestwind in vielen Jahrmillionen geschliffen und geformt. Inmitten dieses „Häusergewirrs", eingekeilt zwischen schroffen schwarzen Klippen, lag ein Schiff oder genauer gesagt das, was davon übrig geblieben war; ein paar hölzerne Spanten, ein noch fast intaktes Heck und ein zerbrochener, abgeknickter Mast, der sich in einem Gewirr von Tauen und Leinen, die das Wrack wie ein filigranes Spinnennetz umgaben, verfangen hatte. Ein totes Schiff inmitten einer toten Stadt, in der nie jemand gelebt hatte. Die gesamte Besatzung befand sich an Deck und alle beschlich ein beklemmendes Gefühl, als die Antarctic langsam an diesem ungewöhnlichen Ort vorübersegelte.
Dahinter öffnete sich eine weite Ebene, nur hier und da von kleinen dunklen Felskuppen unterbrochen. Der Ebene folgte wieder dieses unendliche Dünenmeer, das sich von hier immer weiter nach Norden erstreckte, bis es sich im Dunst zu verlieren schien, unberührt und makellos.
Osborne erinnerte sich noch lange an diesen denkwürdigen Tag vor der Küste von Südwestafrika. Die See war immer noch ungewöhnlich ruhig. Die Antarctic machte nur langsam Fahrt und es war kurz vor Sonnenuntergang. Sie befanden sich etwa 800 Meter vom Festland entfernt. Nur das Donnern der Brandung an die unberührte Küste war bis hier draußen deutlich zu vernehmen. Die Sonne war inzwischen zu einem glutroten Feuerball zusammengeschmolzen, der nun schon ziemlich tief am Himmel hing. Bald würde sie völlig im zimtfarbenen Meer versinken.
Plötzlich begann der Himmel zu brennen. Ein atemberaubendes Schauspiel bot sich den Männern, die es an Deck miterlebten. Sie wurden erneut unruhig. Das Wasser war noch immer spiegelglatt und glitzerte erst ocker-, dann jadefarben, verschmolz mit dem Himmel zu einem Ganzen. Die Trennungslinie zwischen Himmel und Meer verschwand vollends. Beide begannen für einige Minuten in einer unglaublichen Orgie aus glühenden Rot-, Gelb- und Orangetönen zu glühen, immer heller, immer intensiver aufflammend, fortwährend neue Farbnuancen hervorbringend, bis das Schauspiel schließlich in einem lodernden Farbcrescendo seinen Höhepunkt erreichte. Dann änderten sich die Farben. Sie begannen zu verblassen, gingen zunächst in ein Erdbeer-Rosé über, um schließlich in einem sich immer dunkler färbenden Violett, wie die verlöschende Glut flüssiger Lava, dahinzuschmelzen, um dann, nach einer kurzen Dämmerung, endgültig dem Dunkel der Nacht zu weichen.
Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis diese sich lautlos über das Meer und die Wüste dahinter hinabsenkte. Vom Atlantik im Westen würde eine dunkle Nebelwand auf die Küste zukriechen und alles in kalte, schweigende Feuchtigkeit hüllen.
In den Mannschaftsquartieren unter Deck war es für die Jahreszeit ungewöhnlich schwül und stickig. Es muss etwa gegen Mitternacht gewesen sein, als Osborne vom Lärm scharrender Füße an Deck geweckt wurde und schlaftrunken den steilen Aufgang hinaufgestolpert kam. Er hatte wegen der Hitze unter Deck nicht gut geschlafen, fühlte sich genauso unbehaglich wie der Rest der Mannschaft querab dieser grimmigen Küste. Im Übrigen schien ein Gewitter in der Luft zu liegen - aber um diese Jahreszeit? An Deck fand er bereits fast die gesamte Mannschaft versammelt, wo sich ihnen erneut ein ungewöhnliches Schauspiel bot. Das Meer um das Schiff herum, vor allem das Kielwasser, leuchtete trotz der Dunkelheit wie geschmolzenes Gold. Das Deck, der Rumpf und die Aufbauten des alten Schiffes begannen plötzlich, in einem geheimnisvollen Licht zu strahlen. Die Masten und das Tauwerk hatten ihr vertrautes Dunkelbraun und Schwarz gegen königliches Grün und irisierendes Blau eingetauscht, so, als wären sie vom Zauberstab einer unsichtbaren Fee berührt worden. Die Kämme der langen, aus Südwesten hereinrollenden Wogen erstrahlten ebenso in diesem verklärten, überirdischen Licht wie ein halb überspültes Riff in ihrer Nähe, dass zum leuchtenden Diadem wurde, besetzt mit Tausenden strahlender Diamanten. Ein einsam vorbeifliegender Vogel, vielleicht ein Pelikan, glitt hell und strahlend, den Konturen der dunklen Küste folgend, durch die Luft.
„Ich mag das nicht", brummte Kalkuhn finster, „das alles bedeutet Unheil, Sir."
„Unheil?"
„Ja, Sir, zuerst dieser übertriebene Sonnenuntergang und nun dies! Ich habe so etwas schon einmal erlebt."
Er zeigte auf das sie umgebende Leuchten. „Und wie ich mich dabei fühle ..."
„Was meinst du damit - wie du dich fühlst?"
Er antwortete ein wenig verlegen: „Sir, in meiner Koje ist es stickig und heiß und hier draußen ist es kalt. In meiner Koje sollte es auch kalt sein, besonders jetzt, wo der Nebel aufkommt. Außerdem juckt meine Nase-, von innen!"
Morrell lachte: „Mann! Du bekommst eine Erkältung, weiter nichts."
„Nein, nein, Sir!" Kalkuhn blieb unruhig.
„Es ist diese verdammte Küste, Sir, und dann noch diese verrückten Farben! Ich bin nicht krank."
Auch Morrell fühlte sich unbehaglich angesichts dieses ungewöhnlichen Phänomens, aber schließlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Mit einem Mal wusste er, was es war, dieses Schauspiel, das sie nun schon eine ganze Weile in Atem hielt. Er brach in unsicheres Gelächter aus.
„Biolumineszenz! Natürlich, das war es! Meeresleuchten!"
Als am nächsten Morgen die Sonne hinter den Dünen der Namib emporstieg, war allen wohler zumute. Der Wind hatte wieder aufgefrischt und sie kamen gut voran. Gegen Mittag erreichten sie Possession, eine Insel nur wenige Meilen von der Küste entfernt. An ihrer Leeseite fanden sie einen geeigneten Ankerplatz. Morrell ruderte mit einigen Männern hinüber. Zusammen marschierten sie einmal um die ganze Insel herum, was keine große Kunst war. Sie hatte eine Länge von dreieinhalb Meilen, war 900 Meter breit und erhob sich an ihrer höchsten Stelle kaum zwanzig Meter über den Meeresspiegel. Ein kleines Stück von ihrem nördlichen Ende entfernt ragte ein Felsen aus dem Wasser, eigentlich kaum mehr als eine größere Felsspitze. Er trug den phantasievollen Namen North Island.
Im Süden entdeckten sie eine kleine Bucht mit feinem Sandstrand. Hier fanden die Männer herrlich gemaserte Achate in den unterschiedlichsten Farben, aber auch Zeugen dafür, dass sie nicht die ersten Menschen waren, die diesen verlassenen Ort besuchten: Vier mächtige gusseiserne Kessel, in denen wahrscheinlich amerikanische Walfänger einst ihren Tran gekocht haben mochten, ragten aus dem Sand heraus.
Obwohl es sich bei Possession um die größte Insel vor der südwestafrikanischen Küste handelte, entdeckten die Männer nur auf North Island einige Robben, aber es gab Millionen von Seevögeln. Basstölpel, Kormorane, Möwen und Pinguine hatten sich hier niedergelassen. Überraschend befahl Morrell seinen Leuten, in der kleinen Bucht im Süden ein Lager für die Nacht aufzuschlagen. Gegen Abend unternahm er einen langen Spaziergang über die Insel, allein. Er durchquerte sie noch einmal in ihrer gesamten Breite. Hier, auf den einsamen Hügeln von Possession, machte er eine erstaunliche Entdeckung, ein Phänomen, das sich vor Jahren auf der Insel zugetragen haben musste und das er sich nicht erklären konnte. An jenem Abend schrieb er ins Schiffslogbuch:
Auf der Oberfläche dieser Insel bemerkte ich die Auswirkungen einer Pestilenz, die ihre amphibischen Bewohner mit ebensolcher Hinterlist heimgesucht haben dürfte wie einst in Europa die asiatische Cholera die Menschen. Die Insel ist von den Kadavern vieler Tausender Pelzrobben buchstäblich überzogen. Reste ihrer Pelze haften überall an den Knochenresten dieser Tiere, welche die gesamte Insel bedecken. Sie scheinen alle mehr oder weniger gleichzeitig - meiner Schätzung nach vor etwa fünf Jahren - den Tod gefunden zu haben. Nach den ungeheuren Mengen von Knochen und Kadavern zu urteilen, muss es sich um mindestens eine halbe Million Robben gehandelt haben, die alle ein ähnliches Schicksal ereilt haben mochte.
Am nächsten Morgen untersuchte er die Insel noch einmal. Wo immer er sich befand, überall fand er diese Fellreste, vermischt mit den Zähnen und Knochen der Tiere. Viele der Knochen zerfielen, wenn er sie berührte, zu Staub.
Sie verließen Possession noch am gleichen Tag und segelten weiter nach Norden, bis in die weite Bucht von Angra Pequena hinein. Hier fanden sie auf einer kleinen Insel noch mehr Reste verendeter Robben. An diesem Tag fegte ein glühend heißer Wind, aus der Wüste im Osten kommend, über die Bucht hinweg und die Männer konnten beobachten, wie sich etwa fünf Meilen von der Küste entfernt im Landesinneren mächtige Sandwirbel bildeten. Während sie auf die Küste zutrieben, wurden diese Wirbel größer und stiegen dabei immer höher in den Himmel hinauf. Sie verließen das Land und kamen über das Wasser zu ihnen herübergewirbelt. Eine dieser Sandfontänen bewegte sich mit großer Geschwindigkeit auf das Schiff zu und raste in einer Entfernung von weniger als einer Kabellänge an der Antarctic vorbei. Sie mochte an ihrer Basis einen Durchmesser von etwa sechs oder acht Metern haben, war von konischer Form und ragte etwa 70 Meter in den Himmel. Als sie an ihnen vorbeizog, stieg die Temperatur deutlich spürbar an und ein schwefeliger Geruch begleitete sie. Das Thermometer erreichte fast 45 Grad. In einiger Entfernung von ihnen fiel die Fontäne schließlich über dem eisigen Wasser in sich zusammen. Morrell dachte an die vielen toten Robben, die sie während der beiden letzten Tage entdeckt hatten und schrieb ins Logbuch: Wäre es nicht möglich, dass die Robben in eine Reihe ähnlicher Sandfontänen geraten sind, in der sie einfach erstickten? Dies war natürlich äußerst unwahrscheinlich, aber ihm fiel keine bessere Erklärung ein. Es war ihm nicht vergönnt, das Geheimnis des Robbensterbens von Possession zu lüften.
Auf einer der Inseln in der Bucht von Angra Pequena schlugen sie einige hundert Robben. Da sich das Wetter noch immer zu halten schien, segelten sie am nächsten Tag weiter die Küste hinauf. Gegen Abend dieses 6.Oktober 1828 erreichten sie die kleine Insel Ichaboe. Sie war einigen der in dieser Gegend operierenden Seeleuten, hauptsächlich Wal- und Robbenfängern, nicht unbekannt. Der Name der Insel wird wie ein Niesen ausgesprochen: „Itcha-buuh" und ist ein Hottentottenwort, das etwa so viel bedeutet wie „einsamer Ort“.
Die Männer auf der Antarctic waren von dem Anblick, der sich ihnen durch die schier unglaubliche Zahl von Vögeln auf diesem winzigen Felsen bot, überwältigt. Von allen Inseln, die sie bisher besucht hatten, war Ichaboe die kleinste, lediglich ein winziger kalkweißer Felsen mit einer Länge von etwa einer halben Meile und vielleicht 200 Meter breit. Ihr höchster Punkt erhob sich höchstens zwölf Meter über den Meeresspiegel. Die Männer beobachteten an jenem Abend, wie die Vögel, von der See kommend, zu ihren Jahrtausende alten Nistplätzen zurückkehrten.
Morrell und seine Männer verbrachten die Nacht in der Bucht vor Anker, und als sich am nächsten Morgen der Nebel lichtete, machten sie sich daran, das trostlose Eiland näher zu untersuchen. Kalkuhn sammelte einige Dutzend Pinguineier für das Abendessen - für die Seeleute eine willkommene Abwechslung ihres Speisezettels, der im Allgemeinen vorwiegend aus gesalzenem Fleisch und steinhartem Schiffszwieback bestand.
Der Insel gegenüber, am Strand auf dem Festland, bemerkten sie eine Gruppe Menschen, die ihnen zuwinkten und Morrell beschloss, sich ihnen mit dem Walboot zu nähern. Kalkuhn saß im Bug des Bootes und beobachtete aufmerksam die Gestalten am Strand. Als sie durch die Brandung hindurch und in Rufweite waren, begann er, etwas in Nama zu ihnen hinüberzurufen. Als Antwort knatterte ihm ein wildes Stakkato von Klicklauten entgegen und Kalkuhn begann zu lachen. Dann wandte er sich an Morrell:
„Sir! Das sind Hottentotten wie ich. Sie freuen sich über unseren Besuch!"
Nachdem sie ihr Boot auf den Strand gezogen hatten, wurden sie sofort von einer lärmenden Schar kleiner gelber Männer, Frauen und nackter Kinder umringt. Die Frauen trugen Robbenblasen und -mägen, die sie mit brackigem Wasser gefüllt hatten. Männer und Frauen waren mit Robbenfellen bekleidet. Durch Kalkuhn erfuhr Morrell, dass die Hottentotten etwa vier Meilen nördlich ihre Siedlung hatten. Nachdem er das Dorf selbst besucht hatte, war er von den Möglichkeiten, die sich ihm hier boten, fasziniert. Enthusiastisch schrieb er an diesem Tag ins Logbuch:
Ein hervorragender Ort für den Walfang. Eine große Anzahl von Walen soll etwa ab Mitte Juni vor der Küste auftauchen. Auch können hier große Mengen Vogeleier genommen werden. Auf der Insel brüten Millionen von Tölpeln und Kormoranen. Die Insel selbst besteht aus vulkanischem Gestein und an ihren Stränden und denen auf dem Festland gegenüber finden sich Tausende von Pelzrobben. Wir erbeuteten binnen weniger Tage mehr als eintausend. Die Oberfläche der gesamten Insel ist mit einer Schicht Vogelmist von fünfundzwanzig Fuß bedeckt. Ganz in der Nähe gibt es eine Hottentottensiedlung, wo man jede gewünschte Menge Antilopenfleisch erstehen kann.
Zusammen mit den Hottentotten marschierte er ein Stück ins Landesinnere und notierte abermals: Die Hottentotten boten uns eine große Anzahl Leoparden- und Schakalfelle sowie Elfenbein und Straußenfedern zum Tausch an.
Morrell konnte nicht ahnen, welch dramatische Ereignisse dieser eine, von ihm so arglos zu Papier gebrachte Satz: Die Oberfläche der gesamten Insel ist mit einer Schicht Vogelmist von fünfundzwanzig Fuß bedeckt eines Tages auslösen sollte. Hier, an diesem Ort und an diesem Tage, streckte Fortuna, von ihm unbemerkt, ihre Hand nach ihm aus. Allein, er griff nicht nach ihr, er hatte sie einfach übersehen.
Bei einem weiteren Besuch des kaum eine Meile entfernte Festlands schwärmte er: Der südliche Teil der Bucht eignet sich hervorragend zur Herstellung von Trockenfleisch. Ich glaube, dass es sich außerordentlich lohnen würde, mehrere Reisen hierher zu unternehmen, um mit den Hottentotten Handel zu treiben, Wale und Robben zu erlegen und Trockenfleischvorräte herzustellen.
Für alles hatte er offene Augen und er war von diesem Ort und seinen Möglichkeiten so begeistert, dass er beschloss, hier eine Handelsstation zu gründen. Nach einer langen Beratung mit seiner Mannschaft, welche die ganze Nacht andauerte, fanden sich schließlich vier Männer bereit, diesen Außenposten am Ende der Welt aufzubauen. Bei ihnen handelte es sich um Alec Osborne, den Hottentottenfischer Kalkuhn, Mc Iver, den Maat, und einen jungen Amerikaner namens Ben Morrisson.
Am nächsten Tag begannen die Männer, aus Wrackteilen, die in Mengen auf dem Festland gegenüber herumlagen, einigen Planken aus eigenen Beständen und einem alten Segel eine Hütte zu errichten. Morrell überließ ihnen so viel Wasser und Proviant, wie er entbehren konnte, sowie eines der beiden Walboote aus Nantucket, für die Männer das wertvollste Stück, bildete es doch im Notfall ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Der Insel direkt gegenüber, ungefähr eine halbe Meile vom Strand, befand sich eine langgestreckte Salzpfanne, eingezwängt zwischen zwei mehrere Meilen langen, von Südwest nach Nordost verlaufenden Dünenkämmen. An ihrem südlichen Ende, etwa zehn Meilen entfernt, hatten die Hottentotten den Männern eine Wasserstelle gezeigt. Sie nannten sie Anichab. Das Wasser dort war brackig und schmeckte fade und abgestanden, aber wenn man sich erst einmal an den Durchfall, den der Genuss des Wassers hervorrief, gewöhnt hatte, ließ es sich durchaus trinken. Die Hottentotten lebten offensichtlich schon seit Generationen davon. Es blieb den Männern jedoch ein ewiges Geheimnis, warum diese ihre Siedlung nicht hier, in der Nähe des Wasserlochs, sondern mehr als zwölf Meilen davon entfernt gebaut hatten.
Neben einer Anzahl von Tauschobjekten, wie Messer, Äxte, Spiegel, bunte Glasperlenketten, Decken und Tabak, erhielten die zurückbleibenden Männer von Morrell zwei Gewehre, einen Revolver und eine Kiste mit Munition. Nachdem er das Kommando formell an seinen Maat Mc Iver übergeben hatte, machte er sich auf den Weg. Er segelte zunächst noch ein Stück weiter die Küste hinauf und von dort in die Heimat, wo er hoffte, seine Arbeitgeber von seinen Ideen zu überzeugen, um eines Tages mit Verstärkung hierher zurückzukehren.
Morrell sollte die Insel nie wieder sehen. Es gelang ihm nicht, seine Vorgesetzten für sein Vorhaben zu begeistern, und so waren die vier Männer, die er auf Ichaboe zurückgelassen hatte, wie gestrandete Schiffbrüchige völlig auf sich allein gestellt. Sie hatten sich inzwischen in ihrer Behausung, so gut es ging, eingerichtet.
Am schlimmsten waren die Vögel. Die Männer lebten in einem ständigen Schauer herabrieselnder Federn. Die Vögel nisteten so dicht nebeneinander, dass sie befürchten mussten, eines Tages von ihnen buchstäblich erdrückt zu werden. Sie begannen deshalb, um ihre Hütte herum einen Wall aus Steinen aufzuschichten, um wenigstens einen minimalen Schutz vor ihnen zu haben.
Das Leben auf dem winzigen Felsen wurde bald zum Albtraum. Der Südwestwind, der hier an etwa 300 Tagen im Jahr mit Sturmstärke über sie hinwegfegte, hatte ihre erbärmliche Hütte schon nach wenigen Wochen fast völlig zerstört. Das Segel wurde vom Wind täglich aufs Neue zerfetzt und sie konnten es gar nicht so schnell reparieren, wie es erneut eingerissen wurde. Die Luft war stets erfüllt vom Geschrei der Vögel und dem Tosen der Brandung. Sie mussten sich anschreien, wenn sie sich untereinander verständigen wollten. Nur nachts ebbte der Geräuschpegel ein wenig ab. Dann war es nur noch die Brandung, die mit ungeheurer Gewalt gegen die Felsen krachte. Dazu kam der entsetzliche Gestank, der von dem Vogelkot ausging.
Mc Iver, der Maat, entpuppte sich schon bald als geschickter Baumeister. Als sie am nördlichen Ende der Insel, dicht an einem kleinen Felsüberhang, eine einigermaßen windgeschützte Stelle fanden, verjagten sie die dort hausenden Robben und begannen, eine feste Unterkunft zu bauen.
Sie schichteten Steine aufeinander und fanden heraus, dass der Vogelkot, mit etwas Sand und Seewasser vermischt, einen verdammt guten Mörtel abgab. Dieser wurde in der sengenden Sonne nach kurzer Zeit steinhart. Für das Dach verwendeten sie die Planken von der alten Hütte und holten sich den noch fehlenden Rest vom Festland gegenüber. Dort lag genügend Treibholz herum. Anschließend bedeckten sie die Planken mit Segeltuch und beschwerten das Dach mit Steinen. Nun hatten sie wenigstens einen halbwegs festen Schutz vor dem ständigen Wind, den Vögeln und der Kälte, die der allnächtlich aufkommende Nebel mit sich brachte.
Als das neue „Haus" fertig war und sie sich anschickten, ihre erste Nacht darin zu verbringen, zauberte Mc Iver zur Feier des Tages zwei Flaschen Rum aus der Apothekenkiste hervor. Niemand hatte von ihrer Existenz gewusst. Fast ehrfürchtig starrten sie auf die beiden Flaschen mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Für die vier Männer, die hier nun schon seit Monaten ihr wahrhaft erbärmliches Dasein fristeten, wurde dieser Abend zu einem rauschenden Fest. Sie waren keinen Alkohol mehr gewöhnt und so befanden sie sich schon bald in heiterer, gelöster Stimmung. Die Stunden verrannen und ihre Gesänge wichen irgendwann einem weinseligen Grölen, das bis in die frühen Morgenstunden anhielt. Schließlich, von Müdigkeit und den Anstrengungen der letzten Wochen übermannt, sackte jeder dort, wo er sich gerade befand, zusammen und versank in tiefen Schlaf. Aus diesem erwachten sie erst am späten Vormittag langsam und mit einem mehr oder weniger starken Kater. Kaum munter, holte sie der Alltag wieder ein. Die Vögel kreischten, die Brandung krachte gegen die Klippen und der Sturm zerrte an ihrer primitiven Behausung.
Die nächsten Monate verbrachten sie damit, sich einigermaßen häuslich einzurichten. Um die Hütte und einem kleinen Gelände davor errichteten sie aus Steinen einen Schutzwall gegen die Vögel - der „Mörtel“ aus Vogelkot verlieh der Mauer die nötige Stabilität.
An den seltenen windstillen Tagen ruderten sie zum Festland hinüber, wo sie von den Hottentotten meist schon erwartet wurden. Dort begannen sie, wie es ihnen von Morrell aufgetragen worden war, für das Trocknen von Fleisch ein Gestell zu errichten. Das Holz dafür fanden sie am Strand. Es stammte von mehreren Schiffen, die hier gestrandet waren und über deren Schicksale nichts bekannt war. Sie rammten Pfähle in den weichen Sandboden, auf die sie Planken legten, die sie mit Lederriemen zu einer Art Gitter zusammenbanden. Dabei achteten sie darauf, dass das Gitter hoch genug und somit für Schakale und Strandwölfe außer Reichweite war. Die ganze Zeit über wurden sie von den Hottentotten dabei verständnislos beobachtetet. Als die Konstruktion endlich fertig war, erhandelten sie von den Hottentotten eine Oryx- Antilope, die diese bei der Wasserstelle von Anichab erlegt hatten.
Ben und Alec weideten die Antilope aus und schnitten das Fleisch in lange Streifen, salzten es und hängten es zum Trocknen über die Gitter. Leider erwies sich ihr Plan schon sehr bald als völlig untauglich und nicht durchführbar. Keiner von ihnen hatte vorher bedacht, dass das Fleisch durch den Wind und die fast senkrecht stehende Sonne zwar schon nach wenigen Stunden völlig ausgedörrt schien. Nachts jedoch, wenn der feuchte Nebel in die Bucht hineingekrochen kam und sich über das Land legte, sog das gesalzene Fleisch wieder so viel Feuchtigkeit aus der Luft auf, dass es bereits nach zwei bis drei Tagen verdorben war. Was die Männer auch taten, es half alles nichts - an dieser Küste ließ sich kein Fleisch an der Luft trocknen. Hinzu kam ein weiterer Umstand, der allein schon ausgereicht hätte, ihren Plan zu durchkreuzen: Der ewige Wind. Binnen weniger Minuten wirbelte er so viel feinen Dünensand auf, dass die frischen, noch feuchten Fleischstreifen von einer Sandkruste überzogen und somit ungenießbar waren. Die Hottentotten, die dem Bau des rätselhaften Holzgitters zunächst nur staunend zugesehen hatten und nun dessen Zweck erkannten, klopften sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Sie amüsierten sich köstlich. Von manchen Dingen hatten die Weißen eben keine Ahnung.
Auf Kalkuhns Frage, woher die Hottentotten ihr Trockenfleisch hätten, wiesen sie ins Landesinnere und erklärten ihm, dass einige von ihnen jedes Jahr nach der Regenzeit, also etwa im April, zum Jagen durch das Dünenmeer hinaus in die Wüste zogen zu einem Gebirge, welches sie Uri-Hauchab nannten. Ihren Darstellungen zufolge gab es dort während dieser Zeit eine Menge Wild, das sie erlegten, um es an Ort und Stelle zu trocknen. Von dort stammten auch die Leopardenfelle und Straußenfedern, die sie den Männern zum Tausch angeboten hatten.
Nun, da das Trockenfleischexperiment gescheitert war, verlegten die Männer ihre Aktivitäten auf den Tauschhandel mit Fellen und Federn und konzentrierten sich auch wieder auf das, was sie am besten konnten, die Robbenjagd - dies jedoch nur, soweit es ihnen mit ihrem kleinen Boot und seinem beschränkten Aktionsradius möglich war. Ihren kargen Speisezettel besserten sie mit Fisch, Muscheln und Vogeleiern auf. Fisch gab es in den Gewässern um die Insel in Hülle und Fülle und zwischen den Klippen fingen sie riesige Langusten. Vögel aßen sie nur in Ausnahmefällen. Der Einzige, dem sie schmeckten, war Kalkuhn. Für ihn waren die Basstölpel eine Delikatesse und gerade die schmeckten besonders tranig. Er hatte sich für diese stattlichen Vögel mit ihren langen spitzen Schnäbeln eine besonders perfide, aber effektive Fangmethode ausgedacht. Dazu muss man wissen, wie diese Vögel jagen. Sie kreisen in zehn bis zwanzig Metern Höhe suchend über dem Wasser, um sich beim Aufblitzen eines silbernen Fischleibes mit angewinkelten Flügeln in halsbrecherischem Sturzflug ins Meer zu stürzen. Sekunden später tauchen sie mit einem Fisch im Schnabel wieder auf.
Kalkuhn meinte, seine Methode sei die humanste, weil der Vogel sofort tot sei. Bevor sie mit dem Boot hinausfuhren, verschaffte er sich ein Stück Treibholz von etwa einem Meter Länge. Er befestigte einen frisch gefangenen Fisch so auf dem Holz, dass er von oben zu sehen war. An das Holz band er eine Leine. Draußen auf dem Wasser warf er das Holz mit dem Fisch darauf über Bord und ließ es an der Leine ein Stück weit hinter dem Boot hertreiben. Wenn nun ein Basstölpel den Fisch überflog, konnte er das durchtränkte Holz darunter nicht erkennen. Er sah nur den aufblitzenden Fischleib und setzte zum Sturzflug an. Beim Aufprall auf das Holz zerriss es dem Vogel den Schädel und brach ihm augenblicklich das Genick. Kalkuhn balgte den Vogel ab und wiederholte den Vorgang, bis er genügend Tölpel zusammen hatte, die er salzte und anschließend auf dem Dach ihrer Behausung auslegte. Dass dabei das Fleisch ebenfalls zu faulen anfing, schien weder ihm noch seinem Magen etwas anzuhaben.
Was ihnen aber allen fehlte, war frisches Gemüse, ohne das ihnen wegen des mangelnden Vitamins C die Gefahr von Skorbut drohte. Ihre Vorräte an Zitronensaft hüteten sie daher wie einen kostbaren Schatz und jeden Abend verabreichte Mc Iver den Männern ihre genau abgemessene Ration.
Eines Tages fand Morrisson an einer alten Gemüsekiste die am Kistenrand verkrusteten zerquetschten Reste einer Tomate. Er feuchtete die Stelle an, um die Kerne leichter vom Kistenrand lösen zu können. Dann legte er sie zum Trocknen vorsichtig auf einen Stein in die Sonne. Er hockte sich daneben und jeder Vogel, der sich in die Nähe traute, wurde von ihm mit wilden Gebärden und lautem Gebrüll verscheucht. Am Abend in der Hütte stellte er bei einer genauen Untersuchung fest, dass acht der Kerne intakt waren. Alle anderen waren zu sehr beschädigt und daher für seine Zwecke, die ihm zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht ganz klar waren, ungeeignet.
Seine drei Kameraden beobachteten ihn und wussten nicht so recht, was sie von seiner Begeisterung über den Fund halten sollten, ließen ihn jedoch gewähren. Morrisson verstaute die Kerne sorgfältig in seiner Tabaksdose. Am nächsten Morgen begann er, eine Art „Gemüsebeet" anzulegen. Neben einem flachen Felsüberhang, unter dem der Wind eine kleine Düne angeweht hatte, fand er eine Stelle, die ihm geeignet schien.
Mit dem Messer lockerte er die unter dem Sand befindliche „Erde" auf und vermischte sie mit Dünensand. Morrisson hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was er tat und handelte rein intuitiv. Er konnte nicht wissen, dass die Erde, in die er seine Tomatenkerne stecken wollte, zum größten Teil aus Guano, also dem besten Dünger der Welt, bestand. In der reinen Form, wie er hier vorkam, wäre er für die empfindlichen Pflänzchen jedoch zu scharf gewesen. Er befeuchtete den so vorbereiteten Boden mit dem brackigen Wasser, das sie sich von der Quelle bei Anichab geholt hatten. Vorsichtig nahm er vier Kerne aus der Tabaksdose heraus und steckte sie einzeln etwa zwei Zoll tief in den weichen Boden. Anschließend bedeckte er jeden Kern sorgfältig mit feuchter Erde. Inzwischen hatte Morrissons Enthusiasmus die anderen angesteckt und Mc Iver räumte dem „Tomatenanbau" höchste Priorität ein. Dabei benahmen sich die Männer wie die Kinder. An den folgenden Tagen führte sie morgens ihr erster Gang stets an das winzige „Beet" im Lee der kleinen Hütte
Am Mittag des neunten Tages, die Männer waren gerade beim Mittagessen, wurden sie vom lauten Gebrüll Morrissons aufgeschreckt. Mc Iver, Osborne und Kalkuhn stürzten ins Freie, wo sie ihren Kameraden auf den Knien vor dem Tomatenbeet fanden.
„Verdammt! Verdammt! Verdammt!", schrie er, „es ist alles zerstört!"
Und so war es. Das Beet war völlig ruiniert; wie ein Huhn hatte eine Möwe darin herumgescharrt. Sie musste die zarten Keimlinge unter der Oberfläche aufgespürt und gefressen haben. Niemand wusste das genau. Jedenfalls war das Beet und damit ihre Hoffnungen, bald eigene Tomaten zu ernten, dahin.
Morrisson war außer sich und den ganzen Tag über nicht mehr ansprechbar. Immer wieder kroch er auf allen Vieren über das Beet und untersuchte jeden Erdkrumen einzeln, in der Hoffnung, vielleicht doch noch einen der kostbaren Kerne zu finden. Umsonst. Er fand weder Kern noch Keimling.
Vier Kerne waren ihnen noch geblieben und sie beschlossen, über die Hütte und das gesamte ummauerte Gelände ein feinmaschiges Fischernetz zu spannen. Bei Tagesanbruch begannen sie mit der Arbeit. Zunächst hievten sie das Netz auf das Hüttendach. Dann zogen sie es über die Hütte und die Mauer hinweg und befestigten es mit Seilen und Steinen. Morrisson wurde nicht müde, das Netz immer wieder auf eventuelle Schlupflöcher zu kontrollieren. Sie brauchten zwei Tage, bis sie es endlich geschafft hatten und Morrisson mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden war.
Das Netz hatte einen angenehmen Nebeneffekt. Im Bereich der Hütte waren sie von nun an vor den lästigen Federn geschützt, die unentwegt auf sie herabrieselten. Diese verfingen sich im Netz. Bald war es von einer dünnen Federschicht bedeckt und es entstand auf diese Weise ein angenehmer Halbschatten, der allerdings vom Wind immer wieder weggeweht wurde. Das Beet wurde erneut vorbereitet. Morrisson holte die vier letzten Tomatenkerne hervor und steckte sie vorsichtig in das Erdreich. Er markierte die Stellen mit winzigen Steinchen und das Warten begann erneut.
Jeden Morgen das gleiche Ritual. Der erste Weg führte nach draußen ans „Beet" - und jeden Morgen die gleichen enttäuschten Gesichter. Nichts. Vielleicht hatten sie zu viel gegossen oder zu wenig? Keiner kannte sich mit dem Anbau dieser neuen Frucht aus Mittelamerika aus, die erst vor kurzem ihren Weg ans Kap gefunden hatte. Die Tage vergingen und sie hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, als Kalkuhn am Morgen des zwölften Tages aufgeregt in die Hütte gestürmt kam.
„Es ist eine da!", brüllte er.
„Wer ist da?", fragte Osborne noch völlig schlaftrunken.
„Eine Pflanze, Mann! Es ist eine aufgegangen!", rief Kalkuhn.
Die Männer stürzten ins Freie und tatsächlich! Neben einer der markierten Stellen lugte ein winziges hellgrünes Etwas aus der Erde. Hauchdünn und in der Form eines winzigen Hakens. Kein Zweifel! Das erste Pflänzchen war aufgegangen. Am nächsten Morgen hatten sich am Ende des Hakens, der sich über Nacht aufgerichtet hatte, zwei winzige Keimblättchen geöffnet.
Morrisson wurde für die nächsten Tage von allen weiteren Aufgaben freigestellt. Er sollte sich von nun an ausschließlich um die Pflanzen kümmern. Er setzte sich auf einen Stein neben das Beet und behandelte das winzige Pflänzchen so zärtlich, als ob es sich dabei um ein neugeborenes Baby handelte. Jeden Morgen, wenn sich der Nebel verzogen hatte und die Sonne grell und unbarmherzig auf die Insel zu brennen begann, sorgte er dafür, dass das Pflänzchen genügend Schatten hatte. Er befestigte einen alten Segeltuchfetzen an einem Stock und steckte diesen in die Erde. Wenn die Pflanze nach einer Weile aus dem Schatten heraustrat, verschob er den Stock entsprechend. Zwischendurch begoss er sie vorsichtig. Inzwischen hatte sich ein zweites Blätterpaar gebildet. Dieses sah aus wie ein winziges Tomatenblatt.
Am nächsten Tag waren noch zwei Pflänzchen aufgegangen und einen weiteren Tag später auch die letzte. Morrisson benahm sich wie eine Glucke mit ihren Küken und ließ das Beet keinen Augenblick aus den Augen. Die Pflanzen entwickelten sich prächtig und schon nach wenigen Wochen waren aus ihnen kleine Sträucher geworden.
Eines Tages zeigten sich die ersten gelben Blüten, aus denen sich einige Zeit später winzige grüne Früchte bildeten. Sie wurden überraschend schnell größer und mit der Zeit drückte das Gewicht der Früchte die Zweige auf den Boden. Um zu vermeiden, dass sie brachen, schnitzte Morrisson lange Späne, die er neben die Pflanzen in die Erde steckte, um ihnen Halt zu geben. Nach etwa zehn Wochen schimmerten die Früchte zartrosa und bald leuchteten sie in sattem Rot zwischen den grünen Blättern. Ein paar Wochen später konnten die Männer ihre ersten selbst gezogenen Tomaten, die übrigens eine stattliche Größe erreicht hatten, ernten. Morrisson nahm die ersten drei Exemplare an sich, schnitt sie auf und entfernte die Kerne, um sie anschließend an einer geschützten Stelle zum Trocknen auszulegen. Damit war der Grundstock für den eigenen Tomatenanbau gelegt.
Während dieser Zeit waren auch Alec und Kalkuhn nicht untätig geblieben. Sie hatten damit begonnen, eine Art Lagerschuppen zu errichten. Die Bauweise war die gleiche wie bei der Hütte. Sie schichteten herumliegende Steine aufeinander und verschmierten die Fugen mit dem bewährten Mörtel aus Wasser und Vogelkot. In dem Schuppen wollten sie bis zu Morrells Rückkehr die erbeuteten Robbenfelle und alles, was sie durch den Handel mit den Hottentotten erhielten, lagern. Der Bau des Lagers und die Aufzucht ihrer ersten Tomaten hielten die Männer eine Weile beschäftigt, so dass sie sich nicht gegenseitig auf die Nerven gingen. Ansonsten waren es Monate voller Monotonie und Langeweile. Alle paar Wochen, wenn es das Wetter erlaubte, ruderten sie mit ihrem Boot nach Süden, hinunter zu den Marshal- und Seal Rocks, zwei halb überspülten Riffen, nicht weit von Ichaboe entfernt. Dort verbrachten sie die Tage mit der Robbenjagd. Zweimal während dieser ersten Monate sahen sie ein Schiff vorbeifahren. Beide Male handelte es sich um Walfänger, die aber viel zu weit entfernt waren, um die Männer zu bemerken.
Inzwischen war im Binnenland die Regenzeit angebrochen. Jeden Tag konnten sie beobachten, wie sich am östlichen Horizont riesige weiße Wolkenpakete bildeten, die sich gegen Mittag immer höher auftürmten und zu mächtigen Gebilden in den Himmel wuchsen. Sie stiegen so hoch, dass sie ihn bisweilen ganz zu bedecken schienen. Es gab Tage, da nahm der Himmel im Osten eine drohende, tief blaugraue, fast schwarze Färbung an. Es mussten gewaltige Gewitter sein, die dort am östlichen Rand der Wüste niedergingen. Bis zu ihnen kam der Regen jedoch nie. Die Namib wirkte wie ein gewaltiges, unüberwindliches Bollwerk und manchmal dauerte es mehr als zehn Jahre, bis es einer Regenfront gelang, die Wüste zu überqueren. Die Männer machten die Entdeckung, dass der Wind während der Regenzeit häufig für längere Zeit abflaute. Es folgten dann ein paar schöne, fast windstille Tage. Diese benutzten sie, um mit dem Walboot Fahrten entlang der Küste zu unternehmen. Sie hatten das Boot inzwischen mit einem primitiven Mast versehen und ein kleines Segel daran befestigt. Es blieb immer ein Risiko, durch die gefährliche Brandung und die Strömung vor der Insel zu fahren, aber mit jeder Fahrt hinaus lernten sie die Tücken besser kennen und damit umzugehen.
Als die Männer eines Morgens im März aufwachten, bemerkten sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Zunächst konnte keiner von ihnen sagen, was an diesem Morgen anders war. Beunruhigt liefen sie hinaus ins Freie. Es war merkwürdig still. Überdeutlich donnerte die Brandung gegen die Felsen, aber das Kreischen und Gezänk der Vögel fehlte. Sie waren fort. Die Insel hatte sich über Nacht verändert, war nur noch ein großer, nackter Felsen im Meer, der durch den Vogelkot die Farbe von gebleichten Knochen angenommen hatte. Lediglich an ihrem höchsten Punkt drängte sich, wie sonst auch, eine kleine Pinguinkolonie, aber die vielen Millionen Tölpel, Taucher und Kormorane, die sonst die Insel bevölkerten und von denen sie buchstäblich bedeckt war, waren verschwunden. Zunächst konnten sich das die Männer nicht erklären. Als sich jedoch der Nebel vollends aufgelöst hatte und ihnen durch das grelle Weiß des Guanos die Augen zu schmerzen begannen, bemerkten sie die Bewegung am Himmel. Welle um Welle zogen sie nach Norden. Vermutlich handelte es sich dabei um die Vögel von den weiter südlich gelegenen Inseln. Es mussten buchstäblich Millionen sein, die an diesem Tage an Ichaboe vorbeizogen.
Und so wie sie fortgezogen waren, würden sie eines Tages, wenn der Winter vorüber war, zurückkehren und die Luft mit ihren Schreien füllen, die jedes andere Geräusch erstickten. Aber das konnten die Männer an jenem Tage noch nicht ahnen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass alle Vögel am selben Tag wiederkehren würden, um an genau der Stelle, die sie bereits im Jahr zuvor innehatten, zu nisten.
Die Insel gehörte nun für eine Weile den Pinguinen und den Möwen ganz allein. Für die Männer war es eine Wohltat, nicht bei jedem Schritt von einem Schnabel in die Waden gehackt zu werden. Auch die Pinguine schienen es zu genießen. Normalerweise bildeten sie eine bedauernswerte Minderheit, die in der Regel von den Tölpeln und anderen Seevögeln auf Ichaboe gerade noch toleriert wurde, vorausgesetzt, sie hielten sich an die schmalen, ihnen zugewiesenen Pfade vom Strand zu ihren Gelegen, auf denen sie sich wie Aristokraten im Abendanzug bewegten, dazu verdammt, in einer winzigen Ecke eines Gebietes zu leben, das ihre verschwundenen Vorfahren einstmals allein beherrschten. Die ganze Küste entlang fand man Inseln, von denen die Pinguine bereits vollständig vertrieben worden waren.
Als sich am nächsten Morgen der Nebel lichtete, kam ein alter Robbenfänger langsam in die Bucht gesegelt. Es war die Sea Witch aus New York und sie war offensichtlich nicht zum ersten Mal hier. Die Geschicklichkeit, mit welcher das Schiff durch die enge Einfahrt in die Bucht manövriert wurde, setzte eine genaue Kenntnis der Untiefen, die es hier in großer Zahl unter der Wasseroberfläche gab, voraus.
Als das Schiff eine geeignete Stelle erreicht hatte, rasselten die Anker in die Tiefe. Es war merkwürdig still an Bord. Keine lauten Rufe oder Befehle und nur selten eine Bewegung an Deck. Das Schiff, schwarz angestrichen, rollte in der schweren Dünung, die selbst hier in der relativ geschützten Bucht noch beträchtlich war, hin und her. Am frühen Nachmittag brach plötzlich ein New Bedford-Flachkieler hinter dem Schiff hervor. Fünf Männer saßen in dem Boot, das von drei Ruderpaaren, in absolut gleichmäßigem Rhythmus gezogen, mühelos über das Wasser auf die Insel zuglitt. Im Boot befanden sich der Kapitän, sein erster Maat und drei Matrosen. Mc Iver und seine Leute erwarteten sie am Strand, dort, wo auch ihr eigenes Walboot lag.
Der Kapitän, ein großer, breitschultriger Mann, verließ das Boot als Erster. Ein schmaler weißer Haarkranz zierte seinen ansonsten völlig kahlen Schädel. Er trug Mokassins und einen schwarzen Anzug aus schimmerndem Robbenfell. Der Kragen rahmte das Gesicht ein. Über seinem rechten Wangenknochen wölbte sich ein kleiner Fleischwulst, so, als hätte der Wind die Haut an dieser Stelle aufgeworfen.
Zielbewusst ging er auf Mc Iver zu und streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich bin Captain Aldridge. Wir kommen geradeswegs aus New York und ich soll Sie von Captain Morrell grüßen“, sagte er mit ruhiger sympathischer Stimme.
„Mc Iver," stellte sich dieser vor, „was ist mit Morrell? Wir haben seit seiner Abreise nichts mehr von ihm gehört. Ist er aufgehalten worden?"
„Nein", sagte Aldridge, „er wird nicht wieder hierher zurückkommen. Seine Vorgesetzten sind der Meinung, dass sich sein Vorhaben, hier eine Handelsstation aufzubauen, nicht lohnt. Sie haben es deshalb abgelehnt, das Unternehmen weiter finanziell zu unterstützen. Morrell bat mich, Sie alle nach Kapstadt mitzunehmen, wenn Sie es wünschen."
Aldridges Worten folgte überraschtes Schweigen.
Dann hatte sich Mc Iver gefangen.
„Das kommt etwas plötzlich, Captain, aber ich nehme an, dass wir diese Entscheidung nicht sofort treffen müssen. Wir würden gerne eine Nacht darüber schlafen. Sicher genügt es Ihnen, wenn wir unsere Antwort darauf morgen früh geben."
„Aber natürlich. Machen Sie nur. Denken Sie in Ruhe darüber nach - obwohl ich mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen kann, dass sich jemand freiwillig zum Hierbleiben entschließen könnte“, sagte Aldridge nach einem angewiderten Blick über die trostlose kleine Insel.
Er wusste natürlich, dass die vier Männer hier noch mehr Entbehrungen erlitten haben mussten als er und seine Mannschaft an Bord seines armseligen Robbenfängers. Darum schlug er vor, ihn als seine Gäste auf sein Schiff zu begleiten. Dankend nahmen die vier Männer an. Seit fast elf Monaten harrten sie nun schon auf diesem Felsen aus, hatten außer ein paar Hottentotten keinen Menschen mehr gesehen. Für sie bedeutete diese Einladung ein ganz besonderes Ereignis. Sie zogen sich um und machten sich so fein, wie es ihnen unter den gegebenen Umständen möglich war.
Dann stiegen sie in das Boot und ließen sich zum Schiff hinüberrudern. Der Schoner zog und zerrte an seinen beiden Ankern und rollte in der Dünung wie eine läufige Hündin. Sie kletterten an Bord und folgten Aldridge in die Kapitänskajüte. Zur Feier des Tages hatte dieser ein Fass Rum öffnen lassen und schon bald waren alle in bester Stimmung.
Aldridge erzählte den Männern, was Morrell ihm von den Hottentotten und ihrer Siedlung berichtet hatte und von den Robben, die er hier schon bei seinen früheren Reisen erbeutet hatte. Er erkundigte sich nach den Möglichkeiten, an getrocknetes Fleisch zu kommen. Vermutlich hatte Morrell ihm davon erzählt und Mc Iver berichtete von ihren gescheiterten Versuchen diesbezüglich.
Dann wurde das Essen aufgetragen. Es gab einen dicken Bohneneintopf mit gesalzenem Speck und einigen Kartoffelstückchen darin, dazu den üblichen harten Schiffszwieback, den man vor dem Verzehr an der Tischkante ausklopfen musste, um sich auf diese Weise der darin lebenden Fauna zu entledigen, kleinen Tierchen, die sich dort häuslich niedergelassen hatten. Für die vier war es ein Festessen. Morrisson erkundigte sich, ob Aldridge ihm nicht ein paar getrocknete Erbsen, Bohnen und Kartoffeln überlassen könne. Er erzählte ihm von ihrem gelungenen Versuch, Tomaten zu züchten.
Aldridge war beeindruckt, aber Morrissons Frage brachte das Gespräch wieder auf die noch offene Entscheidung der Männer. Für Aldridge war es selbstverständlich, dass sie mit ihm segeln würden. Er konnte sich keinen Grund auf der Welt vorstellen, warum jemand aus freien Stücken auf diesem gottverlassenen Felsen bleiben würde - und doch, als er die Frage erneut stellte, musste er zu seinem Erstaunen feststellen, dass zwei der Männer, nämlich Morrisson und Osborne, sich entschieden hatten, die Insel nicht zu verlassen.
„Meine Herren, haben Sie sich das auch gut überlegt?", fragte Aldridge verblüfft, „wie Ihnen inzwischen bekannt sein dürfte, liegt Ichaboe nicht gerade an einer der belebten Handelsrouten. Ich schätze, dass dies für lange Zeit Ihre letzte Chance sein wird, von hier fortzukommen."
Auch Mc Iver war von der Entscheidung der beiden völlig überrumpelt. Osborne und Morrisson sahen sich an und es schien, dass sie selbst von ihrer Absicht ebenso überrascht waren wie die anderen. Sie hatten vorher kein Wort miteinander darüber gesprochen, sondern jeder hatte seine Entscheidung unabhängig von dem anderen, ganz allein für sich, getroffen.
„Sir", antwortete Osborne, „ich kann nur für mich selbst sprechen. Auch wenn wir inzwischen festgestellt haben, dass Captain Morrells Vorhaben nicht alle durchführbar sind, hatte er meiner Meinung nach mit seiner Idee, hier eine Handelsstation zu errichten, im Großen und Ganzen Recht. Ich werde versuchen, dieses Werk zu vollenden."
Ben Morrisson nickte zustimmend. „Ja, Sir, ich bin der gleichen Meinung wie Alec. Zunächst werden wir versuchen, mit dem Gemüseanbau weiterzukommen. Der Boden ist gut und Wasser gibt es in der Umgebung auch genügend. Wir fühlen uns wohl hier und wenn ein Robbenfänger vorbeikommt, können wir ihn mit frischem Gemüse versorgen und auf diese Weise das, was wir zum Leben brauchen, eintauschen."
Mc Iver und Kalkuhn waren sprachlos. Die beiden mussten verrückt sein!
Als sie sich endlich erhoben, war es stockdunkel und dichter Nebel lag über der Bucht, so dass sie beschlossen, die Nacht an Bord zu verbringen. Es wäre zu riskant, in der Dunkelheit auf die Insel zurückzurudern.
Am nächsten Morgen plünderten Alec und Morrisson die Vorratskammer der Sea Witch. Sie fanden einige bereits keimende Kartoffeln und Zwiebeln, außerdem Kürbisse und eine Handvoll Bohnen. Aldridge schüttelte den Kopf über so viel Dummheit, konnte die beiden jedoch nicht zwingen, mit ihm zu segeln. Beide Männer waren schließlich erwachsen und hatten das Recht, selbst zu entscheiden, an welchem Ort auf dieser Welt sie ihr Leben vergeuden wollten.
Zwei Tage später war es soweit. Aldridge kam mit einigen Männern vom Schiff herübergerudert, wo er von Mc Iver, Kalkuhn, Morrisson und Osborne bereits erwartet wurde. Der Abschied voneinander fiel ihnen sichtlich schwer. Sie umarmten sich, dann stiegen Mc Iver und Kalkuhn in das kleine Boot. Aldridge winkte den beiden zu, schüttelte noch einmal den Kopf, dann gab er den Befehl abzulegen. Osborne und Morrisson blieben am Strand, bis das Boot das Schiff erreicht hatte. Dann stiegen sie langsam zum höchsten Punkt der Insel hinauf, wo sie sich auf einen kleinen Felsbrocken setzten und schweigend beobachteten, wie das Schiff die Anker lichtete, sich die Segel füllten und die Sea Witch langsam an ihnen vorbei aus der schützenden Bucht aufs offene Meer glitt und Kurs nach Süden nahm.
Die beiden beobachteten das Schiff, bis es schließlich hinter einer Landzunge verschwand. Sie sahen sich an. Ihre Mienen waren ernst und keiner sprach über die Gedanken, die ihm durch den Kopf gegangen waren, während sich das Schiff mit den Kameraden, immer kleiner werdend, von ihnen entfernte. Die See war ruhig an diesem Tag und es ging nur eine leichte Dünung.
Die ersten Wochen allein auf Ichaboe waren für die beiden Männer erfüllt von emsiger Geschäftigkeit, die sie zunächst jeden Gedanken an Einsamkeit vergessen ließ. Ben vergrößerte den Garten, indem er neue Beete anlegte und Kartoffeln, Zwiebeln, Bohnen und Kürbisse pflanzte.
Alec beschäftigte sich inzwischen damit, aus einer angetriebenen Rahe und einigen Planken, die er am Strand auf dem Festland gefunden hatte, das Boot mit einem richtigen Mast zu versehen. Für sie allein war es zum Rudern viel zu schwer. Selbst zu viert war es sehr anstrengend gewesen, das Boot in der rauen See vorwärts zu bewegen. Tagelang hämmerte und sägte er daran herum. Auf den Boden befestigte er einen dicken Klotz, in den er mit Hammer und Stecheisen ein großes rundes Loch gestemmt hatte. In dieses Loch sollte später das untere Ende des Mastes eingelassen werden. Als der Klotz an Ort und Stelle war, festigte er dessen Sitz, indem er an beiden Seiten je eine zusätzliche Spante einzog, die dazu diente, den Klotz in Position zu halten. Mit einem langen Balken, den er der Länge nach auf dem Kiel befestigte, verstärkte er die Konstruktion noch weiter und verhinderte so das Wegrutschen der Masthalterung nach allen Seiten. Dann versah er den vorderen Teil des Bootes mit einer Art Deck aus alten Planken, die er mit seinem primitiven Werkzeug zurechtzimmerte. Das Deck zog er vom Bug bis etwas über die Mitte des Bootes nach achtern. Direkt über der im Boden eingelassenen Masthalterung bohrte er ein weiteres Loch in das neu entstandene Deck und vergrößerte es so weit, bis es etwa den Durchmesser des einzusetzenden Mastes hatte. Mit Morrissons Hilfe wurde nun der Mast eingelassen. Er passte genau durch das Loch im Deck und erhielt durch die auf dem Boden angebrachte Halterung die notwendige Stabilität. Mit Seilen verbanden sie den Mast mit dem Boot. Als Nächstes begann Osborne damit, das Boot mit einem Ruder zu versehen. Diese Konstruktion nahm fast zwei Wochen in Anspruch.
In Morrissons Garten zeigten sich derweil erste Erfolge. An ein paar Zwiebeln und an den Kartoffeln spross das erste zarte Grün. Die getrockneten Kürbiskerne keimten. Nur die Bohnen ließen auf sich warten. Morrisson wachte weiterhin argwöhnisch über seine Pflänzchen. Er hegte und umsorgte sie, während Osborne sich damit beschäftigte, das Segel für das Boot zu nähen.
Inzwischen war der Juli zu Ende gegangen. Eines Tages, gegen Ende August, erbebte die Luft vom Gekreische der zurückkehrenden Vögel. Von einer Minute zur anderen füllte der Himmel sich mit Millionen flatternder weißer, grauer und schwarzer Vögel in ihrem Anflug auf die Insel.
Die beiden beobachteten das Schauspiel. Noch nie hatten sie etwas derartig Spektakuläres erlebt.
Die Vögel waren etwas über vier Monate fort gewesen und nun senkte sich eine riesige, flatternde Vogelwolke auf die Insel herab wie ein mächtiges Schneetreiben. Flocke um Flocke zerfiel die feste Wolke aus flatternden Vogelleibern in lauter Fragmente, in einzelne Vögel. Jeder Vogel bezog sein Nest vom Vorjahr. Alle kannten ihren Platz, Basstölpel, Taucher und Kormorane. Die Luft vibrierte von ihren Willkommensgrüßen. Sie watschelten ohne jegliche Furcht zwischen den Füßen der beiden Männer herum, laut kreischend, zankend, schwätzend. Nicht das kleinste freie Stück Fels war mehr zu sehen. Ichaboe war binnen weniger Stunden wieder zu einem riesigen Brutplatz geworden. Das Kreischen der Vögel übertönte wie gewohnt fast alle anderen Geräusche – selbst die Brandung hörten die Männer in ihrer Hütte nur noch gedämpft.
Drei Wochen später war Osborne mit dem Bootsumbau fertig und nun warteten sie auf gutes Wetter, um ihre erste Probefahrt zu machen. Inzwischen waren ihre Wasservorräte fast aufgebraucht und sie mussten dringend ans Festland, um sie aufzufüllen.
Als sich der Südwester etwas gelegt hatte, wuchteten sie das schwere Boot ins Wasser. Hierzu verwendeten sie eine Art Flaschenzug, den Osborne aus Tauen und Blöcken von einem Wrack hergestellt hatte. Diesen hatte er an einem Eisenpfahl befestigt, den er zusammen mit Morrisson in eine Spalte eines etwa dreißig Meter entfernt aus dem Wasser ragenden Felsens getrieben hatte. Mit Hilfe dieser Konstruktion war es ihnen möglich, das schwere Boot zu zweit und ohne fremde Hilfe ins Wasser hinein und durch Umlenkung über einen weiteren Pfahl am Strand wieder an Land zu ziehen.
Sie zogen das Segel hoch. Anfangs hatten sie noch einige Schwierigkeiten, mit dem schwerfälligen Boot umzugehen, da es sich nicht so verhielt, wie sie es erwarteten. Schließlich erreichten sie aber doch wohlbehalten das Festland, wo sie von den Hottentotten bereits erwartet und mit lauten Klicklauten begrüßt wurden. Die freundlichen kleinen gelben Männer halfen ihnen, indem sie zwei Ochsen aus ihrem Dorf holten. Die Ochsen zogen eine Art Schlitten aus abgebrochenen, mit Riemen zusammengehaltenen Rahen hinter sich her. Eine fröhlich schnatternde Schar machte sich auf den Weg über den schmalen Pfad durch die blendend weiße Salzpfanne zur Wasserstelle nach Anichab. Es war schon Mittag, als sie in einer flachen Mulde neben einer langgestreckten Düne Halt machten. Hier, am äußersten Ende der Salzpfanne, lag die kleine, schilfbewachsene Quelle.
Sie waren gerade dabei, ihre Behälter mit dem brackigem Wasser zu füllen, als Osborne spürte, wie die Hottentotten unruhig wurden. Sie wirkten plötzlich ängstlich und nervös. Oorlams, der Anführer der kleinen Gruppe, zog Osborne am Arm und führte ihn zu den Dünen in der Nähe.
„Wir uns beeilen! Kommen mit!", rief der schmächtige Hottentotte aufgeregt. Er wirkte genau so unruhig wie seine Kameraden.
„Was zum Teufel soll das? ", wollte Osborne wissen.
Der kleine gelbe Mann sah ihn eindringlich an und rannte dann einfach los. Nicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern landeinwärts, geradeswegs hinein in die Dünen. Osborne folgte ihm ärgerlich. Als der Hottentotte am Fuß der ersten Düne anlangte, war Osborne bereits 50 Meter hinter ihn zurückgefallen. Der kleine Mann wartete auf ihn, und als Alec ihn endlich schnaufend und prustend erreichte, atmete Oorlams kaum anders als sonst.
„Da vorne!", rief er und wies auf das Dünenmeer.
Osborne fehlte die Luft, um Fragen zu stellen. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Alles sah genauso aus wie vorher. Ihr fluchtartiger Marsch hinaus in die Wüste erschien ihm völlig absurd. Oorlams, gefolgt von einem schwerfälligen und fluchenden Osborne, preschte kraftvoll weiter durch den Sand, in den er bis zu den Knöcheln einsank. Es war eine Art Vorpreschen wie durch Schnee, ohne die Füße zu heben. Trotzdem ging es unheimlich schnell. Diese Art der Fortbewegung war das Markenzeichen der Wüstenwanderer oder „Sandtrapper“, wie sie in der Namib auch genannt wurden. Nach etwas weniger als einer Meile in dieses weglose Sandmeer hinein hielt Oorlams endlich inne und wartete auf Osborne.
„Sehen! Dort!", rief er und Osborne blickte in die Richtung, in die der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2015
ISBN: 978-3-7396-2444-0
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