Es kam mir endlos lange vor, bis der Pilot endlich die Startbahn erreicht hatte und die Startfreigabe erhielt. Der Himmel war bewölkt und die dicke Wolkendecke ließ keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen, als der Pilot durchstartete und der Flieger an Geschwindigkeit gewann. Als er abhob, schaute ich ein letztes Mal aus dem Fenster auf die Stadt, die ich das ganze nächste Jahr nicht mehr sehen würde.
Ich wurde vom unsanften Aufsetzen des Flugzeugs geweckt. Obwohl der Flug in Frankfurt um 12 Uhr gestartet war, war es in Halifax noch hell. Das musste an der Zeitverschiebung liegen. Meines Wissens lag Halifax im Vergleich zu Frankfurt 5 Stunden zurück. Siebeneinhalb Stunden hatte der Flug gedauert. Dementsprechend war es gerade mal 15 Uhr.
Mein Mentor, der mir zugewiesen wurde, da ich am Buddy-Programm der State University teilnahm, wollte mich um kurz vor vier am Flughafen aufsammeln. Ben war sein Name, aber sonst wusste ich nicht viel über ihn. Er studierte Architektur im sechsten Semester, schien aber noch das eine oder andere Semester zu brauchen, bis er sein Studium beendet hatte. Auf dem Profilbild in WhatsApp konnte ich einen blonden jungen Mann erkennen, der eine Basecap trug und eher zur cooleren Sorte Jungs zu gehören schien. Aber das war auch schon alles, was ich über ihn wusste. Tatsächlich war Ben mir erst vor einer Woche zugeteilt worden. Irgendwie hatte meine Uni mal wieder etwas verschlafen, das war so typisch.
Nachdem das Flugzeug seine Parkposition erreicht hatte, versuchten mal wieder alle Fluggäste gleichzeitig den Flieger als erstes zu verlassen. Ich wartete, bis der Gang nicht mehr vollgestopft war mit Menschen, holte meinen kleinen Koffer aus der Ablage über mir, schwang mir den Rucksack über die Schultern und machte mich auf den Weg, um meinen zweiten Koffer aufzusammeln.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis mein Koffer endlich auf dem sich langsam drehenden Kofferband um die Ecke bog. Umständlich hob ich ihn vom Band und sah mich um. Kurz war ich orientierungslos, bis ich auf einem Schild das Wort ‚Exit‘ las, welches den Ausgang markierte. Ob ich Ben gleich finden würde? Bis auf das eine Foto, auf dem man ihn nicht richtig erkennen konnte, hatte ich noch nie eins von ihm gesehen.
Die automatische Schiebetür vor mir öffnete sich und offenbarte mir den Blick auf eine riesige Halle, in der hunderte Menschen auf ihre Liebsten oder ihre Fahrgäste warteten. Meine Augen suchten die Menge vor mir nach einem Typen mit blonden Haaren ab. Plötzlich blieben meine Augen an einem Schild hängen. ‚Ella‘ stand dort mit dickem schwarzem Edding geschrieben. Das musste er sein.
Zügigen Schrittes ging ich, meine Koffer mühsam hinter mir her rollend, auf den jungen Mann zu, der sich mir sofort zuwandte.
»Hey!«, rief er fröhlich. Er schien sich tatsächlich zu freuen, mich zu sehen. ‚Puh‘, dachte sich meine innere Stimme erleichtert.
»Hey«, antwortete ich etwas zurückhaltend, während ich ihn unauffällig musterte. Er war etwas größer als ich, um die 15 Zentimeter vielleicht. Ben musste also um die 1,80m groß sein, vermutete ich. Sein etwas längeres blondes Haar fiel ihm locker in die Stirn und er schob es mit einer gekonnten Handbewegung zur Seite.
»Guten Flug gehabt?« Mir gefiel sofort sein breiter kanadischer Akzent. Um ehrlich zu sein, hatte ich noch nie zuvor darauf geachtet, welchen Akzent Kanadier eigentlich hatten. Seine warme Stimme klang wie eine Melodie in meinen durch den Druck im Flugzeug gebeutelten Ohren.
»Ja», sagte ich schlicht und lächelte, bevor er mir meinen großen Koffer aus der Hand nahm und wir uns auf den Weg zur Tiefgarage machten, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Während wir nebeneinander her liefen erfuhr ich, dass er gemeinsam mit seinem Bruder in einem Haus wohnte, das ungefähr 20 Minuten von Halifax entfernt war. Seine Eltern wohnten immer noch in seiner Heimatstadt, Vancouver. Sein älterer Bruder Phil hatte sich entschieden, in Halifax zu studieren, war hier her gezogen und Ben hatte es ihm ein paar Jahre später gleich getan.
Interessiert hörte ich Ben zu, als er von der Universität und den Professoren sprach. Ich studierte Englisch und Französisch, weshalb er nicht besonders viel über meine Kurse sagen konnte. Aber dennoch half es mir dabei, mir ein Bild von der Universität zu machen. Noch vier Tage hatte ich, dann würde auch schon mein Semester beginnen. Ich war aufgeregt. Natürlich war ich nicht der einzige neue Student aus dem Ausland, was mich etwas beruhigte. Die anderen waren sicherlich genauso aufgeregt wie ich. Für ein Jahr in einem fremden Land wohnen, wo man niemanden kannte, war schon eine Herausforderung. Zumindest für ein Landei wie mich.
Ben blieb vor einem dunkelblauen Audi A7 stehen. Als er auf seinen Autoschlüssel drückte, blinkte der Wagen kurz auf. Ich meine, wow. Ein Student fuhr einen A7? Das Auto seiner Eltern konnte das ja kaum sein, wenn diese am anderen Ende Kanadas wohnten.
»Schickes Auto«, gab ich unglaublich geistreich von mir, bevor ich mich auf den Beifahrersitz fallen ließ, während Ben meine Koffer in den Kofferraum räumte.
»Danke. Das Auto gehört eigentlich meinem Bruder. Ich habe gar kein eigenes, ab und an leihe ich mir eins von seinen«, erklärte Ben. ‚Eins von seinen?‘, dachte ich mir im Stillen. Wie viele Autos hatte er denn? Zehn?
Während der Fahrt redeten wir etwas über mich. Ben wollte wissen, woher ich genau kam, was ich studierte, ob ich Geschwister hatte und ob ich Partys mochte. Ich erzählte ihm von meinem Wohnort, einem kleinen Dorf in der Nähe von Frankfurt, meinem großen Bruder und meinem Studium. Ehrlich gesagt war ich nicht der Mensch, der allzu oft auf Partys ging. Seit mein Studium begonnen hatte, blieb kaum noch Zeit, um am Wochenende auszugehen.
Ben schien ein richtiger Partymensch zu sein. Er erzählte mir, dass er in den Sommermonaten häufig seine Freunde zu sich daheim einlud, um mit ihnen gemeinsam zu trinken und Spaß zu haben. Sein Freundeskreis schien groß zu sein, aber das wunderte mich auch nicht. Reiche Leute zogen ihre Mitmenschen an wie ein Magnet.
Daheim in Deutschland kannte ich niemanden, der reich war. Meine Familie gehörte zur Mittelschicht und schaffte es gerade so, mir und meinem Bruder das Studium und ein Auto zu finanzieren. Ich war stolz auf meinen fahrbaren Untersatz, einen gebrauchten hellblauen Opel Adam, den mir meine Eltern zum Beginn meines Studiums geschenkt hatten. Die Universität für ein Dorfkind wie mich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen. Daher war ich auf mein Auto angewiesen, das mir stets treue Dienste leistete.
Laut Ben war die Busverbindung nach Halifax gar nicht so schlecht. Alle halbe Stunde fuhr wohl ein Bus, der in der Nähe der Universität hielt. Da ich Ben so gut wie noch gar nicht kannte, wusste ich nicht, wie es um seine Zuverlässigkeit stand, aber ich war froh, nicht permanent auf ihn als Fahrer angewiesen sein zu müssen und zur Not auch selbstständig zur Universität fahren zu können.
Während Ben über die Landstraße fuhr, flogen die grünen Nadelbäume Nova Scotias nur so vorbei. Nach gut vierzig Minuten fahrt bog er ab. Vor uns erstreckte sich ein langer Kiesweg, dessen Ende ich nicht ausmachen konnte.
Langsam fuhren wir die enge Straße entlang, bis plötzlich ein Haus hinter den Bäumen sichtbar wurde. Die Fassade bestand aus einer Mischung aus Steinen und weißen Holzbrettern.
Spontan konnte ich drei Stockwerke zählen. Der erste Stock hatte einen weiß gestrichenen Balkon, welcher um die Hausecke führte und somit mehreren Zimmern den Zugang gewährte.
»Da ist ja das Meer!« rief ich überrascht, als ich meinen Blick wieder geradeaus richtete. Ben grinste, sichtlich amüsiert über meine freudige Aufregung. Vielleicht fünfzig Meter trennten das schöne Haus und den Atlantik, der in der Ferne mit leichten Wellen gegen die Küste schwappte. Wow. Ich war wirklich überwältigt. Hier würde ich also das nächste Jahr wohnen.
Neben dem Haupthaus stand ein kleinerer Anbau, der in denselben Farben gehalten war. Ein paar Meter entfernt vom Meer war ein hölzerner Pavillon aufgestellt worden, in dem man sitzen und den Atlantik beobachten konnte.
»So, da wären wir.« Ben stellte den Wagen neben dem Haus ab und schaltete den Motor aus.
»Wow«, brachte ich gerade so heraus, bevor Ben grinsend ausstieg und meine Koffer aus dem Kofferraum holte.
»Ich führe dich erst mal etwas herum. Ich muss nachher noch mal weg«, rief er, während er schon auf dem Weg zur Haustür war.
Kaum war ich durch die Haustür getreten, fand ich mich in einem kleinen Flur wieder, der nur durch einen offenen Torbogen vom nächsten Zimmer getrennt war.
»Soll ich meine Schuhe ausziehen?« Ben nickte.
Ich stellte meine schwarzen Dr. Martens zu den anderen Schuhen im Flur und betrat das nächste Zimmer. Der Raum war unglaublich groß und verband Wohnzimmer und Küche. Zur linken fand sich das Wohnzimmer, welches mit einer großen Fensterfront einen unvergleichlichen Blick auf den Atlantik bot. Die Einrichtung bestand aus weißen und cremefarbenen Möbeln, welche in einer Sitzgruppe angeordnet waren. Zur rechten befand sich die Küche, welche in dunklen modernen Farbtönen gehalten war. Mitten im Raum stand eine Kochinsel, daneben gab es eine kleine Bar, vor der vier hohe Barhocker standen.
Die Nachmittagssonne flutete den Raum mit Licht und verlieh ihm ein ganz besonderes Ambiente.
»Das ist das Wohnzimmer. Hier kannst du dich aufhalten, wann du möchtest. Sonst ist eigentlich nie jemand hier.« Ben durchquerte den Raum bis zur Küche. »Der Kühlschrank ist immer voll, bediene dich ruhig. Wir haben eine Haushälterin, Mrs. Collins, welche meistens für uns einkauft und sauber macht. Sie kommt drei Tage die Woche«, erklärte er, während er den Kühlschrank öffnete, um dessen Inhalt zu inspizieren.
Eine Haushälterin, wow. Ich hatte noch immer nicht wirklich realisiert, wo ich hier gelandet war. So einen Luxus hatte ich nicht erwartet, als ich mich für das Buddy-Programm angemeldet hatte. Viel eher hatte ich mit einem kleinen Apartment in der Stadt gerechnet, in dem ich ein winziges Zimmer bewohnen würde. So wie es eben die meisten Studenten taten.
Ich schaute über Bens Schulter in den Kühlschrank. Davon abgesehen, dass er zwei Türen hatte, war er bis oben hin vollgestopft mit Lebensmitteln.
»Brot gibt es hier drüben. Besteck und Teller sind da vorne«, führte Ben mich durch die Küche. »Wenn du dir etwas kochen möchtest, gibt es in dieser Schublade Pfannen und Töpfe. Ab und an kocht Mrs. Collins für uns, aber das eher selten. Sie ist hauptsächlich für die Einkäufe und das Putzen verantwortlich.« Ben nahm meine Koffer, die er im Flur hatte stehen lassen und setzte seine Führung fort. Am hinteren Ende des Raumes befand sich eine enorme Flügeltür aus hellem Holz, die von der Höhe bis zur Decke reichte. Obwohl nur einer der beiden Flügel geöffnet war, passten Ben und ich beide gleichzeitig hindurch.
Vor uns befand sich ein Flur mit vielen Türen. Eine Treppe aus Eiche führte in den ersten Stock.
»Hier links ist die Gästetoilette. Die drei Zimmer da vorne sind Arbeits- und Schlafzimmer von Phil. Dort hält er sich meistens auf«, erklärte Ben mir, während er auf die einzelnen Türen zeigte. »Außerdem gibt es dort drinnen noch einen Billardtisch und eine kleine Bibliothek. Dort kannst du dich auch gerne niederlassen, wenn du mal in Ruhe lernen möchtest.« Eine eigene kleine Bibliothek also. Ich nahm mir vor, diesen Raum unbedingt mal näher unter die Lupe zu nehmen.
Nachdem wir gemächlich die Treppe nach oben gelaufen waren, zeigte Ben mir sein Zimmer. Es befand sich am Ende eines geräumigen Flures, der über weitere sechs Türen verfügte. Eine weiß gestrichene Fensterfront bot wieder den unvergleichlichen Blick auf den Atlantik. Die schwache Abendsonne erhellte den Flur mit ihren letzten Strahlen.
Ben öffnete die Tür und stellte meine beiden Koffer ab. Ich folgte ihm in den Raum und war sofort wieder überwältigt. Dieses Haus war der schiere Wahnsinn.
Sofort fiel mir das Boxspringbett auf, welches um einiges höher und größer war als mein Bett daheim. Die hellgelbe Bettwäsche war fein säuberlich glattgestrichen. An der Wand daneben befand sich ein Kleiderschrank, in den auf jeden Fall alle meine Klamotten passen würden. Der dunkelbraune Schreibtisch auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers bot einen farblichen Kontrast zur übrigen Einrichtung, die wie der überwiegende Rest des Hauses in hellen Tönen gestaltet war.
Mein Blick fiel aus dem Fenster. Ich konnte direkt auf den Atlantik schauen, dessen Küste hinter den umstehenden Bäumen hervorblitzte. Das Zimmer verfügte über eine Balkontür, welche ich sofort öffnete. Ich trat hinaus und atmete tief die frische Luft ein, die in einer leichten Brise vom Meer herauf wehte.
Ben stand nur da und beobachtete mich. Nach einer Minute drehte ich mich um. Ein strahlendes Lächeln erhellte mein Gesicht. So schön hatte ich mir die Unterkunft für das nächste Jahr wirklich nicht vorgestellt.
»Ich sehe, es gefällt dir.« Ben stand selbstsicher mit verschränkten Armen neben meinem Bett und grinste.
»Oh ja, das tut es!«, bestätigte ich und quietschte fröhlich. Am liebsten wäre ich auf und ab gesprungen, aber das kam mir dann doch etwas zu viel vor. So eine Reaktion vor einem völlig Fremden zu zeigen, verkniff ich mir lieber. Ich war zwar ein aufgeschlossener, aber dennoch zurückhaltender Mensch, falls das überhaupt einen Sinn ergab.
»Hier ist dein Haustürschlüssel.« Er drückte mir einen Schlüssel in die Hand, den ich mir sofort in die Hosentasche steckte. »Es ist schon fünf, ich muss los«, sagte Ben und tippte auf seine Armbanduhr, die wahrscheinlich ein Vermögen gekostet hatte.
»Das Badezimmer ist übrigens nebenan. Du hast es für dich allein«. Ben deutete auf eine Tür, die von meinem Zimmer in ein Nebenzimmer führte.
»Ich lasse dich jetzt mal etwas in Ruhe, damit du dich einleben kannst. Morgen zeige ich dir gerne die Stadt. Passt dir zehn Uhr morgens? Dann können wir mit ein paar Bekannten brunchen gehen«, schlug er vor und ich willigte ein. Gerne wollte ich mehr von Halifax sehen und neue Bekanntschaften knüpfen. Bis auf ihn kannte ich ja noch niemanden.
Ben verabschiedete mich von mir. Nun war ich auf mich gestellt. Ich trat erneut nach draußen auf den Balkon. Es würde noch ungefähr eine Stunde dauern, bis die Sonne unterging. Draußen war es schon dämmrig und die Abendsonne tauchte die Bäume in ein warmes Licht. Fröstelnd verschränkte ich meine Arme vor der Brust und zog meine Jacke etwas enger um mich. Lange stand ich einfach nur da und bewunderte die Schönheit der Natur. Ich beschloss, noch mal schnell runter zum Wasser zu laufen. Das letzte Mal war ich vor neun Monaten am Meer gewesen und es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Auch wenn das Wasser hier noch viel zu kalt war, um darin zu baden, musste ich unbedingt zum kleinen Küstenabschnitt hinunter laufen, der offenbar zu Bens Haus gehörte.
Ich flitzte durch das Wohnzimmer, als ich fast mit jemandem zusammenstieß.
»Oh, sorry«, brachte ich gerade so heraus, bevor ich aufsah. Tiefbraune Augen blickten mich finster an und ich zuckte zusammen. Mein Gegenüber sagte nichts und starrte mich einfach nur an. Fast so, als wäre er aus Stein gemeißelt. Nach einem Augenblick, der mir schier endlos vorkam, atmete mein Gegenüber durch löste sich aus der Starre.
»Guten Abend«, sagte der Mann schlicht. Ich mochte seinen Kanadischen Akzent. Er verlieh seinen Worten etwas Wärme.
»Hallo, ich bin Ella«, plapperte ich drauf los, um dieser komischen Situation schnellstmöglich zu entkommen. Mein Gegenüber musterte mich unverhohlen von oben bis unten. Langsam glitt sein Blick über meinen dunkelgrünen Pullover, meine schwarze Röhrenjeans, bis er an meinen gemusterten Wollsocken hängen blieb. Diese zauberten ihm ein Grinsen aufs Gesicht, das jedoch eher hämisch als freundlich aussah.
«Ich weiß, wer du bist», sagte er schlicht, als er endlich seinen Blick von meinen Socken gelöst hatte. Er hatte etwas eingebildetes, unfreundliches an sich, das mir Unbehagen bereitete. Erst jetzt kam ich dazu, den Mann etwas genauer zu betrachten. Er war etwas größer als Ben, vielleicht 1,85m, was ihn immerhin einen Kopf größer machte als mich. Im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder hatte er pechschwarzes Haar, braune Augen und war meiner Meinung nach etwas besser gebaut. Seine breiten Schultern verrieten, dass er wohl regelmäßig trainierte. Über seinen muskulösen Oberarmen spannte sein weißes Hemd, was er sich in seine Anzugshose gesteckt hatte. Über einem Arm trug er ein Jackett. Wahrscheinlich kam er gerade von der Arbeit.
Als er merkte, wie ich ihn musterte, zog er belustigt eine Augenbraue nach oben.
»Na, gefällt dir was du siehst?«, fragte er anzüglich und ich verzog reflexartig das Gesicht. Bitte was? Was war das denn für ein Spinner?
»Äh, nein danke«, murmelte ich, während ich ihn ungläubig mit meinen großen grünen Augen anstarrte. Die Situation machte es mir schwer, passende englische Vokabeln zu finden. Am liebsten hätte ich ihm meine Meinung gesagt, aber ich konnte nicht. Mir fehlten einfach die Worte.
Er grinste nur lasziv, während er an mir vorbei ging. Hinter mir hörte ich die große Flügeltür ins Schloss fallen. Ich zog meine Schultern nach oben und ließ sie mit einem tiefen Atemzug wieder sinken. Ein Teil der Anspannung, die ich in der letzten Minute verspürt hatte, fiel sofort wieder von mir ab. Was für ein Idiot. Er hätte sich mir wenigstens mal vorstellen können. Aber er ‚wusste ja wer ich bin‘, äffte ich ihn in Gedanken nach und rollte mit den Augen. Er schien nicht nur äußerlich, sondern auch von seiner Art her das genaue Gegenteil von Ben zu sein.
Langsam zog ich meine Schuhe an und band die Schnürsenkel zu. Im Haus war es still. Kein Mucks war zu hören. Phil hatte sich wahrscheinlich in sein Arbeitszimmer verzogen. Schnell schlüpfte ich aus der Haustür und zog sie leise hinter mir zu. Ich stapfte über den Kies runter zum Wasser, während ich versuchte, alle neuen Eindrücke zu verarbeiten.
Die Wellen schwappten leise an den kleinen Sandstrand, der links und rechts von Felsen umgeben war. Den Strand hatten die Hausbesitzer wohl selbst angelegt, denn er schien an der steinigen Küste relativ unüblich zu sein. Mein Blick wanderte die Küste entlang. Nur wenige hundert Meter entfernt sah ich weitere Häuser, die sich in unmittelbarer Nähe zum Wasser befanden.
Ich setzte mich auf einen großen Felsen, der eine gute Aussicht auf das Wasser bot. Hier war ich nun. Allein. Plötzlich überkam mich das Heimweh. Ich hatte schon lange nicht mehr auf mein Handy geschaut. Einige Nachrichten von meinen Eltern sowie engsten Freunden hatten mich erreicht. Meine beste Freundin Sofia hatte mir gleich fünfzehn Nachrichten geschickt. Sie fragte, wie es mir ging, ob ich schon angekommen war und natürlich die wichtigste Frage: wie mein Mentor war.
‚Sieht er gut aus?‘, lautete eine ihrer Nachrichten. Ich musste lächeln. Das war so typisch für Sofia. Das war immer das erste, das sie wissen wollte. Obwohl jeder meine beste Freundin sehr attraktiv fand, war sie genau wie ich immer noch single. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie sich auf keinen Mann einlassen wollte und eher auf der Suche nach etwas Lockerem war. Oft sprachen uns junge Männer an, wenn wir beide gemeinsam etwas trinken waren und nicht selten ließ Sofia sich auf diese ein. Ich war nicht der Typ für einmalige Sachen. Ich war auf der Suche nach der großen Liebe.
Nach zwei gescheiterten Beziehungen hatte ich es vorerst aufgegeben, nach Mister Right zu suchen und mich für das Auslandsjahr beworben. Ich wollte etwas erleben, die Welt sehen. Und das, was ich gerade vor mir sah, raubte mir den Atem.
Die Sonne hatte mittlerweile den Horizont erreicht und versank langsam, während sie das Wasser golden färbte. Die Schatten der Bäume wurden immer länger, bis die Sonne schließlich hinter dem Horizont verschwand. Noch lange saß ich dort und ließ diesen magischen Ort auf mich wirken. Kaum zu glauben, dass es Menschen gab, die so einen Anblick jeden Tag genießen konnten, ihr ganzes Leben lang.
Erst als es schon fast komplett dunkel war, sah ich mich um. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie lange ich hier schon saß. Ich schaute auf die Uhr. Es war schon kurz nach sieben. Hunger und Müdigkeit machten sich in meinem Körper breit und ich rutschte langsam von dem großen Stein, den ich die letzten anderthalb Stunden als Sitzgelegenheit genutzt hatte.
Langsam begab ich mich zurück zum Haus, wobei ich die Umgebung genau studierte. In der Dunkelheit sah alles ganz anders aus, irgendwie auch ein bisschen gruselig. Ich schloss die Haustür auf, zog meine Schuhe aus und machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem.
Der Kühlschrank bot wirklich alles, was das Herz begehrte. Ich entschied mich für einen Joghurt und belegte Brote, holte mir einen Aufstrich aus dem Kühlschrank und setzte mich auf einen der Barhocker, um meine Brote zu schmieren.
Im Haus war es weiterhin still. Ich war froh, dass Phil nicht da war, auch wenn es mir etwas Unbehagen bereitete, ganz alleine hier zu sein. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich, das Essen mit in mein Zimmer zu nehmen. Das letzte was ich wollte, war eine weitere unangenehme Begegnung.
Gerade als ich mit meinem Teller die Treppe nach oben ging, öffnete sich eine Tür im Erdgeschoss. Schnell beschleunigte ich meinen Schritt und erreichte den ersten Stock, bevor mich jemand sehen konnte. Zügig ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür von innen ab. So, jetzt hatte ich meine Ruhe. Kurz sah ich mich um, bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzte und begann zu essen.
Meine Energie hatte an diesem Tag gerade noch für eine heiße Dusche gereicht, bevor ich mich hundemüde ins Bett fallen ließ. Die Zeitverschiebung von Deutschland zu Kanada machte mir zu schaffen. Die Reise war anstrengend gewesen und ich hatte im Flugzeug nicht so gut geschlafen. Ich kuschelte mich in die große Daunendecke und war binnen einer Minute eingeschlafen.
Langsam erwachte ich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Ich fühlte mich so erholt wie schon lange nicht mehr. Gähnend streckte ich alle Viere von mir. Bevor ich die Augen öffnete, kam es mir so vor, als würde ich daheim in meinem Bett liegen. Als ich sie schließlich öffnete, holte mich so langsam die Realität wieder ein. Der Blick auf mein Handy sagte mir, dass es kurz nach neun war.
Ben wollte mit mir um 10 Uhr in die Stadt fahren, also musste ich mich beeilen. Ich schwang die Beine aus dem Bett und tapste ins Bad, um mich fertig zu machen. Dafür brauchte ich nicht besonders lange, somit stand ich eine Viertelstunde später vor meinem halb ausgepackten Koffer, den ich letzten Abend einfach offen hatte liegen lassen. Schnell schnappte ich mir ein Outfit, zog mir einen Pullover über, schlüpfte in eine verwaschene Jeans und wechselte meine Socken. Heute gebe ich Phil keinen Grund, mich über meine Socken lustig zu machen, dachte ich mir, während schon wieder die Wut in mir zu schäumen begann.
Es war viertel vor zehn, als ich in die Küche kam. Zu meinem Pech war Phil auch da. Er drehte sich um, als ich ins Zimmer kam und direkt veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
»Guten Morgen, hübsche Lady«, sagte er, als wäre es das normalste der Welt, eine wildfremde Frau so zu begrüßen. Ich war so perplex, dass ich kurz brauchte, bis ich antwortete.
»Was soll das?«, fragte ich ihn direkt, ohne ihm einen guten Morgen zu wünschen.
»Ich dachte, ihr Frauen mögt Komplimente«, sagte er schulterzuckend, als wäre das eine Entschuldigung für sein Verhalten.
»Das mag ich in der Tat, aber garantiert nicht von solchen Typen wie dir«, schoss ich zurück. Wenn ich ihm nicht direkt Einhalt gebot, würde er wahrscheinlich nie mehr aufhören, mich zu drangsalieren.
Sein Blick zeigte Überraschung. »Nicht von so einem Typen wie mir?« Er schien nachzudenken, bevor wieder dieses ekelhafte Grinsen auf seinem Gesicht erschien. »Es macht dich also verlegen, wenn ein so gut aussehender Mann dir ein Kompliment macht?« Sein Grinsen wurde immer dreckiger und ich fasste mir an die Stirn. War das sein Ernst?
Angewidert verzog ich das Gesicht. »Du bist überhaupt nicht mein Typ«, behauptete ich, obwohl er zugegebenermaßen sowas von mein Typ war. Der Blick aus seinen dunklen Augen veränderte sich und er machte einen auf traurig.
»Das ist aber gar nicht schön zu hören. Ich dachte schon, du wärst mir verfallen, Süße«, sagte er mit einem aufgesetzten Schmollmund.
»Wenn ein Mann möchte, dass ich ihm verfalle, sollte er sich nicht wie ein totales Arschloch benehmen«, knurrte ich wütend und suchte im Kühlschrank nach etwas zu Trinken. Ich erblickte eine Flasche Orangensaft, welche meine Rettung war, zog sie schnell heraus und knallte die Kühlschranktür zu, bevor ich auf größtmögliche Distanz zu Phil ging.
Was ein Vollidiot. Dachte er wirklich, er konnte so bei einer Frau landen? Oder war ihm einfach nur langweilig? Wollte er Spielchen mit mir spielen? Egal was es war, ich fand es definitiv nicht lustig.
Nach meinem kleinen Ausbruch hatte er nichts mehr erwidert. Schweigend machte er sich einen Kaffee, während ich mich auf dem Sofa zusammenrollte und auf Ben wartete. Ich spürte Phils Blick in meinem Rücken und musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er mich anstarrte.
»Auch einen Kaffee?«, hörte ich seine Stimme hinter mir fragen. Obwohl ich zu gerne einen getrunken hätte, ignorierte ich ihn und tat so, als hätte ich ihn nicht gehört.
»Oh, die Lady redet nicht mehr mit mir«, murmelte er im Hintergrund und ich hörte ihn weiter in der Küche hantieren. Am liebsten hätte ich ihm noch etwas an den Kopf geworfen, aber ich konnte mich gerade so beherrschen. Wahrscheinlich wollte er mich doch nur auf die Palme bringen, aber diese Genugtuung wollte ich ihm nicht bereiten.
Die Tür ging auf und Ben betrat den Raum. Er blickte zuerst seinen Bruder, dann mich an.
»Morgen«, brummte er verschlafen und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Guten Morgen«, sagte Phil und hörte sich sofort ganz anders an. Diesen hämischen Ton schlug er wohl nur bei mir an.
»Hey«, sagte ich vom Wohnzimmer aus und Ben rang sich ein Lächeln ab, bevor er durch die Küche schlurfte und sich eine Kaffeetasse aus dem Schrank holte.
»Wurde gestern etwas später bei mir«, erklärte er, während er gähnte. »Wie ich sehe, habt ihr beide euch schon kennengelernt«, stellte er plötzlich fest, als ihm auffiel, dass Phil und ich im selben Raum waren.
»Eine Erfahrung, auf die ich hätte verzichten könnten«, antwortete ich aus dem Wohnzimmer, laut genug dass die beiden es verstehen konnten. Ben zog eine Augenbraue hoch und beobachtete Phil mit einem eindringlichen Blick. Dieser aber ließ sich nichts anmerken und werkelte weiter in der Küche herum.
»Bereit, Halifax zu erkunden?«, fragte Ben und klimperte mit den Autoschlüsseln. Ich stand auf und verließ gemeinsam mit ihm den Raum, ohne Phil noch eines Blickes zu würdigen.
Heute war es windstill. Die schwache Märzsonne wärmte mein Gesicht, als ich nach draußen trat, um meinen Tagestrip mit Ben anzutreten. Einzig und allein die komische Begegnung mit Phil trübte meine Laune. Ich musste Ben unbedingt mal darauf ansprechen. Am besten jetzt gleich.
Ich seufzte leise, bevor ich meinen ganzen Mut zusammennahm und Ben fragte.
»Sag mal, warum verhält Phil sich so komisch?«, fragte ich und schaute zu Ben rüber, der den Wagen sicher über die Landstraße lenkte. Ben seufzte laut und räusperte sich.
»Eigentlich ist er voll okay«, sagte er, als würde das alles erklären. »Momentan hat er viel Stress auf der Arbeit. Das wirkt sich massiv auf seine Laune aus. Gib ihm etwas Zeit, meistens braucht er ein bisschen, bis er sich an jemand Neues gewöhnt hat. Ich denke, ihr beide werdet euch noch richtig gut verstehen«, prophezeite er. Ich musste unwillkürlich lachen.
»Im Ernst?«, fragte ich Ben ungläubig, woraufhin er wild nickte.
»Glaub mir, Ella. Er ist eigentlich ein wirklich guter Mensch.«
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Ich dachte über Bens Worte nach. Dass ich mich jemals mit Phil gut verstehen würde, glaubte ich kaum. Andererseits kannte er seinen Bruder besser als ich. Vielleicht hatte Ben ja tatsächlich Recht und die Differenzen zwischen uns würden sich bald in Luft auflösen. Ich hing noch ein paar Minuten meinen eigenen Gedanken nach, bis Ben den Wagen in der Stadt parkte und wir uns auf den Weg zu dem Restaurant machten, in dem wir uns mit seinen Freunden treffen wollten.
Tatsächlich waren wir nur zu fünft. Ich hatte irgendwie mit mehr Leuten gerechnet, aber es war mir recht, zuerst nur einen kleinen Teil von Bens Freundeskreis kennenzulernen. So hatte ich wenigstens die Möglichkeit, mir alle Namen auf einmal zu merken, ohne andauernd nachfragen zu müssen. Matt, Ashley und Gina waren in unserem Alter und studierten auch an der State University. Ashley studierte englische Geschichte, was bedeutete, dass wir beide wahrscheinlich sogar einige Kurse zusammen hatten.
Mit den dreien verstand ich mich sofort blendend. Sie fragten mich pausenlos aus, über mich und Deutschland, unsere Sitten und Angewohnheiten. Im Gegenzug erzählten sie mir einiges über Kanada und die Eigenheiten der Kanadier.
Nach dem Brunch war ich um drei Handynummern reicher. Matt und Gina verabschiedeten sich, während Ashley sich entschied, den Rest des Tages mit uns zu verbringen.
Gemeinsam schlenderten wir durch das Shopping Center, welches als das größte auf der Halbinsel Nova Scotia angepriesen wurde. Geschäft reihte sich an Geschäft und Ashley kam nicht umhin, in fast jeden Laden abzubiegen.
Ich war keine Shopping Queen. Meistens kaufte ich Klamotten nur im Sale, da ich nicht bereit war, unnötig viel Geld für Kleidung auszugeben. Das bedeutete nicht, dass ich keinen guten Stil hatte. Ich war ein Naturtalent darin, Kleidungsstücke so zu kombinieren, dass ich chic aber dennoch lässig aussah. Etwas, worum mich meine beste Freundin Sofia grundlos beneidete.
»Ooooh, schau dir mal dieses Top an!«, quietschte Ashley, die Ben gerade noch davon abhalten konnte, in den nächsten Laden zu rennen.
»Hey, was soll das?«, beschwerte sie sich und versuchte, sich aus Bens Griff zu befreien. Doch er hatte sie fest am Handgelenk gepackt.
»Komm, lass uns Ella noch andere Seiten der Stadt zeigen außer unser Shoppingcenter«, grinste er und Ashley gab sich geschlagen.
»Na gut. Aber dieses eine Top will ich mir noch anschauen!«, rief sie, wandte sich geschickt aus seinem Griff und verschwand schneller als wir schauen konnten. Augenrollend folgte Ben ihr, woraufhin ich mir ein Lachen verkneifen musste.
»Das Top hat 200 Dollar gekostet?«, fragte ich entgeistert. Ich musste mir Mühe geben, dass mir meine Augäpfel nicht aus den Höhlen fielen.
»Ja, und?«, fragte Ashley, als wäre nichts dabei, das halbe Monatsgehalt eines Durchschnittsstudenten für ein einziges Kleidungsstück auszugeben.
»Ella ist nicht so reich wie wir«, sagte Ben schnell. Anscheinend hatte er das Gefühl mich in Schutz nehmen zu müssen und meine Aussage zu begründen.
Ashley drehte sich zu mir um und musterte mich.
»Das wäre mir jetzt gar nicht aufgefallen.« Sie wirkte überrascht. »Du hast einen wirklich guten Stil«, sagte sie, während ihr Blick über meinen Körper schweifte, was mir ein unangenehmes Gefühl bereitete.
»Danke«, murmelte ich verlegen.
Im weiteren Tagesverlauf erfuhr ich, dass Ashleys Vater eine führende Position in einer Bank innehatte, was der Familie anscheinend zu einem gewissen Wohlstand verhalf. Sie musste sich also nie Gedanken um Geld machen. Was für eine schöne Vorstellung.
Ehrlich gesagt machte ich mir selbst auch selten Gedanken über meine Finanzen. In Deutschland hatten meine Einkünfte aus verschiedenen Studentenjobs immer gereicht. Meistens konnte ich sogar noch etwas von meinem Gehalt zurücklegen und hatte mir mittlerweile eine schöne Summe an Ersparnissen geschaffen.
Neben meinem Job in der Unibibliothek arbeitete ich ab und an in einer Bar, wo ich für die Drinks verantwortlich war. Mittlerweile jobbte ich dort seit vier Jahren und mein Chef war mehr als traurig gewesen, als ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich ihn für ein Jahr verlassen würde.
Nachmittags kehrten wir zu dritt in einem schönen Cafe in der Innenstadt ein. Ich hatte das Gefühl, dass Ashley sich noch zu einer guten Freundin entwickeln würde. Ihre lockere Art brachte mich zum Lachen und wir hatten definitiv denselben Humor.
Wir verstanden uns so gut, dass Ashley uns sogar mit nach Hause begleitete, nachdem wir fast zwei Stunden im Cafe verbracht hatten. Das war genau das, was ich im Moment brauchte: Eine neue Freundin, die für mich da war und mich vom Heimweh ablenkte.
Ashley und ich stiegen schon einmal aus und gingen ins Haus, bevor Ben den Wagen in die Garage fuhr. Sie erzählte mir gerade von einem verrückten Professor an der Universität, über dessen unglaubliche Geschichten ich fast Tränen weinte, als wir ins Wohnzimmer traten und ich Phil erblickte. Sofort verstummte mein Lachen und wich einem unguten Gefühl in meiner Magengegend.
»Foster«, begrüßte Ashley ihn mit seinem Nachnamen. Sie schien wohl kein großes Problem mit ihm zu haben oder machte sich einfach nicht viel daraus.
»Duncan.» Phil verschränkte die Arme vor der Brust und musterte uns beide, wobei sein Blick hauptsächlich an mir hängen blieb. Böse funkelte ich ihn aus meinen grünen Augen an, woraufhin er einen Mundwinkel nach oben zog und mir zuzwinkerte.
»Gleich zwei hübsche Mädels in meinem Haus. Womit habe ich das verdient?«, fragte er, ohne uns aus den Augen zu lassen.
Ashley rollte mit den Augen. »Spar dir die dummen Sprüche, Foster. Keiner von uns beiden ist wegen dir hier. Ich glaube auch nicht, dass jemals irgendjemand wegen dir hier herkommt«, konterte sie. Phils Miene blieb unverändert, aber irgendetwas in seinem Inneren schien zu arbeiten, bevor er sich abwandte und uns unsere Ruhe ließ.
»Wow, du hast das Monster erfolgreich besiegt«, raunte ich Ashley zu und sie lachte.
»Tja, ich weiß eben wie ich kontern muss«, zwinkerte sie mir zu und wir machten uns auf den Weg in mein Zimmer, um weiter zu quatschen und uns näher kennenzulernen.
Der restliche Abend verging wie im Flug. Schon um neun Uhr war ich unfassbar müde. Die Zeitverschiebung steckte mir immer noch in den Knochen. Ich verabschiedete Ashley nach vielen gemeinsamen Stunden, in denen wir uns relativ gut kennengelernt hatten und verzog mich ins Bett. Für morgen, einen Freitag, hatten wir uns wieder verabredet. Ashley wollte mir das Nachtleben in Halifax näher bringen. Was auch immer das bedeutete, aber ich war mir sicher, dass sie mit mir feiern gehen wollte.
Verzweifelt durchwühlte ich meinen Koffer nach einem Outfit für den Abend. Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, etwas Schickes zum Ausgehen mitzunehmen. Schließlich fiel meine Wahl auf eine schwarze Röhrenjeans und meine Lieblingsbluse, die sich sicher perfekt kombinieren ließen. Das Oberteil war hellgrün und hatte Ärmel zum Hochkrempeln, die man mit einem Knopf auf Ellenbogenhöhe befestigen konnte, damit sie nicht wieder runterrutschten.
Ich musste unbedingt einen Laden finden und mich dort mit ein paar schönen Kleidern eindecken, dachte ich mir, als ich die kümmerliche Auswahl an Kleidung betrachtete, die ich von zu Hause mitgenommen hatte. Wenn ich mit Ashley und ihren Freundinnen mithalten und nicht als arme Außenseiterin gelten wollte, musste ich mir schnellsten etwas passendes zum Anziehen besorgen.
Wenn ich so darüber nachdachte, frage ich mich wirklich, warum eine Person wie Ashley mit jemandem wie mir abhing. Sie war reich, hübsch und trug maximal Größe 34, während meine Kleidergröße zwischen 36 und 38 schwankte. Ich mochte meinen Körper, aber kam mir neben ihr fast schon zu stämmig vor. Meine negativen Gedanken übernahmen die Kontrolle. Was, wenn ich ihr und ihren Freundinnen doch nicht so passte, wie ich dachte? Was, wenn sie sich über mich lustig machten?
Es war erst elf Uhr morgens. Wenn ich einen Bus erwischte, dann hatte ich noch die Möglichkeit, in die Stadt zu fahren und etwas einzukaufen. Schnell schnappte ich meine kleine Handtasche, steckte meinen Geldbeutel hinein und stürmte aus dem Zimmer, wo ich fast mit Phil zusammenstieß. Ihm schien mein gehetzter Gesichtsausdruck aufzufallen, woraufhin er seine Stirn runzelte.
»Alles okay?«, fragte er unerwartet mitfühlend und ich kam nicht umhin, ihm ein »Ja, natürlich«, an den Kopf zu werfen, was sich nicht besonders glaubwürdig anhörte.
»Wo willst du hin?«, fragte er mich zu meiner Überraschung. Ich hatte gehofft, dass er mich einfach in Ruhe lassen würde.
»In die Stadt«, antwortete ich knapp und lief so schnell ich konnte die Treppe nach unten.
»Ich wollte auch in die Stadt, ich kann dich mitnehmen«, sagte er ruhig. »Warte noch fünf Minuten, dann bin ich soweit.«
Bloß nicht, dachte ich und stürmte davon. So schnell ich konnte band ich meine Dr. Martens und warf die Haustür hinter mir zu. Sollte Phil doch schauen wo er blieb.
Die Kiesauffahrt war länger als ich dachte. Während ich schnellen Schrittes den schmalen Weg entlang hastete, hörte ich von hinten ein Auto nahen. Mist. Dem Motorengeräusch zu urteilen handelte es sich um einen Sportwagen, aber ich war mir nicht sicher. Umdrehen wollte ich mich auch nicht.
Phil steuerte den Wagen neben mich und ließ das Fenster herunter. »Sicher, dass du nicht mitfahren willst?«, fragte er und zog eine Augenbraue nach oben.
Ich warf ein Auge auf sein Auto und stellte fest, dass er einen pechschwarzen Maserati fuhr. Kurz war ich überwältigt, bevor ich mich wieder ihm zuwandte.
»Denkst du wirklich, dass ich bei dir ins Auto steige?«, fragte ich ihn ungläubig und betrachtete ihn abschätzend.
»Da die nächste Stunde kein Bus fährt, gehe ich davon aus, dass du dich besinnst und einsteigst, ja«, grinste er und hielt an. »Komm schon«, sagte er etwas versöhnlicher. Wütend starrte ich ihn an. War das sein Ernst? Fast hätte ich mit dem Fuß aufgestampft, um meinem Ärger Luft zu machen.
Also tat ich das einzig vernünftige, ging um das Auto herum und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen.
»Brav«, gab Phil von sich, ganz das Arschloch das er nun mal war, und gab wieder Gas. Am liebsten hätte ich ihm eine reingehauen. So ein Idiot.
»Übrigens habe ich dich angelogen, es fährt ein Bus alle halbe Stunde«, erwähnte er beiläufig. »Aber ich bekomme immer was ich will«, ergänzte er und warf einen kurzen Blick auf mich, bevor er seine Augen wieder auf die Straße richtete.
»Wie bitte?«, ich traute meinen Ohren kaum.
»Du hast schon richtig gehört, Süße«, grinste er, während er auf der Landstraße beschleunigte. Der Motor des Maserati heulte auf und ich spürte, wie ich in den Sitz gedrückt wurde.
»Das fass ich nun echt nicht!« Empört verschränkte ich die Arme vor der Brust.
»Tja, dich muss man eben zu deinem Glück zwingen. Wer hat schon die rare Möglichkeit, mit einem Maserati in die Stadt gefahren zu werden?«, fragte Phil, als wäre es etwas, auf das ich mir was einbilden konnte.
»Weißt du, dass du ganz schön oberflächlich und eingebildet bist?«, warf ich ihm wütend an den Kopf.
»Danke für das Kompliment«, erwiderte er trocken. Es schien ihn nicht weiter zu interessieren, was ich von ihm hielt, was mich noch wütender machte. Wie konnte man sich so verhalten und dann auch noch gut dabei fühlen?
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Ich wusste nicht mal, wo ich genau hin wollte. Ich kannte mich in der Stadt ja noch gar nicht aus. Wahrscheinlich würde der Idiot mich irgendwo absetzen und nie wieder aufsammeln. Aber das war mir auch recht. Mit dem würde ich garantiert nicht mehr zurückfahren.
Wir fuhren durch die Innenstadt, die Ben mir am Vortag gezeigt hatte. Einige Straßenecken erkannte ich wieder. Leute drehten sich nach uns um und sahen uns nach, als der Maserati sich mit dröhnendem Motor seinen Weg durch die Straßen bahnte.
»Wo soll ich dich rauslassen?« Phils Worte durchbrachen die Stille und rissen mich aus meinen Gedanken.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich und hoffte, dass er mich irgendwo absetzen würde.
»Was hast du in der Stadt vor?«, fragte Phil mich und drehte seinen Kopf zu mir.
»Ich hatte vor, mir ein paar neue Klamotten zu besorgen, da ich gefragt wurde, ob ich heute ausgehen möchte.« Das Gespräch ging mir langsam gegen den Strich. Warum konnte er es nicht einfach gut sein und mich in Ruhe lassen?
»Ah, ich verstehe.« Phil klang belustigt. »Die Lady möchte shoppen.« Wie sich das anhörte. Wütend ballte ich meine Fäuste. Er stempelte mich also als 0815-Tussi ab, die in ihrem Leben nichts anderes zu tun hatte, als den ganzen Tag zu shoppen. Aber ich beschloss, mich nicht zu rechtfertigen und einfach den Mund zu halten. Phil war bei einer Diskussion in seiner Muttersprache definitiv überlegen und ich hatte keine Lust, mich schon wieder über ihn grün und blau zu ärgern.
Er grinste, als ich nicht antwortete. »Na, habe ich einen wunden Punkt getroffen?« Seine Stimme triefte nur so vor Spott und ich schüttelte bloß den Kopf. Es war eine absolute Fehlentscheidung gewesen, zu ihm ins Auto zu steigen. Ich wünschte mir, an diesem Tag das Haus gar nicht verlassen zu haben. Es war grauenhaft.
»Lass mich bitte einfach irgendwo raus«, sagte ich entkräftet und kämpfte aus irgendeinem Grund mit den Tränen. Plötzlich fühlte ich mich allein und verlassen. Einsam. In einem Land, sehr weit weg von daheim, wo ich so gut wie niemanden kannte. Das Heimweh traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Als Phil an einer Ampel hielt, riss ich die Autotür auf und stürmte aus dem Wagen, bevor er sich umsehen konnte.
So schnell meine Beine mich trugen, lief ich über den Gehsteig in die Richtung aus der wir kamen, damit er mir nicht folgen konnte. Ich würde schon zusehen, wie ich nach Hause kam, dachte ich mir, während ich meine Handtasche fest umklammert hielt. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Phil würde ich garantiert nicht nachschauen, dachte ich mir wütend.
Langsam beruhigte ich mich wieder und kam dazu, mich umzusehen. Ich befand mich mitten in der Innenstadt. Kleine Geschäfte und Cafes säumten den Straßenrand. Die Straßen waren fast leer, aber von einem Werktag hatte ich zur Mittagszeit auch nichts anderes erwartet.
Kurz bleib ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich total aus der Puste war. Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass es kurz vor 12 war. Mein Magen meldete sich mit einem lauten Knurren und verlangte nach etwas Essbarem.
Ich beschloss, mich in einem der kleinen Cafes niederzulassen und mir in der Zwischenzeit zu überlegen, wie ich meinen Tag in der Stadt gestalten wollte.
Eine Glocke bimmelte leise, als ich das Cafe betrat. Es war gemütlich aber dennoch modern eingerichtet. Bis auf ein Pärchen und einen älteren Herren, der in der Ecke seine Zeitung las, war der Raum leer.
Eine junge Frau kam aus einem Nebenzimmer, und trat hinter die Theke. Lächelnd begrüßte sie mich und wartete auf meine Bestellung. Ich entschied mich für einen Cappuccino und einen Lachsbagel.
Nachdem ich bezahlt hatte, suchte ich mir einen Tisch am Fenster aus. So konnte ich einen Blick auf die Straßen von Halifax werfen.
Ich kam nicht umhin, den Bagel sofort zu verschlingen, bevor ich überhaupt einen Schluck von meinem Cappuccino genommen hatte. Mir war gar nicht aufgefallen, wie hungrig ich gewesen war. Aber kein Wunder, heute Morgen war ja nicht einmal Zeit für ein Frühstück geblieben. Entspannt lehnte ich mich zurück und holte mein Handy aus der Hosentasche. Drei neue Nachrichten von Sofia und fünf von Ashley. Insgeheim freute ich mich, dass sie mir geschrieben hatte. Das Gefühl der Enge und des Heimwehs in meiner Brust löste sich langsam, während mein Blick über die Zeilen schweifte.
'Hey! Ich habe gehört, du bist in der Stadt.'
'Ich bin auch gerade da, in der Rosebank Avenue.'
'Melde dich, dann können wir Zeit miteinander verbringen.'
'Ich kenne einen guten Laden hier in der Nähe, wenn du auf der Suche nach schickem Zeug zum Anziehen bist.'
'Bis gleich!'
Etwas perplex starrte ich auf den Bildschirm. Woher wusste Ashley, dass ich in der Stadt war? Der einzige, der davon wusste, war Phil. Warum sollte er ihr Bescheid gesagt haben? Als sie sich am Vortag trafen, kam es nicht so rüber, als hätten sie ein freundschaftliches Verhältnis. Aber bei Phils Verhalten wunderte mich auch nicht, dass er mit niemandem ein gutes Verhältnis zu haben schien.
Schnell tippte ich eine Antwort, während ich an meinem Cappuccino nippte. Der warme Kaffee rann angenehm meine Kehle hinunter und langsam wich die restliche Anspannung aus meinem Körper. Es würde schon alles gut werden, redete ich mir selbst zu, während ich auf Ashleys Antwort wartete.
Wir verabredeten uns, der Treffpunkt war nur ein paar Straßen weiter. Mir blieben nur noch 15 Minuten, bis ich am vereinbarten Ort sein musste. Schnell trank ich meinen Kaffee aus, kaufte mir noch eine Flasche Wasser für den Weg, die ich gerade so in meiner Handtasche verstauen konnte, und verließ das Cafe.
Ashley wartete schon auf mich, als ich um die Ecke bog. Sie trug kniehohe Wildlederstiefel, einen dunkelgrünen Mantel und eine gelbe Bommelmütze, unter der ihre blonden Haare hervorblitzten. Als sie mich erblickte, erhellte sich ihr Gesicht und sie strahlte mich an. Ashley schien sich wirklich zu freuen, mich zu sehen.
Herzlich umarmte sie mich und drückte mich dabei fest, was ein Gefühl der Geborgenheit in mir auslöste.
»Hey, na!«, rief sie fröhlich und strahlte über das ganze Gesicht.
»Hi«, sagte ich und kam nicht umhin, mich unglaublich erleichtert zu fühlen. Der Gedanke, allein in der Stadt zu sein, ohne zu wissen, wie ich wieder nach Hause kam, hatte mir doch ein wenig zugesetzt.
»Phil hat mich angerufen und mir erzählt, du wärst irgendwo hier in der Stadt«, plapperte sie drauf los. Aha. Also doch. Phil hatte ihr diese Information weitergegeben. Ich zog misstrauisch eine Augenbraue nach oben und ließ sie weiterreden.
»Wie geht es dir? Er meinte du wärst ein wenig... aufgewühlt.« Ashley betrachtete mich prüfend. Ein wenig aufgewühlt. Nette Beschreibung, dachte ich mir, während ich Phil in Gedanken verfluchte.
»Mir geht es gut. Ich habe nur den Fehler gemacht, mich von ihm in die Stadt fahren zu lassen.« Ich seufzte tief, aber Ashley schien mein Problem nicht wirklich zu verstehen. Also holte ich noch mal etwas weiter aus.
»Phil verhält sich mir gegenüber wie der letzte Mensch. Mir ist schon lange nicht mehr jemand begegnet, der sich so unglaublich daneben verhält wie er!«, rief ich in Rage und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. »Und irgendwann hat es mir gereicht, da bin ich einfach an einer roten Ampel ausgestiegen«, rechtfertigte ich mich. Ashley hielt kurz inne und ich war mir nicht sicher, was sie von der Geschichte hielt, als sie plötzlich schallend anfing zu lachen.
»Du bist einfach ausgestiegen und hast Foster sitzen lassen?«, fragte sie, während sie sich vor Lachen kaum halten konnte.
»Ja.« Ich zuckte mit den Schultern, worauf Ashley noch heftiger von einem Lachanfall geschüttelt wurde.
»Das glaube ich nicht«, kicherte sie und fasste sich an den Bauch. »Da hast du ihm ja ganz schön gezeigt wo es lang geht.« Sie grinste und schüttelte den Kopf.
Während der nächsten halben Stunde erzählte Ashley mir mehr über Phil und warum er ihr gesagt hatte, dass ich in der Stadt unterwegs war. In ihren Erzählungen hörte es sich so an, als wäre er ein super netter Kerl, der sich um mich sorgte, weil ich mutterseelenallein in einer fremden Stadt war, in der ich niemanden kannte.
»Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Normalerweise ist es nicht so unausstehlich.« Ashley zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ihn seit ich angefangen habe, mit Ben zu studieren. Das sind jetzt...«, sie überlegte kurz, »drei Jahre. Eigentlich ist er witzig, humorvoll und hilfsbereit.« Bei diesen Worten musste ich kurz lachen.
»Du meinst wohl sexistisch, gemein und eingebildet?«, fragte ich, während ich kaum glauben konnte, was Ashley über ihn erzählte. Vielleicht lag es auch nur an mir, dass Phil sich so unmöglich verhielt. Vielleicht passte ihm meine Nase nicht oder er hatte generell etwas gegen Deutsche. Den anderen gegenüber schien er zumindest wesentlich freundlicher zu sein. Aber was wusste ich schon.
Wir betraten das Shopping Center, durch das wir gestern schon gelaufen waren. Gemeinsam durchstöberten wir einige Läden nach einem passenden Partyoutfit, wobei mir die Preise durchweg utopisch vorkamen.
»Dir ist klar, dass ein Kleid für 300 Dollar absolut unerschwinglich für mich ist?«, fragte ich Ashley, als sie mir ein dunkelrotes Kleid in die Hand drückte. Sie zog eine Augenbraue nach oben und überlegte kurz, bevor sich ein Schalter in ihr umlegte.
»Oh«, brachte sie heraus und schien zu überlegen. »Ich bezahle es dir«, sagte sie schnell. »Und jetzt probiere es mal an!«
»Nein, nein, nein. Du bezahlst mir gar nichts.« Die Strenge in meinem Blick zeigte ihr, dass ich diesbezüglich nicht mit mir reden ließ. »Ich möchte nicht bei dir in der Schuld stehen für ein blödes Kleid. Ich bin mir sicher, wir finden auch ein günstigeres. Für maximal 50 Dollar. Mehr habe ich leider nicht zur Verfügung.« Genau genommen hatte ich für diesen Monat noch 350 Dollar übrig. Den Rest des Monats würde ich ordentlich sparen müssen, damit ich nichts von meinen Ersparnissen aufbrauchen musste.
»Na gut«, murrte Ashley, nahm mir das Kleid aus der Hand und hängte es wieder an die Kleiderstange. »Ein Stockwerk weiter oben ist ein Laden, der günstigere Kleidung führt«, erklärte sie mir, als wir uns auf den Weg machten. »Dort gibt es auch süße Kleider«, sagte sie während ihre Augen anfingen zu strahlen. Oh ja, Ashleys Hobby war definitiv Shopping. Aber wenn ich so viel Geld hätte wie sie, würde ich wahrscheinlich auch den halben Tag damit verbringen, es auf den Kopf zu hauen.
Das Geschäft hatte tatsächlich deutlich günstigere Preise als der vorhergehende Laden. Die Auswahl war riesig. Als ich auf die Uhr sah, merkte ich, dass es schon kurz nach zwei war. Wir hatten also schon ganze zwei Stunden damit verbracht, Kleider anzuprobieren.
»Wow!« Ashley pfiff leise durch die Zähne. »Das sieht wirklich gut an dir aus. Nimm das!« Sie hüpfte aufgeregt auf und ab, wie sie es bei fast jedem Kleid tat, das ich ihr angezogen präsentierte.
Ich blickte an mir herunter. Der Stoff war dunkelgrün und glänzte. Je nach Lichteinfall wirkte er fast schwarz. Das Satinkleid ging mir fast bis zu den Knien, hatte relativ dünne Träger und betonte gut die Vorzüge meines Körpers. Es war nicht ganz eng anliegend, aber auch nicht zu weit. Es war... »Perfekt!« Rief Ashley in diesem Moment und klatschte freudig in die Hände.
Für 35 Dollar war das Kleid mein. Da ich mich nicht entscheiden konnte, mussten noch zwei weitere Kleider mit. Ein kleines Schwarzes und ein rotes Kleid steckten ebenfalls in meiner Tüte. Bevor ich mich versah, zerrte Ashley mich nach Verlassen des Geschäfts in einen Schuhladen, um passende Schuhe auszuwählen. Da ich nur drei Paar Schuhe aus Deutschland mitgenommen hatte und kaum meine klobigen Dr. Martens zum Ausgehen anziehen konnte, war die Idee vielleicht gar nicht so verkehrt.
Die Schuhe hatten wir wesentlich schneller gefunden als das passende Kleid. Die Wahl fiel auf ein schlichtes Paar High Heels in der Farbe schwarz. Diese Schuhe waren zeitlos und passten einfach zu jedem Outfit.
Ashley hakte sich bei mir unter, als wir gemeinsam durch das Shopping Center zum Ausgang liefen.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragte sie und ich war insgeheim sehr dankbar für diese Frage.
»Wenn es dir keine Umstände macht?«, antwortete ich vorsichtig und sie lächelte.
»Ach was. Außerdem wohne ich sogar in der Nähe«, sagte sie, was mich überraschte.
Tatsächlich waren es nur fünf Kilometer Umweg für Ashley, mich nach Hause zu fahren. Spontan fiel mir kein Auto ein, das besser zu ihr passte, als ihr quietschgelber Audi TT, mit dem sie mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Straßen jagte.
Der Kies spritzte zu allen Seiten, als sie im Hof eine Vollbremsung hinlegte.
»So, da wären wir. Soll ich dich heute Abend abholen? Dann musst du dir keine Gedanken machen, wie du in die Stadt kommst«, bot sie mir an und ich sagte dankend zu. Wir verabschiedeten uns und ich ging ins Haus.
Ben saß im Wohnzimmer und starrte auf sein Handy, während er eine Schüssel Cornflakes aß. Cornflakes am Nachmittag, dachte ich mir schmunzelnd.
Er hob den Kopf, als er hörte, dass jemand das Zimmer betreten hatte. Er fing an, fröhlich zu grinsen, als er mich erblickte.
»Na, alles klar?«, fragte er, legte sein Handy zur Seite und folgte mir in die Küche.
Mein Magen meldete sich schon wieder zu Wort. Bis auf den Bagel hatte ich heute noch nichts gegessen und es war schon vier. Hungrig öffnete ich den Kühlschrank. Ben sah mir über die Schulter und schlug mehrere Gerichte vor, die wir beide zusammen kochen könnten. Anscheinend waren seine Kochkünste miserabel, denn er schien darauf zu hoffen, dass ich etwas für uns beide zubereitete. Nach kurzem Überlegen entschieden wir uns für Spaghetti Bolognese. Mir blieb gar nicht so viel Zeit, da Ashley mich um sieben schon wieder abholen wollte.
Die Spaghetti waren schnell gekocht. Ben schien es zu schmecken, denn er holte sich noch einen enorm großen Nachschlag. Wir saßen gemeinsam am Esstisch in der Küche, als ich die Haustür aufgehen hörte. Direkt spürte ich einen dicken Kloß im Hals. Bitte lass es nicht Phil sein, betete ich, obwohl ich wusste, dass außer Ben, mir und ihm sonst niemand hier wohnte.
Aber meine Gebete schienen nicht erhört worden zu sein.
Phil hielt kurz inne als er uns erblickte. Seine dunkeln Augen waren unergründlich, aber bis auf eine knappe Begrüßung ließ er uns in Ruhe und verschwand durch die Flügeltür. Der Blick den er mir zuwarf, ließ mich erschaudern.
Ben schien die Spannung zwischen mir und seinem Bruder nicht mal wahrzunehmen. Er erzählte mir von seinem Tag. Gemeinsam mit drei Freunden hatte er den Tag im Keller verbracht, wo es anscheinend einen Pool, sowie eine Sauna gab. Davon hatte mir bisher noch niemand erzählt, dementsprechend überrascht war ich. Er versprach mir, gleich nach dem Essen in den Keller zu gehen und mir den Pool zu zeigen. Ein eigener Pool. Wahnsinn. Sowas existierte bisher eigentlich nur in meinen Träumen.
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2019
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