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DER SKIPPER

 

Finn Bentler hatte keine Eile. Die Sonne schien und er hatte sich gerade von Aristide, dem Wirt seiner Stammkneipe im Hafen von Marseille, einen großen Cappuccino bringen lassen. Dann kniff er die Augen etwas zusammen und blinzelte gegen die Sonne. Er saß unter einem Sonnenschirm und schaute zu, wie die jungen Mädchen im Hafen an ihm vorüberflanierten. Im nächsten Jahr würde er fünfzig werden und für ein halbes Jahrhundert hatte er sich recht gut gehalten, meinte er und es gab absolut keinen Grund, warum er den jungen Mädels nicht auch ein smartes Lächeln schenken sollte, wenn sie ihn schon zu winkten.

Man kannte ihn im Hafen, denn der braungebrannte, schlanke, knapp einen Meter neunzig große Skipper, war nicht gerade ein Zwerg unter den Seeleuten und von daher wohl auch kaum zu übersehen. Zudem trug er immer ein dunkelblaues T-Shirt und ausgewaschene Blue Jeans. Finn schob seine Schirmmütze ins locker ins Genick und strich sich lächelnd über seinen Drei-Tage-Bart. Heute war ein guter Tag. Er war oft in Marseille, denn dieser Hafen war ein beliebter Umschlagplatz für Waren aller Art. Die letzte, von weither transportierte Fracht hatte er ordnungsgemäß abgeliefert und dabei auch ein recht ordentliches Geschäft gemacht. Neueste Hochleistungsprozessoren mit diversen Biokomponenten für die nächste Computergeneration aus Singapur. Waren noch nicht flugtauglich die Dinger, denn sie mussten erst noch in ein funktionssicheres Druckgehäuse eingebaut und mit einer speziellen Kühlflüssigkeit versehen werden. Doch das ging ihn alles nichts an, er war nur für den Transport auf See zuständig. Von einem Hafen zu einem anderen Hafen. Wo auch immer man mit einem Schiff hinfahren konnte, Finn übernahm den Transport, wenn es sich nicht gerade um die Eisregionen handelte. Für seine prompte Zuverlässigkeit war er international überall bekannt.

Finn Bentler hatte allerdings auch seine eigenen Grundsätze: Nichts Illegales, keine Drogen, keine Waffen und auch keinen Mädchenhandel. Gut, ganz am Anfang hatte Finn gelegentlich auch schon mal ein paar Kisten Alkohol nach Skandinavien und auf die Malediven geschmuggelt, aber diese Zeiten waren lange vorbei. Als er seine Firma, Haus, Grundstück und Auto verkauft hatte, legte er sich dieses Schiff zu. Einen kleinen, vollautomatischen Zweimast-Segler, ausgestattet mit allen denkbaren technischen Raffinessen. Er war sein eigener Herr und auch auf See nicht immer auf fremde Hilfe angewiesen. Fortab waren also die sieben Weltmeere sein Zuhause. Zum Heimathafen hatte Finn sich Marseille auserkoren und so flatterte über der höchsten Mastspitze seines blau-weißen Zweimasters die nun schon etwas betagte und leicht ausgeblichene Trikolore der französischen Republik.

 

Seit Stunden schon jagte der kleine silberne VW Polo aus Freiburg kommend, über die französische Autobahn Richtung Süden. Die Frau, die den Wagen steuerte, heizte die Reifen und ließ den Motor unter Volllast laufen. Nicht so gut für den Motor, aber gut für die attraktive, vierundfünfzigjährige Fahrerin, umso eher würde sie im Süden Frankreichs sein und sich rächen können. Rächen, für dreißig verlorene Jahre, die sie in ihrem Leben an einen Mann vergeudet hatte, der ihre Liebe auf enttäuschende Art missbraucht und sie selbst nur als Steigbügel benutzt hatte, um bis ganz nach oben in die Frankfurter Machtzentrale ihres väterlichen Unternehmens zu gelangen. Noch in der Nacht hatte sie in aller Eile ein paar Sachen in ihre beiden Reisekoffer gestopft und war dann Hals über Kopf mit ihrem Auto klammheimlich von ihrem gemeinsamen Anwesen gerollt. Erst nachdem sie Haus und Grundstück weit hinter sich gelassen hatte, schaltete sie nun endlich auch das Licht an ihrem Polo ein. Nur so konnte sie sich im fahlen Licht des Mondscheins ungesehen davonmachen. Im Nachhinein ärgerte sie sich über ihren etwas überstürzten Aufbruch, denn sie hätte die Trennung von ihren Mann besser vorbereiten sollen. Aber nachdem was sie in dieser Nacht erfahren hatte, wollte sie einfach nur noch weg, weg von diesem Monster von Ehemann. So blieb ihr nach dieser spontanen Aktion nur das bisschen Bargeld, was sie bei sich trug und das würde nicht lange reichen. Ihre sämtlichen Kreditkarten waren ohnehin nur auf seinen Namen zugelassen und spätestens morgen, wenn er bemerkte, dass seine Frau ohne sein Wissen das Weite gesucht hat, würde er alle ihre Karten sofort durch die Banken sperren lassen. Zum Glück hatte sie wenigstens all ihren gesamten Schmuck mitgenommen und den würde sie unterwegs dann nach und nach erst einmal verkaufen können.

In den ersten beiden Jahren ihrer Beziehung war Hinrich noch spendabel und hatte sie mit Gold und edlem Schmuck überhäuft. Aber alles begann sich zu ändern, als er auf Empfehlung seines Schwiegervaters in den Aufsichtsrat von dessen Immobilienfirma gelangte. Von da an besaß er alles was er brauchte, um voranzukommen: Macht, Geld und Einfluss. Bestechungsskandale, Steuerhinterziehungen, Affären ohne Ende folgten und das alles im ganz großen Stile. Als Hinrich Hofmann dann nach dem Tode seines Schwiegervaters sogar noch zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt wurde, war sein unaufhaltsamer Aufstieg nicht mehr zu bremsen und seine Ehefrau war für ihn nur noch das geduldete, höchst überflüssige Familienanhängsel aus einer längst vergangenen Zeit.

Als ihr Ehemann in der vergangenen Nacht stark angetrunken und mit seiner vollbusigen Flamme im Arm nach Hause kam, war sie noch wach und hörte wie das blonde Weib auf der Treppe giftig zischte,

»Du musst sie endlich verschwinden lassen, Hinrich, ich will sie hier nicht mehr im Hause haben. Es wird Zeit, mir steht es bis…«

»Schweig still, du weckst sie ja erst noch auf mit deinem Gequatsche. Morgen, Schatz, morgen werden wir uns was Passendes überlegen, wie wir sie am besten verschwinden lassen, aber jetzt halt endlich deine verdammte Klappe…«

Was nun passieren würde war klar, sie sollte aus dem Weg geräumt werden, ihr Leben war von nun an keinen müden Pfifferling mehr wert..

Ärgerlich gab die schlanke Brünette erneut Gas und jagte den Polo mit einem erhöhten Spritverbrauch durch die Nacht, den Gestaden der französischen Mittelmeerküste entgegen.

 

Finn Bentler wollte soeben gerade seinen sonnengeschützten Platz vor der gemütlichen Hafenkneipe von Aristide aufgeben und sich auf seinem Schiff noch eine Mütze voll Schlaf gönnen, denn er war die letzte Nacht hart am Wind durchgefahren, um doch noch zum vereinbartem Zeitpunkt pünktlich liefern zu können. Ein kleines Sturmtief im Atlantik hatte ihn allerdings zu einem nichtgeplanten Umweg veranlasst und er hatte einige Mühe, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Auf See muss man halt mit allerlei Unwägbarkeiten rechnen und nicht alles lässt sich in der Realität so exakt ausführen, wie man es in einem klimatisierten Büro auf einem überschaubaren Reißbrett, oder auch mittels eines modernen Computers planen kann.

Bentler hatte seinen Zweimaster voll im Blick, als er auf der gepflasterten Pier einer etwas älteren, aber äußerst attraktiven Brünetten ansichtig wurde. Sie schien auf der Pier spazieren zu gehen und schaute sich dabei intensiv seine blau-weißes Segelboot an, welches zwischen zwei Pollern festgemacht war und leicht in der Dünung der Wellen im Hafenbecken schwoite, während die Fender außenbords sachte gegen die Pfähle des hölzernen Anlegesteges scheuerten.

»Hello?«, rief die Frau am Reep stehend, nun laut zu der vor sich hin dümpelnden Segelyacht hinüber.

Ein Hafenarbeiter mit einer zerschlissenen Schiffermütze kam ihr von der anderen Seite der Pier entgegen und sie wechselten ein paar Worte. Dann zeigte der Mann auf die Hafenkneipe von Aristide und verließ die Pier. Die schlanke Brünette ging noch ein paar Schritte hinter dem Mann her, steuerte dann aber zielsicher die ihr avisierte unscheinbare Hafenkneipe an.

Finn beschloss, sich auf gar keinen Fall mit der Brünetten einzulassen oder sich mit ihr zu unterhalten, mag sie auch noch so nett und attraktiv sein, er hatte noch so einiges an entgangenem Nachtschlaf nachzuholen.

Der Skipper trank seinen letzten Schluck kalt gewordenen Cappuccino aus und wollte sich gerade erheben, als ihn diese gutaussehende Brünette dennoch plötzlich ansprach,

»Verzeihung, sind Sie zufällig der Skipper, Monsieur Finn Bentler, der Besitzer jener eleganten blauen Segelyacht, die auf den schönen Namen "Seaspray" getauft ist?«, fragte sie lächelnd und ihr Gesicht sah trotz aller weiblichen Attraktivität augenscheinlich etwas übermüdet aus.

Bentler halb erstaunt, halb ärgerlich darüber, dass sie bereits wusste wer er war, knurrte darauf ungehalten zurück,

»Wer will denn das wissen?« Da reichte die Dame, dem Seemann überraschend ihre gepflegte Hand,

»Monsieur Bentler, ich bin Melissa Hofmann aus Freiburg und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir fünf Minuten Ihrer kostbaren Zeit opfern würden.«

»Woher wissen Sie eigentlich meinen Namen, Madame Hofmann?«, fragte Finn überrascht von ihrer unerwarteten Offenheit und ergriff ihre schmalgliedrige Hand. Dann ärgerte er sich zugleich, diese Frage überhaupt gestellt zu haben, denn diese Dame sah intelligent und gebildet aus, wenngleich sie auch seiner Meinung nach etwas übernächtigt wirkte. Eine Mütze voll Schlaf würde uns beiden gewiss guttun, dachte Finn und musste nun selber über seine eigene Vorstellung grinsen. Als Melissa sah, dass der Skipper sie aus seinen blauen Augen heraus anlächelte, fuhr sie ermutigt fort,

»Oh' das war ganz einfach, als ich hier ankam, sah ich ihr hübsches Boot an der Pier Nummer fünf liegen und dann ich bin zum Hafenkapitän gegangen und hab mich einfach nach dem Besitzer dieses Schiffes erkundigt«, antwortete sie mit einem entwaffnenden Lächeln.

»Grentlain, der alte Schwerenöter, konnte wieder mal seine Klappe nicht halten, wenn ihn eine hübsche Frau um den Bart geht«, knurrte Bentler, aber es klang längst schon nicht mehr so ablehnend, denn wenn er sich die Frau so ansah, konnte er mit einem Male den alten Hafenkapitän gut verstehen. Dieses charmante und intelligente Weibsbild war nicht gerade eben auf den Mund gefallen. Sie hatte einfach nur die ihr zur Verfügung stehenden Register gezogen und voilà, schon spielte man für sie die richtige Musik. Finn grinste erneut.

»Fünf Minuten, Madame Hofmann, nicht mehr, denn auch ein gestandener Seemann muss ab und zu auch mal den klugen Ratschlag eines weisen Sandmannes befolgen und sich für eine gewisse Zeit aufs Ohr legen. Besonders heute hab ich das leider auch bitter nötig.«

»Wie recht Sie haben, Monsieur Bentler. Ich kann Ihnen da nur beipflichten, denn auch ich bin heute schon die ganze Nacht auf der Autobahn unterwegs gewesen und ebenso todmüde, das können Sie mir glauben. Aber kurz zu meinem Anliegen, wenn Sie gestatten, Herr Kapitän.«

Finn machte eine einladende Geste und Melissa setzte sich an seinen Tisch.

»Moment noch, ehe Sie richtig loslegen, möchten Sie auch einen Cappuccino, Aristide versteht sich glänzend darauf, ich lade Sie ein. Seien Sie also mein Gast.«

Sie nickte lächelnd,

»Das wäre allerdings sehr reizend von Ihnen, Monsieur Bentler.« Während Finn für Aristide noch einmal zwei Finger hob, begann Melissa Hofmann dem Skipper bereits ihr Anliegen vorzutragen.

»Der Hafenkapitän meinte, Sie würden gelegentlich auch schon mal Passagiere befördern, wenn es sein muss, ist das insoweit korrekt, Herr Kapitän?«

»Wenn es sein muss, kommt das gelegentlich auch schon mal vor, besonders wenn ich keine Fracht habe. Aber ich gebe zu, meine Möglichkeiten sind diesbezüglich begrenzt. Ich hab' nur eine einzige Übernachtungskabine, die zwar maximal vier bis sechs Personen Platz zum Schlafen bieten kann, aber wie gesagt, die einfachen Sanitärbedingungen und die begrenzte Kapazität der Bordküche lassen definitiv keine größeren Truppentransporte zu«, erklärte Finn mit ernsthafter Mine und stützte mit der Hand das Kinn. Über das Gesicht von Melissa Hofmann huschte ein kurzes, aber verlegenes Lächeln,

»Würden Sie mich morgen, ganz privat, nach Tunesien zu dem Hafen Port El-Kantaoui segeln können, Monsieur Bentler?«, fragte sie plötzlich unvermittelt und schaute Finn offen an.

Überrascht gab Finn zurück,

»Tunesien könnten Sie doch auch schneller und sogar viel bequemer mit dem Flieger oder von mir aus auch mit der Fähre von Marseille aus erreichen, Madame. Wozu also der unnötig lange Segeltörn quer über das Mittelmeer?«

Melissa lächelte gequält,

»Das genau ist das Problem, Monsieur Bentler, ich hab‘ im Moment leider nicht genug Geld für den Hin- und Rückflug dabei und wüsste jetzt auch nicht, bei wem ich mir etwas Geld dafür leihen könnte.«

»Und wie wollten Sie mich für die Überfahrt bezahlen, Madame Hofmann?«, fragte Finn leicht enttäuscht. Denn er bedauerte nach diesen Worten jetzt schon auf diese anziehende Dame hereingefallen zu sein, die offensichtlich nur kostenlos nach Tunesien reisen wollte. Melissa nickte, als hätte sie die Frage erwartet und kramte in ihrer ledernen Handtasche. Sie hielt ihm einen goldenen Ring mit einem funkelnden Stein entgegen,

»Der ist mit diesem Brillanten gut und gerne seine tausend Euro wert, ich hab auch noch mehr, wenn Sie mehr benötigen.« Finn hob abwehrend seine Hände und winkte nun völlig enttäuscht ab,

»Tut mir leid, ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden. Sie stehlen mir meine Zeit, ich bin nicht interessiert. Ich bin weder ein Goldschmied, noch hab ich irgendetwas zu verschenken. Verkaufen Sie Ihr Gold und kommen Sie mir mit eine akzeptablen Währung wieder, dann können wir uns noch mal über den Törn unterhalten«, knurrte Finn missmutig.

Melissa war verzweifelt,

»Das geht leider nicht, Monsieur Bentler, ich kann im Moment leider nicht offiziell aus der EU ausreisen, ich bin praktisch auf der Flucht vor meinem Mann. Er hat auch meinen Reisepass konfisziert und ihn in seinem Safe eingeschlossen. Mein Mann hat mir bereits angedroht, mich töten zu lassen, wenn ich etwas gegen ihn unternehmen sollte. Er ist meiner schon lange überdrüssig und sucht nur noch nach einen plausiblen Grund, um mich eiskalt zu aus dem Weg zu räumen, allerdings ohne dabei das Vermögen zu verlieren, welches er sich von meinem verstorbenen Vater ergaunert hat. Bitte, Monsieur Bentler, Sie müssen mir helfen!«

»Sorry, aber diese wilde Story klingt für mich eher nach einer grottenschlecht ausgedachten Kriminalgroteske, als nach einer wahren Geschichte. Warum gehen Sie nicht einfach zur Polizei und zeigen Ihren Mann an? Trennen Sie sich, schalten Sie Ihren Rechtsanwalt ein und klagen Sie auf Ihr Recht, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Und überhaupt, was sollte die Reise nach Tunesien, wollten Sie da etwa untertauchen oder hoffen Sie dort auf Hilfe, ohne Pass und Geld?«, beharrte Finn.

Melissa schwieg. Er hat ja nicht ganz Unrecht, dachte sie, aber er kennt eben Hinrich nicht.

»Hören Sie, Monsieur Bentler, Sie kennen meinen Mann nicht, dem geht es nur ums Geld und dabei geht er buchstäblich über Leichen. Er würde keine Sekunde zögern, auch Leute aus dem Weg zu räumen, wenn es um sein Geld geht. Er hat es einmal getan und er würde es wieder tun. Er hat Macht und Einfluss in der Politik, kennt höchste Spitzen in der Polizei und sogar einige Staatsanwälte stehen auf seiner Lohnliste. Selbst wenn ich nun dreist offiziell aus der EU ausreisen könnte, er würde es bereits kurze Zeit später erfahren haben und einen Killer beauftragen, mich im Ausland zu ermorden. Natürlich haben Sie ebenso recht mit Ihrer Frage, was ich mir von Tunesien erhoffe, Monsieur Bentler.«

Melissa Hofmann machte eine Pause und unschlüssig fuhr sie aber dennoch fort. »Ich erzähle Ihnen nun eine Geschichte, die ich noch niemals jemanden offenbart habe und deren Wissen schon für den Betroffenen selber lebensbedrohlich sein kann. Mein Mann hatte einst vor unserer Ehe einen Compagnon, einen versierten ägyptischen Bauingenieur, der für ihn die Projekte ausgearbeitet hatte und die Ausführungen der baulichen Arbeiten überwachte. Eines Tages wurde das Geld knapp, um die laufenden Kosten zu decken. Der Firma drohte bereits der Konkurs. Damals hatte mein Mann Spielschulden und deshalb eine größere Menge Bargeld in der Firma unterschlagen. Er wollte damit in einem renommierten Spielcasino in Frankfurt  versuchen, die fehlenden Summen zurückzugewinnen. Doch sein Plan ging zu seinem Leidwesen gründlich daneben und er hatte infolgedessen nun auch noch das unterschlagene Geld der Firma verzockt. Die Chefbuchhalterin seiner Firma kam dahinter und konfrontierte Hinrich mit den Fakten, die sie bei der Überprüfung der Bücher herausgefunden hatte. Am nächsten Tag hatte die Buchhalterin plötzlich und unerwartet gekündigt. Sie war seitdem spurlos verschwunden und nirgends mehr auffindbar. Dumm für Hinrich war nur, dass sich die Buchhalterin zuvor schon mit El Batala, dem ägyptischen Compagnon von Hinrich, getroffen hatte und ihn ihrerseits bereits über die rätselhaften Geldverluste in der Firma in allen Einzelheiten informiert hatte. El Batala war nun im Besitz aller erforderlichen Kopien von diesen Dokumenten. Als Hinrich am Tag des Verschwindens der Buchhalterin darauf bestanden hatte, ein bestimmtes Segment eines Fundamentes eines Frankfurter Hochhauses vorzeitig gießen zu lassen, da wusste El Batala endgültig Bescheid.

Hinrich drohte El Batala nun ebenfalls, sollte der etwas verlauten lassen. Der Ägypter ließ ihn jedoch knallhart wissen, dass im Falle seines plötzlichen Todes alle Unterlagen automatisch an die Bundesanwaltschaft gehen würden und hatte sich damit bei Hinrich Hofmann lebensversichert. Später kündigte er jedoch und zog sich nach Tunesien zurück, wo er nun seit Jahren in einem Fünf-Sterne-Touristenhotel in Sousse, Abend für Abend Klavier für die Gäste spielt. Ein paar Tage bevor er bei Hinrich kündigte, vertraute er mir damals an, dass er mir helfen würde, sollte es zum Ärgsten kommen, denn El Batala ahnte sehr wohl, dass auch ich eines Tages zu Hinrichs Opfern gehören würde. Erst im vorigen Jahr schickte der Ägypter mir eine Mail, worin er sich mir gegenüber offenbarte. Es wäre an der Zeit, dass ich endlich die Wahrheit über meinen Ehemann erfahren sollte, denn er, El Batala, sei im hohen Alter nun gesundheitlich schon ziemlich stark angegriffen. Zwar spiele er noch immer ein wenig Klavier, aber es sei bereits absehbar, dass sein Lebenslicht wohl sehr bald schon am Verlöschen sein würde. Er leide unter akutem Bauchspeicheldrüsenkrebs und der sei nicht mehr heilbar. Darum muss ich jetzt nach Tunesien und mir die Beweise von El Batala holen und sie der Generalbundesanwaltschaft  übergeben, ohne dass mein Mann mit seinen Anwälten irgendeinen Einfluss darauf ausüben kann. Es ist also unbedingt notwendig, dass ich privat nach Tunesien zu dem Ägypter fahre. Werden Sie mir helfen, Monsieur Bentler?«

Finn kratzte sich am Kopf und seufzte,

»Was für eine abenteuerliche Geschichte. Sie verlangen jetzt von mir, dass ich gleich gegen mehrere Gesetze in der EU und dem Ausland verstoße. Illegale Ausreise und widerrechtliches Betreten fremden Staatsterritoriums sind da wohl noch die geringsten Straftatbestände, die dabei verletzt werden. Ich könnte infolgedessen mein Kapitänspatent und meine Lizenz verlieren und mich damit quasi meiner eigenen Lebensgrundlage berauben, denn bei schwerkriminellen Seeleuten wird auch unwiderruflich das Schiff des Übeltäters eingezogen. Das alles soll ich für Sie riskieren, wo ich Sie noch nicht einmal kenne? Hören Sie Gnädigste, soviel können Sie mir für die Überfahrt gar nicht bezahlen, wie für mich in diesem Fall auf dem Spiele steht.«

Melissa sah Finn erst mit ernster Miene an und sagte mit fest überzeugender Stimme,

»Ich erwarte oder verlange schon gar nichts von Ihnen, Monsieur Bentler. Ich kann Sie lediglich bitten, mir zu helfen und selbst angemessen entlohnen könnte ich Sie auch erst später, sobald ich wieder über mein eigenes Geld verfügen kann. Sie sehen also, außer einen riesigen Berg an bereits vorprogrammierten Schwierigkeiten, habe ich Ihnen leider gar nichts zu bieten.«

Finn Bentler horchte in sich hinein und entschied sich meistens ohnehin aus einem Bauchgefühl heraus und so auch in diesem Fall. Eigentlich hatte er sich längst schon entschieden.

»Kannst du kochen, Süße?«, fragte er nach einer Weile gegenseitigen Schweigens. Melissa sah ihn verdutzt an und glaubte sich verhört zu haben.

»Ist das jetzt ein JA oder wie sollte ich das verstehen?«, fragte sie sichtlich überrascht.

»Ich wollte lediglich wissen, ob du auf unserer Reise für uns kochen wirst, denn ich bin leider ein nur ein äußerst miserabler Koch. Bei mir gibt es sonst nämlich immer nur Dosenfutter und Tiefkühlkost aus der Alufolie von 'nem Supermarkt«, brummte er belustigt.

Melissa sprang auf und umarmte spontan den still vor sich hin lächelnden Seemann.

»Natürlich kann ich kochen, alles was dein Herz begehrt. Was willst du, das ich dir kochen soll, Kapitän?«, rief sie freudig aus.

»Na, nun mal nicht so eilig, zuvor müssen wir uns aus einem nahegelegenen Supermarkt noch ein paar Lebensmittel besorgen, Diesel nachtanken und schlafen muss ich schließlich auch noch ein bisschen oder kannst du einen Zweimaster segeln? Ja und außerdem, hast du denn gar kein Gepäck dabei?«, fragte Finn.

»Zwei Koffer im Auto, auf dem Parkplatz um die Ecke«, erwiderte sie lachend und wischte sich dabei verstohlen eine Freudenträne aus dem Gesicht. »Mehr war auf die Schnelle nicht drin.«

»Gut, dann machen wir zuerst mal dein Gepäck klar und gehen anschließend noch was einkaufen.«

Finn bezahlte bei Aristide die Cappuccinos und ging mit Melissa zum Parkplatz.

Später am Abend, als sie nach ein paar Stunden Schlaf in der Gemeinschaftskabine ein zauberhaftes Dinner genossen hatten, welches Melissa für sie beide so vorzüglich in der winzigen Kombüse des Seglers gekocht hatte, machte Finn sich auf den Weg, um sich beim Hafenkommandanten abzumelden.

Sie ist schon eine patente Frau und hübsch obendrein, dieser Hofmann muss doch ein kompletter Vollpfosten sein, dass er sie so mies behandelte, dachte er und öffnete nach dem Anklopfen, die ewig quietschende Tür zum Büro des Hafenkommandanten.

 

Der grauhaarige Grentlain saß in einem alten abgewetzten, schwarzen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch. Er hatte seine grüne Bankerleuchte eingeschaltet und nahm in akkurater Schönschrift obligatorische Eintragungen in seinem Hafenbuch vor. Früher hatte es Bruno Grentlain sogar mal bis zum Ersten Offizier auf einem Kriegsschiff der französischen Marine geschafft. Als Kapitän wollte man ihn allerdings kein Schiff unterstellen, schon gar kein Kriegsschiff der Marine, weil er stets viel zu freundlich und zu höflich mit der Mannschaft umging.

So blieb ihm zu guter Letzt nur dieser Posten als Hafenkommandant im Marseiller Hafen. Seine blaue Uniformjacke mit den runden Messingknöpfen hing ungebügelt an dem unteren Kleiderhaken, der von innen an seiner Bürotür angeschraubt war. Seine ehemals blütenweiße Schirmmütze hatte er darüber, an den oberen Haken gehängt. Die Kaminuhr auf dem Fenstersims zeigte gerade viertel vor acht Uhr abends an. Die Katze saß auf ihren Lieblingsplatz direkt neben der Uhr und starrte still mit großen Augen auf die sich knarrend öffnende Bürotür. Der Alte blickte ob des spätabendlichen Besuchs, ebenfalls deutlich überrascht auf.

»Ah, Finn, was gibt es? Du willst also jetzt schon wieder los?«

Finn Bentler musste dem Alten nun allerdings halbwegs reinen Wein einschenken.

»Ja, Bruno, ich muss auch mal ein bisschen abschalten und mach‘ mich von daher mal für ein paar Tage rar. Kein Auftrag, aber die Seele ein wenig baumeln lassen, das tut auch mir ab und zu ganz gut«, gab er lässig zur Antwort.

Der alte bärtige Seebär grinste breit über das zerfurchte und wettergegerbte Gesicht, während er weiterhin saubere Lettern in sein dickes Buch malte.

»Hübsches Frauchen hast du dir da für deine einsam baumelnde Seele ausgesucht, Finn. Wo soll es denn hingehen?«

»Ach weißt du, Bruno, ich hab noch keine Ahnung, sie will mit mir nur mal so raus auf See. Ein bisschen angeln, vielleicht mal unbeobachtet nackt im Meer baden und so’n Tütelkram. Also einen kleinen hübschen Mittelmeer Törn mit all inclusive Betreuung durch die Crew. Wenn ich Glück hab‘, ist sie ja vielleicht auch ganz nett. Sie will einfach nur mal ein paar Tage Ferien ohne ihren Alten machen, der wohl bei uns zuhause in der Wirtschaft ein ziemlich hohes Tier sein soll.«

Wieder grinste der Alte, ohne seine Nase aus dem Buch zu nehmen,

»Du willst sie also nicht abmelden? Na, mir soll es recht sein, ich hab nichts gesehen, Finn. Du musst dich nun allerdings vor unserer Küstenwachen-Patrouille in Acht nehmen, die kommen jetzt neuerdings meist erst gegen elf Uhr abends hier vorbei.«

»Ich dank' dir, Bruno. Hast was gut bei mir.« Der Alte nickte, ohne seine Schreibarbeit zu unterbrechen. »Ich denke, dass ich in zwei, drei Tagen, spätestens aber in einer Woche zurück sein werde«, sagte Finn und reichte dem Alten seinen Pass. Und während er ihm den Ausreisestempel in den Pass drückte, murmelte der alte Seebär grinsend,

»Also dann viel Vergnügen, mein Lieber und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel.«

Finn tippte sich lächelnd an den Schirm seiner ausgeblichenen Schiffermütze und nachdem er seinen Pass eingesteckt hatte, verließ er unter den großen, wachsamen Augen der buntgestreiften Kapitänskatze das Büro des alten Hafenkommandanten.

 

Wind war etwas aufgekommen und die Wellen im Hafen schlugen in dieser Nacht schon deutlich höher gegen die Kaimauern des Hafenbeckens, als am Tage. Die alten Laternen an der Pier fünf schaukelten leicht im nächtlichen Wind und warfen hin und wieder gespenstische Schatten auf die vertäuten Jachten und Boote. Weiße Wolken jagten unter dem hellen Mondlicht von Mittelmeer kommend, in Richtung französisches Festland. Westwind, also gutes Wetter zum Segeln heut' Nacht, dachte Finn und beschleunigte seine Schritte zu der entfernten Liegestelle der "Seaspray“.

Melissa saß auf der an Deck befestigten weißen Kunststoffbank und wartete auf Finns Rückkehr. Der Skipper nahm mit großen, weitausholenden Schritten Kurs auf sein Boot und sprang mit einem Satz über die niedrige Reling auf das Deck des Seglers.

»Wir müssen gleich los, bist du bereit, Süße?«, fragte er in die Dunkelheit hinein.

»Aye, Aye, Sir...«, kam die prompte Antwort und Melissas lächelndes Gesicht tauchte aus der Dunkelheit in dem vom Wind schon deutlich heftiger schwankende Laternenlicht der Pier fünf auf.

»Konntest du den Hafenkommandanten wenigstens glaubhaft überzeugen, warum wir nach Tunesien müssen, Kapitän?«, fragte sie den Skipper, als der an ihr vorüber ging.

»Du musst jetzt ein bisschen Schöntun mit mir und wahrscheinlich auch ein wenig mit mir rumschmusen, denn ich hab ihm erzählt, dass du mal etwas Abwechslung brauchst und mit mir für ein paar Tage zum Angeln und relaxen aufs Meer rausfahren willst«, grinste Finn und zog mit einem Griff das Reep ein, welches die Brücke zur Pier darstellte.

»Wenn‘s weiter nichts ist, das kannst du haben, Skipper«, lachte Melissa leise, zog sich mit einem Ruck ihr weißes T-Shirt über den Kopf und lief mit nacktem Oberkörper hinter Finn her, der wieder an Land gegangen war, um das Tau am Bugpoller zu lösen. Gerade als er das Tauende auf die Decksplanken geworfen hatte, stand plötzlich Melissa vor ihm, legte beide Arme um seinen Hals, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste den überraschten Seemann zärtlich auf dessen Mund.

»So war das natürlich... «, stammelte Finn, legte seine Arme um sie und küsste sie zurück. »...nicht gemeint«, vollendete er seinen Satz und küsste sie erneut. Dann riss er sich los. »Wir müssen jetzt aber machen, dass wir fortkommen, sonst erwischt uns womöglich noch eine Patrouille der Küstenwache und dann ist es mit der Reise über das Mittelmeer gleich Essig, noch bevor sie überhaupt begonnen hat. Außerdem reist du als blinder Passagier auf meinem Schiff aus der EU aus und da können wir uns absolut überhaupt keine Mätzchen erlauben, Mädel«, lachte er leise und wies mit der Hand auf das Boot. »Und nun ab aufs Boot und zieh bitte die Bugleine ein, Süße.«

Melissa überstieg grinsend die niedrige Reling, kehrte an Bord zurück, zog sich flink eine wärmende Trainingsjacke über und befolgte exakt die Anweisung des Skippers. Als Finn auch die Achterleine am Heck gelöst hatte, sprang er ebenfalls zurück auf das Deck und startete den Schiffsdiesel. Anschließend setzte er die Positionslampen und drehte das Boot in den Wind. Dann ließ er den Dieselmotor kurz aufheulen, wendete und fuhr mit halber Kraft die Jacht in Richtung Hafenausfahrt. Als sie die Ausfahrt passiert hatten, gab Finn Vollgas und steuerte das Boot hinaus, auf die vom Vollmond beschienene offene See. Dort wo die Wellen schon beträchtlich höher gingen, als noch in unmittelbarer Hafennähe. Nachdem sie problemlos die französische Drei-Meilen-Zone hinter sich gelassen hatten, programmierte er das elektronische Navigationssystem des Bootes mit Kurs auf die nordafrikanische Küste, genauer nach Tunesien, auf den Hafen Port El-Kantaoui. Mit dem Abschalten des Diesels rauschte der nächtliche Wind in der Takelage. Kurz darauf zog Finn automatisch die beiden Großsegel auf. Diese trieben das Boot mit einem kräftigen Ruck wesentlich schneller voran, als es der Diesel allein je vermochte. Das Radar registrierte voraus keine Schiffsbewegungen und der Bordcomputer gab dem Segler den programmierten Weg frei.

Unter Berücksichtigung des Windes, der Meeresströmungen, der nautischen Seekarten und der Hoheitsgewässer der Anrainerstaaten würde der Computer des Autopiloten nun sein Ziel optimal ansteuern können. Wenn es keine nennenswerten Zwischenfälle gab, würden sie El Kantaoui in weniger als zwanzig Stunden erreichen können. Während Finn die verschiedenen Komponenten des Autopiloten noch feinprogrammierte, die Maschine in die erforderliche Leerlaufposition brachte und die Segelleistung elektronisch optimierte, stand Melissa neben ihm und schaute ihn interessiert bei der Arbeit zu.

Der helle Mond schien auf das Boot der beiden nächtlichen Segler herab und es schien, als leuchtete er mit seinem fahlgelben Licht, der unter vollen Segeln nach Süden ablaufenden "Seaspray“, den richtigen Weg voraus. Melissa war auf der ausgeklappten Koje, die Finn ihr zur Nacht noch vorbereitetet hatte, ganz schnell eingeschlafen. Als er ihr noch ein Kopfkissen aus der Schublade bringen wollte, schlief sie bereits schon tief und fest. Sachte deckte er sie mit einer dünnen Schlafdecke zu und schob ihr vorsichtig das Kissen unter den Kopf. Dann setzte er sich in die Steuerkajüte und beaufsichtigte die Instrumente. Während der Autopilot präzise seinen Kurs hielt, richtete der Computer die beiden Großsegel immer auf eine optimale Windlast aus. Das Radar zeigte keinen Schiffsverkehr voraus an und Finn konnte es sich etwas gemütlicher machen. Er stöpselte seinen MP3-Player an einen USB-Anschluss und aus den eingebauten Musikboxen der Steuerkajüte erklangen leise die beschwingten Akkorde von Tschaikowskys erstem Klavierkonzert.

 

*

 

Von Osten dämmerte bereits der neue Morgen herauf und die ersten hellen Sonnenstrahlen beleuchteten die gesamte Backbordseite der "Seaspray“, während das Boot bei günstigem Wind in der Nacht etwa gut die erste Hälfte der Wegstecke zur afrikanischen Küste zurückgelegt hatte. Als Mellissa am Morgen durch die aufgehende Sonne geweckt wurde, wunderte sie sich, dass sie nicht seekrank geworden war. Auf keiner Kirmes oder auf keinem Jahrmarkt stieg sie je in ein Kettenkarussell oder in eine Achterbahn, wo ihr immer gleich sofort schlecht wurde. Aber über das halbe Mittelmeer war sie ohne Probleme im Schlaf gesegelt. Sie ging schwankenden Schritts nach vorn zur Steuerkajüte und begrüßte Finn, der nun leicht mit dem Kopf nickend, den Klängen der Beatles lauschte,

»Guten Morgen, Skipper, kann man bei dir auch duschen?«

Finn Bentler grinste,

»Klar, harte Hunde schon, aber ob das allerdings für ne‘ feine Lady, wie für dich etwas ist? Wenn du hart duschen verträgst, Babe? Hab' nämlich vergessen, dem Chief Bescheid zu sagen, dass er heute die Kessel für's Warmwasser anheizen soll...«

Melissa grinste ebenfalls,

»Denk dir einfach, ich packe es, Skipper.«

Finn zog die rechte Augenbraue hoch,

»Na dann, folgen Sie doch einfach nur unauffällig Ihrem Kapitän, Madame.« Er führte sie nach unten zu einem winzigen Schapp neben der Kombüse und zog die Tür mit einem lütten Bullauge zur Seite. »Willkommen im Sanitärtrakt unseres Luxusliners, Süße.«

»Ich dachte gestern Abend, das wäre die Toilette«, sagte Melissa und wies auf die angeschraubte Keramik-Schüssel mit dem winzigen Handwaschbecken gegenüber.

Finn nickte grinsend,

»Das ist sie auch, aber nicht nur, denn dieses Schapp ist zugleich auch 'Die Dusche', quasi unsere Nasszelle an Bord«, erwiderte er und sein Blick wanderte unter die niedrige Decke, wo ein deutlich sichtbarer Brausekopf montiert war. »Bevor du also in die Dusche gehst, Klamotten bis auf die Haut runter und auch das Handtuch draußen im Gang am Haken anhängen, sonst ist nachher nämlich alles nass. Nicht vergessen, die Seife mit in die Dusche reinzunehmen.«

Sein ausgestreckter Zeigefinger wies auf einen angeschraubten Kleiderhaken neben dem Dusch-Schapp.

»Dann nackig rein, Tür schließen und sich breitbeinig hinstellen, damit du sicher stehst. Nun siehst du neben dir einen langen weißen Hebel, daneben jeweils einen dicken blauen und einen ebensolchen roten Knopf…«

»…den weißen Hebel hier auf Blau für kaltes und auf Rot für warmes Wasser stellen«, unterbrach sie ihn lachend. Das sei ja klar und soweit könne sie ihm hoffentlich noch folgen.

Finn schüttelte jedoch nur belustigt den Kopf,

»Irrtum, Moses, der blaue Knopf ist für Salzwasser und der rote für Süßwasser und dieser weiße Hebel hier, das ist der Griff der Handpumpe, mit der man sich sein eigenes Duschwasser selber heranpumpen muss. Süßwasser ist nämlich knapp und nur zum Nachspülen gedacht. Wenn du also die Tür geschlossen hast, kannst du nun einmal komplett duschen. Zuerst also den blauen Knopf drücken und anfangen mit dem Pumpen. Salzwasser kannst du verbrauchen, bis dir die Haut schrumpelig ist oder bis es dir das Körperhaar vereist, aber es müssen mindestens zehn Liter durch den Zähler laufen. Darauf einseifen, dann zum Abspülen weiterpumpen. Danach den roten Knopf kräftig drücken und wenn der einrastet, werden etwa zehn Liter Süßwasser zum Nachspülen freigegeben. Nur den roten Knopf drücken geht nicht, Sperrvorrichtung… Sorry, gilt auch für Ladys. Und immer daran denken, es gibt nur Kaltes. Nicht wie bei Loriot in der Badewanne, mal ein bisschen von diesen und ich hätte noch gern ein wenig von jenem. Das ist alles Pillepalle und gibt’s hier nicht. Kalt an oder kalt aus und bei mir bleibt auch die Ente draußen, die verstopft mir sonst nur den Abfluss. Alles klar, Moses?«, grinste Finn.

Melissa war perplex.

Finn reichte ihr ein frisches Badehandtuch,

»Im Notfall schreien, ich bin unmittelbar drüber«, sagte Finn und sein ausgestreckter Zeigefinger zeigte diesmal nach oben. »Ich hör' dich dann nämlich. Noch Fragen?«

Melissa schüttelte den Kopf. Finn drehte sich um und stieg mit eingezogenem Kopf wieder zum Oberdeck hinauf. Das war ja die abenteuerlichste Duschinstruktion, die ich je gehört hatte, dachte sie lächelnd und begann sich auszuziehen. Dann betrat sie die Dusche und schloss die Tür. Nach ein paar Minuten hörte Finn sie von unten prusten und jammernd stöhnen,

»…aach ist das kalt, oh‘ mein Gott, ist das kalt, das ist ja so was von saukalt, da friert man sich ja glatt den A… ab!«

Finn grinste in sich hinein und setzte das Wasser für den Frühstückskaffee auf. Als Melissa mit ihrer Morgentoilette fertig war, kam sie nach oben. Das Badehandtuch hatte sie sich zu einem eleganten Turban um den Kopf geschlungen und in Finns weißem Bademantel näherte sie sich leicht schwankend der Steuerkajüte, indem sie sich immer wieder seitlich mit den Händen an den Haltegriffen abstützte. Sie verbreitete beim Näherkommen, einen bezaubernden Duft von Lavendel und lächelnd fragte sie Finn,

»Der Koch lässt anfragen, was Ihr zum Frühstück essen wollt, Kapitän...«

Finn fuhr sich mit einer eigentümlichen Geste über den Mund und seinen Drei-Tage-Bart, als versuchte er die nächtliche Müdigkeit zu vertreiben oder einfach nur ein Grinsen zu unterdrücken. Dann setzte er wieder das Fernglas an und seine Hand wies nach Backbord aus dem Kabinenfenster,

»Willst du denn gar nicht wissen wo wir sind, Babe?« Unterdessen war Melissa hinter ihn getreten und schaute in die bezeichnete Richtung. Am Horizont zeichnete sich im Frühdunst des Morgennebels eine riesige bewaldete Felseninsel im Mittelmeer ab.

»Wir haben jetzt die gute Hälfte der Strecke hinter uns gebracht und das Island, welches du da vor dir siehst, das ist Sardinien. Am Abend werden wir in Port El Kantaoui sein, wenn alles glatt geht.« Finn reichte ihr das große Nachtglas und Melissa betrachtete die Insel in der Ferne. Der aromatische Lavendelduft war nun so stark, dass Finn ihn mit einem tiefen Einatmen durch die verbreiterten Nasenflügel höchst intensiv genoss. Sein Blick fiel auf Melissa, die nun sehr interessiert durch das Fernglas auf die Felseninsel schaute. Der weiße Bademantel hatte an ihrem Oberkörper eine Falte geworfen und gab nun einen Blick auf ihre nackte linke Brust frei, was ihn sogleich noch einmal tiefer einatmen ließ. Dann gab Melissa ihm das Glas zurück und schaute Finn überrascht an,

»Ist was mit dir, Skipper? Du siehst mir ein wenig mitgenommen aus.«

Finn nickte etwas abgespannt,

»Ich bin nur ein bisschen müde und werde mich nach dem Essen ein wenig hinlegen. Dann musst du die Instrumente etwas im Auge behalten und wenn irgendwas tutet, klingelt oder sonst irgendwie etwas losgeht, was auch nur entfernt nach einem Alarm riecht, dann weckst du mich einfach. Einverstanden?«

Melissa lächelte,

»Und was darf es nun zum Breakfast sein, Kapitän?«

»Zwei Spiegeleier mit Speck und Zwiebel auf Toast, wenn es dem Smutje recht ist«, griente Finn.

»Aye, Aye, Sir, kommt sofort«, beeilte sich Melissa zu antworten und war sogleich wieder voll in ihrem Element.

 

 

*

 

 

Am frühen Abend erreichte die hoch aufgetakelte „Seaspray“ schließlich die Straße von Sizilien und der Autopilot schwenkte selbsttätig auf einen Kurs um die Nordostspitze Tunesiens herum ein. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie in den tunesischen Mittelmeerhafen Port El Kantaoui einlaufen würden. Daraufhin hatte Finn nun selbst wieder das komplette Kommando über das Boot übernommen.

Mit den letzten Strahlen der untergehenden Sonne geriet der Hafen mit seinen modernen schneeweißen Gebäuden ins Blickfeld des Skippers. Finn kannte den Hafen bereits von früheren Reisen und stellte kaum eine Veränderung fest. Alles schien so, wie er es in der Erinnerung hatte. Dass es jetzt Abend war, konnte durchaus von Vorteil sein, denn Melissa musste ja auch mit von Bord, um mit dem Ägypter Kontakt aufzunehmen. Da nutzte es wohl wenig, wenn er allein ohne Melissa zu dem Hotel fahren würde, wo dieser El Batala Klavier spielen sollte. Ohne ihr Beisein würde ihm der alte Ägypter sicher garantiert kein einziges Stück irgendeines Beweismittels aushändigen wollen. Darin brauchte Finn sich auch nichts vorzumachen. Nur mit Melissa als Bezugsperson, die El Batala sehr gut kannte, konnte es funktionieren. Das Problem war nun, Melissa unter den Augen der Kommandantur hindurch zu schleusen und sie anschließend wieder unversehrt auf das Boot zurückzubringen. Finn rechnete auch damit, dass man den alten Ägypter nach Melissas plötzlichem Verschwinden unter Umständen sogar observieren würde. Je kürzer also dieser Coup hier ablief, umso schneller würde man ohne großartig Staub aufzuwirbeln, auch wieder verschwinden können. Finn lenkte das Boot mit eingezogenen Segeln in den Hafen und legte sachte an einem der hölzernen Stege für die großen Yachten an.

Die Luft war noch warm von der Hitze des Tages und ein lauer Nachtwind wehte bereits vom Meer herüber. Er sprang an Land und wand geschickt die Bugleine um einen der Anlegerpoller. Dann zog er das Boot mit einem Bootshaken an die Längsseite des Steges und befestigte auf dieselbe Weise die Achterleine. Mit Melissa hatte er vereinbart, dass sie im Schutz der Dunkelheit auf den Boot kein Licht einschalten und sich ruhig verhalten sollte. Ebenso vergatterte er sie dazu, die Vorhänge zur Kajüte dicht geschlossen zu halten. Er vergewisserte sich, dass sein Geld Clip die Rolle Dollarnoten zusammenhielt, schloss die Kajüte von außen ab und legte das Reep an den Holzsteg an. Danach begab er sich ruhigen Schrittes zur Kommandantur ins Hafenamt.

Der dünne Beamte saß in einer tadellosen khakifarbenen Uniform hinter seinem Tresen und hatte den Skipper mit seinem Boot schon beim Einlaufen in den Hafen über einen Monitor beobachtet. Er fragte ihn auf französisch nach dem Grund seines Besuches in Tunesien, während er scheinbar teilnahmslos Bentlers Pass mehrmals durchblätterte. Finn antwortete ihn ebenfalls auf französisch, dass er lediglich auf der Durchreise sei und hier nur einen alten Freund besuchen möchte, einen Musiker. Morgen früh schon würde er Tunesien bereits wieder verlassen haben.

Der Beamte schaute ihn aufmerksam ins Gesicht, verglich das Passfoto mit Finns Physiognomie und drückte ihm den Einreisestempel in seinen Pass. Nachdem Finn die Hafengebühr bezahlt hatte, verließ er das Büro des Beamten und hatte Glück. Denn der Polizist hätte jetzt mit ihm zusammen die "Seaspray" inspizieren und Stichproben einer Kontrolle vornehmen können. Finn steuerte das nächstbeste Touristengeschäft an, bei dem es luftige Frauenkleider zu kaufen gab, die hier in sommerlicher Weise getragen wurden. Er wählte stilsicher ein nicht zu aufdringliches Kleid mit dezenten Farben und kaufte es, ohne um den Preis zu feilschen, wie es hier ansonsten üblich gewesen wäre. In einem kleinen Hafencafé bestellte er sich erst mal einen Cappuccino und setzte sich mit einer freien Aussicht auf die fest vertäuten Yachten, an einen einzelnen Tisch.

Von irgendwoher dudelte unentwegt Schlagermusik und Hunderte von Touristen durchströmten die auch nächtlich geöffneten Souvenirgeschäfte und Bars in diesem urban gestalteten Hafengelände.

 

Port El Kantaoui war ein in den 70ziger Jahren des letzten Jahrhunderts künstlich angelegter, von den Golfstaaten großzügig finanzierter und modern gebauter Mittelmeer-Yachthafen für die protzigen Hochseeyachten der Ölscheichs, wenn die im Mittelmeer Station machen wollten. Zwanzig Minuten lang beobachte Finn die „Seaspray“ und nachdem sich niemand seinem Boot genähert hatte, begab er sich lässig schlendernd wieder zum Bootssteg zurück. Mit einem Satz sprang er wieder über die Reling und schloss die Tür zur Kajüte auf. Im Dunkeln reichte er Melissa die Tüte mit dem Kleid in die Kabine hinein,

»Zieh es über, Süße, damit wir hier nicht so auffallen. Ein paar Pumps mit hohen Absätzen wären auch nicht verkehrt, wir wollen schließlich in ein 5-Sterne-Hotel zum Dinner.«

Er setzte sich auf die Bank an Deck und wartete, bis Melissa sich umgezogen hatte. Dann kam sie aus der Kajüte und betrat das Deck. Sie sah wunderschön aus in dem neuen Kleid. Lächelnd kam sie auf Finn zu und gab ihm einen sinnlichen Kuss,

»Ich danke dir, es passt ausgezeichnet und sieht sogar sehr gut aus. Wie geht es jetzt weiter mit uns?«

Finn grinste,

»Erst mal müssen wir hier aus dem Hafen rauskommen, dazu wirst du mich umfassen und mit mir auch wieder ein bisschen Schöntun müssen, denn der Beamte im Hafenamt kann uns bereits nach wenigen Metern auf dem Steg von seinem Monitor aus beobachten. Ich selbst habe den Monitor gesehen, also müssen wir so tun, als ob…«, erklärte Finn ihr ziemlich besorgt. »Denk' daran, das ist kein Spiel, Babe, wenn die uns hier erwischen, dann sind wir beide dran.«

Melissa lächelte,

»Also wenn mein Skipper von mir jetzt auch noch schauspielerische Fähigkeiten erwartet, dann soll er sie auch bekommen. I do my very best, Captain!«

Grinsend hob Finn die schlanke Frau über die Reling und stellte sie vorsichtig auf dem hölzernen Steg, der nach Teer und Seetang roch, ab. Dann stieg Finn über die Reling und legte Melissa seinen Arm über ihre Schulter,

»Wir promenieren jetzt genauso zusammen in Richtung Ausgang des Hafengeländes und alles muss so natürlich wie möglich aussehen, nicht übertrieben, aber mit trotzdem mit einen gewissen Pepp. Okay, Babe? Ich sag dir Bescheid, ab wann er uns auf seinem Monitor sehen kann.«

Lächelnd legte Melissa ihren Arm um seine Hüften und schmiegte sich eng an ihn. Ein wenig genoss sie die prickelnde Situation irgendwie auch, bei der sie beide auffliegen und sogar festgenommen werden konnten. Das gab ihr zudem einen gewissen Kick und ein gar seltsames Gefühl von echt erlebtem Abenteuer. Zugleich ließ es allerdings auch  den Adrenalinspiegel in ihr heftig ansteigen. Und so spazierten sie angeregt miteinander plaudernd langsam auf dem hölzernen Steg in Richtung Hafenpromenade.

»Ab jetzt sind wir für ihn auf seinem Bildschirm zu sehen, Achtung also…«, raunte Finn ihr lächelnd zu und presste die Frau noch fester an sich. Tatsächlich wurden sie in diesem Moment von einer der ausgerichteten Kontrollkameras im Hafen erfasst. Der Beamte kniff die Augen ein wenig zusammen, als er auf dem Monitor den Seemann mit einer attraktiven Frau vom Steg kommen sah. Von wegen‚ einen alten Freund besuchen, dachte er, sie sind doch alle gleich diese Europäer, haben nur immer das Eine im Kopf. Also auch der Seemann von vorhin, aber warum sollte ausgerechnet der auch eine rührige Ausnahme sein. Eine gute halbe Stunde ist es her und schon hat er sich eine dieser willigen Urlauberinnen geangelt, dachte er angewidert. »Die Weiber von denen sind aber auch nicht viel besser«, meinte er mehr zu sich selbst und schüttelte nur verächtlich den Kopf. Aber das interessierte ihn schon nicht mehr wirklich, denn für Moral war er nicht zuständig.

Unbehelligt erreichten die beiden gemütlich schlendernd das Hafentor und steuerten auf den Taxihaltestand zu. Finn hob den Arm, schnipste lautstark mit den Fingern. Gleich darauf schob sich ein großes schwarzes Renault-Taxi vor die Toreinfahrt. Finn öffnete die Wagentür und ließ zuerst Melissa einsteigen und setzte sich dann neben sie. Noch während er die Tür zuschlug, gab er dem Taxifahrer schon das Ziel an.

»Sousse, Hotel El Mouradi.« Der Fahrer nickte und gab Gas.

»Warum musste es übrigens ausgerechnet Port El Kantaoui sein? Sousse hat doch auch einen Yachthafen, wo ich anlegen könnte«, fragte Finn leise. Melissa zuckte mit den Schultern,

»Keine Ahnung, El Batala wollte es so. Es sei sicherer meinte er, hier in El Kantaoui würden sich bedeutend mehr Ausländer tummeln, als im Hafen von Sousse. Seit der üblen Geschichte von damals traut er kaum noch jemanden so richtig über den Weg.«

Finn nickte verstehend. Ein cleveres Kerlchen dieser alte Ägypter, dachte er anerkennend, hat vorsorglich schon an alles gedacht. Und die zehn Kilometer bis Sousse waren ja ohnehin nur ein Klacks mit dem Taxi.

Schon als sie das Hotel betraten, klang ihnen beschwingte Klaviermusik aus dem Foyer entgegen und Melissa griff aufgeregt nach Finns Hand. Dann setzten sie sich an einen freien Tisch, von wo aus sie den alten Klavierspieler sehen konnten.

»Ist er das?«, raunte Finn ihr zu.

Melissa nickte und hatte Tränen in den Augen, als sie El Batala erkannte. Der Ägypter war nur noch ein Schatten seiner selbst, die eingefallenen Wangen und die tiefliegenden Augen zeugten von der Schwere seiner Krankheit. Aber er spielte wunderschöne Melodien und seine Klavierakkorde hallten durch das Foyer.

»Wir sollten jetzt eine Kleinigkeit essen, um wenigstens den Schein zu wahren, findest du nicht, Babe?«

Melissa nickte und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen,

»Entschuldige, ich stand ein wenig neben mir«, sagte sie und legte ihre Hand auf Finns Unterarm. Der Kellner kam und brachte ihnen die Speisekarte. Nachdem sie jeder für sich ein kleines Thunfischsteak bestellt hatten, fragte der Kellner zugleich, was er ihnen denn zu trinken bringen soll.

»Ein Flasche Rotwein, die Hausmarke bitte…«, antwortete Finn auf französisch und Melissa ergänzte,

»Und einen Boukha bitte noch dazu…«

Der Kellner nickte und verschwand.

»Du willst wirklich einen Dattelschnaps dazu trinken?«, fragte Finn entgeistert.

»Nicht für mich, sondern für ihn. Am besten, du gehst nachher zu ihm hin, stellst das Glas neben ihn auf das Klavier und gibst ihn unauffällig einen Zettel von mir. Er wird die bekannte Melodie aus dem Film, "Der Clou" spielen, wenn er verstanden hat, wer hier ist. Tust du das für mich, Kapitän?«

»Wenn es weiter keine Umstände macht, klar, warum nicht. Ihr scheint ja ziemlich konspirativ miteinander umzugehen, dieser alte Ägypter und du«, grinste Finn.

Melissa nickte ernst,

»Das haben wir damals per Mail so vereinbart, Finn. Ich bin mir sicher, er weiß dann sofort Bescheid«, antwortete sie. Kurz darauf kam der Kellner und brachte die gewünschten Getränke. Den Schnaps stellte er an Melissas Seite und mit einer freundlichen Versicherung, dass das Essen gleich serviert werden würde, zog er sich wieder zurück. Unterdessen hob Finn sein Glas und stieß mit Melissa an,

»Auf dass unser Unternehmen gut gelingen möge. Auf uns, Melissa.« Sie lächelte ihm zu und trank einen Schluck von ihrem Rotwein. Dann schrieb sie schnell auf ein kleines Kalenderblatt ein paar Worte, riss das Blatt aus ihrem Kalender heraus, faltete es zusammen und schob es zu Finn hinüber.

»Das wird ihn überzeugen, jetzt wäre ein günstiger Zeitpunkt.« Finn nickte und klemmte das Blatt zwischen zwei Finger, ergriff das Glas mit dem Dattelschnaps und schlenderte über ein paar Umwege zu dem Klavierspieler hinüber. Der alte Musiker blickte kurz auf und als er sah, dass der große schlanke Mann ihm einen Boukha auf das Klavierbord gestellt hatte, lächelte er ihm dankbar zu. Zugleich aber legte ihm der Fremde eine Ein-Dollar-Note in welcher ein Zettel eingerollt war, auf die Elfenbeintasten und zwinkerte kurz mit einem Auge. Dann machte er kehrt und ging zurück in das Foyer. Der Alte wartete, bis sich das Papier etwas von selbst entfaltet hatte und las dann kurz darüber gebeugt, die handgeschriebenen Worte auf dem Zettel. Ein Ruck ging durch den schmal gewordenen Körper des alten Ägypters.

Niemand ahnte, dass der gesamte Vorgang von zwei dunklen, sehr wachsamen Augen aus der angrenzenden Hotelbar genauestens beobachtet wurde. Eine schlanke Hand mit einer goldenen Rolex am Handgelenk, griff ins Jackett und zog daraus ein goldfarbenes Mobiltelefon hervor. Die Wahlwiederholungstaste wurde gedrückt und nach ein paar leise geflüsterten arabischen Worten wurde das Gespräch sofort wieder beendet…

 

Inzwischen hatte Finn wieder am Tisch Platz genommen und als der Klavierspieler auf einmal die Melodie aus dem Film "Der Clou" zu spielen begann, liefen Melissa erneut die Tränen über die Wangen und sie schluchzte ein wenig.

»Ich kann nichts dafür, es überkommt mich einfach, wenn ich ihn so sehe. Er ist so ein herzensguter Mensch und nun will er mir jetzt sogar seine einzige Lebensversicherung übergeben«, brachte sie unter Tränen hervor und suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.

Wenn Finn bislang noch immer einige kleine Zweifel hinsichtlich dieser ungewöhnlichen Abenteuergeschichte hegte, betrachtete er nun doch ziemlich überrascht einiges mit völlig anderen Augen. Wie dann auf einmal, die von Melissa angekündigte Melodie erklang, nahm er sich vor, doch etwas mehr auf der Hut zu sein. Nach dem Dinner machte der Ägypter eine Spielpause und ging in einiger Entfernung an den beiden vorbei, ohne sie jedoch nur eines Blickes zu würdigen. Er steuerte auf den Hotelausgang zu und es hatte den Anschein, als wollte er unter den Balustraden vor dem Hotel nur eine Zigarette rauchen. Melissa erhob sich und folgte dem alten Mann in einigem Abstand nach draußen. Finn war sich einen Moment lang etwas unschlüssig, ob er ihnen ebenfalls nachgehen sollte. Sie werden das schon geregelt bekommen, schließlich sind sie erwachsen genug, beruhigte er sich und schenkte noch ein Glas von dem vorzüglichen Rotwein nach. Nach einer Weile kam Melissa allein zurück und setzte sich aufgeregt wieder an den Tisch,

»Er wird bald sterben...«, sagte sie tonlos und wieder rannen ihr die Tränen über das Gesicht. »Aber er wird mir die Dokumente nachher bringen. Wenn er seine zweite Pause macht, soll ich ihn wieder nach draußen folgen. Er dankt dir dafür, dass du so viel für mich getan hast und er meinte, wir sollten auf uns aufpassen. Er hätte das ungute Gefühl, dass man ihn seit gestern unablässig beobachte. Er sagte, er sei nirgends wo mehr allein und dass dies kein gutes Zeichen sei«, brachte Melissa hervor und wischte sich die restlichen Tränen ab.

Finn schalt sich, dass er ohne die Waffe losgefahren war. Nun lag die silbergraue Beretta 92 sicher eingeschlossen in dem Bordsafe seines Bootes. Da liegt sie gut, dachte Finn und ärgerte sich über seine Sorglosigkeit, die ihnen vielleicht noch teuer zu stehen kommen könnte.

Gegen elf ging der Ägypter das zweite Mal nach draußen und wieder folgte Melissa dem alten Mann, der nun tatsächlich auch ziemlich gebrechlich wirkte. Finn bezahlte beim Kellner sogleich die Rechnung und ging zur Rezeption, wo er umgehend ein Taxi bestellte. Der Mann hinter der Rezeption nickte und telefonierte dienstbeflissen nach einem Taxi. Noch während er sprach, hob er seine Hand und spreizte seine Finger. Finn nickte, gut in fünf Minuten wäre also das Taxi da. Er wollte so schnell wie möglich weg von hier, es konnte nämlich in Windeseile ziemlich ungemütlich werden, wenn man die Brisanz der Dokumente nur richtig bewertete. Finn trat vor die Tür und sah Melissa und den Ägypter in einer schwach beleuchteten Ecke neben dem Eingang unter den Balustraden stehen und miteinander flüstern. Der Alte rauchte unterdessen nervös an seiner Zigarette.

Aus der Dunkelheit der Straße tauchten die Scheinwerfer eines Autos auf und kamen rasch näher. Es war das bestellte Taxi und es hielt gleich neben dem Hoteleingang. Der Fahrer ließ den Motor laufen, schaltete aber das Standlicht ein. Dann kam Melissa mit schnellen Schritten hinter den Säulen hervor und lief auf Finn zu. Der öffnete schon den Verschlag für sie und schob Melissa kommentarlos auf den Rücksitz. Dann stieg er selber zügig in das Taxi ein. Der Fahrer schaltete umgehend das Abblendlicht wieder zu und gab sogleich Gas. Während der Fahrt sprachen beide kein Wort miteinander, nur dass Melissa die ganze Zeit über die Hand von Finn fest umklammert hielt. Sie hatte also alles bekommen, dachte er. Dieses selbstlose Verhalten des alten Mannes nötigte ihm einen gehörigen Respekt ab, denn schließlich hatte sich dieser schwerkranke Ägypter gerade soeben von seiner eignen hochkarätigen Lebensversicherung verabschiedet. Als sie kurz vor Mitternacht wieder in Port El Kantaoui eintrafen, herrschte dort noch immer ein reger Touristenbetrieb im Hafen.

»Nun müssen wir wieder so natürlich wie möglich zu meinem Boot schlendern, es muss so aussehen, als würde ich dich abschleppen wollen, Melissa? Wir wollen nun auf keinen Fall so kurz vor dem Ziel noch schlafende Hunde wecken.«

Melissa lächelte Finn an, umarmte ihn und küsste ihn sanft.

»Ich wüsste nicht was ich ohne dich hätte machen sollen, ich bin dir für alles so dankbar und sehr froh, dich getroffen zu haben«, sagte sie leise, legte ihren Arm wieder um seine Hüfte und schmiegte sich wieder fest an ihm. Langsam schlenderten sie gemeinsam auf den Bootssteg der Anlegestelle der "Seaspray“ entgegen. Finn half ihr über die Reling und geleitete sie in die Kabine. Sie ließ in der Dunkelheit der afrikanischen Nacht langsam ihr Kleid auf den parkettierten Boden der Yacht gleiten, umarmte den schlanken Seemann und küsste ihn leidenschaftlich auf dessen begierige Lippen…

 

 

 

*

 

Am nächsten Morgen, nachdem Finn kalt geduscht und sich ausgiebig dem Kaffeegenuss gewidmet hatte, begab er sich zum Büro des Hafenkommandanten und wollte seinen Pass für seine Ausreise abstempeln lassen. Der diensthabende Beamte interessierte sich nicht die Bohne für Finn oder dessen Boot. Er kontrollierte lediglich, ob der Skipper die Gebühr für den Hafen entrichtet hatte und das war laut Eintragung im Hafenbuch der Fall. Ohne einen weiteren Kommentar drückte er ihm den Ausreisestempel in den Pass. Melissa schlief zu dieser Zeit noch und er wollte sie deshalb nicht extra wecken.

Sie wusste ja ohnehin, dass sie sich mucksmäuschenstill verhalten musste. Sie hatten alles was sie brauchen würden, bereits an Bord und sogar für den Törn der Rückreise war schon in Marseille vorgeplant und besorgt worden. So legte Finn ohne Hast ab und fuhr bei glatter See mit gedrosseltem Motor aus dem Hafen, auf das offene Meer hinaus. Dort nahm er einen Nordwestkurs und setzte volle Segel. Den Autopiloten hatte er bereits während seiner morgendlichen Kaffeezeremonie programmiert und schaltete ihn nun ein. Finn hatte auch die Beretta aus dem Safe entnommen und sie sich hinter den Gürtel seiner Jeans gesteckt, man konnte ja nie wissen, obwohl jetzt die schlimmste Gefahr bereits gebannt schien.

Als Melissa erwachte, waren sie bereits jenseits der Drei-Meilen-Zone in neutralen Gewässern. Sie kam langsam nach vorn zur Steuerkajüte gelaufen und stellte sich hinter Finn, der den Horizont mit dem Fernglas im Auge behielt. Sie lehnte ihr Gesicht seinen breiten Rücken,

»Guten Morgen, mein Schatz, hast du denn diesmal überhaupt gut geschlafen, Skipper?«, fragte sie noch immer etwas schlaftrunken. Finn brummte etwas von einer verdammten Schlechtwetterzone auf dem Weg, drehte sich herum und küsste nun die Frau im weißen Morgenmantel überaus zärtlich,

»Guten Morgen, Süße. Ja, selbstverständlich hab ich nach dieser Nacht auch gut geschlafen oder hättest du etwas anderes erwartet?«, fragte er lächelnd. Melissa lächelte wissend zurück und zwinkerte ihm freundlich zu.

»Ich gehe jetzt erst einmal hart duschen und bereite uns danach dann wieder ein leckeres Frühstück, wenn du nichts dagegen hast«, sagte sie lächelnd und hangelte sich wegen des leicht rollenden Bootes zum Niedergang durch, während Finn das Wetterradar auf dem Monitor weiterhin mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn beobachtete. Denn unmittelbar vor ihm auf der Straße von Sizilien zeichnete sich bereits eine deutlich erkennbare Schlechtwetterzone ab und während Finn noch überlegte, ob er das Gebiet umfahren sollte, kam von achtern eine schnelle weiße Motorjacht herangerauscht. Sie ging steuerbords in etwa fünfundsiebzig Metern Entfernung längsseits auf einen Parallelkurs, während zugleich die Geschwindigkeit der Yacht reduziert wurde und sie sich der Geschwindigkeit der "Seaspray" anpasste. Mit einer abschließenden weißen Bugwelle nickte die Yacht wie bei einem heftigem Bremsmanöver nach vorn und behielt aber Kurs und Geschwindigkeit unvermindert bei. Finn griff zum Fernglas und konnte aber weder Leute an Deck, noch irgendeine Nationalitätenflagge ausmachen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, welches ihn im selben Moment auch zutiefst misstrauisch machte. Ein Boot in internationalen Gewässern ohne Hoheitszeichen, das gab es eigentlich nicht. Außer bei Piraten schon, aber die hissen dann meistens wenigstens den Jolly Roger, durchzuckte es ihn. Piraten im Mittelmeer, eine absurd klingende, beinahe schon eine grotesk lächerliche Vorstellung. Nicht jedoch, wenn er an Melissa dachte. Instinktiv startete er den Schiffsdiesel und erhöhte damit die Geschwindigkeit seiner "Seaspray".

Plötzlich jedoch blitzte vom Heck der Yacht das grelle Mündungsfeuer einer Maschinenpistole auf und eine erste Garbe glühender Geschosse fegte über das Deck des Zweimasters. Dabei wurden das vordere Segel und das Kabinenfenster seiner Steuerkajüte gleich von mehreren Treffern durchschlagen. Melissa, dachte Finn, sie hatte verdammt noch mal recht, sie wollen sie umbringen. Laut brüllte er ihren Namen über das Deck der "Seaspray".

»Melissa, hinlegen und volle Deckung!«, schrie er nun noch einmal und drehte wie wild das Steuerrad nach Steuerbord. Das Boot reagierte augenblicklich und mit einem gewaltigen Ruck schwenkten die mächtigen Segel, durch den Computer gesteuert, herum und blähten sich aber sofort wieder auf, sodass auf der "Seaspray" kaum ein nennenswerter Geschwindigkeitsverlust eingetreten war. Dem Gegner so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten, dachte Finn und steuerte nun mit höchstem Tempo auf das Heck der Yacht zu. Offensichtlich hatte da drüben niemand damit gerechnet, dass der Skipper der "Seaspray" anstatt zu fliehen, auf einen selbstmörderischen Angriffskurs gehen würde. Und ziemlich hektisch wurde daraufhin eine weitere lange Salve aus einer laut ratternden Maschinenwaffe vom Heck der Yacht auf die frontal anlaufende "Seaspray" abgefeuert, die aber komplett ins Leere ging.

Eine Maschinenpistole, eine AK47, heilige Scheiße, dachte Finn, die wollen es aber genau wissen. Er griff nach seiner Beretta und lud die Waffe durch, während er weiter mit maximaler Geschwindigkeit auf das Heck der Yacht zuhielt. In Kürze würde er das Heck des Angreifers erreicht haben, als er jedoch plötzlich eine männliche Person auf dem Achterdeck des Schiffes bemerkte, die mit einer Maschinenpistole im Anschlag, auf die sich nähernde "Seaspray" zielte. Mit einer Hand hielt Finn das Steuerrad fest, während er seine Beretta blitzschnell auf den Angreifer richtete und nun seinerseits das Feuer eröffnete. Jetzt zahlte es sich einmal mehr aus, dass Finn ein Linkshänder war und in dieser Situation beides, Schiff und Waffe gleichermaßen gut im Griff hatte. Er hatte etwa fünf Patronen schnell hintereinander auf den Angreifer abgefeuert, als der Mann auf der anderen Seite plötzlich die Arme hochriss und seine Waffe auf das Deck polterte. Dann brach er zusammen. Finn hatte nun das Heck der Yacht erreicht und drehte jetzt wie wild das Steuerrad wieder nach Backbord, um noch dichter an den Gegner heranzukommen. Er musste ihn dicht von achtern angehen, sonst hatte er mit seiner Pistole auf eine größere Entfernung keine Chance. Als er nun mit der "Seaspray" fast schon Bord an Bord auf gleicher Höhe mit dem Angreifer lag, konnte er den Namen des Bootes ausmachen. "Aurora II" prangte in fetten schwarzen Lettern am Bug der Yacht. Maschinenpistolenfeuer einer weiteren AK47 ratterte los. Da habt ihr Dreckskerle aber wieder mal nicht gut genug gezielt, dachte Finn, als die Einschläge den vorderen Aluminiummast seines Zweimasters trafen. Anscheinend kam das Waffenfeuer von der Brücke der Yacht und Finn konzentrierte sich nun auf den vorderen Teil des Angreifers. Er hielt seine Beretta weiter auf die Yacht gerichtet, als erneut eine lange Salve von der anderen Seite abgegeben wurde. Diesmal verspürte Finn einen irrsinnigen Schmerz in der rechten Schulter und im Oberarm. Blut spritze gegen die noch im Rahmen steckenden Glasscherben des eben zerschossenen Seitenfensters seiner Steuerkajüte. Mindestens zwei Kugeln schienen ihn also doch getroffen zu haben.

Wütend verschoss er nun die gesamte Munition aus dem hastig nachgeladenen Magazin seiner Pistole. Er feuerte unablässig auf den Punkt, von welchem aus die Schüsse auf ihn abgegeben worden waren. Nach einer heftigen Detonation donnerte plötzlich eine grelle Stichflamme aus der Zone der Brückensektion des Angreifers in den wolkenverhangenen grauen Himmel und im Nu brannte die Yacht im gesamten vorderen Bootsbereich. Finn musste irgendetwas Explosives auf dem Schiff getroffen haben, welches nun bereits nach einer weiteren Minute, schon lichterloh brannte. Schnell hatte das mächtige Feuer auch die anderen Sektionen des Bootes erfasst und Finn war längst klar, dass die weiße Piratenyacht kaum wohl mehr zu retten war. Er drehte hastig das Ruder hart nach Steuerbord, weg von dem brennenden Boot, denn die sengende Hitze des Feuers war noch bis auf der "Seaspray" zu spüren. Ein Druck auf die Taste, ließ das längst leergeschossene Magazin aus der Beretta herausspringen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht nahm er ein weiteres volles Magazin aus der geöffneten Lade seines Bordsafes, schob es hastig in den Schacht und lud mit zusammengebissenen Zähnen die Pistole wieder durch. So, dachte er, nun könnt ihr Dreckskerle kommen, nur falls ihr noch immer nicht genug habt. In diesem Moment jedoch gab es eine weitere Explosion auf der bereits im Vollbrand stehenden Yacht, welche die "Aurora II" im Sekundenbruchteil später in Stücke riss und die Reste innerhalb kürzester Zeit versenkte. Nach ein paar Minuten war der gesamte Spuk zu Ende und das Meer sah wieder so friedlich aus, als hätte es diesem fatalen Angriff niemals gegeben. Nur der Gestank von verbranntem Dieseltreibstoff lag in der Luft und eine dunkle Rauchwolke löste sich über dem Schlachtfeld auf. Offensichtlich gab es keine Überlebenden und auf dem bewegten Wasser schwammen nur einige Trümmerteile der versenkten Yacht. Lediglich ein großer, in allen Regebogenfarben schillernder Ölfleck markierte die Stelle, an welcher das Boot explodiert und untergegangen war. Melissa, dachte Finn und wieder brüllte er ihren Namen über das Deck. Vorsichtig stieg Melissa die Treppenstufen zum Oberdeck hinauf und sie sah Finn blutüberströmt in der Steuerkajüte auf dem Fußboden sitzen, die Pistole immer noch in der Hand. Sie stürzte mit einem Aufschrei des Entsetzens zu ihm hin.

»Finn, du bist verletzt! Wo ist dein Verbandskasten?«, rief sie ihm erschrocken zu. Finn öffnete die Augen und zeigte mit der Mündung der Beretta erschöpft auf den eingebauten Wandschrank. Melissa stürmte zu dem Schrank und riss die Türen auf. Der Erste-Hilfe-Kasten lag gleich vornan. Rasch ergriff sie die weiße Holzkiste und stellte sie von Finn auf den Boden. Fachmännisch säuberte sie die Schusswunden, desinfizierte sie und verband sie mit allem, was sie an Brauchbarem in der Kiste fand. »Die Kugel, die dich unterhalb des Schlüsselbeins erwischt hat, die ist noch drin. Sie muss aber so schnell wie möglich entfernt werden, sonst entzündet sich die Wunde. Die Wunde am Oberarm ist ein glatter Durchschuss, die konnte ich jedoch so leidlich versorgen.«

Finn nickte müde,

»Danke, das hast du gut gemacht, diese verdammten Kerle wollten uns doch tatsächlich killen. Entschuldige, dass ich dich zu Anfang nicht gleich so ernst genommen hatte«, stöhnte er.

Melissa nickte,

»Ist schon gut, aber wo ist denn jetzt diese Yacht?«, fragte sie als sie aus dem zerschossenen Fenster einen vorsichtigen Rundumblick genommen hatte.

Finn grinste matt,

»Untergegangen sind sie, die Dreckskerle, samt ihrer schnellen Morgenröte, abgerauscht zu den Fischen. Tja, wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen. So steht’s schon in der Bibel. Hätten sich mal lieber fernhalten sollen, denn jetzt schmoren sie bestimmt schon in der Hölle.«

Melissa war zutiefst erschüttert,

»Was tun wir jetzt, du musst schnellstens in ein Krankenhaus und operiert werden, außerdem müssen wir doch irgendjemand über diesen furchtbaren Angriff informieren.«

Finn grinste schwach,

»Wen willst du denn darüber informieren? Wir sind hier auf hoher See und zudem in internationalen Gewässern. Außerdem sind die unbekannten Angreifer umgekommen. Ihr Schiff ist explodiert und untergegangen und niemand wird sie je mehr retten können. Wir haben noch etwa fünfzehn Stunden bis Marseille, dort werden wir die Behörden über diesen Vorfall informieren. Wir müssen nun aber erst mal durch eine tückische Schlechtwetterzone und das könnte bald ein bisschen ungemütlich werden. Ich hoffe nur, dass unser Boot nicht allzu viel abbekommen hat und wir unbeschadet durch das vor uns liegende Sturmtief kommen. Deswegen musst du hier mir hier in der Kajüte bleiben, denn ich werde kaum noch in der Lage sein, allein das Ruder halten zu können. Du wirst also mein Rudergänger sein, der uns durch den Sturm bringen wird, Moses.«

Melissa nickte,

»Das kriegen wir hin, verlass dich auf mich, Skipper«, sagte sie mit fester Stimme und küsste ihn. Finn stöhne leise auf. Sie war versehentlich gegen seinen verletzten Arm gekommen. Melissa hielt sich die Hände vors Gesicht,

»Verzeih mir, ich hätte besser aufpassen müssen.«

Finn lachte leise, ob dieser skurrilen Situation.

»Hilf mir lieber auf, wir müssen die "Seaspray" noch etwas für eine Sturmfahrt vorbereiten, sämtliche Luken dichtmachen und das kaputte Fenster zunageln, sonst spült es uns weg im Sturm.« Nach etwa einer halben Stunde hatten sie alles erledigt und Melissa hatte das erste Mal in ihrem Leben mit einem Hammer ein paar Bretter zusammengenagelt, sodass das Seitenfenster zur Steuerkajüte halbwegs wieder dicht war. Gerade noch rechtzeitig waren sie fertig geworden, denn nun stiegen die Wellenkämme bedeutend höher und heftige Regenschauer peitschten unablässig gegen die Frontscheiben der Steuerkajüte. Der Scheibenwischer hatte selbst auf der schnellsten Stufe Mühe, das Wasser vom Glas zu verdrängen. Der Himmel hatte sich extrem schnell verfinstert und die Sichtweite war gleich rapide um ein Vielfaches gesunken. Nun konnte nur noch das Radar vorausblicken und Finn hatte die "Seaspray" zur Sicherheit in den Wind drehen lassen und steuerte nur noch mit kleiner Dieselkraft gegen den übermäßigen Versatz an, während der Sturm in der leeren Takelage heulte.

Unverzagt hielt Melissa das Ruder nach Finns Anweisungen fest in den Händen, sodass sie wenigstens nicht noch weiter abgetrieben wurden. Wie ein Streichholz tanzte allerdings die "Seaspray" auf den Wellenkämmen und rauschte anschließend, mit bis zu sechs Metern Höhenunterschied in das tiefer gelegene Wellental. Zum Glück gab es in dieser Gegend keine Untiefen oder Felseninseln und so musste man sich wenigstens keine Sorgen machen, irgendwo auf Grund zu laufen. Etwa dreieinhalb Stunden später ließ die Heftigkeit des Sturms nach und Finn konnte durch den Computer wieder beide Großsegel setzten lassen. Der Autopilot ermittelte via GPS den neuen Standort und berechnete die kürzeste Route nach Marseille. Der Sturm kam vom Südwesten und hatte sie etwa knapp einhundert Seemeilen weit nach Nordosten in das Tyrrhenische Meer hineingeschoben, sodass sie nun östlich um Sardinien herum, die Passage zwischen Korsika und Sardinien nehmen mussten und von dort aus, mit direktem Kurs nach Marseille weitersegeln konnten.

Als Finn Bentler mit einer Hand am Steuer die Hafeneinfahrt von Marseille erreichte, hatte er schon ziemlich hohes Fieber, denn das tiefsitzende Projektil hatte den Bereich um die Eintrittswunde trotz Melissas exzellenter Erster Hilfe Leistung, bereits heftig entzündet.

»Melissa, Schatz, sag dem alten Grentlain Bescheid, er soll mir bitte einen Arzt besorgen, ich erklär‘ ihm alles später und er soll sich auch ein bisschen um die "Seaspray" kümmern, bis ich zurück bin«, sagte Finn mit schwacher Stimme. Melissa fasste ihn an die Stirn,

»Mein Gott, Finn, du glühst ja regelrecht, kann ich dich denn wirklich einen Moment lang allein lassen?« Finn nickte, er hatte schon Ringe um die Augen und fühlte sich hundsmiserabel.

»Geht schon, wenn es nur nicht so lange dauert«, murmelte er erschöpft.

Während Melissa loslief, um bei den alten Hafenkommandanten rasch Hilfe zu holen, war Finn fast schon am Ende seiner Kräfte. Er schaffte es gerade noch an seinem Liegeplatz, an der Pier fünf anzulegen und das Boot festzumachen, als ihm schwarz vor Augen wurde und er zu Boden ging...

 

Eine Woche später lag Finn Bentler noch etwas blass um die Nase im seinem Bett in einem Marseiller Krankenhaus und las lächelnd in einen langen Brief, geschrieben von einer gewissen Melissa Hofmann aus Freiburg. Darin teilte sie ihm mit, dass ihr Mann verhaftet wurde, bereits in Untersuchungshaft sitze und die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen vorsätzlichen Mordes ermittelte. Außerdem habe sie die Scheidung von Hinrich Hofmann eingereicht und ihren Anwalt beauftragt, ihre abstrusen Vermögensverhältnisse wieder in Ordnung bringen zu lassen. Sie würde allerdings einen äußerst liebenswerten Segelskipper namens, Finn Bentler, am kommenden Wochenende gern besuchen wollen und für ihn kochen, wenn er noch Appetit auf etwas Leckeres hätte, denn sie sei ihm noch etwas mehr als nur ein exzellentes Essen schuldig. Zugleich fragte sie an, ob er, Finn, nicht auch eine hübsche, kleine einsame Insel für sie beide im Mittelmeer wüsste, wo sie gemeinsam ein paar Tage ausspannen könnten, nur so zum gemeinsamen Nacktbaden und all so’n Tütelkram…

Der alte Grentlain, dachte Finn grinsend, konnte doch wieder einmal seine Klappe nicht halten…

 

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Cover: selfARTwork

Text: Bleistift

© by Louis  2013/3       last Update: 2021/9

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Texte: © by Louis 2013/3 last Update: 2022/8
Bildmaterialien: inside: unknow Artist
Cover: selfARTwork
Tag der Veröffentlichung: 07.09.2021

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