Der Wecker riss Gina aus dem Schlaf. Müde rollte sie sich auf die Seite und tastete nach ihrem Handy.
»Mami!« Die Zwillinge Clara und Jenna warfen sich auf das Bett und zogen Ginas Bettdecke zurück. »Aufwachen Mami, wir müssen in die Schule!« Clara hüpfte auf und ab.
»Ich weiß, mein Schatz.« Gähnend setzte Gina sich auf und brauchte ein paar Sekunden, um zu sich zu finden. Schon wieder so ein nerviger Montag, der ihr alles abverlangen würde. Obwohl das Wochenende relativ entspannt war, war Gina schon wieder am Ende ihrer Kräfte.
Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und machte sich auf den Weg nach unten. Ihr Sohn Oliver saß schon am Frühstückstisch und schaufelte sich Cornflakes in den Mund.
»Guten Morgen.«
»Morgen«, brummte er mit vollem Mund.
»Vergiss nicht zu kauen«, sagte Gina sanft und strich ihm im Vorbeigehen über den Rücken. Oliver kam mit seinen vierzehn Jahren langsam in die Pubertät und verhielt sich immer mehr wie ein mürrischer Teenager.
»Ja, Mum«, grummelte er und Gina war sich sicher, dass er hinter ihrem Rücken seine Augen verdrehte.
Der Blick in den Spiegel versicherte Gina, dass sie tatsächlich aussah wie eine wandelnde Leiche. Schnell richtete sie das Vogelnest auf ihrem Kopf zu einer einigermaßen ansehnlichen Frisur und legte Schminke auf, damit man ihre dunklen Augenringe nicht sehen konnte.
Seit Jahren arbeitete sie in einer großen Kanzlei in Vancouver, die neben ihr sieben weitere Anwälte beschäftigte. Schon während ihres Jurastudiums war sie von der Liebe ihres Lebens schwanger geworden, was sie aber nicht davon abhielt, ihr Studium mit Bestnoten abzuschließen. Auch wenn sie ein Jahr länger gebraucht hatte als die meisten anderen, hatte sie ihren Traum verwirklichen können.
Aber alles kam anders als gedacht. Vor einem Jahr hatte ihr Ehemann Evan einen Autounfall, der für ihn tödlich endete. Und seitdem war alles anders als vorher. Wirklich alles.
»Kommt, wir müssen los, sonst kommt ihr zu spät zur Schule!« Gina hüpfte auf einem Bein durch den Flur und versuchte, sich ihre Pumps anzuziehen.
»Die Schule ist scheiße.« Oliver warf seinen Rucksack in die Ecke und band sich widerwillig die Schuhe.
»Warum das denn?« Gina hätte ihm gerne mehr Aufmerksamkeit geschenkt, aber die Zwillinge übertönten, was er sagte und raubten ihr schon wieder den letzten Nerv.
»Mama, wir haben heute früher aus, hat Mr. Johnson gesagt«, quäkte Jenna dazwischen.
»Ich habe heute Nachmittag ein Meeting mit meinem Boss. Ich kann euch nicht versprechen, ob ich früher da sein kann.« Gina durchwühlte ihre Handtasche nach den Autoschlüsseln. »Aber Oliver hat ja sowieso erst nach vier Uhr aus, nicht wahr mein Schatz?«
»Mhm«, grummelte er verstimmt, nahm seinen Rucksack und machte sich auf den Weg zum Auto.
Gina ließ die Kinder vor der Schule aus dem Auto.
»Bis später! Ich hole euch um vier wieder ab«, versprach sie und gab Gas, bevor einer der drei etwas hätte erwidern können. Sie war schon wieder viel zu spät dran. Das würde ihr wieder ein nerviges Gespräch mit ihrem Chef Max einbrocken.
Mit quietschenden Reifen fuhr sie in die Tiefgarage und stellte ihre G-Klasse auf dem für sie reservierten Parkplatz ab.
Schnellen Schrittes lief sie den Gang in Richtung ihres Büros entlang, als sie fast mit jemandem zusammenstieß.
»Gina.« Ihr Chef hielt sie am Arm fest und zwang sie somit, zu ihm aufzusehen. »Meine Güte, du siehst schlimm aus.«
»Dir auch einen guten Morgen, Max«, versuchte sie, die Atmosphäre etwas aufzulockern, aber die Falte auf seiner Stirn signalisierte ihr, dass das Thema für ihn noch nicht beendet war.
»Du siehst wirklich nicht gut aus. Ist alles in Ordnung mit dir? Du solltest dir mal ein paar Tage freinehmen.«
»Ja, alles bestens, so wie immer.« Schnell wandte sie sich aus seinem Griff und setzte ihren Weg fort. »Ich habe einiges zu tun und bin sowieso schon zu spät dran. Entschuldige, die Kinder haben heute Morgen wieder extrem getrödelt.«
»Übernimm dich nicht!«, hörte sie Max Stimme hinter sich, aber Gina drehte sich nicht mehr nach ihm um.
In ihrem Büro fuhr sie schnell den Laptop hoch und öffnete das Postfach. Dreiundvierzig neue E-Mails warteten darauf, bearbeitet zu werden. Leise seufzte sie und fuhr sich durch die Haare.
Im Laufe der Jahre hatte sie sich auf Miet- und Immobilienrecht spezialisiert und war mittlerweile als Fachanwältin tätig. Da sie die einzige Anwältin in der Kanzlei war, die sich mit diesen Themen auskannte, wurden alle Anfragen bezüglich dieser Rechtsthemen immer automatisch an sie weitergeleitet.
»Ich weiß nicht, wie ich das alles noch schaffen soll«, murmelte sie vor sich hin, während sie sich durch die ersten Mails klickte.
Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, war es schon halb zwölf. Gina hatte den ganzen Vormittag noch nichts getrunken oder gegessen und war nur einmal vom Stuhl aufgestanden, um das Fenster zu öffnen. Wenn sie auf ihre Arbeit fixiert war, merkte sie oft gar nicht, wie schnell die Zeit verging.
»Kaffee?« Max steckte seinen Kopf zur Tür herein. Ohne auf ihre Antwort zu warten, stellte er ihr eine Kaffeetasse auf den Schreibtisch.
»Oh, danke«, murmelte Gina, ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden.
»Brauchst du Hilfe?« Max warf einen Blick über ihre Schulter, aber Gina schüttelte mit dem Kopf.
»Das ist nett, danke, aber ich komme schon klar. Außerdem hast du selbst genug zu tun.« Kurz sah sie auf und rang sich ein Lächeln in seine Richtung ab.
»Wie du meinst. Soll ich dir für heute Mittag etwas mitbestellen?«
Gina überlegte kurz. »Einen Salat bitte. Den mit Ei und Schinken, du weißt schon.« Mehrmals die Woche bestellte sich die ganze Kanzlei Essen beim Italiener um die Ecke. Die meisten von Ginas Kollegen waren überarbeitet und wollten sich nicht die Zeit nehmen, um mittags in Ruhe essen zu gehen - genau wie sie.
»Alles klar.« Max verschwand wieder und Gina nahm ein paar Schlucke von ihrem Kaffee. Die braune Flüssigkeit rann angenehm ihre Kehle hinunter und hinterließ einen guten Geschmack in ihrem Mund. Der Kaffee war stark, genau wie sie ihn jetzt brauchte.
»Unglaublich. Eigentlich wollte er mich bis spätestens vier Uhr angerufen haben.« Max starrte wütend auf sein Handy. Seit zwei Stunden saß er in einem Meeting mit Gina, in dem sie die neuesten Fälle besprachen.
»Bis vier? Wie spät ist es denn?« Panisch tippte sie auf den Bildschirm ihres iPhones, um die Uhrzeit zu sehen.
»Halb fünf.« Max wippte ungeduldig mit dem Bein auf und ab.
»Ach du meine Güte, eigentlich hätte ich um vier Uhr an der Schule sein sollen, um die Kinder zu holen!« Gina sprang auf und sammelte ihre Unterlagen ein.
»Ach Gina.« Max verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte sie mit einem unergründlichen Blick.
»Es tut mir wirklich unendlich leid, aber ich muss los.« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ sie fluchtartig sein Büro, warf ihre Unterlagen achtlos auf den Schreibtisch und rannte fast in die Tiefgarage.
Oliver hatte sie schon drei Mal angerufen. Fast täglich arbeitete sie zu lange und die Kinder mussten auf sie warten.
»Ihr seid ja immer noch da.«
»Ja, Mr. Johnson.« Clara lächelte ihren Klassenlehrer an. Sie mochte ihn gerne. Kaum ein anderer ihrer Lehrer hatte so eine Geduld mit den Schülern, wie er. Außerdem schien ihn wirklich zu interessieren, wie es seinen Schützlingen ging. Jeden Tag fragte er sie nach ihrem Wohlbefinden, fast als hätte er ein besonderes Auge auf sie.
»Mum kommt jeden Tag zu spät, das wissen Sie doch«, grummelte Oliver, der neben Jenna auf der niedrigen Mauer vor der Schule saß.
»Ich sollte wirklich mal ein ernstes Gespräch mit eurer Mutter führen.« Langsam machte sich Weston Johnson Sorgen. Andauernd wurden die drei Richardson Kinder vergessen. Ihre Mutter schien wirklich nicht die Zuverlässigste zu sein.
»Weston, kommst du noch mal kurz?« Seine Kollegin Grace war hinter ihn getreten. »Ich wollte dich noch etwas zu der Klassenarbeit fragen, die ich morgen schreiben möchte.«
Weston drehte sich um und folgte seiner Kollegin zurück ins Gebäude. Er warf einen letzten Blick auf die drei Kinder, die immer noch auf der Mauer saßen. Vielleicht sollte er ihre Mutter wirklich mal zu einem ernsten Gespräch einladen.
Als er eine Viertelstunde später zu seinem Wagen lief, waren die drei verschwunden. Anscheinend waren sie mittlerweile abgeholt worden, was aber auch Zeit wurde, es war fast fünf. Bisher war er noch nie einem Elternteil der beiden begegnet, obwohl sie schon seit Jahren auf diese Schule gingen. Eigentlich waren die Kinder ihm nie aufgefallen, bis letztes Jahr. Seit ungefähr einem Jahr hingen sie ständig nach dem Unterricht in der Schule herum und warteten.
Weston stieg in sein Auto und startete den Motor. Der alte Passat, der schon seit einigen Jahren ein Oldtimer war, war sein ganzer Stolz. Normalerweise legte er keinen großen Wert auf materielle Dinge, aber ein Oldtimer war schon immer sein Traum gewesen, seit er denken konnte. Seit zehn Jahren unterrichtete er mittlerweile an der Schule in Vancouver und hatte sich von seinem sauer verdienten Geld dieses Auto geleistet.
Lehrer zu sein hatte ihn schon immer gereizt. Seine Eltern hatten ihn schon immer in diesem Berufswunsch unterstützt. Sein Vater war Banker, während seine Mutter früh schwanger geworden war und sich seitdem um den Haushalt kümmerte.
Weston selbst hatte keine Kinder. Eigentlich hatte er sich immer welche gewünscht. Leider war seine Exfreundin in dieser Hinsicht anderer Meinung gewesen. Sie hatte nie Kinder gewollt, weshalb er sich vor drei Jahren von ihr getrennt hatte. Seitdem war keine Frau mehr in sein Leben getreten, die ihn interessiert hätte. Mittlerweile war er 36 und immer noch single. Er wohnte alleine in einer drei Zimmer Wohnung in der Stadt, deren Miete überraschenderweise relativ erschwinglich war. Auch wenn er sich nach einer Partnerin sehnte, hatte er das Gefühl, dass der Zug langsam abgefahren war.
»Es tut mir so leid«, sagte Gina mindestens zum fünften Mal.
»Unser Lehrer schaut uns mittlerweile schon ganz komisch an, weil du uns immer vergisst«, giftete Oliver sie vom Beifahrersitz aus an.
»Mami kann doch gar nichts dafür!«, echauffierte Jenna sich und trat ihrem Bruder von hinten gegen den Sitz.
»Hey! Nicht mit den dreckigen Schuhen gegen den Sitz treten!«, ermahnte Gina ihre Tochter, die sofort aufhörte.
»Tut mir leid, Mum«, sagte Oliver leise.
»Schon in Ordnung. Ich weiß, dass ihr es auch nicht leicht habt«, seufzte Gina und bog auf den Hof des großen Einfamilienhauses ein. »Aber wir geben alle unser Bestes, nicht wahr?«
»Ja!«, antworteten die Kinder im Chor, die Zwillinge etwas euphorischer als Oliver, aber Gina wusste, dass er es nicht so meinte. Er war eben ein launiger Teenager, während die Zwillinge mit ihren süßen zehn Jahren noch etwas gehorsamer waren.
Gina streifte sich die Schuhe von den Füßen und lief auf Socken in die Küche.
»Wer von euch hat Hunger auf Spaghetti Bolognese?« Wenn sie ehrlich war, gab es mindestens zwei Mal in der Woche Spaghetti, aber für mehr hatte Gina einfach keine Zeit. Das Gericht ging schnell und die Kinder mochten Spaghetti. Also zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte sie sich, während sie Wasser in einen großen Topf laufen ließ.
Während das Essen vor sich hin köchelte, setzte sie sich an den großen Holztisch und holte ihren Laptop aus der Tasche. Sie arbeitete, wann sie nur konnte. Zwar hatte Max ihr angeboten, ihre Stunden zu reduzieren, aber das wollte sie nicht. Nicht, weil sie das Geld gebraucht hätte, sondern weil sie es einfach nicht wollte. Eigentlich liebte Gina ihren Job und hatte ihr halbes Leben hart gearbeitet, um in die Position zu kommen, in der sie jetzt war. Da wollte sie nicht einfach ihre Stunden reduzieren und das aufgeben, was sie liebte.
Gina kam aus gutem Hause. Als ihr Vater mit Mitte sechzig gestorben war, hatte er ihr einige Millionen hinterlassen, die sie gut angelegt hatte. Sie war niemand, der auf großem Fuß lebte. Ihr schönes Haus hatte sie sich hart mit Evan erarbeitet, genau wie ihren Mercedes. Bis auf diese beiden Dinge, die ihr wichtig waren, leistete sie sich kaum etwas. Gina arbeitete hart, hauptsächlich für die Anerkennung. Eigentlich hätte sie nicht einmal arbeiten müssen, zumindest aus finanzieller Sicht, aber ohne ihren Job fehlte ihr einfach etwas.
Alles war so viel einfacher gewesen, solange Evan noch da gewesen war. Die beiden hatten sich alles geteilt, die Zeit mit den Kindern, die Hausarbeit, das Einkaufen gehen, einfach alles. Sie waren ein eingespieltes Team gewesen. Gina war sich sicher, nie wieder einen Mann wie Evan zu finden, falls sie überhaupt jemals wieder ihr Herz an einen Mann verschenken wollte. Der Schmerz saß immer noch tief, obwohl Evan schon seit einem Jahr nicht mehr unter ihnen weilte. Die Kinder schienen es mittlerweile verarbeitet zu haben, dass ihr Vater nicht mehr hier war. Aber Gina fühlte sich alleine. So alleine, dass sie sich manchmal in den Schlaf weinte. Wie jeder Mensch sehnte sie sich nach Nähe. Auch wenn ihre Kinder ihr von dem, was sie ihnen gab, viel zurückgeben konnten, war es nicht dasselbe. Gina sehnte sich insgeheim nach der Nähe und Zuneigung eines Mannes, eines Menschen, der sie liebte.
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken.
»Fuck!«, rief sie und sprang auf. Die Nudeln waren übergekocht und der ganze Herd war voll Wasser. Mal wieder hatte sie beim Arbeiten die Zeit und alles um sich herum vergessen.
»Sowas sagt man nicht!«, kicherte Clara und kletterte auf einen Stuhl.
»Entschuldige«, murmelte Gina, während sie die Nudeln abschüttete und auf vier Tellern verteilte. »Mama hatte einen stressigen Tag.«
»So wie immer.« Das war Jenna.
»Aber ihr wisst, dass eure Mum euch trotzdem über alles liebt?« Gina setzte sich zu ihren Kindern, die mittlerweile aus ihren Zimmern nach unten gekommen waren, an den Tisch.
»Natürlich«, sagte Clara voller Inbrunst und das Lächeln, das sie Gina zuwarf, bestätigte ihre Aussage zutiefst.
Nachdem die Kinder im Bett waren, genehmigte Gina sich eine Dusche. Es war schon spät und sie musste morgen wieder früh raus, aber sie hatte seit drei Tagen nicht mehr geduscht. Am Wochenende hatte sie mit ihren Kindern einen Ausflug unternommen, wie sie es früher mit Evan auch immer gemacht hatten. Auch wenn es schwer war, wollte sie ihren Kindern so viel Liebe geben, wie nur möglich.
Das warme Wasser rann über ihren Körper und Gina schloss kurz die Augen. Es war ein Wunder, dass im letzten Jahr so viel funktioniert hatte. Dass sie immer noch funktionierte. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich manchmal wie halb tot. Innerlich war der Schmerz noch so präsent, als wäre Evan erst kürzlich von ihr gegangen. Wenn sie lächelte, kam das Lächeln oft nicht von Herzen, sondern war einfach nur gestellt, was aber auch den meisten Leuten nicht weiter auffiel. Nur ihre beste Freundin Charly wusste, wie es Gina wirklich ging.
Charly hatte selbst auch zwei Kinder und einen liebevollen Ehemann. Alle paar Wochen zwang sie Gina dazu, abends mit ihr auszugehen, damit sie auf andere Gedanken kam. Charlys Ehemann Steve passte dann auf alle fünf Kinder auf. Auf wundersame Weise brachte er sie alle problemlos zum Schlafen, was sich Gina bis heute noch nicht erklären konnte. Die Drei waren sonst mehr als aufgeweckt und konnten einem das Leben zur Hölle machen.
Aber auch ein Abend in einer überfüllten Bar konnte Ginas Leben nicht wieder gerade biegen. Ab und an wurde sie von Männern angesprochen, die aber meistens nicht ihr Typ waren. Außerdem musste sie sich diese Kerle auch als neuen Vater ihrer Kinder vorstellen können, was die Auswahl massiv einschränkte. Die meisten Männer, die mit Ende dreißig noch single waren, hatten keine Lust auf Kinder, und schon gar nicht auf drei Stück. Gina hatte das Gefühl, als alleinerziehende Mutter auf dem Markt keine Chancen mehr zu haben. Nachdem ein Mann, der sie angesprochen hatte, von ihren Kindern erfuhr, wurde er meist und urplötzlich völlig anders, zeigte sich desinteressiert und verschwand nach ein paar Minuten wieder.
Auch wenn Charly sie stets ermutigte, doch mal wieder das Haus zu verlassen, hatte Gina keine Lust. Wenn sie Zeit hatte, arbeitete sie auch am Wochenende und war lieber produktiv, als ihre Zeit damit zu verschwenden, in einer Kneipe abserviert zu werden.
»Ich bin mir sicher, sie kommt gleich.« Clara kaute auf ihren Fingernägeln herum und blickte nervös in die Ferne. Bei jedem Auto, das um die Ecke bog, weiteten sich ihre Augen ein wenig, bis sie feststellte, dass es nicht das Auto ihrer Mutter war und sie wieder resigniert nach unten blickte.
Es war kurz nach fünf und die Drei warteten seit über einer Stunde darauf, abgeholt zu werden. Langsam wurde Weston sauer auf die Eltern dieser Kinder. Wie konnte man drei wunderbare Kinder nur so vernachlässigen? Er ballte seine Fäuste. Dieser Mutter würde er etwas anderes erzählen.
Er war schon gespannt auf das Auto, mit dem sie um die Ecke biegen würde. Wahrscheinlich lebte die Familie am Existenzminimum und fuhr in einer Rostlaube durch die Gegend.
Umso überraschter war er, als Clara aufsprang, nachdem sie eine nagelneue G-Klasse erblickte.
»Da kommt Mami«, sagte sie und das Leuchten in ihren Augen war kaum zu übersehen. Westons Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
»Ich werde mal ein ernstes Wörtchen mit eurer Mutter reden.« Er stand auf und folgte den Kindern zum Auto.
»Mrs. Robinson?« Gina war ausgestiegen, um den Kindern dabei zu helfen, ihre Rucksäcke in den Kofferraum zu räumen.
»Ja?« Gina ging um den Wagen herum. Überrascht betrachtete sie den Mann, der nun vor ihr stand. Er hatte braune Augen und dunkle Haare. Über seinem karierten Hemd trug er einen dunkelblauen Pullunder.
Er schien nicht minder überrascht über ihre Erscheinung zu sein. Weston war sich nicht mehr sicher, was er erwartete hatte. Eine dicke Frau mit fettigen Haaren? Eine asoziale, verwahrloste Person? Mit dieser zierlichen, ausgezehrten Frau hatte er aber tatsächlich nicht gerechnet. Kurz verschlug es ihm die Sprache. Sie hatte lange gewellte braune Haare, die ihr bis unter die Brust reichten. Sie trug ein schickes Businessoutfit mit hohen Schuhen, mit denen sie aber immer noch ein Stück kleiner war als er.
Mittlerweile hatte Weston sich wieder einigermaßen gefangen.
»Ich möchte mich gerne einmal mit Ihnen unterhalten«, sagte er, während er seinen Blick unauffällig über ihren Körper schweifen ließ.
»Worüber?«, fragte sie vorsichtig, während sie ihn mit ihren grünen Augen anstarrte.
»Ihre Kinder haben heute über eine Stunde lang warten müssen«, fing er an, aber Gina unterbrach ihn.
»Hören Sie, es tut mir leid, aber ich habe es einfach nicht früher geschafft. Mein Chef...« Sie redete schnell, aber Weston unterbrach sie wieder.
»Bitte kommen Sie kurz mit rein, damit wir in Ruhe darüber reden können.«
»Eigentlich passt es mir jetzt gar nicht«, versuchte Gina sich herauszureden.
»Geh ruhig, Mum.« Jenna steckte ihren Kopf aus dem Autofenster und strahlte ihre Mutter an. »Wir warten so lange hier.«
»Na gut«, murmelte sie und folgte Weston in das Gebäude.
»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Weston Johnson. Nennen Sie mich ruhig Weston«, sagte er, in der Hoffnung, dass er die Gesprächsatmosphäre so etwas lockern konnte.
»Gina.« Sie reichte ihm ihre zierliche Hand und er bedeutete ihr, sich zu setzen. Sie hatte eine aufrechte Haltung und sah ihn an, wie ein aufgescheuchtes Reh. Fast, als wäre sie auf der Flucht und jeden Moment bereit, den Raum so schnell wie möglich wieder zu verlassen.
»Deine Kinder müssen jeden Tag auf dich warten.« Weston betrachtete sie nachdenklich. Gina zeigte keine Regung. »Ist es nicht möglich, dass du sie pünktlich abholst, so wie alle anderen das auch tun? Was ist mit dem Vater der Kinder? Kann er sie nicht abholen?«
Gina versteifte sich immer mehr. »Ich bin alleinerziehend«, stieß sie hervor.
»Ich verstehe«, murmelte Weston. »Besteht trotzdem keine Möglichkeit, dass er sie abholen kann?«
Gina sprang auf und lief rückwärts in Richtung Tür.
»Ich muss los.« Ihre Worte klangen gepresst und sie blinzelte ein paar Mal. »Entschuldigung«, brachte sie gerade noch heraus, bevor sie davon lief. Weston hörte ihre Absätze auf dem Steinboden der Eingangshalle, als sie davon rannte. Was für ein merkwürdiges Gespräch.
»Und, hast du Mrs. Robinson drangekriegt?«, wollte Westons Kollege am Abend wissen. Die beiden hatten sich auf ein Feierabendbier im Irish Pub verabredet.
»Mehr oder weniger«, brummte Weston verstimmt. Es wurmte ihn, dass Gina ihn einfach so hatte sitzen lassen, ohne ersichtlichen Grund. Vielleicht war ihr Exmann auch ein wunder Punkt für sie. Das bedeutete aber immer noch nicht, dass sie ihn einfach so sitzen lassen musste.
»Ehrlich gesagt ist sie vor mir weggerannt«, gab er zu und Phil fing an zu lachen.
»Das ist nicht dein Ernst!«, prustete er und er sah ihn finster an.
»Doch. Übrigens stimmen unsere Hypothesen allsamt nicht. Sie ist weder dick, noch asozial, noch hat sie fette Haare. Sie ist tatsächlich relativ... hübsch«, gab Weston zu und legte seinen Kopf schief. »Ja, irgendwie... sie hatte etwas Besonderes an sich. Ich weiß auch nicht. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass diese Frau ein Mysterium ist. Eins steht fest, sie scheint ihre Kinder nicht so sehr zu vernachlässigen, wie ich zuerst dachte.«
»Ich finde, du zerbrichst dir viel zu sehr den Kopf über diese Kinder«, sagte Phil und legte seinem Kollegen eine Hand auf den Arm. »Ich mache mir ja auch manchmal Gedanken um meine Schüler, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.«
»Ich kann einfach nicht länger zusehen, wie die Robinson Kinder stundenlang vor der Schule sitzen und warten!«, entgegnete Weston resigniert. »Außerdem macht Oliver zunehmend Probleme im Unterricht. Letzte Woche hat er sich in der Pause mit einem Mitschüler geprügelt. Das ist ein Grund, um mit den Erziehungsberechtigten zu sprechen!«
»Hast ja Recht.« Phil bestellte noch ein Bier. »Halt mich auf dem Laufenden.«
Der Brief von der Schule hatte Gina gerade noch gefehlt. 'Bitte kommen Sie zum Elternabend' stand darin. Der Brief war nicht wie eine Bitte, sondern wie eine unausweichliche Aufforderung geschrieben und Gina wusste, dass sie endlich mal bei einem Elternabend aufauchen sollte.
»Ich kann am Mittwoch nicht«, antwortete sie, als Max sie nach einem gemeinsamen Abendessen fragte. »Die Schule hat mich zu einem blöden Elternabend eingeladen, zu dem ich definitiv gehen muss. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo ich die Kinder unterbringen soll!« Gina raufte sich die Haare.
»Du kannst die Kinder solange bei mir lassen«, bot Max an und lehnte sich gegen die Wand, damit Gina nicht an ihm vorbei laufen konnte.
»Was?«
»Das ist mein Ernst. Du kannst die Drei solange bei mir lassen.«
Auch wenn Gina Max Angebot eigentlich nicht annehmen wollte, hörte es sich mehr als verlockend an. Das Problem, wo sie die Kinder während des Elternabends unterbringen sollte, wäre somit gelöst. Eigentlich wollte sie Max nichts schuldig sein, da er sie sonst nur wieder um Dates bitten würde, was er aber ohnehin schon tat. Dennoch konnte sie sein Angebot unmöglich ausschlagen.
»Bist du dir auch sicher, worauf du dich einlässt?«, fragte Gina vorsichtig und Max lachte.
»Klar weiß ich das. Ich krieg das schon hin, keine Sorge. Liefer sie einfach bei mir daheim ab. Die Adresse hast du ja.« Er zwinkerte Gina zu und verschwand in seinem Büro.
»Guten Abend.« Weston gab sich wesentlich cooler, als er sich fühlte. Es war schwierig genug gewesen, Gina Richardson zu einem Elterngespräch zu bringen. Da sollte sie nicht gleich wieder die Flucht ergreifen.
Gina trug ein elegantes Kleid und hohe Schuhe. Heute Mittag hatte sie einen wichtigen Termin gehabt, zu dem sie sich entsprechend gekleidet hatte. Da sie wie immer zu spät von der Arbeit losgekommen war, war keine Zeit geblieben, sich umzuziehen. Genau genommen fühlte sie sich unglaublich overdressed.
»Hey.« Ihre Stimme war fast nur ein Flüstern und sie blieb ein paar Schritte von Weston entfernt stehen.
»Es würde mich freuen, wenn du heute nicht einfach davonläufst«, sagte er und lächelte versöhnlich. Aber Ginas Gesicht zeigte keine Regung. »Komm, wir setzen uns in mein Büro.«
An den leisen Geräuschen ihrer Schuhe auf dem Steinboden hörte Weston, dass sie ihm folgte.
»Setz dich.« Gina setzte sich auf die Stuhlkante und biss sich nervös auf die Unterlippe.
»Bist du der einzige Ansprechpartner für deine Kinder?«, begann Weston das Gespräch. Gina nickte. »Haben die Drei denn ab und an überhaupt noch Kontakt zu ihrem Vater?«
Gina atmete hörbar ein. Sie schien kurz die Luft anzuhalten und Weston sah, wie sie die Fäuste ballte.
»Das kommt drauf an, wie oft wir einen Ausflug zum Friedhof unternehmen«, antwortete sie spitz. Ihre grünen Augen sprühten Funken. »Hör auf, dich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Ich«, begann sie, aber Weston unterbrach sie.
»Das tut mir leid, das wusste ich nicht. Bitte beruhige dich«, sagte er leise und stand auf. Vorsichtig legte er ihr eine Hand auf die Schulter. Gina zuckte unter seiner Berührung zusammen. »Wir finden gemeinsam eine Lösung, da bin ich mir sicher.«
Sie schüttelte heftig den Kopf, sodass ihre leicht gelockten Haare nur so flogen.
»Ich möchte mit dir auch über Oliver reden«, fuhr Weston fort, während er Gina beruhigend über den Rücken streichelte. »Er zeigt in letzter Zeit gewisse... Auffälligkeiten.« Weston hielt kurz inne und betrachtete Gina von der Seite. Sie rührte sich keinen Millimeter.
»Oliver hat sich in den vergangenen Wochen häufig mit seinen Mitschülern geprügelt.« Ginas Augen weiteten sich und sie sah auf.
»Was?«, fragte sie leise und Weston meinte, eine Träne in ihrem Augenwinkel zu sehen.
»Er hat sich im vergangenen Jahr sehr verändert«, fuhr er fort und war sich langsam sicher, den Grund für Olivers Verhalten herasgefunden zu haben. »Daher hatte ich nach seinem Vater gefragt. Ich bin der Meinung, ihm fehlt ein Vater, der ihm den richtigen Weg weist.«
Gina entgegnete nichts. Weston war sich nicht sicher, ob sie ihm überhaupt noch zuhörte.
»Gina?«, fragte er vorsichtig, aber sie zeigte keine Regung.
»Mir fehlt er auch«, wisperte sie und wischte sich mit der Hand über die Augen. »Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.« Eine Träne lief ihre Wange hinunter und sie begrub ihr Gesicht in den Händen.
Für einen kurzen Moment war Weston ratlos. Mit solch einer Reaktion hatte er nicht gerechnet, darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Er setzte sich auf den Stuhl neben Gina und legte ihr einen Arm um die Schultern.
»Das tut mir leid«, war alles, was ihm dazu einfiel.
»Es ist schon in Ordnung, irgendwie muss es ja weitergehen.« Ginas Stimme war ein ersticktes Flüstern und Weston konnte sich nur annähernd ausmalen, wie es in ihrem Inneren aussah.
»Sag mir Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann, ja?«
Gina nickte. Auch wenn sie Westons Angebot nie annehmen würde.
Max Wohnung war riesig. Gina war noch nicht oft bei ihm gewesen. Normalerweise vermied sie es, in komische Situationen mit Max zu kommen und da er immer wieder versuchte, sie von sich zu überzeugen, ging sie ihm sooft wie möglich aus dem Weg.
»Mum, Max hat uns Pizza bestellen lassen!« Quietschte Claras Stimme durch das Wohnzimmer. Keine Sekunde später rannte das Mädchen um die Ecke und warf sich in die Arme ihrer Mutter. Obwohl die Zwillinge erst zehn waren, reichten sie ihrer Mutter schon fast bis zur Schulter.
»Pizza, soso.« Gina drückte ihre Tochter an sich und warf Max einen Blick zu.
»Können wir häufiger bei Max spielen?« Jenna wandte sich ihrer Mutter zu und hielt stolz etwas in ihren Händen.
»Was ist das denn?« Gina runzelte die Stirn, während Max sich mit einem gewinnenden Lächeln zurückgelehnt hatte.
»Eine Nintendo Switch!« Jenna hüpfte auf und ab. »Und Max hat gesagt, dass wir sie behalten können.«
»Das kommt gar nicht in Frage!« Sie funkelte Max so wütend an, dass ihm das Lächeln aus dem Gesicht fiel. »Auf gar keinen Fall. Jenna, du lässt dieses Ding hier. Und jetzt komm, wir müssen nach Hause, morgen müsst ihr früh raus.«
Gina streckte ihre Hand nach Jenna aus und widerwillig legte sie die Spielekonsole aus der Hand.
»Ach Gina«, versuchte Max, sie zu überzeugen. Aber ihre grün funkelnden Augen sagten ihm, dass er es besser gar nicht versuchen sollte, sie zu überzeugen.
»Danke, dass du auf sie aufgepasst hast.« Gina wandte sich ihm zu, aber da war diese Kühle in ihrem Blick, die Max unheimlich war. Seit Evan gestorben war, hatte Gina ihm gegenüber immer diesen abweisenden und distanzierten Gesichtsausdruck. In diesen ganzen Monaten hatte Max es noch nicht geschafft, zu ihr durchzudringen, was ihn unheimlich wurmte.
»Sehr gerne doch. Du weißt, dass ich alles für dich tun würde, Gina.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, woraufhin sie nur die Augenbrauen nach oben zog und Oliver sanft aus der Tür schob.
»Bis morgen.« Sie ging die Treppe nach unten, ohne sich noch einmal nach Max umzusehen. Gina ist verdammt hart zu knacken, dachte er sich, während er die Wohnungstür schloss. Vielleicht sollte er die nächste Phase einleiten und sie direkt nach einem Date fragen.
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2019
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