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Die verschollene Straßenbahn

 

Wieder einmal saß ich in meiner Eigenschaft als Ingenieur für Kreativtechnologie bis lange nach Mitternacht im gleichnamigen Institut an meinem Schreibtisch und blätterte kopfschüttelnd in jener grauen Akte, die mir von den Behörden der Stadt zur Verfügung gestellt wurde. Man hatte unserem Institut den Fall zur Aufklärung übergeben, weil die bei den städtischen Behörden angestellten Spezialisten bei der hier vorliegenden Problematik offensichtlich mit einer probaten Lösung sehr wahrscheinlich überfordert waren. Was ich in dieser Akte allerdings zu lesen bekam, war so unglaublich, dass selbst mir an manchen Stellen die Haare zu Berge stiegen. Aber immer schön der Reihe nach...

 

An dem viel zu milden und regnerisch, trüben Neujahrstag ging ein ungewöhnlicher Anruf von der Berliner Verkehrsgesellschaft bei der Polizei ein. Im Verlaufe dieses Gesprächs teilte ein Abteilungsleiter der Abteilung «TRAM», dem diensthabenden Polizeikommissar mit, dass ihm von seinem Straßenbahndepot in Berlin-Lichtenberg eine alte Straßenbahn abhandengekommen sei. Genaugenommen handele es sich dabei um ein einzelnes Triebfahrzeug. Verschwunden, vermutlich gestohlen, in der Silvesternacht von dem verschlossenen Hof des Depots. Von dort aus sollte am Neujahrstag eine bereits längerfristig genehmigte Sonderfahrt mit eben dieser historischen Straßenbahn stattfinden, wenn es denn die Witterungsverhältnisse an diesem Tag zuließen. Bei dem entwendeten Schienenfahrzeug handelte es sich um einen Straßenbahntriebwagen, Nummer: 5472, Typ: TF 13/25, ein einfarbig gelb gespritztes Schienenfahrzeug, welches vom Baujahr her aus dem Jahre 1913 stammte. Zu seinem größten Bedauern könne man jedoch leider weder das Triebfahrzeug auffinden, noch könne man sich den Verlust anderwärtig erklären und erstatte deshalb Anzeige, wegen schweren Diebstahls und unbefugten Benutzens eines Schienenfahrzeugs gegen unbekannt...

Der diensthabende Kriminalist nahm entsprechend der Vorschrift die Anzeige auf und schickte umgehend einen ambitionierten, jungen Kollegen nach Berlin-Lichtenberg zu dem genannten Straßenbahndepot, um diesen unerhörten Vorgang zu eruieren. Zur gleichen Zeit gab er eine sofortige Fahndungsmitteilung nach einer alten Berliner Straßenbahn an alle im Einsatz befindlichen Polizeikräfte im Raum Berlin heraus. Handschriftlich war auf dem kopierten Bericht vermerkt worden, …vermutlich wieder so ein dreister Dummer-Jungen-Streich, wer klaut denn sonst schon eine Straßenbahn, noch dazu so eine alte Klapperkiste von 1913?...

Was folgte, war der zusammengefasste Bericht des vor Ort ermittelnden Kriminalbeamten…

Das robuste Rolltor, wie auch das elektronische Schloss des Straßenbahndepots waren unversehrt. Ebenso das zusätzlich angebrachte massive Sicherheitsschloss, von dem nur ein einziger Reserve-Schlüssel existierte und der sich auch nach wie vor in einem gesicherten Stahlschrank des Verwaltungsgebäudes befand. Eine spätere labormäßige Untersuchung der gesamten Schließanlage des Depots ergab keinerlei Hinweis auf eine weitere Verwendung eines schlossfremden Schließwerkzeugs. Die letzte elektronisch registrierte Schließung des Rolltores fand exakt am 31. Dezember um 21.41 Uhr statt und zu diesem Zeitpunkt befand sich die historische Straßenbahn laut mehrfachen Zeugenaussagen bereits seit geraumer Zeit auf dem sicher umzäunten Areal des Straßenbahn-Depots. Ebenso, wie der deutlich gekennzeichnete Sonderfahrschüssel dieser Bahn nachweislich in einer sichereren Verwahrung des Verwaltungsgebäudes vorgefunden wurde. Eine persönlich veranlasste Suche des ermittelnden Beamten auf dem riesigen Bahnbetriebsgeländes unter Zuhilfenahme eines zusätzlich angeforderten Teams der Schutzpolizei mit einem Einsatzfahrzeug, blieb jedoch ergebnislos. Da dieser Berliner Straßenbahnhof über keine spezielle Video-Überwachungsanlage verfügte, konnte in diesem unklaren Fall ein klassisches Eigentumsdelikt zunächst nicht nachgewiesen werden. Am selben Tag ermittelte die Kriminalpolizei jedoch noch zwei unbeteiligte Zeuginnen, welche die Existenz dieser vermissten historischen Straßenbahn auf dem Depotgelände des Berliner Betriebshofes Nummer 24 bis etwa gegen 0.00 Uhr in der Silvesternacht bestätigen konnten. Bei den beiden Zeuginnen, die dem Berliner Rotlichtmilieu angehören und der Staatsanwaltschaft namentlich bekannt sind, handelt es sich um Augenzeugen, die gegen null Uhr in der Silvesternacht eine "Ungewöhnliche Lichterscheinung" auf den Gelände des Berliner Straßenbahnhofes Nummer 24 wahrgenommen haben wollen. Nachfolgend wurden die beiden Zeuginnen Doro G. und Luci B. zu dem genannten Sachverhalt befragt.

- Auszug aus dem Aussageprotokoll der Zeugin Doro G.

»Genau genommen wollten wir vier um diese Zeit eigentlich alle längst schon am Brandenburger Tor sein, aber diese verdammten Kerle mussten ja vorher unbedingt noch in einer Kneipe, eine Flasche Wodka kaufen. Sie, und det hat gedauert, sag' ick Sie, bis jeder auch noch seine fünf Bier intus hatte. Und eh‘ wir denn endlich wieder los kamen, mit die zwee. Dann ooch noch bei diesen fiesen Nieselregen. Als es dann aber so richtig zu regnen begann sind wir erst mal zu viert in das kleine Wartehäuschen der Straßenbahnhaltestelle, direkt gegenüber von den Straßenbahnhof. Unsere beiden Kerle waren inzwischen auch schon ziemlich angetütert und so wollten wir wenigstens warten, bis es aufhörte mit diesem ekligen, kalten Regen. Zwischendurch haben wir uns dann noch miteinander ein bisschen die Zeit vertrieben. Die Jungens haben wegen dem ungemütlichen Wetter auch noch mal die halbe Wodkaflasche kreisen lassen, bis der Flaschenboden von innen trocken war. Danach meinte meiner, Doro-Schätzchen, denn mach doch mal, und setzte sich breitbeinig vor mich auf die Sitzbank. Denn hockte ick mia vor ihm auf den Boden und denn… Soll ick Sie weiter erzählen, Herr Kriminal?«

Beamter:

»Nein, nein, es ist genug, äh'… Ich glaube, wir wissen alle, was gemeint ist. Bitte erzählen Sie, was danach geschah. «

»Also gut, wie er nun fast fertig war, da wird det auf einmal janz hell hinter mia. Ein richtig helles Licht kam plötzlich von dem Straßenbahnhof herüber. Und wie ich mich gerade umdrehen will, ist es auch schon wieder vorbei und so finster wie im Bärena… Verzeihung… na, so richtich duster eben. Das war dann auch dummerweise ausgerechnet der Moment, wo er mir meinen schicken, silbernen Lurex-Pulli eingesaut hatte…«

- Aus dem Aussageprotokoll der Zeugin Luci B.

»Genau wie Doro es schon gesagt hatte, nur das meiner direkt hinter mir stand und ich dabei auf den dunklen Straßenbahnhof von vis-à-vis geguckt habe. Meiner hatte es nämlich gerne, wenn ich gebückt vor ihm stehe und er mir von hi…«

Beamter:

»Zeugin, es wäre gut, wenn Sie sich nur auf die relevanten Sachverhalte beschränken würden, die mit den tatsächlichen Ereignissen auf dem Straßenbahnhof zu tun hatten. Ihre sämtlichen anderen Aktivitäten stehen hier nicht zur Debatte.«

»Ganz, wie Sie meinen, Herr Kriminal. Also, wie wir grade… Na ja, es war also kurz nach zwölf, als meiner gewissermaßen seine ganz private Rakete abgeschossen hatte und die ganze Knallerei mit dem übrigen hübschen bunten Feuerwerk losging. Die Raketen stiegen hoch in den Himmel und auf dem Straßenbahnhof erstrahlte plötzlich ein ganz helles Licht, viel heller als dis ganze andere Feuerwerk zusammen. Das Leuchten kam direkt von einer alten Straßenbahn, die da mitten auf dem Hof stand…«

Beamter:

»Soll ich Sie so verstehen, Zeugin, dass jemand die Beleuchtung an der Straßenbahn eingeschaltet hatte?«

»Na, nicht nur das, Herr Kriminal. Dis war ja das Irre daran, es sah so wunderschön aus, dass ick zuerst dachte, die Leute von dem Straßenbahnhof hätten sich da aber eine echt tolle Silvesterüberraschung einfallen lassen. Die gesamte alte Straßenbahn schien von sich heraus zu leuchten. Es war ein richtig grelles Leuchten, als würde die olle Klingel anfangen zu glühen, aber eben ohne zu brennen, verrückt wa? Sie, et war ja aber auch kein Rauch und auch kein andres Feuer nich zu sehen. Wenn Se' verstehen, wat ick meine…«

Beamter:

»Konnten Sie denn Personen auf dem Gelände des Straßenbahnhofs erkennen?«

»Nee, keine Menschseele nich. Der ganze Budenzauber war ja nach weniger als zehn Sekunden auch schon wieder zu Ende und dann war es ja beinahe wieder so stockefinster auf dem Straßenbahnhof, wie Doro et schon sagte. Also bis auf die zwei kleinen Laternen mit dem Schummerlicht auf‘m Hof. «

Beamter:

»Haben Sie denn die Straßenbahn danach noch einmal gesehen, Frau Zeugin?«

»Jetzt, wo Sie mich so direkt fragen, Herr Kriminal… nee, eigentlich nich. Jut, es war ja auch ziemlich dunkel, aber durch die bunten Raketen und das viele Feuerwerk war es zwischendurch auch immer wieder mal n' bissken heller. Merkwürdig, aber Sie haben recht, die Klingel, die war... gloobe ick, verschwunden, beinahe wie wegjezaubert. Aber ehrlich, Herr Kriminal, Sie könn‘ mia vielleicht ooch Fragen stellen. Eigentlich waren wir alle schon viel zu beso…äh‘ beschwippst, um et noch ganz jenau zu wissen. Nur jetzt im Nachhinein, wo Sie‘s sagen, da glaube ich Sie, mich zu erinnern. Nee, nee die Klingel, die war weg, denk' ick...«

 

An dieser Stelle endete das Protokoll zur Anhörung der beiden Augenzeuginnen und ich klappte die Akte wieder zu. Meine Aufgabe war es nun herauszufinden, wo diese uralte Straßenbahn abgeblieben war und was sich überhaupt in dieser Silvesternacht auf dem Gelände des Straßenbahndepots abgespielt hatte. Ich hatte eine ganz leise Ahnung, aus welcher Ecke der Wind wehen könnte und ordnete das Phänomen daher unter die Rubrik, 'Physikalische Grenzfälle' ein. Als Vermerk schrieb ich dazu auf meinen Notizzettel: „Ein Diebstahl im klassischen Sinne scheint nahezu unwahrscheinlich. So unglaublich es auch klingen mag, aber ich glaube, die Bahn ist noch da, wenn nicht gerade Captain Kirk mit seiner Schüssel in der Silvesternacht vorbeigeflogen kam und Scotty die alte Straßenbahn hochgebeamt hatte…“

 

**

 

Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg zu dem genannten Straßenbahn-Depot. Die Leute dort empfingen mich nicht gerade sonderlich freundlich, kein Wunder nach dem ganzen Medienrummel um die verschollene historische Straßenbahn. Ein gefundenes Neujahrs-Fressen für die Boulevardpresse und ich hatte nicht gar wenig Mühe, die Straßenbahner davon zu überzeugen, dass ich nicht zu den Journalisten gehörte. Schließlich erklärte sich ein Abteilungsleiter namens Krüger nach einigem Hin und Her bereit, mich auf der Suche nach der verschollenen Straßenbahn zu begleiten. Unbefugten allein, ist das Betreten der Gleisanlagen und des Depots nämlich strengstens untersagt. Ich schnappte mir also meinen Aluminium-Einsatzkoffer und dann marschierten wir gemeinsam über das Betriebsgelände. Ich hatte mir zu diesem Zweck meine selbstentworfene Wärmebildkamera in Brillenform aufgesetzt und lief nun wie ein Alien neben dem Mann her. Der war schon missmutig gelaunt genug und redete die ganze Zeit über kein einziges Wort mit mir. So hatten wir nach einer knappen Stunde das Gelände beinahe abgegrast, als sich die Kapazität des Lithium-Ionen-Akkus meiner Wärmebildkamera langsam, aber sicher zu verabschieden begann. Jetzt hatte ich noch etwa knapp fünf Minuten Reserve und dann wäre es vorbei mit der Suche nach der verschollenen Straßenbahn, zumindest für heute.

Aber dann geschah aber doch noch ein kleines Wunder. Auf dem hintersten letzten Abstellgleis entdeckte ich eine suspekte Wärmesignatur, ohne das dazugehörende Außenbild. Tatsächlich stand sie da, die alte Straßenbahn. Alles war jedoch nur unter der Wärmebildkamera erkennbar, die Strukturen des Grundkörpers, die Wärmeabbilder der beiden riesigen Elektromotore und das des großen Bleisammler-Akkumulators, während mein Mini-Akku sozusagen auf dem letzten Loch pfiff. Der letzte Energiebalken hatte längst zu blinken angefangen und nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis… Ich hatte es noch nicht einmal zu Ende gedacht, da brach auch schon die Energieversorgung zusammen und meine Wärmebildkamera schaltete sich automatisch ab. Ich blieb stehen und der Abteilungsleiter schaute mich fragend an,

»Und nun?«, meinte er. »Was hat es uns gebracht, hier ist nun Schluss und die Bahn haben Sie immer noch nicht gefunden, das war doch schon vorher klar, wozu dann der ganze Rummel?«, während seine Hand vorwurfsvoll auf den letzten, scheinbar leeren Abstellplatz wies. Ich verstaute kommentarlos meine Wärmebildkamera wieder in meinem Einsatzkoffer. Dann ließ ich den Meckerer auf dem Platz stehen und ging langsam in Richtung Ausgang zurück. Da hatte ich aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn nun kam der etwas korpulente Abteilungsleiter erst richtig in Fahrt,

»He, he, was glauben Sie, wer Sie sind, Sie neunmalkluger Besserwisser? Denken Sie, wir sind hier alle zu dämlich eine zwölf Meter lange Straßenbahn auf unserem eignen Hof finden? Wir hatten längst vor Ihnen schon alles gründlichst abgesucht und nichts gefunden. Erst scheuchen Sie mich kreuz und quer über das Depot, faseln was von, sie müsste noch hier sein und solchen Quatsch und nun lassen Sie mich hier stehen, wie einen dummen Jungen. Ja, sind wir denn hier im Kasperle-Theater?«

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm herum,

»Herr Krüger, Sie suchen Ihre alte Straßenbahn? Dann empfehle ich Ihnen eine kleine Feuerwehrübung Ihrer hauseigenen Feuerwehr. Lassen Sie über Ihr Funkgerät den Fahrleitungsstrom in diesem Bereich abschalten und beordern Sie Ihre Betriebsfeuerwehr hier her zu diesem Punkt, melden Sie einen Straßenbahnbrand und dann werden wir ja sehen was passiert.«

Krüger tippte sich gegen die Stirn,

»Mann, Sie haben sie ja wohl nicht mehr alle«, rief er zu mir herüber.

»Okay, ganz wie Sie wollen, schließlich ist es Ihre Straßenbahn«, antwortete ich und wandte mich wieder in Richtung Ausgang.

»Warten Sie!«, belferte er los. »Mann, Mann, wenn das auch wieder nur so ein Trick ist, dann haben Sie aber mehr als nur ein Problem am Hacken. « Er nahm sein Sprechfunkgerät in die Hand und löste einen Feueralarm in unserem Sektor aus, versehen mit all meinen Empfehlungen. Ich musste grinsen,

»Wenn nichts passiert, nehmen Sie es einfach nur als Übung und Sie haben dabei sogar die Fähigkeiten und Fertigkeiten Ihrer Firefighter-Truppe erfolgreich testen können. «

»Gnade Ihnen Gott«, stöhnte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. In diesem Augenblick ertönte die grelle Alarmsirene der Betriebsfeuerwehr. Ein roter Löschzug mit Blaulicht und Martinshorn kam um die Ecke gerast und hielt direkt auf uns zu. In Höhe des Abteilungsleiters bremste das Fahrzeug scharf ab und der Einsatzleiter sprang aus dem Löschwagen und schaute danach seinen Vorgesetzten verdutzt an.

»Äh‘, Chef, ein Brand…?«

Der nickte verzweifelt, zuckte mit den Achseln und wies auf mich,

»Sehen Sie es als eine Übung«, empfahl ich dem Einsatzleiter. »Rollen Sie Ihre Schläuche aus und stellen Sie sich vor, direkt vor Ihrer Nase steht jetzt eine alte historische Straßenbahn im Vollbrand«, sagte ich und verwies auf das letzte, leere Abstellgleis. Der Blick des Einsatzleiters ging zu seinem Chef. Der verdrehte nur die Augen und nickte erneut, während er sich zum wiederholten Mal den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Der Einsatzleiter atmete hörbar aus,

»Na dann Männer, ihr habt es gehört, vor uns auf dem Gleis, da brennt eine alte Straßenbahn, das ist eine Übung.« Die Feuerwehrleute saßen zügig von der Maschine ab und ein jeder wusste was er zu tun hatte, sie waren ein tadellos eingespieltes Team, denn jeder Handgriff saß. Nach knapp zwei Minuten war die Truppe einsatzbereit und der Einsatzleiter meldete die Löschbereitschaft des Einsatzzuges. Krüger nickte wiederum und aus zwei C-Rohren donnerten die ersten Wasserstrahlen in Richtung Abstellgleis. Plötzlich brüllte Krüger los,

»Was ist denn das, verdammt noch mal. Mich laust der Affe, ich fress' 'nen Besen, wenn das nicht die 5472 ist. «

Ich selber hielt mein Smartphon hoch und filmte den ganzen Vorgang mit. Etwas Seltsames tat sich auf dem Abstellgleis. Die frei durch die Luft fliegenden Wassertropfen trafen in Höhe des Abstellgleises auf einen nicht sichtbaren Widerstand, an dem ihre Flugbahn unterbrochen wurde und ließ sie daran zerspellen. Dann liefen die Wassertropfen in kleinen Rinnsalen senkrecht an den widerstandbildenden und unsichtbaren Flächen hinab. Aus der Masse der in Bewegung befindlichen Wassertropfen formte sich aus der Distanz schließlich ein ziemlich eigenständiges Bild. Hier, auf dem letzten Abstellgleis stand heil und völlig unversehrt tatsächlich das Triebfahrzeug einer alten historischen Straßenbahn, nur eben unter normalen Umständen für das menschliche Auge nicht sichtbar. Nach einer Weile ungläubigen Staunens ließ Krüger die Einsatzübung abbrechen. Eine Zeitlang waren die Konturen der Straßenbahn noch zu sehen. Erst als die meisten Wasserperlen abgelaufen waren und die Oberfläche nicht mehr so vor Nässe troff, versank sie ganz allmählich wieder in der Unsichtbarkeit. Krüger ließ seine Feuerwehrleute abrücken, nicht jedoch ohne sie vorher vergattert zu haben, zunächst über diesen Vorfall absolutes Stillschweigen zu bewahren, zumindest bis sich die Sache aufgeklärt hätte. Nachdem die Betriebsfeuerwehr tatsächlich wieder abgerückt war, nahm Krüger mich beiseite,

»Sie wissen doch mehr, was ist mit ihr passiert?« Er redete so, als spräche er mit dem behandelnden Arzt, der seine Frau operieren soll, die jedoch aus völlig unerklärlichen Gründen plötzlich ins Koma gefallen war.

»Sie ist heiß, Ihre Straßenbahn. Jemand hat sie angegriffen und auf der subatomaren Ebene in Phase versetzt. Das heißt, alle ihre Protonen und Elektronen wurden um den winzigen Bruchteil eines milliardstel Teils eines Nanometers verschoben. Das sind Bereiche, die selbst für ein hypermodernes Elektronenmikroskop echte Grenzwerte darstellen. Das Ergebnis sehen Sie, oder auch nicht, denn dadurch ist die gesamte Straßenbahn für das menschliche Auge sozusagen unsichtbar geworden. Alle übrigen technischen Parameter der Bahn bleiben davon jedoch unberührt. Das Ding fährt und bremst wie immer, nur halt eben nicht sichtbar. Und jede Reparatur wird ein bisschen schwieriger sein, denn man muss sich mit der alten Technik bestens auskennen und man wird jedes Werkzeug, jeden x-beliebigen Schraubenschlüssel künftig blind ansetzen müssen. Auf jeden Fall wird jedes erneuerte oder ausgetauschte Ersatzteil immer zu sehen sein, da es ja selbst nie in Phase war. Es sei denn, Sie streichen die Bahn komplett an, dann wird sie durch den Farbauftrag natürlich wieder sichtbar. Das heißt, geben Sie allen Teilen wieder eine Farbe und kaum jemand wird etwas merken. Ein geübter und versierter Straßenbahnfahrer kann sie natürlich auch so in diesem Zustand bewegen, quasi im jetzigen Unsichtbarkeits-Modus«, gab ich ihm zu verstehen.

»Was ist das denn für ein Mist und vor allem, wer macht denn so was, ich kann es einfach nicht fassen«, ereiferte sich Krüger. »Kann man diesen Zustand auch wieder rückgängig machen?«, lautete seine nächste Frage.

Das war in der Tat eine gute Frage.

»Ich glaube nicht«, sagte ich abschätzend, »denn dieser Prozess ist sehr komplex und erfordert eine ungeheure Rechenkapazität um die Stärke und Intensität der Leistung einer hocheffizienten Neutrinokanone zu berechnen, die außerdem noch dazu nötig wäre. Finden Sie sich einfach damit ab, dass Sie sie alle paar Jahre neu anstreichen müssen, bevor der Lack anfängt abzublättern. Ansonsten verschwindet sie Ihnen womöglich irgendwann wieder aus Ihrem Sichtfeld«, grinste ich. »Und noch eins, bevor Sie mich nach dem ‚Wer‘ und dem ‚Warum‘ befragen, sag‘ ich Ihnen, ich bin kein Kriminalist und ich habe auch nicht die geringste Spur einer schwachen Ahnung, wer dahinterstecken könnte und wozu diese Aktion überhaupt dienen sollte. Nur so viel, wenn das Militär dahinterkommt, sind Sie sie los, Ihre alte Straßenbahn. Die bringen es glatt fertig und lassen das Ding einschmelzen. Später gießen sie dann daraus vielleicht einen unsichtbaren Panzer. Na, da ist wohl doch etwas zu wenig Eisen drin, um so ein großes Kriegsgerät daraus zu fertigen. Aber ein paar unsichtbare Feuerwaffen könnt‘ man schon daraus herstellen. Das alles ist letztlich nur eine Frage des Recyclings. «

»Was soll ich denn nun machen, wozu raten Sie mir?«, fragte Krüger beinahe schon verzweifelt.

»Wenn Sie mich fragen, lassen Sie die Bahn einfach von vertrauenswürdigen Leuten mit der entsprechenden Original-Lackfarbe versehen und stellen Sie die Schöne dann ins Museum, dort wo sie niemand einfach so wird fortbewegen können. Alte Technik von früher, quasi zum Ansehen, aber nicht zum Anfassen und schon gar nicht zum Wegfahren. Verlegen Sie Ihr Problem besser in die Zukunft. Möglicherweise wird man später in der Zukunft diesen Prozess wieder umkehren können, wer weiß. Und übrigens, je weniger Leute davon wissen, umso besser für das Überleben dieser alten Straßenbahn. Ansonsten ist es natürlich immer noch Ihre Bahn und Sie können damit tun und lassen, was immer Sie wollen«, erklärte ich ihn lächelnd und verabschiedete mich. Krüger bedankte sich und fragte mich zum Abschluss, ob ich denn darüber schweigen würde. Ich sagte ihm, dass ich einen Bericht schreiben müsste, mein Chef würde also auf jeden Fall Bescheid wissen.

Er nickte und gab mir die Hand.

»Kopf hoch, Herr Krüger, es gibt Schlimmeres, als eine unsichtbare Straßenbahn«, sagte ich an der Pforte. Er nickte resignierend und sah ehrlich gesagt, nicht besonders glücklich dabei aus. Als ich wieder auf der Straße stand, telefonierte ich als erstes mit dem Institutsdirektor, Professor Brinkmann, und informierte ihn über die wiederaufgefundene Straßenbahn, auch in welchem Zustand ich sie gefunden hatte.

»Nicht jetzt am Telefon«, knurrte er und ergänzte, »kommen Sie am besten sofort zurück ins Institut, es gibt Neuigkeiten. « Ich fuhr also zurück und bin anschließend gleich rauf zu ihm ins Büro.

»Ist er da?«, fragte ich seine Sekretärin.

»Er wartet schon auf Sie, Herr Steiner«, sagte sie und wies auf einen winzigen Spalt, der offenstehenden Tür zum Büro des Chefs. Als ich das Büro des Professors betrat, bekam ich gerade noch mit, wie er die Polizei telefonisch über das Verschwinden von Dr. Bekker informierte. Während des Gesprächs winkte er mich hinein und bedeutete mir, in dem schweren Ledersessel Platz zu nehmen.

»Dr. Bekker ist angeblich wie vom Erdboden verschluckt und nirgends wo aufzufinden. Die Haupt-Speicherplatte seines PC's ist ausgebaut und der Rest mehrfach sicher formatiert«, sagte er tonlos zu mir. Er wirkte ziemlich ratlos, erschöpft und auch irgendwie müde.

»Ich hatte so eine Ahnung«, erwiderte ich. »Aber ich habe doch auch niemals damit gerechnet, dass er heimlich weitemachen würde. Wie wir damals an dem Problem der Unsichtbarkeit geforscht hatten, meinte Bekker irgendwann mal zu mir, dass er sich sehr gut vorstellen könnte, einmal seine eigene Straßenbahn zu besitzen, die ihn dann überall dort hinfährt, wo und wann immer er es will. Ich wusste also, dass er in dieser Hinsicht ein Freak war. Nun hatte er 'seine' Straßenbahn auf dem letzten Abstellgleis geparkt, um sie bei nächster Gelegenheit aus dem Depot abzuholen. Wenn dem so wäre, dann hätte er ja nicht nur das Problem der Unsichtbarkeit in den Griff bekommen, sondern er müsste auch das der Durchlässigkeit gelöst haben. Und das alles hier in unserem Institut, direkt vor unserer Nase und mit unseren Institutsgeldern. Wir wollten deshalb nicht weitermachen, damit das Militär keine unsichtbaren Waffen in die Hand bekommt. Wer weiß, an wen Bekker unsere Erfindung verscherbeln will oder es bereits getan hat. Mir fallen da spontan sogar gleich mehrere unseriöse Aspiranten ein, die ein unstillbares Rieseninteresse daran haben könnten. Und sollte er tatsächlich auch das Problem der Unsichtbarkeit gelöst haben, wofür meine eigene Arbeitsgruppe jahrelang Grundlagenforschung betrieben hat, dann kann er sich bestimmt auch, wie jener Magier Hans Klok, selber unsichtbar machen. Eigentlich waren wir von einer möglichen Lösung gar nicht mehr so weit entfernt. In Verbindung der Unsichtbarkeit mit der Durchlässigkeit könnte er sogar alles stehlen, was irgendwo auf dieser Welt eingelagert und von besonderem Wert ist. Und das wäre dann nicht nur ein netter hübscher Zaubertrick, sondern knallharte Realität übelster Machart. Es gäbe dann nichts mehr auf der Welt, was vor ihm sicher wäre, von der Mona Lisa von Leonardo, bis hin zur Atombombe. Ich denke, Leute begehen schon aus viel nichtigeren Gründen schwerste Verbrechen, Chef«, fasste ich die sich abzuzeichnende Misere zusammen.

Brinkmann nickte,

»Sie haben völlig recht, Anselm. Wir müssen ihn finden und zwar bevor er einen noch größeren Schaden mit unseren Erfindungen anrichten kann und das um jeden Preis. Finden Sie ihn, Steiner. Sie bekommen dafür auch alles, was Sie benötigen, bis hin zur vollen logistischen Unterstützung unseres Institutes. Wenn ihn einer finden kann, dann sind Sie das, Anselm. Denn Sie haben über zwei Jahre lang mit ihm zusammen gearbeitet und kennen ihn daher auch am besten«, beschwor er mich.

»Ich werde sehen, was ich tun kann, aber ich kann Ihnen nichts versprechen, Professor Brinkmann, denn Dr. Bekker war schon immer ziemlich rigoros in seinen Handlungen und ein genialer Kopf obendrein, allerdings mit äußerst eigenwilligen Ansichten. Wenn er nicht gefunden werden will, dann wird es in der Tat schwierig, Chef«, gab ich zu bedenken.

Brinkmann nickte betrübt,

»Ich weiß, lieber Steiner, wir müssen es dennoch versuchen, wir haben leider gar keine Alternative. Andere werden ihn niemals finden, weil er sich nämlich mit den modernsten Waffen ausgerüstet hat, die jemals zum Einsatz gekommen sind, …mit den Waffen des Teufels. «

 

 

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Impressum

Cover: selfARTwork

Text: Bleistift

© by Louis 2013/6    last Update: 2021/12

Impressum

Texte: by Louis 2013/6 last Update: 2021/12
Cover: selfARTwork
Tag der Veröffentlichung: 27.12.2021

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