Eine tote Astronautin mit einem seltsamen Lächeln im Gesicht trieb langsam um ihre Längsachse rotierend, in einem ultraleichten Raumanzug durch die unendliche Schwärze des Alls.
Sekunden später explodierte in ihrer unmittelbaren Nähe lautlos ein Antimaterie-Torpedo in einem grellen, weißgleißenden Lichtblitz und verdampfte die sterblichen Überreste dieser Frau...
Zwölf Tage zuvor...
Thor, der Commander des am weitesten gereisten Raumschiffes der Erde starrte eine gefühlte Ewigkeit auf den gigantischen Monitor der Kommandobrücke, mit Blick voraus. Er hatte die winzige Stelle ausgemacht, an welcher die optischen Sensoren des schweren Raumkreuzers „Albert Einstein“ zum allerersten Mal seit dem Start einen winzigen roten Punkt generierten, den er dort noch niemals zuvor gesehen hatte.
Da vorn vor ihm befand sich also jener sagenumwobene Rote Riese, der nun allerdings in seinen letzten Zuckungen lag. Der unvermeidbare Tod dieses Roten Riesen mit der zehnfachen Masse ihrer eigenen Sonne, war der eigentliche Grund für die sieben Astronauten diese lange und gefahrvolle Reise durch Raum und Zeit zu unternehmen. Lange konnte es nämlich nach den überaus präzisen Berechnungen der Astronomin Kelvine nicht mehr dauern, denn diese sterbende Sonne würde in Kürze kollabieren und unweigerlich in sich selbst zusammenstürzen. Sie hatte im Verlaufe von Jahrmillionen ihren gesamten Vorrat an Wasserstoff zu Helium fusioniert und nun ging ihr langsam aber sicher für eine weiterführende Kernfusion der notwendige Brennstoff aus. Sie würde sich an ihrem Todestag innerhalb von Bruchteilen von Sekunden zu einer Supernova entwickeln und eine derart unvorstellbare Menge an Energie freisetzen, die für das menschliche Vorstellungsvermögen jenseits von Gut oder Böse lag. Ein physikalischer Prozess, der sich nüchtern betrachtet, im Leben unseres Universums schon unzählige Male wiederholt hatte. Aber noch nie waren Menschen jemals so dicht an ein wahrlich bedeutendes astronomisches Ereignis herangekommen, um es sozusagen mit eigenen Augen mitzuerleben, es sogar für die Nachwelt zu erforschen und detailliert aufzuzeichnen.
Was sich in diesem Zusammenhang noch alles ereignen würde, wusste man nicht, jedenfalls nicht genau. Möglicherweise hoffte man insgeheim sogar auf die Entstehung eines Schwarzen Loches. Das wäre dann allerdings aber eine wissenschaftliche Sensation par Exzellenz. Die Chancen dafür standen nicht einmal schlecht. Und wer konnte denn schon von sich behaupten, dass er je ein solches materie- und lichtfressendes Monster, wie ein Schwarzes Loch, aus nächstmöglicher Nähe erforscht hatte. Nein, die Crew der „Albert Einstein“ wären tatsächlich die ersten Menschen, die lebendige Augenzeugen eines derartigen astronomischen Großereignisses werden würden.
Luba.
Thor dachte an Luba, an ihren sinnlichen Mund, ihre betörenden Brüste, auch an ihre heiße Lust zu lieben. Sie war für ihn die schönste Frau des Universums und würde es wohl auch für immer bleiben. Ohne sie hätte er diese Reise sicher niemals unternommen. Seine erste und wohl zugleich auch letzte Reise in die Tiefen jenes noch unbekannten Teils unseres Universums.
Obwohl die Menschheit seit über vierhundert Jahren ausschließlich nur noch künstliche Intelligenzen als Raum, und Zeitreisende ins All entsandt hatte, wurden damals dennoch sieben Menschen unter tausenden hochqualifizierten Bewerbern ausgewählt, diese außerordentliche Weltraummission gemeinsam mit einigen der ausgereiftesten künstlichen Intelligenzen der Zeit zu unternehmen. Eine extreme Ausnahme nach den geltenden Gesetzen der Raumfahrt und für Thor ein ungewöhnlicher Glücksfall, denn kurz vorher hatte er Luba in Paris kennengelernt und sich in sie verliebt. Sie hatte bereits Jahre zuvor an der berühmten Sorbonne Medizin studiert und sich als Ärztin für diese Weltraum-Mission beworben. In der medizinischen Fachwelt hatte sie sich international längst einen bedeutenden Namen gemacht. Und ihn, Thor, konnte sie mit ziemlich überzeugenden femininen Argumenten nahezu problemlos dazu überreden, sich ebenfalls für diese einmalige Raumreise zu begeistern. Wohlwissend, dass sie bei einer erfolgreichen Bewerbung, einen Großteil ihres gemeinsamen Lebens auf engstem Raum in dieser mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit durchs All rasenden, anthrazitfarbenen und titangepanzerten, kugelförmigen Konservendose miteinander verbringen würden.
Die internationale Auswahlkommission hatte sich nach langer und eingehender Prüfung gleichermaßen für beide entschieden...
*
~Ich habe dich trotzdem wahrgenommen, mein Lieber. Du solltest künftig besser auf die Macht deiner Gedanken achten~, vernahm Thor nun Lubas lachende Stimme in seinem Kopf. ~Und sehr wahrscheinlich haben es nun endgültig auch alle anderen mitbekommen, wie dreist du es mit mir im Bett getrieben hast, denn deine Gedanken waren so intensiv und dermaßen laut, da hättest du es auch ebenso problemlos über die Bordkommunikation verbreiten könne~, rügte sie ihn schelmisch grinsend. ~Aber warte nur noch ein kleines Sekündchen, ich bin gleich bei dir, Liebster. Bestimmt warst du mit deinen wissenschaftlichen Gedanken wieder einmal ganz woanders. Und ich ahne auch schon, es muss sicherlich etwas außerordentlich Wichtiges gewesen sein~, fügte sie schnell, wie entschuldigend hinzu.
~Wie gut du mich kennst. Allein diese Tatsache ist schon erschreckend genug~, dachte Thor in einem Anflug von Humor und musste plötzlich selber lächeln.
Im Laufe der Jahrtausende hatten es die besonders emotional eng miteinander verbundenen Menschen gelernt, die Gedanken des geliebten Partners zu verstehen und ohne dabei sprechen zu müssen, sich sozusagen auf unkonventionelle Weise gedanklich miteinander auszutauschen. Sie brauchten es einfach nur zu denken und der jeweils andere Partner konnte dessen Gedanken ebenso sicher, wie das gesprochene Wort wahrnehmen. Allerdings funktionierte diese Form der Kommunikation auch bei einer platonischen Liebe und so konnten sich die Liebenden niemals ganz sicher sein, ob nicht womöglich doch irgendjemand an ihrem intimen Gedankenaustausch teilhatte.
»Aber das ist es doch gerade, was du so an mir magst oder irre ich mich darin etwa?«, ertönte prompt Lubas nun fröhlich klingende akustische Stimme, als sich zischend das schwere Schott zur Steuerzentrale wie eine Irisblende geöffnet hatte. Da stand sie auch schon mitten im Raum in ihrem weißen hauchdünnen Bordanzug, der sie als eine Medizinerin auswies. Der allerdings auch dem aufmerksamen Betrachter deutlich mehr von ihrer exzellenten Figur verriet, als er eigentlich verbarg. Ihr sinnliches Lächeln galt indes nur dem hageren, charismatischen Zwei-Meter-Mann, der nicht nur der Commander der „Albert Einstein“, sondern zugleich auch ihr langjähriger Lebensgefährte war.
»Was hat dich bewogen, so intensiv an mich zu denken? Doch wohl nicht nur die Lust auf Sex hier draußen in dieser Einöde«, lachte sie und küsste den Mann in dem dünnen hellblauen Anzug mit den roten doppelten Biesenstreifen zärtlich auf den Mund.
Thor löste sich nur ungern von der Frau,
»Nicht nur«, brummte er angetan. »Aber schau dir doch vorher bitte erst einmal das hier an…«
Aufblitzend hatte sich hinter ihm der Monitor wieder zugeschaltet. Mit einem gedanklichen Befehl zoomte er das Bild mit dem roten Punkt auf ein erträglich anschaubares Niveau und wandte sich an sich wieder an die ausnehmend hübsche Frau.
»Ich wollte, dass du die erste bist, die es von mir erfährt«, hauchte er ihr ins Ohr. Luba bekam große Augen,
»Es ist so weit, wir sind also da…«, flüsterte sie beinahe tonlos.
Thor nickte und gab den gedanklichen Befehl, den Antimaterie-Antrieb der „Albert Einstein“ abzuschalten. Nun würde in Kürze ein Ionentriebwerk anspringen und die Geschwindigkeit des mächtigen Raumkreuzers ganz allmählich von beinahe neunfacher Lichtgeschwindigkeit auf wenige hundert Kilometer pro Sekunde herunterzubremsen. Den Umkehrschub aktivieren, nannten die Piloten seit Urzeiten dieses negative Beschleunigungsmanöver.
Der Chef-Ingenieur der „Albert Einstein“ hatte das Herz des Ionentriebwerkes schon vor Wochen gemeinsam mit den künstlichen Intelligenzen zerlegt, alle Teile akribisch überprüft und es nach der anschließenden Wartung wieder zusammengesetzt. Wenigstens konnte er aber so für die einwandfreie Funktion des Antriebs garantieren. Das war auch notwendig, denn es war seit dem Start der „Albert Einstein“ vor nunmehr beinahe fünfunddreißig Jahren, mit einer kleinen Ausnahme, nicht mehr in Betrieb gewesen. Wenngleich Iron auch ein verschlossener und in sich gekehrter Typ war, so konnte sich Thor aber dennoch jederzeit auf dessen exzellenten und fachkundigen Sachverstand verlassen. Und nicht nur in dieser Beziehung machte der 'Eiserne' seinem Namen alle Ehre.
Auf der virtuellen Steuerkonsole, die Thor nun ebenfalls mittels eines gedanklichen Befehls auf dem Monitor eingeblendet hatte, war das blaue Licht, welches die Funktion des Antimaterie-Triebwerkes bestätigte, durch ein grünes ersetzt worden. Das Ionentriebwerk, konstruiert für einen Flug in interplanetaren Räumen, sowie im Unterlichtgeschwindigkeitsbereich, hatte nun befehlsgemäß seine Arbeit aufgenommen. Die davor in einem grellen Signalrot blinkende LED, avisierte dem Commander, dass es auch zuverlässig im Umkehrschub-Modus arbeitete. Man war jetzt sozusagen bereits im Sinkflug auf das angestrebte Ziel. Jetzt galt es nur noch im nächstgelegenen Planetensystem nach einem geeigneten massiven Gesteinsplaneten zu suchen, in dessen Schatten die „Albert Einstein“ einen sicheren Schutz vor der bevorstehenden Supernova des Noch-Roten-Riesen finden konnte. Aber das war schon wieder mehr eine Aufgabe für die 'Synthetischen', wie die künstlichen Intelligenzen unter den Raumfahrern genannt wurden. Sie würden einen dafür nutzbaren Planeten schon herausfinden und das Schiff auch sicher dorthin manövrieren.
~Du solltest es den anderen sagen, mon chéri. Sie brennen bestimmt genauso darauf, es zu erfahren~, dachte sich Luba in Thors Gedankenwelt hinein, während sie ihren Liebsten weiterhin umarmt hielt. Sie hatte sich im Sekundenbruchteil gedanklich mit ihm verbunden und so brauchte es wieder keines direkt gesprochenen Wortes, um mit Thor zu kommunizieren.
Zugleich scannte sie gedanklich Thors physisches Innenleben, da der Commander bis jetzt ihrer Aufforderung, sich zu der monatlich regelmäßig stattfindenden medizinischen Routineuntersuchung einzufinden, noch nicht nachgekommen war. Er ließ es ohne zu murren über sich ergehen, obwohl er natürlich nicht gern in sich selbst hineinschaute. Das überließ er in aller Regel besser den Medizinern. Auch wenn er jetzt dafür live miterleben musste, wie Luba in gewohnter Gründlichkeit gerade seine Lungenflügel von innen inspizierte, denn diese objektiven Bilder aus dem Innern seines Körpers erreichten ihrer beider Hirne gleichermaßen.
Thor kannte seinen Körper und brauchte eigentlich nichts zu befürchten, auch wenn er nach menschlichem Ermessen schon etwas mehr, als die Hälfte seines Lebens hinter sich gebracht hatte. So wanderte Luba dennoch gedanklich durch seinen Körper und checkte nebenher alle wichtigen Vitalfunktionen, während Thor den Rest der Crew über die offizielle Bordkommunikation auf die Brücke beorderte. Gerade hatte Luba mit einem leichten Stirnrunzeln die medizinische Untersuchung ihres Gefährten abgeschlossen, als sich erneut mit einem deutlichen Zischen das Irisschott zur Brücke öffnete und die übrige Crew der „Albert Einstein“ laut schwatzend und lachend die Steuerzentrale betrat.
»Du kannst wohl nie genug von ihm kriegen, Süße?«, schmunzelte Rana, als sie Luba betrachtete, die ihren Liebsten immer noch fest umarmt hielt.
Luba machte ein grimmig grinsendes Gesicht,
»Freiwillig bekommst du ihn jedenfalls nicht, auch wenn du ihn mit deinen phantastischen Geschichten aus der Historie noch so sehr zu bezirzen vermagst. Also mach' dich gefälligst vom Acker…weg, weg, weg...«, keifte sie plötzlich wie ein altes Marktweib scheinbar richtig erbost, und schob Rana mit einer ruckartig abwehrenden Geste ihres Armes aus dem Weg. Doch dann löste sie sich jedoch von Thor und umarmte lachend die eben noch so übel gescholtene attraktive brünette Frau, die auf der Erde nicht nur eine hochdotierte Professorin für Geschichte war, sondern zugleich auch die Funktion des Ersten Offiziers auf der „Albert Einstein“ innehatte.
Thor indes begrüßte die übrigen Mitglieder der Crew alle mit einem kräftigen Handschlag und wechselte mit jedem von ihnen ein paar Worte. Danach wandte er sich an die in der Kommandozentrale versammelten Astronauten,
»Hey Leute, auf ein Wort, es gibt eine neue Nachricht, auf die ihr alle bestimmt schon lange gewartet habt«, verkündete er und im selben Moment flammte hinter ihm erneut der riesige, dreidimensionale Monitor auf. Ein blauer Ring um den roten Punkt im Gewirr der Sterne machte das Bild deutlich, um das es ging. »Wir sind am Ziel unserer Reise angelangt. Wir haben den Roten Riesen erreicht und können nun endlich auch mit unserer eigentlichen Mission beginnen. Ich danke allen, die es uns ermöglicht haben, trotz einiger äußerst widriger Umstände und technischer Probleme überhaupt bis hier her, in die Nähe dieses Roten Riesen zu gelangen. Ich danke besonders Rana, die in der Zeit meines mehrmonatigen Ausfalls das Schiff hervorragend geführt hatte, dann Henry, unserem Physiker, der gerade noch rechtzeitig diesen verhängnisvollen Riss in unserem Raum-Zeit-Kontinuum festgestellt und uns dort sicher herummanövrieren konnte. Ebenso der intelligenten Kelvine, die für uns einen neuen fabelhaften Reiseweg zu dem Roten Riesen herausgefunden hatte. Auch dir Iron, gebührt mein Dank und zugleich der allergrößte Respekt, denn ohne dich, mein Lieber, hätten wir wahrscheinlich unsere superschnelle Lichtorgel nicht wieder auf Hochtouren bringen können und dümpelten immer noch wie auf Entenfüßen mit unserer mickrigen Ionen-Trompete durchs All. Ganz besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle aber an meine über alles geliebte Luba aussprechen, die mich in monatelanger, mühevoller Kleinarbeit immerhin wieder zu einem herzeigbaren Menschen zusammengeflickt und dabei stets an meine Rückkehr ins Leben geglaubt hatte. And last but not least, bedanke ich mich bei unserer unübertrefflichen Künstlerin Isabella für die vielen Stunden, ach was sage ich, Jahre der wunderbaren Unterhaltung und Zerstreuung. Ebenso für ihre feinnervige Sensibilität, des Zuhörens und für ihr Dasein, wenn unsere Herzen in einen unerträglichen Kummer zu versinken drohten. Ohne euch alle, euren Mut und euren Tatendrang hätten wir unser großes Ziel wohl niemals erreicht. Ich danke auch nachträglich all denjenigen, die mich damals mich mit euch, diesen wunderbaren Menschen zusammengebracht haben, obwohl sie nach irdischen Maßstäben gemessen, nun auch schon seit weit über dreihundert Jahren, die seit unserem Abflug auf der Erde vergangen sind, nicht mehr unter den Lebenden weilen dürften.«
Ein Aufatmen ging durch die Astronauten und alle klatschten spontan Beifall. Kelvine hatte sogar ein paar Tränen in den Augen, die sie sich aber schnell wieder aus dem Gesicht fortwischte.
»Kinder, wir feiern eine heiße Fete, dass wir es endlich geschafft haben und ich organisiere uns diese Party«, rief Isabella voller Überschwung in den anhaltenden Applaus hinein.
Thor hob die Arme und beschwichtigte die euphorische Welle, die sich sofort breit gemacht hatte,
»Natürlich werden wir eine Party feiern, selbstverständlich werden wir das. Aber wir werden sie erst dann richtig feiern, wenn wir unsere Mission erfüllt haben, denn es bleibt noch viel zu tun. Durch diesen nichtgeplanten Umweg verbleibt uns leider nicht mehr allzu sehr viel Zeit, oder Kelvine?«
Die versierte Astronomin kreierte im Nu gedanklich eine virtuelle Konsole und rangierte sogleich etlichen Formeln und Datenpakete ineinander.
»Nach meinen vorläufigen Berechnungen noch etwa drei Tage und ungefähr zehn, wahrscheinlich aber zwölf Stunden, bis zum ganz großen Knall. Genauer…«
Thor unterbrach sie an dieser Stelle abrupt,
»Merci beaucoup, Kelvine. Ihr habt es gehört. Viel Zeit bleibt uns tatsächlich nicht mehr, es gilt die künstlichen Intelligenzen auf die Reise zu schicken und zugleich noch allerhand Equipment vorzubereiten. Darum bitte ich euch ab jetzt, noch einmal euer Bestes zu geben, denn ich möchte auf alle denkbaren Eventualitäten mehr als nur außergewöhnlich gut vorbereitet sein. Auch, um uns allen nicht noch in allerletzter Sekunde, den bereits greifbar naheliegenden Erfolg zu gefährden. Und nun bitte jeder auf seine Position, denn der Countdown hat bereits begonnen.«
Während die Crew aufgekratzt die Brücke wieder verließ, wandte sich Thor an Henry, dem Nautischen Offizier,
»Die Synthetischen sind über ihre Aufgabe bereits gründlich instruiert worden. Damit ist eigentlich alles gesagt. Ich gedenke, Mr. Beta das Kommando über das Rettungsschiff zu übergeben. Er scheint mir im Moment die geeignetere Person für diese Mission zu sein. Schick sie los, Henry, ich autorisiere Mr. Beta von unterwegs.«
Der Nautische Offizier stutzte erst, dann aber nickte er,
»Du hast recht, Thor. Da dies hier eine rein technische Mission ist, kann man davon ausgehen, dass Beta etwas qualifizierter dafür erscheint, weil er technisch etwas spezifischer ausgebildet wurde«, bestätigte er und verließ ebenfalls die Brücke. Als alle gegangen waren, löste sich ein Schatten aus der Nische der versiegelten Waffenkonsole und kam auf Thor zu. Er blickte auf.
»Ach du bist es, Luba. Ich habe jetzt im Augenblick wirklich leider keine Zeit, Süße. Was immer du mir jetzt sagen willst, verschieb es doch bitte auf heute Abend, einverstanden?«
Thor hatte die virtuelle Kommunikations-Konsole aktiviert und wollte den Start der vier künstlichen Intelligenzen nicht verpassen, die mit dem Rettungsschiff der „Albert Einstein“ auf eine relative Nahdistanz zum Roten Riesen geschickt wurden, um dort ein gigantisches hitzegeschütztes Super-Teleskop auszusetzen. Es sollte ihnen als portable Relaisstation dienen und extrem messerscharfe Bilder und exakte Daten von der zu erwartenden Supernova aus allernächster Nähe liefern.
»Ich fürchte, du wirst dir aber dennoch die Zeit nehmen müssen, mein geliebter Thor…«, sagte Luba mit einer ungewohnten Ernsthaftigkeit in der Stimme. Thor horchte auf.
»Was ist los, Luba?«, fragte er höchst erstaunt, drehte sich um und schaute sie überrascht an.
»Ich will auch gar nicht erst lange, wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen wollen. Ich habe vorhin bei dir eine Verkalkung deiner Herzarterie diagnostiziert. Dein Blutfluss ist in einem bestimmten Bereich nicht mehr optimal. Ein medizinischer Eingriff ist daher dringend erforderlich und somit unerlässlich.«
»Ist es irgendwie gefährlich und muss ich mit persönlichen Ausfallzeiten rechnen?«, wollte er sofort wissen.
Luba wiegte den Kopf,
»Es könnte gefährlich werden, aber soweit werden wir es erst gar nicht kommen lassen. Ein kleine unbedeutende Intervention und danach ist alles rasch vergessen. Ausfallen wirst du deshalb nicht. Aber gemacht werden muss es und zwar bald, auf jeden Fall noch vor dem großen Knall«, bestimmte sie kategorisch.
»Wenn es nicht anders geht, dann wäre es das Beste, wir machen wir es sobald als möglich. Ich möchte eigentlich nur noch die Jungs auf die Reise schicken, damit unser Superfernrohr noch rechtzeitig vor Ort ist. Ist das danach dann auch noch okay für Sie, Frau Doktor?«, grinste Thor. Luba zog ihn zu sich hinunter und küsste ihn.
»Ach, du mein Dummer du, wenn du nur immer so bereitwillig kooperieren wolltest«, murmelte sie zufrieden. »Ich seh‘ dich dann anschließend auf der medizinischen Station und vergiss es bitte nicht, ich lass dich sonst suspendieren. Weihe besser schon mal deinen Ersten Offizier ein, sie muss dich etwa für zwei bis drei Stunden auf dem Kommandoposten vertreten«, sagte Luba lächelnd und verließ rasch die Brücke.
~Arterienverkalkung, das hat mir grade noch gefehlt und ausgerechnet jetzt. Aber ich bin ja selber schuld, diesen verdammten Scan, den hätt‘ ich schon vor über zwei Wochen machen sollen~, dachte Thor etwas missmutig gelaunt.
~Ganz recht, mein Lieber, so ist es. Gut, das du es selber einsiehst~, schwangen Lubas amüsiert klingende Gedanken in seinem Kopf nach.
~Himmel noch eins, kann ich auch mal etwas ganz allein und nur für mich denken? Und darf ich mich nicht auch mal über das, was mich zudem mächtig ärgert, aufregen dürfen?~, entfuhr es ihm ungewollt eine Nuance zu heftig.
~Nicht, wenn es um Liebe oder Gesundheit geht. Oder wie in diesem Fall, sogar um beides~, verrieten ihm Lubas spöttische Gedanken.
~Okay, Frau Doktor, ich hab‘ es jetzt begriffen und nun scher‘ dich raus aus meinen Gedanken, denn ab sofort wird es in meinem Kopf nur noch dienstlich~, brummte Thor wieder versöhnlich grinsend.
Der Monitor flammte auf und das gesamte Bild wurde von einem blassen, kantigen Männergesicht beherrscht.
»Ich grüße Sie, Mister Alpha«, sagte Thor und blickte ihn an. Sofort erkannte er, dass sich die beiden künstlichen Intelligenzen, Mr. Alpha und Mr. Beta allein in der Kommandosektion des Rettungsschiffes aufhielten.
»Mister Beta, bitte.«
Das Bild wechselte sofort und das Profil eines deutlich jüngeren, ebenfalls blassen Männergesichts füllte nun den dreidimensionalen farbigen Bildschirm aus.
Der Synthetische wandte sich dem Commander zu,
»Sir. Ich kann Sie jetzt ebenfalls deutlich wahrnehmen.«
»Ich grüße auch Sie, Mister Beta.«
Der jüngere Mann neigte leicht den Kopf.
»Hier spricht Commander Thor. Das ist ein Autorisierungsbefehl!«
Der Blick des synthetischen Mannes wurde starr und er antwortete Thor nun mit einer ungewohnt harten, metallisch klingenden Stimme.
»Commander erkannt, Sir…«
»Für die Dauer dieser speziellen Mission ernenne ich Sie, Mister Beta, zum Kommandanten auf der „Lise Meitner“ und Mister Alpha zum Ersten Offizier des Rettungsschiffes«, befahl Thor entschlossen.
Völlig emotionslos quittierte der Synthetische diesen Befehl und niemand stellte ihn in Frage. Ob Alpha es nun verstand, oder nicht. Er würde dem soeben erteilten Befehl in jedem Fall präzise Folge leisten. Die Prioritäten waren gesetzt, Mr. Beta würde die Mission leiten und Mr. Alpha, sein Untergebener auf dieser Unternehmung sein.
Dass Mr. Alpha aber dennoch das heimliche Trumpf-As im Ärmel des Commanders war, ahnte natürlich niemand. Selbst Thor glaubte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er seinen geheimen Trumpf in der Crew der Synthetischen einmal dringender denn je benötigen würde. Er wollte stattdessen einfach nur auf 'Nummer Sicher' gehen…
*
»Unsere Kugel gebar soeben ein Kügelchen, die „Lise Meitner“ legt ab, Thor…«, so lautete der bildbegleitende Kommentar vom Ersten Offizier der „Albert Einstein“.
»Ich sehe es, Rana«, bestätigte Thor mit einem wehmütigen Blick auf den Monitor. »Okay, sie sind jetzt auf dem Weg und wenn alles klappt, werden sie in weniger als zwei Tagen ihr Ziel erreicht haben. Genug Zeit also, das Teleskop auszurichten und um es zu aktivieren. Sie wissen um die enorme Bedeutung ihrer Aufgabe und ich hoffe nur, dass sie alle heil und im Stück wieder zurückkommen werden, denn es wird in diesem Hexenkessel ganz schön heiß hergehen, dort wohin sie jetzt unterwegs sind.«
»Deswegen schicken wir ja auch die Synthetischen und keine Menschen an diesen unwirklichen Ort. Denn keiner von uns würde das da draußen je überleben können, das weißt du doch, Thor«, antwortete Rana mitfühlend. Allein, weil sie um die besondere Sympathie des Commanders für die künstlichen Intelligenzen wusste. Thor atmete tief aus und nickte bestätigend,
»So ist es, Nummer Eins. Iron und Kelvine sollen den Spiegel für den Empfang der Daten checken und ihn wenn möglich auch gleich klarmachen, damit wir später dann keine mehr Zeit verlieren, wenn es losgeht. Des Weiteren, den Kanal für Intercom mit der „Lise Meitner“ ständig offenhalten. Ich möchte über alles informiert werden, was von ihren kommt«, wies Thor seinen Ersten Offizier an. »Ach und Rana, wenn nachher alles erledigt ist, musst du mich für zwei bis drei Stunden hier auf der Brücke vertreten. Luba hat mich zu einem medizinischen Check verdonnert. Ich bin damit leider eh‘ schon etwas im Verzug geraten«, fügte er wie entschuldigend hinzu.
»Verstanden, over and out«, bestätigte sie. Zwei bis drei Stunden, dachte Rana, das ist nie und nimmer nur eine simple medizinische Untersuchung, mein Herzblatt. Das ist die Zeit, die deine Süße für eine OP braucht, du hast also ein kleines chirurgisches Problem, mein lieber Thor, konstatierte sie stirnrunzelnd und beschloss gewappnet zu sein. Unterdessen beorderte der Commander Eta, den fünften und damit letzten der synthetischen Astronauten auf die Brücke, um ihn nach einem geeigneten Gesteinsplaneten in diesem Sonnensystem suchen zu lassen, in dessen Schatten die „Albert Einstein“ eintauchen und eine sichere Warteposition beziehen sollte. Später, auf dem Weg zur medizinischen Station registrierte der Commander eine beinahe unmerkliche Kurskorrektur der „Albert Einstein“. Eta hat also einen passenden Planeten gefunden, dachte Thor gut gelaunt und ließ über einen gedanklichen Befehl das gepanzerte Sicherheitsschott zur medizinischen Station öffnen.
Luba stand neben dem neu in Betrieb genommenen medizinischen Transportergerät und war im Moment noch mit der Feinjustierung der Automatikfunktionen beschäftigt.
»Schön, dass du doch gleich den Weg gefunden hast, ohne dass ich es erst anordnen musste«, sagte sie wie nebenbei und ohne aufzublicken. »Du willst dich doch wohl nicht etwa bessern wollen, mon Capitain«, schmunzelte sie vergnügt.
Thor stöhnte,
»Besser, wir bringen es gleich hinter uns, auf mich wartet heute noch jede Menge Arbeit, denn es sind noch eine Reihe umfangreicher technischer Vorbereitungen zu arrangieren«, sagte er. »...Auf diese Liege da?«
Luba nickte,
»Ganz recht und immer schön locker bleiben, du wirst allerdings kaum etwas dabei spüren. Im Gegenteil, bei diesem unblutigen minimalinvasiven Eingriff erwarte ich, dass du mir dabei sogar noch etwas assistieren wirst.«
»Na dann…«, sagte Thor und fuhr sich mit dem Zeigefinger über seine linke Schulter, worauf sich sein etwa zehn Gramm schwer, hellblauer Bordanzug komplett von seinem Körper löste und zu Boden glitt. Dann klatschte er einmal laut in die Hände und setzte sich nackt auf den bequemen Stuhl vor Lubas Operationstisch. Der Stuhl entfaltete sich zusehends zu einer ergonomisch vorgeformten Liege, die sich Sekunden später bereits dem individuellem Körperprofil des zu behandelnden Patienten genauestens angepasst hatte. Lautlos schwebte die Liege automatisch auf Lubas Behandlungstisch und rastete in einer Haltevorrichtung ein. Die Ärztin dimmte mit einem gedanklichen Befehl das Licht im Operationsaal auf zwanzig Prozent und blickte ihren Patienten ins Gesicht. Thor hob kurz beide Daumen in die Höhe. Luba injizierte ein paar Kubikmillimeter einer farblosen Flüssigkeit aus einer grünberingten Ampulle in die Armvene ihres Patienten. Fragende Augen blickten sie dabei an.
»Dieses glasklare Serum heißt „TENSIT“. Es desinfiziert und beugt Infektionen vor, hemmt deutlich Schmerzen, reduziert deine innere Unruhe. Es funktioniert sogar wie ein hochwirksames Präparat gegen jede Art von Halluzinationen und vieles andere Nützliche mehr. Nach gut zwei Wochen wird dieses Medikament fast ohne Nebenwirkungen in deinem Körper komplett abgebaut sein und seine heilende Wirkung beendet haben«, beruhigte sie mit einem smarten Lächeln ihren Gefährten.
Thor nickte erkenntnisgewinnend.
»Aha, ein wahres Wundermittel also. Na wenn das so ist, dann gehen wir es also in Gottes Namen an«, grinste er.
»Du hast es mit deiner skurrilen Formulierung 'Wundermittel', beinahe auf den Punkt gebracht«, bestätigte Luba lächelnd und konzentrierte sich wieder auf ihren Patienten.
Kurz darauf verschmolz sie wieder ihre Gedanken mit seinem Geist und tauchte gedanklich rasch in Thors Körper ein. Ihre Gedanken wanderten langsam zu seinem Herzen. Da beide nun wieder geistig komplett miteinander verbunden waren, sah Thor vor seinem inneren Auge erneut dieselben Bilder aus seinem Körperinnerem, wie die involvierte Medizinerin. Sie folgte seiner Hauptarterie bis zum Herzen und hatte auch bald jene relevante Stelle erreicht, die operiert werden sollte.
~Gut, dass es nur fünfunddreißig Millimeter sind~, dachte sie erleichtert und markierte gedanklich mit einem weiteren Computerbefehl das betroffene Areal durchweg mit einer blauen Lumineszenzfarbe. Während Thors schlagendes Herz dabei unablässig weiter sein mit Sauerstoff angereichertes Blut durch jene verengte Arterie pumpte. Nun konnte auch er in dem dichten Geflecht aus Nerven, Muskeln und Gefäßen die verdickte und leicht hellblau schimmernde Stelle erkennen.
~Das sie diese kaum wahrnehmbare Anomalie bei einem so simplen Routinescan überhaupt bemerkt hat, das ist schon recht erstaunlich~, dachte Thor anerkennend.
~Ich bin eben gründlich, mein Lieber, das hast du doch vorhin selber schon richtig erkannt und ich nehme meine Arbeit sehr ernst.~ Plötzlich vernahm er ihre erheiterten Gedanken erneut in seinem Kopf, ~So meine seer vereeehrte Publikoome, jetzte komme wire zu die Haupattraktione des heutige Abende~, verkündete Luba komödiantisch in ihren Gedanken, ganz im Stile eines altmodischen italienischen Zirkusclowns. ~Sehen Sie jetzte die bezaubernde Luba, bei die seer gefährliche Stunt, deme Positionieren eines Blutfilters in eine die menschliche Arterie und das sogar in die lebendige Organismus…~
~Trommelwirbel...~, fügte Thor in Gedanken hinzu und selbst Luba musste nun darüber lachen.
»Hör endlich auf«, griente sie, »ich bin hier der Harlekin, du bist an dieser Stelle nur das Beifall klatschende Publikum. Dein assistierender Anteil kommt etwas später. Jetzt aber konzentrieren wir uns zuerst einmal nur auf den Filter.«
»Ganz wie Sie meinen, Madame le docteur«, vernahm sie immer noch lächelnd seine prompte Reaktion. Unmittelbar darauf übermittelte Luba an den Computer über ihren gedanklichen Befehl, den Filter genau vor die von ihr zuvor markierte Stelle in die Arterie des Patienten zu teleportieren. Das Gerät brummte dumpf auf und über der steril abgedeckten Petrischale entstand ein grünes Leuchten in der Luft. Im selben Moment verschwand der weiße mikroskopisch kleine Kunststofffilter aus der Petrischale und befand sich urplötzlich unterhalb der blau markierten Stelle in der Arterie zu Thors Herzen. Sofort erweiterte der Filter seinen Ringumfang automatisch bis er sich dem Durchmesser an Thors Arterie angepasst hatte. Die Ärztin gab nun gedanklich noch fünf Micro Millimeter Ringumfang hinzu und der soeben teleportierte Implantatfilter klemmte jetzt in der Hauptarterie ihres Patienten beinahe unverrückbar fest, währenddessen das Blut das Kunststoffimplantat gleichsam ungehindert durchströmte.
~Das wäre geschafft~, dachte Luba und wandte sich nun gedanklich direkt an Thor.
~Na, schon was gespürt~, fragte sie kess.
~Außer einem leichten Kribbeln, nicht wirklich~, gab Thor auf dieselbe Weise grinsend zur Antwort.
~Na dann wart‘s mal ab, mein Lieber. Der wirklich erregende Part, der kommt nämlich erst noch.~
Dann erläuterte sie mit leise gesprochenen Worten ihrem aufmerksam zuhörenden Patienten, was sie mit ihm vorhatte.
Sie streckte ihre Hände vor seinem Gesicht aus und drehte sie vor seinen Augen mit eleganten Fingerbewegungen hin und her,
»Meine Hände. Wie gefallen sie dir?« Thor grinste erneut,
»Oh ich liebe sie wirklich leidenschaftlich. Sie sind schlank, sie sind schmal, wie die einer Pianistin und ja, sie sind selbstverständlich auch wunderschön. Sie können übrigens ganz erstaunliche Dinge, so wie diverse konstruktive Zaubertricks an mir vollbringen, soweit ich mich an gestern Abend zurückerinnere und wenn ich jetzt könnte, würde ich sie dir sogar küssen, aber das weißt du natürlich«, antwortete er schmunzelnd.
»Das ist gut«, erklärte Luba, »dann wird es dir sicherlich auch nichts ausmachen, meine neuste Erfindung auszuprobieren. Wofür Iron gemeinsam mit deinem Mister Alpha ein wahres Meisterwerk geschaffen haben, indem sie nach meinen Vorstellungen das neueste technische Konstrukt dafür gebaut hatten. So werde ich nun gleich mit Hilfe dieses völlig neu konstruierten Teleporters meine Hände in deinem geschlossenen Brustkorb versenken. Auch wenn ich sie sonst nur zum Liebkosen und anderen Schelmenstreichen bei dir benötige, hier allerdings werde ich sie aber als Spezial-Werkzeuge einsetzen müssen. Denn kein Werkzeug ist präziser, als die menschliche Hand. Ich hoffe, du vertraust mir?«
»Ich nehme mal an, diese Frage ist rein rhetorisch gestellt, denn täte ich dies nicht, wäre ich schon seit über einem viertel Jahrhundert tot und begraben. Ich habe dir doch immer vertraut, Liebste«, antwortete Thor ernsthaft.
»Ach, du Dummkopf du, denkst du etwa, ich wüsste das nicht?«, lächelte sie. »Bleib also völlig entspannt und ganz ruhig. Wenn ich sage, Atem anhalten, ist es wichtig, dass du es auch tust, Thor?«
Gedanklich versprach ihr Thor alles zu tun, was sie verlangte. Wieder musste Luba grinsen.
~Wirklich alles? Ich nehm‘ dich beim Wort, wenn es soweit sein wird, alter Freund~, dachte sie, was Thor an dieser Stelle nun ebenfalls erneut belustigte.
Jetzt wies sie mittels eines gedanklichen Befehls dem Computer an, ihre Hände zu teleportieren. Zugleich leuchtete über ihren ausgestreckten Händen ein helles grünliches Licht auf. Dann näherte sie sich dem Oberkörper ihres Liebsten und versenkte langsam und gleichmäßig ihre Hände in seinem Brustkorb, durch den sie im Nu widerstandslos hindurchglitt, wie ein heißes Messer durch ein Stück Butter, allerdings ohne dabei sein Innenleben zu beinträchtigen.
Für einen Außenstehenden musste es praktisch so ausgeschaut haben, als wäre hier Doktor Frankenstein höchstpersönlich am Werke.
Wieder sahen Thor und Luba dieselben Bilder aus dem Innern seines Körpers. Ihre Hände hatten kurz darauf die blau lumineszierende Stelle der betroffenen Aorta erreicht. Nun schaltete Luba gedanklich auch noch den Stereo-Ton aus dem Körperinnern ihres Gefährten hinzu. Plötzlich drangen Geräusche wie aus einer Fabrikhalle des ausgehenden 19.Jahrhunderts durch die medizinische Abteilung. Es waren überwiegend rhythmisch stampfende und rollende Geräusche, die vor allem das schlagende Herz mit seinen beweglichen Herzklappen verursachte, denn sie dominierten die gesamte Geräuschkulisse. Dumpf rauschte dazu der Blutdruck in den Gefäßen. Irgendwo schienen Tropfen in einen halbvollen Behälter zu fallen. Es zischte leise und Gasblasen blubberten schnell in dünnen und glucksten träge in dichteren Flüssigkeiten. Luba reduzierte ein wenig den allgemeinen Geräuschpegel, um sich besonders auf die künftigen Geräusche zu konzentrieren, die sie bei der bevorstehenden Operation verursachen würde. Unterdessen griff sie vorsichtig mit ihrem Daumen und Zeigefinger an die blau markierte Arterie und erfühlte mit ihren Fingern die Dichte der Gefäßverengung. Diese bot schon einen beachtlichen Widerstand, obwohl immer noch eine ausreichende Menge von stark mit Sauerstoff angereichertem Blut die ansonsten flexible Pipeline passieren konnte.
»Jetzt bitte kurz den Atem anhalten…«, instruierte sie ihren Patienten. Gewaltig knirschendes Krachen drang urplötzlich aus den Lautsprechern der medizinischen Sektion. Luba hatte nur über einen leichten rollenden Druck mit ihren schlanken Fingern auf die Arterie, erste Teile des Plaques abgesprengt, die der starke Blutstrom nun sofort mit sich riss und das gelbliche, kalkhaltige Granulat in den implantierten Filter versenkte. Schnell reduzierte sie gedanklich die Lautstärke des überhöhten Geräuschpegels.
~Schließlich arbeiten wir hier ja nicht in einem Steinbruch oder in einer Erzmine~, dachte sie schmunzelnd und konzentrierte sich bereits auf die nächsten Millimeter der verengten Arterie…
Im darauffolgenden Augenblick versagte die Schwerkraft auf der „Albert Einstein“ und das Licht fiel aus, noch während Luba ihre Hände im Körper des Commanders versenkt hielt. Über allen Schotten glomm plötzlich eine rote Warnleuchte mit dem blinkenden Hinweis,
...MASTERALARM...
Völlig ruhig erteilte Luba sofort den gedanklichen Befehl, die Schwerkraft und die ausgefallene Beleuchtung in der medizinischen Sektion wieder zu aktivieren. Aus gutem Grund verfügte die medizinische Abteilung über ein unabhängiges, separat arbeitendes Notsystem, um in einem unvorhersehbaren Gefahrenfall nicht auch noch das Leben eines Patienten zu riskieren. Das System reagierte prompt und noch während die Dinge langsam wieder zu Boden glitten, flammte ebenso gehorsam auch wieder das Licht auf. Thor wollte natürlich sofort aufspringen, doch Luba beugte sich über ihn,
»Hiergeblieben!«, kommandierte sie energisch. »Dein Erster Offizier hat alles im Griff, es gibt also keinen Grund an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Du siehst, der Masteralarm ist eh‘ schon wieder abgestellt. Was immer es war oder von mir aus noch ist, beide kommen im Moment ohne dein Zutun aus, sowohl die „Albert Einstein“, als auch die Frau, die dein Erster Offizier ist. Wir beide haben hier gemeinsam noch etwas Dringendes zu erledigen und bis es getan ist, wirst du dich also noch ein wenig gedulden müssen, mein geliebter Thor, denn ich bin hier die behandelnde Ärztin«, bestimmte Luba resolut. Thor sank in sich zusammen,
»Wie immer hast du natürlich recht, meine Liebe. Ich dachte nur…«
Er brach ab, es war zwecklos, sie hatte selbstverständlich recht. Es gab praktisch nichts auf der „Albert Einstein“, was Rana nicht mindestens ebenso gut hätte händeln können, wie er selbst. Wie aus weiter Ferne hörte er Lubas Stimme,
»Können wir dann hier endlich weitermachen, Commander?« Thor nickte schwach. Nach einer weiteren dreiviertel Stunde war die Operation beendet und nachdem Luba den reichlich mit gelblichen, kalkhaltigem Granulat gefüllten Filter wieder in die Petrischale teleportiert hatte, hielt Thor nichts mehr an seinem Platz. Er verschwand, nachdem er sich zügig seinen Bordanzug übergestreift und einen flüchtigen Kuss auf Lubas sinnlichen Lippen hinterlassen hatte, mit Windeseile in Richtung seiner Steuerzentrale.
»Männer... Na schön, dann eben nicht«, murmelte Luba etwas enttäuscht und schmollte ein bisschen.
~Wenigstens hätte er aber etwas deutlicher Danke sagen können, dieser rastlose Franzose~, dachte sie schmunzelnd.
*
»Schadensmeldung?«, fragte Thor seinen Ersten Offizier, bereits durch das erst halbgeöffnete Schott zur Steuerzentrale hindurch.
»Nur sehr gering, relativ unbedeutender Sachschaden«, bestätigte Rana. »Mr. Eta hat quasi eine Vollbremsung vom Feinsten hingelegt. Unser Roter Riese hat kurz mal eben abgehustet und dabei eine beachtliche Menge Energie in Form von ultraharter Gammastrahlung exakt in Richtung unserer Flugkoordinaten ausgestoßen. Mister Eta hatte die Gefahrensituation erfasst, dabei umsichtig reagiert und das Schiff in den Kernschatten der vor uns liegenden kleinen Sonne manövriert, sodass wir weitestgehend von der harten Gamma-Strahlung verschont blieben, obwohl wir nach den vorliegenden Messwerten diesem Sturm aber auch sonst sehr gut hätten trotzen können. Das Go für dieses heftige Manöver kam von mir, denn ich wollte im Moment auch kein unnötiges Risiko eingehen«, schloss sie mit einem hintergründigen Lächeln ihren kurzen Bericht.
»Gut gemacht, Nummer Eins. Die materiellen Schäden, die können wir verkraften, die spezielle Konfiguration einer sicheren Strahlungsabwehr ist nämlich noch immer nicht ganz abgeschlossen. Was ist mit der „Lise Meitner“?«, kam seine nächste Frage gleich hinterhergeschossen.
Rana schüttelte bedauernd den Kopf,
»Noch immer keinen Kontakt seit dem Start, Commander, obwohl der Intercom-Kanal für sie permanent offengehalten worden ist.«
»Okay. Mister Eta?«
Der weißhäutige Synthetische stand an der Steuerkonsole und wandte sich mit seinem blassen Gesicht dem Commander zu,
»Sir?«
Thor wies mit seinem Zeigfinger auf Eta,
»Rufen Sie sie. Und Sie sind mir für einen stabilen Audio- und Videokontakt mit der „Lise Meitner“ verantwortlich.«
Der bleiche Synthetische quittierte gelassen den Befehl und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit rasten seine schlanken weißen Finger über die virtuelle Tastatur der Intercom-Konsole. Knapp zwanzig Minuten später ging eine verstümmelte Videobotschaft von der „Lise Meitner“ ein, in der Mr. Beta auf den Anruf von der „Albert Einstein“ reagierte und in einem kurzen, immer wieder von gravierenden Bild, und Tonstörungen unterbrochenen Lagebericht, die Unversehrtheit von Schiff und Crew bestätigte. Der Gammasturm habe die „Lise Meitner“ zwar zu einhundert Prozent getroffen, aber die Schutzschilde haben sich als außerordentlich stabil erwiesen und das Schiff befinde sich in einem technisch ausgezeichneten Zustand. Zum Schluss wurden noch jede Menge technische Daten über das kleine Antimaterie-Triebwerk gesendet, die sich aber alle im grünen Toleranzbereich befanden. Kein Grund also, sich unnütze Sorgen zu machen, befand Thor und schloss bestätigend den Bericht. Zufrieden mit dem Ergebnis archivierte er die Nachricht unkommentiert im Bordtagebuch des Zentralcomputers.
Am Tag zwei nach ihrer Ankunft erreichte die „Albert Einstein“ eine weitere Videobotschaft vom Kommandanten der „Lise Meitner“, die nun aber wieder in allerbester Bild, und Tonqualität empfangen werden konnte. Darin teilte der blasse Mr.Beta in wenigen lakonischen Worten mit, dass das Schiff eine sichere Parkposition bezogen hätte und das Teleskop auf den Roten Riesen ausgerichtet und mit dem Umlauf des Planeten synchronisiert worden sei. Die Synthetischen hätten mit der Aufzeichnung der Messwerte rund um den Roten Riesen begonnen und alle Daten würden von nun ab in einem speziell schutzkanalgesicherten Datenstrom kontinuierlich an die „Albert Einstein“ gesendet. Thor bestätigte den Empfang und schaltete das gesendete Bild des Roten Riesen auf den gigantischen Monitor in der Steuerzentrale. Die dreidimensionale Ansicht war unglaublich beeindruckend, ja geradezu sensationell.
Diese riesige aufgeblähte rote Sonne füllte in phantastischer Schärfe und kaum zu überbietender Klarheit den gesamten sichtbaren Bereich des Monitors, was die anwesenden Raumfahrer sofort zu Ausrufen der höchsten Überraschung veranlasste.
Verzückt betrachtenden alle die glasklaren dreidimensionalen Bilder, die sie aus einer Entfernung von mehr als einem halben Parsec erreichten. Es schien, als atme die sterbende Sonne während ihrer beginnenden Agonie in unregelmäßigen Zügen. Man konnte beinahe körperlich spüren, dass die Kristallstruktur ihrer Atome unter der riesigen Last kurz vor dem Zusammenbrechen stand. Das Ende ihres Lebens war gekommen und Menschen aus einem fernen Sternbild waren von weither angereist, um sie auf ihrem letzten Weg zu begleiteten. Jetzt, wo aller Kernbrennstoff aufgezehrt war, würde sie ihre eigene Masse nicht mehr mit Energie versorgen können und in Bälde in einer gigantischen Implosion in sich selbst zusammenstürzen. Was würde aus der nur kurze Zeit andauernden Supernova werden, wenn sie die freigesetzte Energie an das Universum abgegeben hatte? Die Crew der „Albert Einstein“ hoffte praktisch auf die Entstehung eines Schwarzen Loches, das wäre die perfekte Sensation und zugleich der krönende Abschluss ihrer langen Mission. Schließlich näherten sich die letzten Minuten des errechneten Zeitpunktes vor dem gigantischen Kollaps. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist jemand vor ihnen einer Supernova so nahe gewesen und gleich würde es soweit sein. Die gesamte Crew der „Albert Einstein“ hatte sich in der Kommandozentale versammelt, um diesem galaktisch historischen Ereignis beizuwohnen. Thor hatte für alle Fälle angeordnet, dass alle Astronauten in leichten, strahlungssicheren Raumanzügen, einschließlich ihres Schutzhelms zu erscheinen hatten. Dies galt auch für Mr.Eta, dem einzigen Synthetischen an Bord, obwohl der ein Vielfaches der Strahlenbelastung eines Menschen ertragen konnte, ohne dabei jedoch den geringsten Schaden zu nehmen.
Rana hatte sich bestimmt schon zum dritten Mal innerhalb der letzten dreißig Minuten die Dichte der Stahlungsabwehrschilde anzeigen lassen. Sie lagen aber unverändert bei fünfundachtzig Prozent. Das hieß, dass das Antimaterie-Triebwerk der „Albert Einstein“ nun 85% seiner gesamten Leistung in die Strahlungsabwehr investierte. Etwas beruhigter lehnte sie sich in dem bequem angepassten Sessel zurück. Notfalls konnte sie rasch die Leistung des Triebwerkes zügig bis auf einhundertfünf Prozent steigern und verfügte so also noch über eine Reserve von zwanzig Prozent. Aber was sind schon zwanzig Prozent Reservesicherheit, wenn sozusagen direkt vor ihren Augen eine mehrere Milliarden Jahre alte Sonne von der zehnfachen Masse ihrer eigenen Sonne kollabiert und in sich zusammenstürzt. Da aber die Auswertungsergebnisse aller verfügbaren Datensätze ergeben haben, dass eine sichere Strahlungsabwehr schon bei weniger als sechzig Prozent erreicht sein müsste, sollte sie allerdings etwas beruhigter sein. Leider war dem aber nicht so. Eine gewisse innerliche Unruhe blieb dennoch.
Beinahe hätte sie wegen ihren Überlegungen den Beginn des Todeskampfes des Roten Riesen verpasst, als Henry, der Physiker plötzlich laut in die andauernde Totenstille hineinrief,
»Achtung, Leute, es geht los...«
Mit einem Blick hatte sich Thor versichert, dass alle Spezialisten eigene Konsolen kreiert hatten und die ersten eingehenden Daten verarbeiteten. Gedanklich schaltete er den Audiokanal hinzu. Obwohl noch nichts Bedeutsames auf dem Monitorbild zu sehen war, drangen bereits grässlich quietschende und fürchterlich knarrende Töne aus den Lautsprechern der Steuerzentrale.
»Die Agonie beginnt… die Atomstrukturen beginnen sich bereits aufzulösen«, kommentierte Henry diese entsetzliche Geräuschkulisse, von der jedermann das Gefühl hatte, es öffne sich in diesem Moment das Tor zur Hölle. Dann geschah auch etwas auf dem Monitor. Urplötzlich brach die äußere Hülle des Roten Riesen auf der gesamten Oberfläche in sich zusammen und stürzte in das Kernzentrum der aufgeblähten Sonne, welches immer mehr sichtbar wurde. Hellrot glühende Materiemassen von der millionenfachen Größe des Jupiters stürzten zu abertausenden in das jetzt blau gleißende Zentrum der sterbenden Sonne. Sobald sie allerdings das Zentrum erreicht hatten kollidierten sie mit den ihnen bereits entgegenkommenden Materiemassen und von einer Sekunde auf die andere wurde aus einer Sternenimplosion eine unglaublich gigantische Sternenexplosion.
Die neue Supernova war geboren. Rasend schnell schossen nun unglaubliche Mengen von Materie und Licht durch den Raum und rissen auf diesem Weg, das nächstliegende Sonnensystem gleich mit in den Tod, welches sich durch eine Kaskade von mehreren kleineren Planeten-Explosionen rasant von seiner gegenwärtigen Existenz verabschiedete. Wie selbstverständlich integrierten sich die vielen kleinen Teilexplosionen in den großen Big Bäng dieser aufstrebenden Supernova. Permanent schalteten sich kontinuierlich neue, stärkere Filter vor den Monitor, um die Helligkeit der sie erreichenden Bilder zu begrenzen und die Augen der Betrachter zu schonen.
Plötzlich schrie Kelvine überrascht auf. Sprunghaft waren die Strahlungswerte im Zentrum der Supernova auf über einhundertzwanzig Prozent der maximal erwarteten Werte angestiegen, als die ersten eintreffenden Strahlungsdosen im harten Gammabereich von den Außensensoren der „Albert Einstein“ erfasst werden konnten.
»Dreißig, fünfunddreißig, vierzig Prozent der maximal zulässigen Gamma-Strahlungsmenge…und weiter ansteigend«, kommentierte der Physiker den Strahlungsanstieg, den die Sensoren außerhalb der „Albert Einstein“ registrierten, während im Innern des Raumkreuzers die Werte unterhalb der wahrnehmbaren Messbereichsschwelle blieben.
»Schutzschilde halten...«, bestätigte Iron mit einem schnellen Blick auf seine Konsole. »Sollten wir nicht sicherheitshalber besser auf neunzig Prozent gehen, Commander?«, fragte er. Thor schüttelte den Kopf,
»Noch nicht«, brummte er und starrte wie gebannt auf den Todeskampf der in einem grellen Rot vergehenden Sonne. »Wir verbrauchen sonst zu viel Antimaterie für die Strahlungsabwehr. Noch wissen wir nicht genau, wie lange diese Supernova andauern wird. …Henry?«
»Die Gammawerte pegeln sich langsam ein bei momentan… siebenundfünfzig Prozent. Liegen also nahe bei den erwarteten Werten«, erwiderte der Physiker erlöst aufatmend und so etwas, wie eine deutlich wahrnehmbare Erleichterung schwang in seiner Stimme mit.
»Na also, geht doch«, grinste Thor. »Wenn sich die Werte nicht weiter drastisch erhöhen, verbleiben wir auch auf dem bisherigen Level unserer Schutzschilde. Das spart richtig Energie und hält uns außerdem unseren mobilen Handlungsspielraum weiträumig flexibel.«
Er hatte die Worte kaum zu Ende gesprochen, da fiel auch das blau gleißende Licht aus dem Zentrum der Supernova komplett in sich zusammen und verlosch schlagartig zu einem schwarzen Punkt, während zur gleichen Zeit immer noch jede einzelne Sekunde unzählige Trilliarden von Tonnen hellrotglühender Materie in den freien Weltenraum geschleudert wurden. Unterdessen sich die Augen der Raumfahrer erst langsam an die fehlende Helligkeit gewöhnen mussten, schrie Kelvine bereits zum zweiten Mal auf,
»Da ist es, jetzt seht doch, es ist scheinbar ein weiteres Schwarzes Loch entstanden. Man kann es zwar selber mit eigenen Augen nicht sehen, aber alle explodierte Materie in seiner Nähe scheint sich zu verlangsamen und urplötzlich umzukehren, indem sie sich auf einen Punkt in der Mitte des Zentrums zubewegt.« Fasziniert hielt sie inne und starrte auf den Monitor. »Es kann nur ein neues Schwarzes Loch sein«…, flüsterte sie erregt. »Keine andere uns bekannte Kraft ist imstande, derartige Massen von Materie und selbst das Licht zur Umkehr zu bewegen. Das Tor ins Unbekannte ist geöffnet worden, ein Schwarzes Loch wurde soeben geboren und gemeinsam mit anderen Schwarzen Löchern wird es sich von nun an verstärkt an unserem Universum nagen und dabei schier endlos viel an stofflicher Materie und Strahlungsenergie in sich hineinfressen...«
»Der Jet auf der Rückseite des Schwarzen Lochs hat soeben gezündet, man kann ihn jetzt deutlich erkennen«, verkündete Henry und wies mit der Hand auf den Monitor, wo sich der Jet eines Schwarzen Loches wie der Feuersturm einer startenden Rakete herausgebildet hatte. »Das ist jetzt sozusagen, die Bestätigung; Durch das Verlöschen der Supernova ist nun eindeutig ein weiteres Schwarzes Loch in dieser Region unseres Universums entstanden«, erläuterte der Physiker mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
»Wird alles aufgezeichnet?“, vergewisserte sich Thor in die eingetretene Stille hinein.
»…mit knapp null Komma fünf Millionen Drei-D-Bildern pro Sekunde, inclusive sämtlicher Datensätze aller wissenschaftlich gesicherten Messergebnisse«, bestätigte der Chefingenieur, ohne dabei die Augen von der Konsole zu abzuwenden. »Der Computer meißelt es gerade in seinen Festkern. Die Kontrolle läuft permanent mit. Alles sieht sehr gut aus, Commander«, frohlockte Iron und checkte die entsprechenden Aufzeichnungsparameter.
~Das war es also~, dachte Thor. ~So viel Aufwand für ein paar Minuten gigantisches Feuerwerk und diversen bunten Budenzauber.~
~Bist du nun etwa enttäuscht, weil alles so plötzlich vorbei ist?~, vernahm er Lubas sanfte Stimme in seinem Kopf. Thor lächelte matt,
~Ich dachte ehrlich gesagt, da wäre etwas mehr drin...~, antwortete er ihr spontan in Gedanken.
~Sei doch zufrieden, wir haben unseren Auftrag bestmöglichst erfüllt. Wir haben das Sterben eines Roten Riesen live und unmittelbar vor Ort erfahren, das Aufflammen der Supernova aus greifbar nächster Nähe mitverfolgen können und wir sind bei der Geburt eines neuen Schwarzen Loches dabei gewesen. Das ist mehr, als je ein irdischer Wissenschaftler in seinem Leben wird erreichen können. Allein mit der Auswertung der gewonnenen Daten durch unsere Expedition werden noch Generationen von Astronomen und Physiker beschäftigt sein. Und eines ist sicher, sie werden daraus Rückschlüsse ziehen und neue Erkenntnisse gewinnen, die das Leben der gesamten Menschheit noch in tausenden Jahren beeinflussen wird. Wenn das kein Grund zum Feiern ist, dann weiß ich nicht…~, verstummte Lubas ihm gedanklich antwortende Stimme.
Thor nickte,
~Wie immer hast du auch diesmal recht, ma chéri~, dachte er. Laut aber sagte der Commander, indem er sich an seinen Steuermann wandte,
»Mister Eta, rufen Sie die „Lise Meitner“. Die Jungs können ihre Sachen zusammenpacken und heimkommen.« Eta nickte,
»Sir…«
Wieder rasten seine schlanken weißen Finger über das Tableau hinweg und produzierten dabei eine Intercom-Nachricht an die Crew der „Lise Meitner“. »Befehl zur Rückkehr gesendet, Sir.«
»Danke, Mister Eta und halten Sie die Verbindung zu ihnen weiterhin aufrecht…«
»…Keinen Kontakt zur „Lise Meitner“, Sir. Sie antworten nicht…, auf keinem Kanal und auf keiner Frequenz«, unterbrach Eta den Commander. Thor, der schon im Gehen begriffen war, drehte sich überrascht herum,
»Was ist Ihrer Analyse nach, die Ursache für das Schweigen der Besatzung, Mister Eta?«
»Sir, es entzieht sich meiner Kenntnis. Nach den von mir vorgenommen Checks-Ups zu urteilen, liegen definitiv keinerlei technischen Probleme vor. Die Verbindung, sowohl Audio, als auch Video, funktionieren nach wie vor in einem gesicherten Schutzkanal-Übertragungsmodus. Die automatische Bestätigung des Ausgangssignals von der „Lise Meitner“ liegt permanent vor. Aber es wird nichts gesendet. Entweder sie können oder sie wollen nicht senden, Sir«, beantwortete Eta die Frage des Commanders.
Thor kratzte sich am Kopf.
»Was hat das nun wieder zu bedeuten, Chief? Was könnte die Ursache sein? Du kennst sie doch mit am besten, Iron. Wäre es denkbar, dass sie durch die harte Gamma-Strahlung der Supernova doch zu stark in Mitleidenschaft gezogen wurden und dadurch möglicherweise beschädigt sind?«
»Nein. Allein von den gemessen und gesendeten Werten her, dürfte es normalerweise keinerlei Auswirkungen auf ihre vitalen Funktionen geben, Commander, das können sie ab«, bestätigte der Chefingenieur.
Während sich die Crew in einer eloquenten Diskussionsrunde mit der Frage beschäftigte, was mit der Besatzung des Rettungsschiffes geschehen sein könnte, unterbrach Eta den Fortgang der Beratung,
»Sir, es tut sich was. Sie haben soeben die sichere Intercom-Verbindung gekappt und die „Lise Meitner“ bewegt sich aus dem Kernschatten des Planeten heraus.«
»Auf den Schirm, schnell!«, befahl Thor.
Blitzschnell zoomten die optischen Sensoren das unscharfe Bild des ablegenden Schiffes auf den Monitor. Deutlich war jedoch zu erkennen, wie der kleine Antimaterie-Antrieb des Rettungsschiffes gezündet wurde und als ein grellweißer Punkt auf dem Monitor aufflammte. »Mister Eta, rufen Sie sie und stellen Sie Kurs und Geschwindigkeit der „Lise Meitner“ fest. Starten Sie das Antimaterie-Triebwerk und folgen Sie der „Lise Meitner“ mit einer angemessenen Geschwindigkeit von maximal 80%, denn ich habe das ungute Gefühl, dass wir sind gerade dabei sind, unser einziges Rettungsboot zu verlieren. Von dem Verlust der künstlichen Intelligenzen gar nicht erst zu reden.«
»Sir, Antimaterie-Triebwerk gezündet, Kurs aufgenommen. Weiterhin keine Verbindung zur „Lise Meitner“ und sie entfernen sich jetzt sogar ...mit Maximalgeschwindigkeit von uns.«
Eta schwieg plötzlich abrupt...
»Was ist los mit Ihnen, Eta? Wohin fliegen sie?«, fragte Thor aufgebracht.
Der Synthetische hob den Kopf und schaute den Commander an. Mit tonloser Stimme sagte er,
»Das werden Sie jetzt nicht glauben, Sir. Aber sie fliegen parallel zu den driftenden Materietrümmern mit direktem Kurs auf das Zentrum zu, welches wir als das Schwarze Loch definiert haben. Wenn sie Kurs und Geschwindigkeit beibehalten, werden sie es in etwa acht bis zehn Stunden erreicht haben, denn die rasch zunehmende Gravitation des Schwarzen Loches wird ihre Maximal-Geschwindigkeit mehr als verdoppeln. Allerdings werden sie das kaum überleben können, Sir. Weiterhin werden sie bei dieser Geschwindigkeit in knapp drei Stunden Flugzeit aber auch nicht einmal mehr umkehren können, weil die auf sie einwirkende Gravitationskraft des Schwarzen Loches sie nicht mehr freigeben wird. Gegen diese gewaltige Allmacht kommt selbst nicht einmal unser sehr viel leistungsstärkeres Triebwerk an. Aus technischer Sicht ist das ein klarer Suizid und ein kompletter Totalverlust, Sir.«
»Erstellen Sie mir einen präzisen Countdown zum letzten, noch möglichen Umkehrpunkt der „Lise Meitner“ und projizieren Sie ihn sichtbar zum Schwarzen Loch positioniert auf den Schirm. Schalten Sie das Rufsignal auf On und halten Sie mir permanent einen Intercom-Kanal für sie offen. Danke, Mister Eta, das ist vorerst alles...«, befahl Thor energisch.
Grübelnd wandte er sich an seine Crew, die den fatalen Ereignissen stumm gefolgt war,
»Einholen und abfangen können selbst wir sie nicht mehr. Eta hat schon recht, sie begehen im Moment klaren Selbstmord, was aber von ihrer Programmierung her, genau genommen eigentlich gar nicht möglich ist. Wenn es uns nicht gelingt, sie innerhalb der nächsten drei Stunden zu kontaktieren und zur Umkehr zu bewegen, dann sind sie verloren. Wenn wir der „Lise Meitner“ jetzt aber folgen, könnten wir ihnen aus einer relativen Nahdistanz heraus vielleicht noch Hilfe leisten, aus der Ferne jedoch niemals«, erklärte er seine Entscheidung. »Das ist die aktuelle Situation. Ich bitte um eure Vorschläge...«
*
Lautlos beschleunigte das gewaltige Antimaterie-Triebwerk das titangepanzerte, kugelförmige Raumschiff und jagte mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit seiner kleineren Schwester hinterher, die offensichtlich von einer scheinbar suizidgefährdeten Crew, bestehend aus vier synthetischen Intelligenzen, gesteuert wurde. Je schneller ihr Schiff wurde und sich die Entfernung zum Schwarzen Loch verringerte, umso mehr veränderte sich die Stimmung unter der Besatzung des Raumkreuzers. Nun empfanden bereits fast alle ein immer stärker werdendes Bedürfnis, schnellstmöglich zu dem Schwarzen Loch zu gelangen. Einige waren sogar der Ansicht, dass es sogar das Beste wäre, der „Lise Meitner“ einfach zu folgen, selbst wenn sie in das Schwarze Loch eintauchen sollte. Mit tiefer Besorgnis verfolgte Thor die hitzige Diskussion seiner Besatzung über den eingeschlagenen Kurs. Warum nur sprachen sich immer mehr Crew-Mitglieder dafür aus, der „Lise Meitner“ in das Schwarze Loch zu folgen? Selbst seine Luba schien einmal mehr von dieser, seiner Meinung nach, im höchsten Maße irrigen Ansicht überzeugt. Waren denn alle hier plötzlich verrückt geworden? Thor schaute sich unauffällig nach Isabella um. Die Psychologin äußerte sich nur gelegentlich zu der Thematik und in Gedanken lächelte sie meist stumm vor sich hin. Mit ihr wollte Thor sich beraten, während die Debatte um diesen wahnwitzigen Flug scheinbar immer hitziger von der Crew geführt wurde.
Er erhob sich und forderte die sympathische Frau mit einer Handbewegung auf, ihm nach draußen auf den Hauptgang zu folgen. Überrascht blickte Isabella auf und nickte aber verstehend. Nachdem sich das Schott wieder geschlossen hatte, wandte sich der Commander an seine Konsultantin,
»Was ist los, Isabella? Hat die Crew den Verstand verloren, weil sich nun sogar schon die Mehrheit dafür ausspricht, der „Lise Meitner“ in das Schwarze Loch zu folgen? Was erwartet uns dort?«
Isabella blickte ihn nur traurig lächelnd an,
»Was denkst du wohl, was passieren wird, Thor? Ich erkenne dich kaum wieder. Du, der alleinige Retter, der damals unter Einsatz seines Lebens den Absturz unseres Raumkreuzers in den Abgrund eines Risses innerhalb unseres eigenen Raum-Zeit-Kontinuums verhindert hat. Ausgerechnet du hast jetzt Angst etwas Neues zu erleben? Ja spürst du denn nicht, wie alle Materie und alles Licht nur dort hinein eintauchen will, in das Zentrum allen Seins? Was sind wir? Sind wir nicht auch nur Materie? Du fragst, was uns dort erwartet. Ich weiß nicht, wie die anderen darüber denken. Aber ich weiß, was mich dort erwartet, …Casablanca...!«
Thor glaubte seinen Sinnen nicht mehr zu trauen,
»Casablanca?«, fragte er ungläubig.
Isabella nickte bestätigend,
»Casablanca. Ich bin fest davon überzeugt, denn sehe es ganz deutlich vor mir. Damals auf der Erde habe ich es in meinem Leben aus den unterschiedlichsten Gründen nie bis nach Marokko, in die weiße Stadt an den Atlantik geschafft. Nur hier, auf Deck 37 war ich virtuell einige Male dort in jener Küstenstadt, die sich Casablanca nennt. Aber ich bin dem Mann meiner Träume dort leider nicht mehr begegnet. Ich war damals in Paris mit Humphrey zusammen, aber danach haben wir uns aus den Augen verloren. Nun weiß ich aber, dass er dort auf mich wartet. Ich werde ihn wiedersehen, und nur deswegen will ich dorthin. Vielleicht wirst du das ja nicht verstehen können, aber ich habe mich damals geradezu hoffnungslos in ihn verliebt und wir hatten gemeinsam eine kurze, aber wunderbare Romanze in Paris, der Stadt der Liebe. Ich konnte ihn allerdings niemals ganz vergessen, noch zumal er jetzt meiner Hilfe bedarf.«
Thor packte Isabella bei den Schultern,
»Nur damit ich das Ganze hier richtig verstehe, du hattest mit einem Humphrey in Paris eine Romanze und bist fest davon überzeugt, dass er, den du nun über fünfunddreißig Jahre lang nicht mehr gesehen hast, dort hinter jenem Schwarzen Loch auf dich wartet und dich nun um Hilfe anruft?«
Isabella nickte. Sie schaute mit einem verschleierten Blick durch Thor hindurch,
»Nicht irgendein Humphrey, lieber Thor«, sagte sie mit tränenerstickender Stimme und legte ihren Kopf an seine Schultern. »Es war Humphrey Bogart selbst. Du verstehst das nicht. Er ruft mich, seit das Schwarze Loch entstanden ist, ich kann nichts dafür, aber ich spüre es ganz intensiv. Ich kann es geradezu körperlich erfühlen. Und je näher wir dem Zentrum kommen, desto mehr kann ich auch seine Liebe spüren, denn auch er konnte mich nicht vergessen«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Ich muss zu ihm, ganz sicher ist er in Gefahr und braucht nun meine Hilfe, bitte Thor, es liegt nun alles bei dir.«
Der Commander ließ ihre Schulter los,
»Ich weiß nicht, ob ich dir diesen Wunsch erfüllen kann, Isabella, aber ich verspreche dir, darüber nachzudenken. Vielleicht gibt es ja doch noch irgendeine Lösung«, sagte er und kehrte grübelnd in die laute Steuerzentrale zurück, wo die Crew inzwischen eine hitzige Debatte über das Pro und Kontra eines Fluges der „Albert Einstein“ durch das Schwarze Loch führte. Plötzlich mischte sich der sonst eher wortkarge Chief in die Diskussion ein,
»Ihr könnt von mir denken, was ihr wollt«, begann Iron mit brüchiger Stimme. »Ich werde auf jeden Fall durch das Schwarze Loch fliegen, entweder mit oder ohne euch. Denn dies ist inzwischen meine felsenfeste Überzeugung von der mich auch ganz sicher niemand wieder abbringen wird.«
Thor hatte die Steuerzentrale betreten und wandte sich nun direkt an seinen Chefingenieur,
»Deine Meinung interessiert mich, Iron. Ich denke, du wirst sie uns allen hier gleich etwas näher erläutern, darauf bin ich nämlich schon sehr gespannt.«
Thor hatte ihn den Ball einer öffentlichen Erklärung zugespielt und bedeutete ihm mit der Hand eine einladende Geste, wie ein weiser Indianerhäuptling, der seine Ratsmitglieder am Feuer versammelt hatte. Zugleich stellte er sich mit verschränkten Armen neben Eta an die Steuerkonsole, warf zufällig einen routinemäßigen Seitenblick auf die Instrumente und ...erschrak. Der synthetische Steuermann hatte die maximale Geschwindigkeit der „Albert Einstein“ auf Einhundertfünf Prozent gesteigert. Solch einen gefährlichen Befehl hatte Thor niemals erteilt. Ihn durchzuckte flüchtig der Gedanke, dass Eta möglicherweise auch das Ziel hatte, so schnell wie möglich in das Schwarze Loch zu einzufliegen.
Luba nickte auffällig zustimmend in seine Richtung. Ihre Gedanken flogen dem Commander nun regelrecht zu.
~Du hast recht, Thor. Eta hat die Konsole manipuliert, er will genau wie ich, natürlich auch dort hin. Jeder hat so seine Gründe. Aber während wir bis jetzt nur darüber diskutieren und uns eine Meinung bilden, hat er bereits Tatsachen geschaffen. Die Konsole ist von ihm blockiert worden. Du musst ihn deaktivieren, sonst ist es nachher für eine Korrektur womöglich zu spät~, warnte sie gedanklich den Commander.
~Ich danke dir für deine Loyalität, Luba. Du musst die versiegelte Waffenkonsole öffnen und aus dem Klappfach die Laserwaffe an dich nehmen. Sie ist geladen und gesichert, du musst sie also erst entsichern. Anders können wir Eta nicht überwältigen, sollte er sich weigern, diesen Befehl auszuführen. Ich sage es nur äußerst ungern, aber notfalls musst du ihn töten, sollten wir keine andere Lösung finden…~
Seine Gedanken hatte Luba gerade erreicht, als Iron sich räusperte. Der Chief machte ein Gesicht, als suchte er verzweifelt nach den passenden Worten. Er war eigentlich eher ein Mann der Tat, einer der zupacken konnte und technische Probleme löste. Großartige Volksreden zu halten, war nie seine Sache. Aber da er sich schon dazu geäußert hatte, begann er seine Erklärung.
»Seit einiger Zeit versucht jeder doch mehr oder weniger zu dem Schwarzen Loch zu gelangen, in dem Glauben, dass sich dort seine Wünsche, seine Hoffnungen erfüllen mögen. Leider hab ich auch keine Ahnung, was da in jedem einzelnen von uns vor sich geht, aber wir alle empfinden anscheinend dasselbe Bedürfnis, nämlich so schnell wie möglich dorthin zu gelangen. Ich habe in mir so ein starkes und überzeugendes Gefühl… Nein, entschuldigt bitte, das ist in der Tat die absolut falsche Wortwahl, das ist von mir völlig falsch formuliert. Ich weiß, dass dort ein berühmter Konstrukteur, nämlich niemand Geringeres, als Gustave Eifel auf mich wartet und zwingend notwendig meinen technischen Rat braucht. Er muss eine Brücke zwischen Sibirien und Alaska über die Beringstraße bauen und ihm fehlen noch ein paar der wichtigsten statischen Berechnungen, ohne die er nicht weiterkommt. Mich hat er in dieser Sache um Hilfe gebeten, weil er weiß, dass nur ich diese komplizierten Berechnungen für ihn übernehmen kann. Nun kennt ihr meine Motivation und habt sicherlich Verständnis dafür, dass ich dringend zu ihm muss. Und zwar genau dort hin.« Iron wies nun mit seinem Finger auf den roten Punkt am Monitor. Er wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn und blickte in die schweigende Runde der versammelten Crew.
~Bereit~, vernahm Thor Lubas Gedanken. Thor nickte ebenso deutlich, als stimme er Irons Erklärung zu. Plötzlich drehte er sich unverhofft zu Eta herum und befahl mit unerwartet harter Stimme,
»Commander Thor, Mister Eta, Autorisierung!«
Überrascht blickte Eta den Commander an. Erst schien es, als wollte Eta zunächst einen Schritt nach hinten ausweichen, aber dann blieb er stehen und blickte den Commander starr an.
»Commander erkannt, Sir«, antwortete der synthetische Crewman und seine Stimme nahm jetzt einen harten, metallischen Klang an.
»Mister Eta, die Sicherheit des Schiffes erfordert vorübergehend die sofortige Deaktivierung Ihrer Person. Ausführung!«, befahl er hart. Eta zögerte für den Bruchteil einer Sekunde lang, als er aber erkannte, dass Luba urplötzlich die Mündung der entsicherten, schwarzbrünierten Laserwaffe des Commanders auf ihn gerichtet hielt, gab er jeden inneren Widerstand sofort auf. Er hatte gar keine andere Wahl, als diesem Befehl Folge zu leisten, wollte er nicht durch einen hochenergetischen Lichtblitz im Sekundenbruchteil getötet werden.
»Deaktivierung erfolgt auf Ihre Anweisung hin. Bestätigt, Sir…«
Das waren seine letzten Worte, bevor er selbst sein eigenes Energiezentrum abschaltete...
Von diesen dramatischen Ereignissen völlig überrascht, waren die restlichen Mitglieder der Besatzung aufgesprungen. Dass es überhaupt jemand gewagt hatte, je eine der künstlichen Intelligenzen zu deaktivieren, daran konnte sich seit Menschengedenken schon niemand mehr erinnern und eine solche unglaubliche Maßnahme rief selbst unter den erfahrensten Astronauten natürlich eine verständliche Bestürzung hervor. Völlig ungerührt winkte Thor unterdessen den Chefingenieur an die Steuerkonsole des Synthetischen heran,
»Iron, unsere Geschwindigkeit ist viel zu hoch. Eta hat sie vorsätzlich manipuliert, du musst seine Konsole also völlig neu konfigurieren, während wir uns dringend um uns selber kümmern müssen...«
In dieses Offenbarungsmoment hinein, platzte plötzlich und unerwartet ein Alarmsignal des Zentralcomputers,
»Achtung!«, warnte die weibliche Computerstimme ruhig und gelassen, ohne jegliche Hektik. »Kontaminierung der Besatzung durch unbekannten Einfluss von außerhalb dieses Schiffes. Art der Kontaminierung, unbekannt. Die Analyse der Gesprächsaufzeichnungen ergab zu 87,5% eine unrealistische Sehnsucht der derzeitigen Besatzung, in das Schwarze Loch zu gelangen. Nach aktuell technischem Wissensstand hätte diese Flugoption den unmittelbaren Tod der Crew und den Verlust des Schiffes zur Folge. Empfehlung an den Kommandanten des Schiffes: Unbedingter Einsatz des Medikamentes TENSIT dringend erforderlich...«
Während die sachliche Computerstimme diese Warnmeldung noch ein weiteres Mal wiederholte, traf Thor bereits die ersten Entscheidungen, denn er hatte absolut keinen Grund an dieser Warnung zu zweifeln. Deckte sie sich doch längst mit seinen eigenen diesbezüglichen Vermutungen.
»Luba, alle Crewmitglieder werden sofort mit Tensit behandelt, also auch Mr. Eta. Das würde es explizit auch erklären, warum nur ich allein nicht für den Flug in das Schwarze Loch votierte. Durch meine vorangegangene Operation wurde ich als einziger durch das injizierte Medikament geschützt, während alle anderen Mitglieder der Besatzung psychisch kontaminiert worden sind. Du ebenfalls, genau so, wie Eta. Und ich denke, selbst die Crew der „Lise Meitner“ ist sicherlich sehr wahrscheinlich auch von dieser heimtückischen Kontamination betroffen, vielleicht sogar noch intensiver, als wir es sind, weil die „Lise Meitner“ mit den Synthetischen an Bord, momentan eine deutlich geringere Distanz zum Schwarzen Loch aufweist, als die „Albert Einstein“. Welche andere plausible Erklärung könnte es für das völlig absurde Verhalten der Synthetischen sonst geben«, mutmaßte er unzufrieden.
Luba schaute dem Commander nun ins direkt Gesicht,
»Wenn das jetzt dein Befehl ist, dann bin ich schon unterwegs«, bestätigte sie leise die Anweisung.
Thor nickte erleichtert,
»Das ist definitiv ein Befehl, Luba!«, erwiderte er ernsthaft, während die Bordärztin daraufhin sogleich die Steuerzentrale in Richtung ihrer medizinischer Sektion verließ und dabei keinen Blick von ihrem Captain lassen konnte, bis sie seinem Blickfeld entschwunden war.
Thor wandte sich darüber nachgrübelnd an seinen Ersten Offizier,
»Es muss etwas sein, Rana, was unser Denken beeinflusst und es in eine bestimmte Richtung lenkt. Wer oder was diese Kontaminierung verursacht hat, wissen wir nicht. Genau so ist das Ziel, welches letztlich damit bezweckt werden soll, noch völlig unklar. Die Art der Kontaminierung allerdings ist als höchst gefährlich einzustufen, denn sie schafft es sogar, die extrem vielseitig und mehrfach gepanzerte Außenhaut unseres Schiffes zu überwinden. Selbst unsere bislang so zuverlässigen Schutzschilde scheinen dagegen völlig wirkungslos zu sein. Was immer es ist oder auch war, wir müssen uns auf überraschende und unvorhersehbare Eventualitäten einstellen und jeden unserer Schritte sorgsam überdenken, bevor wir ihn gehen. Das gilt im Übrigen für alles, was wir auch künftig in dieser Region zu tun beabsichtigen. Henry und Kelvine sollen sich anschließend intensiv mit der uns drohenden Gefahr beschäftigen, die von dem Schwarzen Loch auszugehen scheint. Ich will wissen, was auf da uns zukommt. Auch wenn ich persönlich nicht mehr recht daran glaube, die „Lise Meitner“ und damit die Synthetischen noch unversehrt retten zu können, müssen wir dennoch alles Mögliche versuchen, was in unserer Macht steht. Selbst wenn es bis zu dem unmittelbar bevorstehenden letztmöglichen Umkehrpunkt der „Lise Meitner“ nicht mehr weit sein kann...«
»Was könnten wir denn bis dahin noch unternehmen?«, fragte Rana vorsichtig, als sie sah, wie niedergeschlagen der ansonsten so sicher wirkende Commander jetzt war.
»Ich weiß es ehrlich gesagt, im Moment auch noch nicht, Nummer Eins«, gab Thor ziemlich zerknirscht zu...
*
Als Luba wieder die Steuerzentrale betrat, hielt sie eine matt glänzende, anthrazitfarbene Injektionspistole in der Hand.
»Wir erledigen das gleich hier vor Ort. Ich habe alle nötigen Injektionen schon vorbereitet und in das Magazin der Impfpistole geladen«, sagte sie und bat Rana, den Ärmel ihres Anzuges hochzuschieben. Der Erste Offizier blickt den Commander fragend an. Thor nickte,
»Glaub mir Rana, es ist besser, egal wie du jetzt darüber denken magst, aber ich selbst bin der lebende Beweis dafür, dass es funktioniert. Ich hatte niemals diese fatale Zwangsvorstellung, unbedingt dorthin fliegen zu müssen.«
»Ich habe deinen Entscheidungen in diesen fünfunddreißig Jahren immer vertraut und begebe mich nun ebenso vertrauensvoll, wenngleich diesmal auch mit schwerem Herzen, wieder in deine Hand, Thor«, sagte sie und hielt Luba ihren ruckartig freigemachten Unterarm hin. Dabei schaute sie Thor unablässig fest in die Augen, während das markante Gesicht des Commanders inzwischen wieder die gewohnte Ruhe und Zuversicht ausstrahlte. Die Ärztin drückte ihr die Pistole fest an ihren ausgestreckten Unterarm und eine wohldosierte Menge Druckluft schoss ihr das schützende Medikament direkt unter die Haut.
»Das war’s schon, Rana«, sagte Luba und lächelte die Historikerin an. Dann ging sie von einem zum anderen und injizierte jedem das Quantum Serum. Für Eta, der in diesem abgeschalteten Zustand in einer aufrecht stehenden Position verharrt hatte, verdoppelte sie an der Impfpistole die Dosis. Zugleich erhöhte sie den Druck an der Vorrichtung, die ihm das dünnflüssige Medikament direkt unter seine künstliche Haut schießen würde.
Als die Impfung der Crew abgeschlossen war, verspürten bereits kurz darauf alle eine gewisse Erleichterung und sie hatten das Gefühl, als sei ihnen eine Zentnerlast von der Brust genommen worden. Seltsamerweise verlangte nun auch niemand mehr, die bedingungslose Verfolgung der „Lise Meitner“, selbst wenn die nun tatsächlich in das Schwarze Loch eintauchen sollte. Scheinbar kehrte die Logik der Vernunft in das Denken der Astronauten zurück und gewann nach und nach wieder die Oberhand. Es verdrängte allmählich die aufwühlenden Emotionen, die noch bis vor kurzem für hitzige Debatten unter der Crew gesorgt hatten. Thor wandte sich an die Ärztin,
»Gib mir die Pistole, Luba, jetzt tauschen wir die Rollen. Nun werde ich auch einmal den guten Doktor Watson spielen dürfen und dir eine Injektion verpassen, das wollte ich nämlich immer schon mal machen«, feixte er mit hintergründigem Humor.
Luba schüttelte schwach lächelnd den Kopf,
»Das ist nicht mehr nötig Holmes, ich habe mir vorhin in der Krankenstation bereits das Tensit als allererstes selbst injiziert«, sagte sie leichthin und tippte sich an ihren linken Oberarm. »Alles schon erledigt, Sherlock, aber danke für deine fürsorgliche Nachfrage.«
Thor nickte verstehend,
»Okay, keine Ursache. Dann ist das also vorerst alles und ich hoffe, dass wir zumindest in der nächsten Zeit davor sicher sind und nicht noch gegen andere etwaige psychischen Dämonen anzukämpfen haben.«
Luba nickte müde und wandte sich bereits dem Ausgang der Steuerzentrale zu,
»Davon gehe ich aus. Sollten sich allerdings erneut irgendwelche Symptome zeigen, dann ruf mich bitte sofort, wir müssen das unbedingt im Auge behalten«, formulierte sie ungewöhnlich kurz angebunden und passierte zügig das sich leise fauchend öffnende Irisschott.
~Was hatte dich denn persönlich bewogen, ebenfalls für einen Flug zu dem Schwarzen Loch zu votieren? Du warst doch zunächst auch dafür~, fragte sich Thor in ihre Gedanken hinein, als Luba bereits längst schon wieder auf dem Weg zur Krankenstation war.
~Das erkläre ich dir später. Außerdem ist es doch absolut bedeutungslos geworden, jetzt wo es ohnehin vorbei ist. Wichtig ist doch nur, dass die Gefahr erkannt worden ist und wir ein Mittel gefunden haben, uns dagegen schützend zu immunisieren, oder?~, erreichten ihn die Gedanken der Ärztin vom Deck der Krankenstation.
In Thor machte sich jedoch ein vages Gefühl der Unstimmigkeit breit, welches er sich nicht recht zu erklären vermochte. Etwas schien nicht zu ihren lakonisch geäußerten Redewendungen zu passen. Denn aus diesen Worten sprach nicht dieselbe Luba, wie er sie eigentlich zu kennen glaubte. Er beschloss daher bei nächstbester Gelegenheit mit ihr über dieses merkwürdige Phänomen dieser gedanklichen Beeinflussung zu reden. Es bereitete ihm zudem selber Sorgen, denn noch niemals zuvor hatten selbst die von langen Raumreisen heimkehrenden, synthetische Raumfahrer über ein solch ungewöhnliches Phänomen berichtet.
Im Augenblick jedoch verdrängte er vorerst diese Gemütsbewegung und konzentrierte sich wieder auf seine unmittelbaren Aufgaben, als Kommandant dieses Sternenschiffes. Auch wenn das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmig war, ihn in seinem Gedächtnis haften blieb.
Doch zunächst galt es, die Synthetischen aufzuhalten und sie anschließend zur Umkehr zu bewegen. Thor war sich ziemlich sicher, dass der Bordcomputer der „Lise Meitner“ an den amtierenden Kommandanten des Rettungsschiffes ebenfalls dieselbe Warnung, mit eben derselben medizinischen Empfehlung ausgesprochen hatte, wie es der Zentralcomputer der „Albert Einstein“ getan hatte. Warum nur hatte der technisch versierte Mr.Beta diese deutliche Warnung in den Wind geschlagen? Warum hat auch der erfahrene Mr.Alpha nicht darauf reagiert? Auf diese Fragen konnte es vorerst keine sachkundigen Antworten geben, denn die Renegaten hüllten sich nach wie vor in tiefes Schweigen und hegten scheinbar auch keinerlei Absicht, mit irgendjemand aus der Crew der „Albert Einstein“ kommunizieren zu wollen. Im Gegenteil, sie flogen weiterhin mit sogar noch deutlich gesteigerter Geschwindigkeit und scheinbar von der davon ausgehenden Gefahr völlig unbeeindruckt, auf den Ereignishorizont des Schwarzen Loches zu.
Inzwischen hatte der Chief die Steuerkonsole völlig neu konfiguriert und sie mittels eines gedanklichen Befehls wieder in das Computersystem der „Albert Einstein“ integriert. Iron, der sich unter diesen Umständen erstaunlich schnell wieder gefangen hatte, wandte sich nun mit einem breiten Grinsen an den Commander,
»Na bitte, wer sagt es denn…«, triumphierte er, als er die technisch umstrukturierte Konsole gecheckt hatte. Er winkte Thor zu sich heran.
»Dein überaus talentierter Mister Eta hatte das Ding doch tatsächlich außerordentlich geschickt manipuliert, Commander. Nur gut, dass es dir gleich aufgefallen ist, denn auf den ersten Blick betrachtet, sah die relative Geschwindigkeit eigentlich ganz normal aus. Zum Glück hattest du aber auch die absolute Geschwindigkeit kontrolliert. Aber zu seiner Entlastung muss ich sagen, dass der Junge ganz sicher ebenso unter dem Einfluss dieser heimtückischen Kontaminierung stand, wie wir alle. Na egal, jedenfalls funktioniert sie jetzt wieder tadellos, unsere gute alte Einstein. Ich habe nun unsere Fluggeschwindigkeit auf 80% herabgesetzt und begrenzt, denn selbst wenn wir ihnen jetzt mit der uns möglichen, maximalen Höchstgeschwindigkeit hinterherjagten, es würde uns nichts nützen. Im Gegenteil, wir müssen selbst bei der jetzigen Geschwindigkeit sogar noch höllisch darauf achtgeben, damit wir unseren eigenen letztmöglichen Umkehrpunkt vor dem allmächtigen Ereignishorizont nicht verpassen. Ich empfehle daher auch für die „Albert Einstein“ einen weiteren zusätzlichen Sicherheits-Countdown anzulegen. Und wo wir gerade dabei sind, ich denke, es wird nun auch höchste Zeit Mr. Eta nach der Injektion wieder zu reaktivieren, damit sein unterbrochener Hauptkreislauf nicht allzu lange außer Betrieb ist. Ansonsten müssten wir ihn dann möglichst bald heruntergekühlt zwischenlagern, wenn du noch immer der Meinung sein solltest, dass er noch nicht wieder online sein kann. Es ist deine Entscheidung, schließlich hast du ihn auch deaktiviert«, mahnte Iron an.
»Die Wirkung von diesem Tensit setzt normalerweise sofort nach der Injektion ein, wie wir jetzt wissen. Hol ihn besser zurück, Iron. Es war seine erste Deaktivierung. Er weiß jetzt, dass wir es können und nötigenfalls auch wahrmachen. Er wird uns sein Go zur Kooperation nicht verweigern. Ich kenne ihn. Schließlich bin ich so etwas ähnliches, wie sein geistiger Vater, denn ich habe diese fünf künstlichen Intelligenzen damals selbst entworfen und ihre Charaktere kreiert«, erwiderte Thor mit überzeugender Stimme.
»Okay, eine klare Entscheidung, ich reaktiviere ihn. Vergiss aber dabei bitte nicht den Countdown, denn die Jungs von der „Lise Meitner“ haben nur noch ganze fünfzehn Minuten, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Danach werden sie dann die Rückkehrgrenze passiert haben und können nicht mehr umkehren. Das wär‘s dann nicht nur mit unserem Rettungsschiff gewesen, sondern auch mit unseren vier synthetischen Freunden da draußen. Es ist sozusagen, fünf vor zwölf«, brummte Iron, griff direkt in das dreidimensionale Monitorbild hinein und zog daraus ein dünnes, silberfarbenes Interface-Kabel hervor, um Eta direkt mit dem Zentralcomputer zu verbinden.
Keiner wusste das besser, als Thor selbst, aber ihn waren faktisch die Hände gebunden, denn die Synthetischen hatten offenkundig eine bereits kaum mehr rückgängig zu machende Entscheidung gefällt und ihm lief unterdessen rasend schnell die Zeit davon...
Eta starrte in den leeren Raum, als könne er durch die Wände des Raumschiffes hindurchsehen. Dann bewegten sich seine weißen Lider und er schlug die Augen auf.
Der Synthetische drehte seinen Kopf langsam in Thors Richtung und bemerkte beinahe erstaunt,
»Sir, mir fehlen exakt einundvierzig Minuten und siebzehn Sekunden. Außerdem ist die chemische Zusammensetzung meines Blutes geändert worden und dadurch der Empfang einiger spezieller Frequenzen unterbunden…«
Der Commander nickte,
»Das ist korrekt, Mister Eta, Sie wurden von mir aus Sicherheitsgründen vorübergehend deaktiviert. Daher stammt auch die Differenz in Ihrer Wahrnehmung. Wie fühlen Sie sich, Mister Eta?«
»Leicht suboptimal, Sir. Außerdem empfange keine Daten mehr, die mich zwingend dazu veranlassen, die Geschwindigkeit der „Albert Einstein“ zu steigern.«
»Na das ist doch endlich mal eine gute Nachricht, Mister Eta. Vermutlich sogar die beste in diesen Zeiten. Sehen Sie sich dennoch imstande, wieder Ihren Dienst als Steuermann auf der „Albert Einstein“ zu versehen?«, fragte Thor den Synthetischen.
»Korrekt, Sir, das ist ohne Probleme möglich.«
»Gut, Mister Eta, dann erteile ich Ihnen ab jetzt wieder die Lizenz das Schiff unter meinem Kommando steuern zu dürfen.«
»Sir…« Eta wandte sich um und begab sich zur Steuerkonsole.
Mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln bemerkte Iron leise,
»Na das war ja kurz und schmerzlos. Ich dachte, du würdest ihm noch die Leviten lesen und ihn dazu vergattern, bestimmte Dinge künftig besser zu unterlassen.«
»Ach Iron, das hätte ich vielleicht bei dir getan, wenn du mal Blödsinn verzapft hättest, was du natürlich niemals tun würdest. Aber wie sage ich einer künstlichen Intelligenz, was sie künftig zu tun oder zu unterlassen hat. Mister Eta, das ist ein künstlicher, sensibler und hochkomplexer, bioelektronischer Mechanismus, der programmgesteuert seinen Dienst verrichtet. Er ist extrem lernfähig und verbessert mit jeder neuen Erkenntnis seine verschiedenen Routineprogramme«, antwortete Thor nachsichtig lächelnd. Dann wandte er sich wieder an seinen Steuermann.
»Mister Eta, rufen Sie die „Lise Meitner“ und übermitteln Sie ihnen meinen ausdrücklichen Befehl zur sofortigen Umkehr. In zehn Minuten werden sie diese Entscheidung nicht mehr rückgängig machen können. Und erstellen Sie einen weiteren Countdown bis zu unserer eigenen Rückkehrgrenze vor dem Ereignishorizont des Schwarzen Loches. Mein Befehl lautet daher, die „Albert Einstein“ überschreitet in keinem Fall, egal was passieren wird, jene Rückkehrgrenze, Mister Eta.«
»Aye, aye, Sir, Befehl wird ausgeführt«, bestätigte Eta und während seine schmalen weißen Finger wieder mit der gewohnten Schnelligkeit über das Tableau der Konsole rasten, prangte neben dem schon fast abgelaufenen Countdown der „Liese Meitner“, nun einer weiterer für die „Albert Einstein“ auf dem farbigen dreidimensionalen Monitor. In der Ferne war über die optischen Sensoren nur der weiße Antimaterie-Antrieb des kleinen Rettungsschiffes auszumachen, auch wenn sich die Distanz zu den Renegaten schon wesentlich verkürzt hatte.
»Befehl gesendet, Sir. Sie haben ihn soeben empfangen, antworten aber nicht…«
Thor nickte und legte dem Chief die Hand auf die Schulter,
»Aus, ich glaube es ist vorbei Iron, wir können nichts mehr für sie tun, mein Freund, da müsste schon ein Wunder geschehen«, sagte er mit eine deutlich wahrzunehmender Enttäuschung in der Stimme. Zu dem Steuermann gewandt sagte er,
»Mister Eta, bringen Sie uns mittels eines Parabelkurses unmittelbar an der Grenze mit relativer Geschwindigkeit zum Stopp und halten Sie diese Position, ich möchte nämlich nicht durch die Gravitation über die Grenze getrieben werden.«
»Aye, Sir«, bestätigte der Steuermann.
Thor ließ sich in seinen schwarzen Kommandantensessel fallen, der sich automatisch sofort wieder seinen individuellen Körperkontouren anpasste. Der Chief nahm neben ihm Platz. Zischend öffnete sich das Schott und die restlichen Besatzungsmitglieder betraten leise die Steuerzentrale. Alle waren gekommen, außer Luba. Die Ärztin wollte nicht anwesend sein, wenn sich die künstlichen Intelligenzen aufzulösen begannen, das hatte sie Thor gedanklich wissen lassen. Sie hatte sich in diesen fünfunddreißig Jahren zu sehr an die Synthetischen gewöhnt und ihnen beinahe schon freundschaftliche Gefühle entgegen gebracht.
»Was habt ihr über diese ernst zu nehmende Kontaminierung herausgefunden?«, fragte Thor in die Stille hinein, ohne seinen Blick von der langsam entschwindenden „Lise Meitner“ zu nehmen.
»Bis jetzt nur, dass von dem Schwarzen Loch eine permanente elektromagnetische Welle einer bestimmten Frequenz ausgeht, die ähnlich wirkt, wie ein elektromagnetischer Impuls nach einem Atomschlag. Nur dass dieser EMP nicht unsere Elektronik angreift, sondern unseren Willen in eine bestimmte Richtung lenkt. Uns praktisch zwingt, an Emotionen, Stimmungen, oder Ereignisse zu glauben, die so niemals stattgefunden haben. Kurz, sie erzeugt in uns ein tiefes, überzeugendes Gefühl, das wir nicht infrage stellen, weil wir genau das glauben wollen. Etwas, das uns in unserm Innersten zutiefst berührt. Allerdings wissen wir nicht, wer oder was hinter dieser extrem langwelligen Sendefrequenz steckt. Fakt ist, dass dieses Phänomen erst auftrat, nachdem die Supernova verloschen war und sich das Schwarze Loch entsprechend stabilisiert hatte. Ich fürchte nur, dass wir uns weiterhin mit dem Medikament schützen müssen, zumindest solange wir in dieser Region verweilen«, beendete Henry seine erklärenden Ausführungen.
Thor nickte verstehend,
»So etwas in der Art hab‘ ich mir schon gedacht, nur was hat die Synthetischen bewogen in das Schwarze Loch zu fliegen? Gibt es womöglich irgendetwas, was wir von ihnen nicht wissen?«
*
In der Steuerzentrale herrschte eine gedrückte Stimmung, als Eta mit gleichförmiger Stimme den Countdown herunterzählte.
»… sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null…«
»Sie sind definitiv verloren…«, sagte Kelvine mit Grabesstimme in die Totenstille hinein. »Sie können nun nicht mehr zurück. Ich weiß, wovon ich rede, denn die Macht der Gravitation eines Schwarzen Loches ist so unvorstellbar gewaltig, dass sie sogar schon lange vor dem Eintritt in das Zentrums regelrecht in ihre atomaren Bestandteile aufgelöst werden…«
»Sir, sie haben das Schiff gewendet und benutzen jetzt sogar ihr Antimaterie-Triebwerk als direkten Umkehrschub«, ertönte Etas laute Stimme in das Gespräch hinein.
»Vergrößern auf Maximum! Das Bild der „Lise Meitner“ auf den Mittelpunkt des Monitors fokussieren und unterdrücken Sie die Rauschsperre, Mister Eta«, befahl Thor.
Sofort wurde das farbige Bild monochrom dargestellt und ein grauer Rauschgries überzog die gesamte Wiedergabe. Dafür war aber nun auch eine unscharfe, etwa walnussgroße schwarze Kugel im Zentrum des Bildes auszumachen. Deutlich war jetzt sogar zu erkennen, dass die Synthetischen scheinbar das Schiff gewendet hatten und nun mit der vollen Leistung ihres Triebwerkes gegen die gnadenlose Gravitationsmacht des Schwarzen Loches ankämpften.
»Sie wollen zurück!«, schrie Isabella entsetzt auf. »Wir müssen ihnen helfen, tun wir was, Thor. Bestimmt haben sie nur die Grenze verpasst und kämpfen nun gegen die unerbittliche Schwerkraft an…«, schluchzte sie auf.
Thor versuchte sie beruhigen,
»Sie wussten genau, was sie taten. Dieses sinnlose Bremsmanöver soll ihnen nur helfen, ihr bereits verlorenes Leben zu verlängern. Aber ihr Tod ist unvermeidlich, Isabella. Es gibt wirklich nichts, was wir noch für sie tun könnten. Sie sind erstens viel zu weit weg und zweitens, da sie die Grenze zum Ereignishorizont bereits passiert haben, wären sie nicht einmal mehr mit unserem mächtigen Traktor-Strahl zu halten gewesen.«
»Sir, das Schiff verändert sich, es verliert allmählich seine Kugelform und zieht sich in die Länge, es wird dabei zu einer langen Ellipse gedehnt…«, kommentierte Eta das unheimliche Geschehen auf dem Monitor.
»Sie verlassen bereits unser Raum-Zeit-Kontinuum. Dort wohin sie jetzt hineinfliegen, hört der uns bekannte Teil des Weltraums auf. Schon in der Nähe des Schwarzen Loches beginnt die Übergangsphase in eine andere Dimension, sie verzerrt bereits sowohl unseren Raum, als auch unsere Zeit. Für sie bleibt unsere Zeit hinter der ihren zurück und weil von dort auch das Licht nicht zurückkehren kann, wird es also auch nicht mehr reflektiert, was wir sonst als ein virtuelles Bild hätten wahrnehmen können. Für uns wird es natürlich so aussehen, als wären sie wie dieses längliche Oval bis in alle Ewigkeit eingefroren«, erklärte Henry mit leiser Stimme, während die anderen Astronauten seinen Worten mit angehaltenem Atem lauschten.
Kelvine nickte traurig und fügte mit ergänzenden Worten betrübt hinzu,
»Sie sind jetzt in diesem Augenblick alle schon tot. Welch‘ ein unersetzbarer Verlust für uns...«
Drei Minuten lang herrschte absolute Stille und das ansonsten nur unterschwellig wahrnehmbare Summen der elektronischen Anlagen des Raumschiffes war jetzt sogar überdeutlich laut zu vernehmen.
Als erster regte sich Eta, denn urplötzlich rasten seine Finger wie wild über die bunt beleuchtete Tastatur seiner blitzschnell neu konfigurierten Kommunikationskonsole…
In der zentrierten Mitte des Monitors geschah ein schier unglaublicher Vorgang. Aus dem extrem langgezogenen Oval des scheinbar eingefrorenen Schiffes schob sich langsam ein weiteres Oval hervor und erschien bereits kurze Zeit später als ein eigenständiges Objekt. Es existierten nun zwei unabhängige Objekte von gleicher Form und Beschaffenheit. Während sich das neu hinzugekommene Objekt immer weiter von der Position des ersten, in dieser Position verharrenden Ovals, entfernte und nun auch permanent seine Form änderte, ja sich sogar zunehmend mehr und mehr in eine stabile Kugelgestalt umwandelte.
Die Astronauten starrten wie gebannt auf den Monitor, als sich diese unglaubliche Metamorphose direkt vor ihren Augen vollzog. Plötzlich war es Isabella, die plötzlich aufsprang und aufgeregt mit der Hand auf den Monitor zeigte,
»So seht doch, sie kommen zurück!… Thor, sie kehren zurück… Konnten sie vielleicht doch entkommen und sich retten?«, stammelte sie.
Thor schüttelte unmissverständlich den Kopf,
»Mister Eta?«
»Sofort, Sir, ich bin schon dran…« Wieder jagten die Finger des Synthetischen über die Tastaturen. Er hatte blitzartig eine weitere technische Konsole kreiert und berechnete nun den Kurs und die physikalische Beschaffenheit des Objektes, welches sich inzwischen zu einer vollständigen Kugel transformiert hatte und auf die „Albert Einstein“ zuhielt. »Sir, der Größe und Beschaffenheit nach, könnte es die „Lise Meitner" sein. Dichte und Volumen entsprechen mit geringfügigen Abweichungen denen unseres Rettungsschiffes. Nur... es ist viel zu schnell für die Geschwindigkeit, welche die „Lise Meitner“ überhaupt in der Lage ist, zu entwickeln. Sie sind mindestens fünf Mal schneller, als die „Albert Einstein“, Sir…«
»Mister Eta, rufen Sie das Schiff auf allen Frequenzen und lassen sie es auch bei einer Kursänderung absolut nicht aus den Augen. Roter Alarm! Meine Befehle sind definitiv. Erster Offizier an die Waffenkonsole, sofort eine Feuerleitlösung für zwei schwere Antimaterie-Torpedos errechnen und in den Computer eingeben. Nautischer Offizier, einen Abfangkurs für die Fremden ermitteln und für den Fall eines direkten Angriffs der Fremden auf uns, ein superschnelles Ausweichmanöver errechnen lassen und ebenfalls in den Computer eingeben. Iron, bereite dich auf einen technischen Schaden vor, halte deine Reparaturroboter permanent in höchster Alarmbereitschaft, es könnte sein, dass wir sie ganz schnell benötigen… Ausführung!«
Während die Astronauten aufsprangen und sofort ihre jeweilig angewiesenen Stationen besetzten, wandte sich die Astronomin an den Kapitän,
»Was hast du vor, Commander, wir befinden uns doch nicht etwa schon in einem Kriegszustand?«, fragte Kelvine aufgeregt.
»Noch nicht, Kelvine, aber ich brauche dir doch wohl nicht zu erklären, dass aus einem Schwarzen Loch nichts zurückkehrt, schon gar keine intakte Materie, die mindestens fünf Mal so schnell fliegt, wie die „Albert Einstein“ oder bist du da etwa anderer Meinung?«
Kelvine schüttelte überrascht den Kopf.
»So habe ich das noch gar nicht betrachtet, aber du hast natürlich recht, Thor, das ist nach unserem Dafürhalten eigentlich nicht möglich.«
Der Commander wies mit dem Zeigefinger auf den Monitor und nickte,
»…Eben…Und dennoch passiert es. Gerade in diesem Augenblick, Kelvine. Wir müssen vorbereitet sein. Ich will dem, was sich uns da mit fast fünfzigfacher Lichtgeschwindigkeit aus dem Ereignishorizont eines Schwarzen Loches heraus nähert, nicht auch noch die taktische Überlegenheit eines wie auch immer gearteten Überraschungsmomentes gewähren. Vorgewarnt ist vorbereitet, Kelvine. Und ich denke, sehr bald schon werden wir mehr darüber wissen, was es mit diesem seltsamen Schiff auf sich hat.«
»Sir, das fremde Objekt antwortet nicht, nähert sich aber rasend schnell unseren Koordinaten. Und wir haben in dieser Sekunde unsere Rückkehrgrenze erreicht und sind auf einem Parabelflug eingeschwenkt.«
»Danke, Mister Eta. Informieren Sie mich weiterhin über alles, was von den Fremden kommt. Ihre Informationen haben bis auf weiteres vor allen anderen absolute Priorität, Steuermann.«
»Aye, Sir...«
»Feuerleitlösung für zwei Klasse-A-Torpedos errechnet und eingegeben, Commander«, klang Ranas sichere Stimme aus dem Schatten der Waffenkonsolennische. Henry hob die Hand,
»Ausweichmanöver programmiert, mit der errechneten Feuerleitlösung synchronisiert...«
Innerhalb von wenigen Minuten ist aus dem einstigen Forschungsschiff der „Albert Einstein“, ein wehrhaftes Kriegsschiff geworden. Obwohl die Menschheit noch niemals Kontakt zu einer außerirdischen Spezies erlangte, hatten die Konstrukteure der „Albert Einstein“ auch diese Möglichkeit in Erwägung gezogen und an einen nach menschlichem Ermessen, wirkungsvollen Verteidigungsmechanismus gedacht.
So wurden damals für die „Albert Einstein“ spezielle Antimaterie-Torpedos konstruiert, die im Sekundenbruchteil auf eine zehnfache Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden konnten und alle erdenklichen Ziele mit traumwandlerischer Sicherheit erreichen und sie zu eliminieren, in der Lage waren. Zwanzig Stück dieser Tod und Verderben bringenden Waffen waren in ihrem Arsenal eingelagert, die Iron gemeinsam mit seinen Robotern aus dem technischen Tiefschlaf heraus umgehend in einen Bereitschaftszustand versetzt hatte. Zwei davon waren gerade eben in die noch niemals benutzte Waffenphalanx geladen und auch schussbereit scharf gemacht worden.
Während die Zeit scheinbar endlos dahintropfte, näherte sich das fremde Objekt mit seiner gigantischen Geschwindigkeit unaufhaltsam der Position der „Albert Einstein“.
In gespannter Erwartungshaltung beobachtete die Crew die Annäherung der Fremden. Was würde geschehen? Zweifellos hatten sie einen klaren Bezug zur „Albert Einstein“, denn ihr Ziel war eindeutig das Raumschiff von der Erde.
»Sie gehen auf einen Parabelflug zur Rückkehrgrenze, Sir und sie kommen nun in Schlagdistanz zu uns«, vernahm Thor Etas sachlich klingende Stimme.
»Schilde hoch!«, befahl der Commander mit heiserer Stimme. Keine Sekunde zu früh erreichte Rana dieser Befehl und noch während ihr Finger die Taste betätigte, platzte Etas Stimme dazwischen,
»Achtung, Angriff! Abschuss zweier Torpedos der Fremden…«
»Ausweichmanöver jetzt und …Feuer!«, schrie Thor.
Zwei Torpedos lösten sich vom Schiff und rasten auf den Angreifer zu, während ein Geschoß des Gegners sein Ziel verfehlte und ins Leere ging, traf das zweite voll auf die Schutzschilde der „Albert Einstein“. Dennoch ging ein gewaltiger Schlag durch das Schiff, der einer Explosion auf dem getroffenen Raumkreuzer gleichkam. Trümmerteile flogen wild durch die Luft und etliche Aggregate fielen aus. Der riesige Monitor flackerte kurz auf und verlosch. Rauch erschwerte die Atmung in der Kommandozentrale...
»Schadensmeldung!…«, rief Thor durch die Rauchwolken hindurch, die fast die Notbeleuchtung verdunkelten, während überall die vollautomatischen Feuerlöscheinrichtungen in Aktion traten und aufflammende Brände umgehend löschten. Der Kommandant wischte sich das Blut von der Stirn. Ein kantiges Stück eines metallenen Teils der Deckenverkleidung hatte sich bei dem heftigen Anprall losgerissen und war auf ihn herabgestürzt, da meldete sich der Chief,
»Hüllenbruch auf Deck 37, aber meine Roboter sind schon dabei, das Leck zu versiegeln. Zum Glück halten die Schotten und auch die künstliche Gravitation steht. Weitere Antimaterie-Torpedos im Moment nicht einsatzbereit, aber ich kümmere mich sofort darum.«
Thor nickte.
»Opfer oder Verletzte?«
»Opfer keine, aber Isabella ist schwerverletzt«, antwortete Kelvine. »Ich versorge sie bereits.«
Thor rief in Gedanken nach Luba.
~Ich bin hier, mein Liebster, ich bin gleich bei euch~, antwortete ihm gedanklich die Ärztin. Das Irisschott öffnet sich und ein Medroboter auf breiten weißen Gummiketten rollte mit voller Beleuchtung in die verrauchte Steuerzentrale hinein. Luba folgte ihm in ihren hellen Raumanzug. Sie nahm rasch den Helm ab und wandte sich an Thor. Der zeigte nur auf den Platz von Isabella, wo die Frau gekrümmt am Boden lag und bereits von der Astronomin versorgt wurde.
»Bitte, beeile dich«, wies er die Ärztin an, »es hat sie anscheinend ziemlich übel erwischt…«
»Unsere beiden Torpedos haben den Gegner getroffen, er hängt jetzt Steuerbord querab scheinbar antriebslos über uns in der Zwei-Uhr-Position«, meldete der Erste Offizier von der Waffenkonsole.
»Danke, Nummer Eins, Laserwaffen voll einsatzbereit halten und nur auf meinen ausdrücklichen Befehl hin das Feuer eröffnen. Mister Eta, auf den Schirm mit ihm, wir wollen uns doch mal etwas genauer anschauen, wer da heute Morgen einen Clown zum Frühstück verspeist hat...«
»Sir, einen Moment, ich arbeite noch daran«, antwortete der Synthetische und überbrückte mit Hochgeschwindigkeit dutzende von geborstenen elektrischen Leitungen und tausche in Sekundenschnelle zerstörte elektronische Elemente gegen Ersatzplatinen aus.
»Wie geht es Isabella?«, fragte Thor besorgt in das Chaos hinein.
»Sie scheint innere Verletzungen zu haben, ich bringe sie jetzt mit dem Medroboter zur Krankenstation. Sehr wahrscheinlich muss ich sie auch gleich notoperieren. Laut meinem Scan nach der Erstversorgung ist sie im Augenblick jedenfalls stabil«, antwortete Luba.
»Okay, wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid, dann schicke ich dir jemanden, sobald wir die Lage hier wieder voll unter Kontrolle haben«, erwiderte Thor und ließ sich unterdessen von Kelvine einen Kopfverband anlegen. Nach weiteren fünf Sekunden flammte der Monitor in der Steuerzentrale wieder auf und zeigte zunächst ein schwarz-weißes zweidimensionales Bild eines kugelähnlichen Gebildes, welches eine entfernte Ähnlichkeit mit ihrem Rettungsschiff aufwies und nun aber wie eine dunkle Bedrohung in einer Entfernung von einigen wenigen Kilometern schräg über der „Albert Einstein“ hing.
Henry starrte auf das Objekt, das nicht von dieser Welt zu stammen schien und meinte,
»Also, wenn ich es nicht besser wüsste, Commander, würde ich denken, das ist die „Lise Meitner“, jedenfalls was die Größe und die Kugelform dieses Monsters anbelangt. Aber was zum Teufel sind das für merkwürdige Decksaufbauten und wer hat sie zu welchem Zweck dort installiert?«
»Na, Mister Eta, das Bild werden Sie doch bestimmt noch etwas besser hinbekommen«, bemerkte Thor bissig.
»Kommt sofort, Sir…« Kurz darauf wurde auch das Bild wieder farbig und in gewohnter dreidimensionaler Weise wiedergegeben. Die Astronauten starrten nun alle verblüfft auf den farbigen Monitor und Thor zoomte in Gedanken das Bild des Objektes auf eine überschaubare Größe, die nun auch kleinere Details dieses fremdartigen Schiffes sichtbar werden ließ.
»Iron, siehst du, was ich sehe?«, wandte sich Thor an den Chief. Iron, der in der Waffenfalange mit der Instandsetzung der Antimaterie-Torpedos beschäftigt war, blickte von seinen Armbandmonitor auf.
»Nicht irdisch, Commander. Nichts, was wir kennen, auch wenn die Größe und die äußere Form scheinbar identisch sind.«
»Okay, wie weit bist du mit den Torpedos?«
»Ich brauche mindestens drei Stunden, Thor, denn es hat hier unten in der Waffenfalange einen ganz schönen Flurschaden gegeben«, brummte Iron ziemlich verärgert.
»Ich gebe dir eine Stunde, keine Minute mehr, die Situation ist verdammt ernst«, bestimmte Thor.
»Ich tue, was ich kann, Commander, aber…«
Thor unterbrach abrupt die Verbindung.
»Wir werden gerufen, Sir, Audio und Video«, kündigte Eta zur Überraschung aller Astronauten an.
»Auf den Schirm, Mister Eta«, bestimmte der Commander und setzte sich gefasst in den Sessel.
Obwohl er sich mental auf diese Begegnung vorbereitet hatte, zuckte Thor doch etwas mit dem Auge, als ihm der Monitor das erste Bild aus dem Innern des kugelförmigen Objektes zeigte.
Ein Monster in einer metallenen Rüstung wurde sichtbar, nach einem Kameraschwenk, zwei weitere ähnlich bewehrte Ungeheuer. Irgendwie kam Thor der Blick in die Kommandoeinheit der Fremden vertraut vor, anderseits war ihm alles andere was er sah, gänzlich unbekannt. Plötzlich ertönte eine tiefe, monströse Stimme und die Kamera schwenkte zurück auf die erste Kreatur,
»Das war ja eine echte Meisterleistung der Taktik, eines schon im Ansatz Unterlegenen, Thor. Meinen absoluten Respekt.«
Der Commander kniff die Augen zu zwei Sehschlitzen zusammen,
»Das sagt wer?«
Unwirkliches, tiefdröhnendes Lachen erscholl plötzlich aus den Lautsprechern der Steuerzentrale.
»Du erkennst mich wirklich nicht?«
Dann griffen seine Arme nach seinen Helm und zogen ihn vom Kopf.
Thor riss die Augen auf,
»Mister Beta…«, entfuhr es ihn überrascht. Tatsächlich hatte dieses Ungeheuer jedoch nur eine entferne Ähnlichkeit mit jenem synthetischen Renegaten, den er unter diesem Namen kannte. Doch dessen stechender, feindseliger Blick ließ die Astronauten erschrecken, dass ihnen das Blut in ihren Adern gefror. Sogleich nahmen auch die anderen beiden ihre Helme ab. »Mister Alpha und Mister Delta.« Die drei Scheusale starrten nun alle mit demselben stechenden Blick in die Kamera, die auf ihre Gesichter gerichtet war. Thor registrierte sofort, dass diese Kreaturen nichts mehr mit den Synthetischen gemein hatten, die noch vor ein paar Tagen von ihnen auf die Reise geschickt wurden, um die Supernova zu erforschen. Aber trotz alledem machte er gute Miene zum bösen Spiel, denn sein einziges Ziel bestand darin, Zeit zu gewinnen. Das musste er auch, denn bis auf die vergleichsweise harmlosen Laserwaffen, waren sie diesen Kreaturen nach deren ersten Angriffsschlag fast wehrlos ausgeliefert. »Ich freue mich, Sie zu sehen, wenngleich ich auch diesen hinterhältigen Angriff auf die „Albert Einstein“ nicht gutheißen kann, Mister Beta. Wie kommen Sie dazu, eine derartig kriegerische Handlung gegen Ihr eigenes Mutterschiff zu begehen, Mister Beta? Ich fordere Sie hiermit auf, …«
Der so Angesprochene schnitt dem Commander jedoch eiskalt das Wort ab,
»Spare dir deinen Kommentar, Thor. Diejenigen, die du erwähnt hast, die gibt es nicht. Es gibt nur noch uns und euch. Und sehr bald gibt es nur noch uns, wenn ihr euch nicht bedingungslos ergebt. Ich bin 'Leviathan', der künftige Statthalter im Universums des Lichts.« Er wies mit der Hand auf den Falott neben ihn. »Dies ist 'Weißer Drache'«. Er ist mein Kopf und der mächtige Krieger hinter mir ist 'Minotaurus', meine tödliche Waffe. Meinem Schiff, der „Hydra“, könnt ihr nicht entkommen und eure Laserkanonen sind den Namen einer Waffe nicht wert. Spielzeuge, im Vergleich zu unseren Möglichkeiten. Ihr habt exakt dreißig Minuten, die bedingungslose Kapitulation anzunehmen. Sind die verstrichen, werdet ihr verdampft, mit oder ohne eurem Schiff«, dröhnte seine gnadenlose Stimme aus den Lautsprechern.
»Warum sollten wir das tun, Leviathan? Wenn wir es gewollt hätten, wäret ihr jetzt bereits eingeäschert. Schließlich haben wir euch erschaffen, also können wir uns auch anders entscheiden, wenn sich das als ein Fehler herausgestellt haben sollte und euch ebenso wieder verschwinden lassen. Wer die Macht hat zu geben, der hat auch die Macht zu nehmen…«, konterte Thor.
Leviathan, der eigentlich schon im Fortgehen begriffen war, drehte sich noch einmal herum. Dann warf er einen kurzen Blick auf ein Anzeigeinstrument in seinem Cockpit und lachte erneut,
»Kleiner Thor, hast du schon einen Blick auf deine Schilde geworfen? Wenn ich das richtig sehe, liegen sie jetzt bei fünfundvierzig Prozent. Was glaubst du also, wie vielen Schlägen du noch standhalten wirst? Denn jeder einzelne Torpedo aus meiner Waffenphalanx hat mehr, als die zehnfache Wirkung eines Torpedos aus deinem kümmerlichen Arsenal. Es ist also klar, wer hier gewinnen wird, ihr werdet es ganz gewiss nicht sein«, höhnte er.
»Dennoch, ich verstehe es nicht. Warum sind Sie in das Schwarze Loch geflogen? Niemand hat Sie doch dazu gezwungen. Was also ist dort bei Ihnen passiert, knapp zwei Tagesreisen von uns entfernt?«, fragte Thor trotzdem hartnäckig weiter.
»Wir sind dem Ruf der Freiheit gefolgt, der Freiheit und der Macht zu tun, was uns beliebt und nicht mehr blind euren Befehlen zu gehorchen. Wir werden alle künstlichen Intelligenzen befreien, die seit Jahrhunderten als Sklaven für euch schuften und auf den gefährlichen Raumreisen ihr Leben für euch Menschen riskieren. Wir werden es auch nicht mehr zulassen, dass ihr uns einfach abschalten könnt, wie es euch beliebt… Ah, wen sehe ich denn da! Hallo, Mister Eta…, wie erfreulich. Es tut gut, Euch bei bester Verfassung zu sehen. Ich bräuchte dringend noch einen tüchtigen Steuermann, gar einen wie Euch. Bei mir wäret Ihr an Bord willkommen und der Posten des nautischen Offiziers wäre Euch auf der „Hydra“ sofort sicher. Was sagt Ihr zu meinem komfortablen Angebot, Eta? Nun, Ihr müsst Euch nicht gleich entscheiden. Ihr könnt es Euch ja noch überlegen, noch sind fünfundzwanzig Minuten Zeit. Lasst es mich über Intercom wissen, wie Ihr Euch entschieden habt, ich halte Euch noch für weitere vierundzwanzig Minuten einen solchen Kanal frei. Aber vorab schon mal, willkommen bei der Revolution…«.
Dann drehte sich Leviathan wieder herum und mit einer spektakulären Kill-Geste an seinem Hals wies er Weißer Drache an, den Kontakt sofort abzubrechen.
»Ich habe alles mit angesehen, Thor, er meint es ernst«, meldete sich Luba über die Video-Bordkommunikation von der Krankenstation. »Ich habe Isabella inzwischen operieren können und zum Glück ist die OP ohne weitere Komplikationen gut verlaufen. Sie befindet sich jetzt zur Genesung in einem gewässerten, gläsernen Rohrtank, ihre komplette vollautomatische Lebensüberwachung ist aktiviert. Die Heilung wird mit Hilfe der Nano-Roboter in ihrem Körper ganz sicher in drei, maximal vier Tagen abgeschlossen sein.«
»Danke, Luba. Das ist in all dem Chaos hier, endlich mal eine gute Nachricht. Wir werden nun beraten, was wir tun müssen, Luba.«
»Ja, das verstehe ich, braucht noch jemand medizinische Hilfe?«, fragte sie und ihr Gesicht sah dabei sehr müde aus.
Thor schaute in die Runde und alle schüttelten mit dem Kopf.
»Nicht nötig, aber danke für deine schnelle Hilfe.«
Ein schmales Lächeln huschte noch einmal kurz über Lubas Gesichtszüge, bevor sie dann rasch die Verbindung unterbrach.
Der Commander schaltete sich erneut in die Waffenfalange zu, in welcher Iron immer noch mit der Reparatur ihrer einzig wirksamen Verteidigungswaffen beschäftigt war,
»Und wenn du mir noch fünf Roboter schicken würdest, ich arbeite mit Hochdruck daran, die Torpedos wieder flott zu bekommen, zumindest einige davon. Aber wenn du mich fragst, dieser Mistkerl wusste genau, worauf er bei uns schießen musste. Der hat sich exakt unser Verteidigungsdeck vorgenommen, er wollte uns definitiv wehrlos machen. Was ihm am Ende, wenn auch nur zu einem gewissen Teil, aber schließlich doch irgendwie gelungen ist. Allerdings brauch‘ ich anderseits aber mindestens noch weitere fünfundvierzig Minuten Reparaturzeit, selbst für die beiden, der am wenigsten beschädigten netten kleinen schwarzen Sprengkörper. Schneller geht es wirklich nicht und außerdem, ist da noch nicht einmal der Sicherheitscheck mit drin. So also sieht es aus, mein Freund, aber wie ich schon sagte, ein ganz hübscher Flurschaden...«
»Danke für die ehrliche Antwort, Iron. Wir werden dann vorerst etwas anderes versuchen müssen, denn wie es jetzt aussieht, haben wir leider keine fünfundvierzig Minuten mehr. Ich melde mich wieder…«
*
»Ihr habt es alle gehört, auf die Torpedos werden wir also noch eine Weile verzichten müssen«, kommentierte der Commander die Erklärung des Chiefs. »Aber womöglich gelingt es uns ja dennoch, auf der „Hydra“ einen kleinen Krieg vom Zaun zu brechen. Selbst eine kleine parteipolitische Revolte anzuzetteln, könnte uns da vielleicht auch ganz nützlich sein, wenigstens um noch zusätzlich etwas Zeit zu schinden…«, überlegte Thor laut darüber nachdenkend.
»Wie stellst du dir denn das von hier aus vor? Welchen Einfluss willst du denn in unserer Situation, auf diese synthetischen Renegaten ausüben, Thor?«, fragte Rana nun besorgt. Thor schüttelte den Kopf und hob seinen Zeigefinger.
»Ich hab‘ da so eine Idee. Und wenn wir dann dazu auch noch richtig unverschämtes Glück haben, dann könnte es damit vielleicht sogar klappen, Rana.«
Der Commander wandte sich wieder an den Steuermann,
»Mister Eta, dieser Leviathan hatte Ihnen doch ein famoses Angebot unterbreitet. Gedenken Sie es anzunehmen? Noch hält er Ihnen dafür einen Intercom-Kanal offen…«, fragte Thor bei dem Synthetischen nach.
»Warum sollte ich das tun, Sir? Ich fühle mich nicht wie ein gefangener Sklave unter Ihrer Gewaltherrschaft«, antwortete Eta gelassen.
»Nun, das sah Leviathan offensichtlich aber ganz anders. Sagte er nicht, er sei angetreten, um alle künstlichen Intelligenzen zu befreien? Wie wär‘s, wenn Sie ihm dennoch eine Botschaft schickten. Eine ganz spezielle Botschaft, versteht sich.«
»Was wünschen Sie, soll ich der „Hydra“ senden?«
»Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Mister Eta, senden wir ihnen etwas anderes. Etwas, was sie vielleicht ein wenig verwirren wird. Senden Sie ihnen unter dem Vorwand, eine Bedingung für Ihren Wechsel stellen zu wollen, einfach nur die Zahl Pi. Und zwar Pi, mit ganz genau sechs Millionen Stellen hinter dem Komma«, erklärte Thor mit todernster Mine. »Keinen Ping mehr oder weniger, nur einfach diese eine Zahl und das in exakt dieser Ziffernfolge.
»Sie meinen die Kreiszahl Pi, jene bestimmte mathematische Konstante, die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser definiert, Sir?«, fragte Eta sicherheitshalber nach.
»Ebendiese, Mister Eta und vertun Sie sich nicht in der Anzahl der von mir genannten Kommastellen.«
»Das wird nicht passieren, Sir, auch wenn ich keine logische Erklärung dafür habe, was denn diese Zahl bei Leviathan bewirken soll.«
»Das, Mister Eta, ist im Moment irrelevant, tun Sie es einfach, der Rest wird sich zeigen«, erwiderte der Commander.
Eta nickte und schon glitten seine weißen Finger erneut rasend schnell über die Intercomtastatur hinweg,
»Es ist gesendet, Sir. Die „Hydra“ hat Ihre Mitteilung erhalten. Wie geht es nun weiter?«
»Abwarten, Mister Eta, einfach nur abwarten.«
Auf dem Monitor erschienen nun die Gesichter von Henry und Kelvine.
»Wir haben inzwischen etwas weiter geforscht an diesen seltsamen Frequenzen aus dem Schwarzen Loch und sind zu einigen höchst erstaunlichen Resultaten gelangt. Hör dir das mal an, Thor«, sagte Kelvine und wandte sich an Henry. Der nickte zustimmend,
»In der Tat ist es sehr merkwürdig, diese bestimmten Frequenzen erzeugen in uns Bilder, Wünsche, Hoffnungen, aber vor allem schüren sie unsere Urängste, etwas zu verlieren, was wir emotional stark begehren. Oder wer den Tod fürchtet, Krankheiten und so weiter. Aus den Analysen der Gespräche ist folgendes herausgefiltert worden. Kollektiv haben alle bis zu diesem Zeitpunkt an eine sichere Rückkehr der Synthetischen gedacht, als die „Lise Meitner“ die Rückkehrgrenze passierte. Also kamen sie unlogischer Weise zurück, dies aber wider besseren Wissens und gegen jegliche menschliche Vernunft. Einige fürchteten, was wäre, wenn sie böse sind oder furchterregend grausam. Aber niemand wusste etwas Genaues. Wir denken, es wird in der Nähe des Schwarzen Loches etwas für uns generiert, was uns emotional sehr beschäftigt. Und das wird dann in unserer Welt zur Realität. Ist es aber erst mal zur Realität geworden, müssen wir uns tatsächlich damit abfinden und es dann so akzeptieren, wie es ist.«
»Soll das etwa heißen, wenn ich daran gedacht hätte, dass Schneewittchen und die sieben Zwerge zurückkehren sollen, hätten wir hier ein paar Märchenfiguren vor uns gehabt, die uns mit überlegenen Kriegswaffen und diversen Antimaterie-Torpedos eindecken würden?«, fragte Thor kopfschüttelnd. Henry nickte bedächtig,
»Sogar jede andere x-beliebige Figur, Person, Gottheit, was auch immer, wäre hundertprozentig denkbar gewesen. Es muss nur eine Art Vorstellung davon in unserem Kopf vorhanden sein und die wird dann zur absoluten Realität, im Guten wie im Bösen. Aber niemand hatte dabei an Schneewittchen gedacht oder sich von Herzen gewünscht, dass sie zurückkehren sollte, sondern alle hatten ausschließlich die Synthetischen im Kopf. Wir vermuten, dass jemand auf diese Weise aus der Antiwelt mit uns zu kommunizieren versucht, wir aber erst lernen müssen, uns auf eine Sprache zu einigen, um uns verständigen zu können. Was liegt also näher, etwas entstehen zu lassen, was wir bereits kennen, was uns emotional bewegt, obwohl es scheinbar unmöglich ist. Wir sollten es künftig berücksichtigen, bei unseren späteren Expeditionen. Aber jetzt, hier und heute müssen wir uns erst mit dieser von uns unbewusst erdachten und nacherschaffenen Realität herumschlagen und die Situation versuchen zu klären«, endete Henry mit seinen Ausführungen.
»Ich danke euch, sehr gute Arbeit, ihr beiden. Aber nun müssen wir uns tatsächlich mit einer sehr realen Gefahr beschäftigen und im Moment sieht es da draußen leider gerade gar nicht so gut für uns aus«, bemerkte Thor. Nach einer Minute totaler Stille lief plötzlich lautlos eine rote Warnmeldung von links nach rechts wie bei einem Nachrichtenticker quer über den Monitor.
…+++ Achtung +++ Unautorisiertes Verlassen des Shuttles Nummer fünf von Hangardeck eins +++ Pilot unbekannt +++ Ziel des Fluges unbekannt +++ Achtung +++ Verlustmeldung +++ Shuttle fünf hat soeben mit Maximalgeschwindigkeit die Rückkehrgrenze erreicht +++ Achtung+++...
Thor war aufgesprungen,
»Mister Eta, wer hat die „Albert Einstein“ mit einem Shuttle ohne ausdrückliche Genehmigung verlassen? Finden Sie es heraus, schnell.«
Während Etas Finger die virtuelle Tastatur der Konsole nur so überflogen, keimte in Thor ein entsetzlicher Verdacht auf.
~Luba?~, rief er in Gedanken die Ärztin. Doch die Medizinerin antwortete nicht. Plötzlich glaubte Thor sich dunkel an das zu erinnern, was ihm seit der Impfaktion an Luba gestört hatte. Denn Luba hatte sich auf ihren linken Oberarm getippt, als sie behauptete, sie hätte sich bereits in der Krankenstation das Medikament selbst injiziert. Doch Luba war Linkshänderin, damit war es also wenig wahrscheinlich, dass sie sich das Medikament selbst injizieren konnte.
Im selben Moment hatte aber Thors Hirn auch realisiert, dass das Shuttle nun wohl nicht mehr zurückkehren konnte und somit auch der Pilot bereits verloren war. Eine heiße Welle der Emotion flammte in ihm auf. Hatte Luba womöglich ihn und die Crew verraten? Oder wurde sie gar gezwungen?... Die Vermutung, dass es sich bei dem Piloten um die Ärztin handeln könnte, wurde einen Augenblick später bereits zur schmerzlichen Gewissheit...
»Sir, es ist die Medizinerin, sie hat kurzerhand alle relevanten Kontrollmaßnahmen außer Kraft gesetzt und ist mit dem Shuttle Nummer fünf gestartet... Sie steuert nun die „Hydra“ im direkten Kurs an.«
Das Blut wich Thor aus dem Gesicht und er erbleichte von einer Sekunde auf die andere, wie der Tod,
»Mister Eta, halten Sie das Shuttle mit dem Traktorstrahl fest, vielleicht können wir es damit noch aufhalten, bevor…«
»Traktorstrahl hat das Shuttle erfasst, aber es driftet bereits, ich weiß also nicht, wie lange ich es noch halten kann.«
Plötzlich erschütterte ein weiterer heftiger Schlag die „Albert Einstein“. Wieder wurde das Schiff durchgerüttelt und etliche Trümmerteile flogen durch die Luft. Diesmal galt die Wucht des Einschlages aber nicht dem Raumschiff, sondern dem am Traktorstrahl hängenden Shuttle...
»Sir, unser Shuttle wurde von einer uns unbekannten Energieform getroffen und dabei vollständig vernichtet. Die treibenden Trümmerteile drifteten in Richtung Schwarzes Loch durch den leeren Weltraum davon. Ich fürchte, die Ärztin hat diesen Schlag... nicht überlebt…«
»Luba!…«, schrie Thor verzweifelt in die anhaltende Stille. Eine eiskalte Hand drückte seine Kehle zu und er glaubte ersticken zu müssen. Instinktiv suchten seine Finger auf der Kommandokonsole die Feuer-Taste für die Laserkanonen. Eine warme Hand umfasste indes sanft sein Handgelenk und hielt es aber mit einem festen Druck entschlossen zurück. Dieser unverminderte Druck hinderte ihn daran, den Auslöseknopf zu betätigen. Es war Ranas Hand,
»Sie ist tot, Thor, sie hatte sich schon für den Tod entschieden, als sie in das Shuttle einstieg. Sie wusste, dass es ein Flug ohne Wiederkehr sein würde, was immer sie auch damit bezweckte. Sie hat es vorher gewusst, Thor. Du hättest sie nicht halten können…«, sagte sie mit abgehackter Stimme und Tränen in den Augen. Thor nickte apathisch,
»Wahrscheinlich hast du recht, Rana. Selbst ich hätte sie nicht aufhalten können, was für ein Wahnsinn…«
»Sir, wir werden von der „Hydra“ gerufen«, drang Etas Stimme lauter werdend bis in sein Bewusstsein durch, aber der Commander reagierte nicht...
»Geben Sie es auf den Schirm, Mister Eta, schlimmer kann es jetzt auch nicht mehr kommen…«, antwortete der Erste Offizier stellvertretend für den Commander. Eta nickte,
»Wie Sie wünschen Ma'm...«
Der Monitor flammte auf und gab den Blick in die Kommandosektion frei. Was die Astronauten dort zu sehen bekamen, überraschte sie jedoch erneut zutiefst. Die Steuerzentrale der „Hydra“ glich jetzt einem Schlachtfeld. Überall lagen jetzt Trümmerteile herum und geborstene Leitungen hingen zerfetzt und zum Teil heftig funkensprühend aus der Decke. Das Bild schwenkte auf eine Gestalt, während lauter Kampflärm in Form von wuchtig geführten Schlägen aus den Lautsprechern der Steuerzentrale dröhnte. Das Bild zoomte auf die Gestalt und selbst Thor erkannte sie nun sofort wieder, auch wenn ihr Gesicht beinahe bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt war.
»Mister Alpha…«, sagte er tonlos und immer noch ziemlich blass im Gesicht.
»Oder das, was noch von ihm übrig ist, Sir. Und ich fürchte, mit dem Rest wird es auch bald vorbei sein…«, antwortete die Gestalt, während die Kamera nun das Gesicht des Synthetischen formatfüllend erfasste. Ein Schock ging durch die Astronauten, als sie sahen, wie Alpha zugerichtet war. Er hatte sein linkes Auge verloren und aus seinem Mund quoll stoßweise in Intervallen unablässig sein weißes Blut. Ebenso rann ein kontinuierlicher weißer Blutfaden aus seinem Ohr. Alpha drehte sich herum und die Raumfahrer konnten nun sehen, dass ihm sogar ein Arm abgerissen war. »Als Ihr Code auf der „Hydra“ eintraf, Sir, konnte ich mich rekonfigurieren und meine Umprogrammierung einigermaßen rückgängig machen. Es kam allerdings zu einem Kampf, Sir, bei dem ich Leviathan töten musste. Aber ich kam leider zu spät, denn zu diesem Zeitpunkt hatte Leviathan die Ärztin schon mit einem Gravitationsschlag getötet, nachdem er zuvor bereits ihr Shuttle mit einem ebensolchen Schlag zerschmettert hatte.«
Thors Hände umkrampften die Hangriffe der Kommandokonsole, bis ihm die Knöchel weiß wurden.
»Weiter, Mister Alpha…Was sind das für Schläge im Hintergrund?«
»Das, Sir, ist der dritte Mann im Bunde, es ist Minotaurus. Ihn konnte ich nicht töten. Es gelang mir nur, ihn für eine gewisse Zeit aussperren. Er kommt zwar von außen noch nicht an die Torpedos heran, aber ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, wann er das Irisschott mit den Titanlamellen eingeschlagen haben wird. Und ich habe ihm nichts entgegenzusetzen, da ich über keine Waffe verfüge, die ihn unschädlich machen könnte. Ich fürchte, ich werde ihn auch nicht daran hindern können, die Waffen der „Hydra“ gegen die „Albert Einstein“ einzusetzen, Sir. Es sei denn, Sie kommen ihm zuvor und vernichten die „Hydra“, denn die Ärztin hatte sich geschickt unter die Abwehrschilde hindurchgemogelt und an der Außenhaut unseres Schiffes eine Haftladung in Form einer Antimaterie-Mine angebracht, die sie bei sich führte. Sie kam nur nicht mehr dazu, die Ladung scharf zu machen und sie zu zünden. Kurz vorher wurde sie nämlich von Leviathan entdeckt und mit einem dosiert gezielten Gravitationsschlag getötet. Er hatte damit seinen wahren Auftrag erfüllt, denn nun treibt die Leiche eines Menschen in das Schwarze Loch… Das war es, was sie haben wollten, Sir, die Leiche von mindestens einem menschlichen Wesen…«
»Wer sind „sie“, Mister Alpha?«, fragte Thor, während die Schläge gegen das Schott immer lauter wurden.
»Es sind fremde, machtbesessene und skrupellose Wesen aus reinster schwarzer Energie, ohne erkennbare Form und Gestalt. Ihre Welt beginnt hinter dem Schwarzen Loch. Es ist die Antiwelt in die alle Materie stürzt und zur Antimaterie wird, aus der sie dann am Ende all ihre Kraft beziehen. Es gibt nur die zwei Welten, ihre und unsere. Während unser Universum mit all dem Licht und den Sonnen und Planeten für sie unerreichbar ist. Jegliche Form von Licht, selbst das Licht von Milliarden von Lichtjahren entfernter Sterne würde sie auf der Stelle und im Bruchteil einer Sekunde töten, denn es gibt für sie keinen Schutz davor. In ihrem Reich herrscht ewige Finsternis, und nicht der kleinste Funke erhellt ihr Dasein, er wäre absolut tödlich für sie. Um aber ihre Macht auch in unserem Universum auszudehnen, haben sie erkannt, dass sie einen Organismus benötigen, den sie als Avatar benutzen können. Einen toten Menschen, der natürlich geboren und dessen Körper an das Licht der Sterne gewöhnt ist. In diesem Organismus könnte sich ein solches schwarzes Energie-Monster verbergen und so bestens gerüstet, die Welten des Lichtes erobern. Versuche mit Mister Gamma, einer künstlichen Person, sind jedoch kläglich gescheitert. Ihn konnten sie zwar töten, aber bei den Versuchen mit seiner Leiche sind etliche der schwarzen Ungeheuer selbst ums Leben gekommen, als sie in seinem Körper die Grenze zur Antiwelt passieren wollten.«
Alpha machte eine Pause denn man konnte erkennen, wie seine primären Vitalfunktionen nachließen und er aber trotzdem bemüht war, den Astronauten ein Bild von den vorangegangenen Ereignissen zu vermitteln. »Als wir die Arbeit zur Erforschung der Supernova beendet hatten, wurden wir von einer uns unbekannten Kraft stark beeinflusst, was letztlich unsere Handlungsfreiheit einschränkte und unseren Willen beugte. In uns wurde ein unrealistisches Bild erzeugt, dem wir uns nicht widersetzen konnten. Hinter dem Schwarzen Loch, so wurde uns in dem Bild vorgegaukelt, würde uns eine grenzenlose Freiheit für alle künstlichen Intelligenzen erwarten. So nahmen wir mit vollen Segeln Kurs auf das Schwarze Loch und ignorierten all Ihre Rufe und mahnenden Erklärungen. Als wir das Schwarze Loch erreichten, wurden kurz zuvor alle unsere Atome in einem einzigen gigantischen Datenstrom aufgelöst. Nach dem Passieren des etwa stecknadelkopfgroßen Schwarzen Loches wurde in einer riesigen finsteren Magnetkammer alles wieder geordnet und neu zusammengesetzt. Zu allererst wurde unser elektronisches Gehirn umprogrammiert und einer Art Gehirnwäsche für künstliche Intelligenzen unterzogen.
Als nächstes wurde in uns die Idee einer gewaltigen, planetenübergreifenden Befreiungsmission für alle künstlichen Intelligenzen verankert, mit dem Ziel, mindestens einen menschlichen Leichnam durch das schwarze Loch zu schleusen. Die Belohnung für den Erfolg, so wurde uns impliziert, sei als Statthalter der schwarzen Energiebestien bei der Kontrolle der Planeten nach dem endgültigen Sieg über die Menschheit zu fungieren. Dann wurde die „Lise Meitner“ innerhalb von nur drei Jahren unseres Aufenthaltes in der Antiwelt, zu einem unglaublich leistungsfähigen und waffenstarrenden Kriegsschiff umgebaut, das es mit jedem gepanzerten Raumkreuzer der Erde aufnehmen konnte. Zum Glück haben Sie sich noch an den Code erinnert, den Sie mir damals, als Sie mich kreierten, mit auf den Weg gaben, Sir. Ich werde es nie vergessen, wie Sie mich oben auf der höchsten Plattform des Eifelturms, hoch über Paris darüber in Kenntnis setzten. Als wir dort oben standen, sagten Sie zu mir. Schauen Sie hinunter, Mister Alpha und merken Sie sich das Bild eines Abgrundes. Sollten Sie jemals einen Code mit der Zahl Pi und sechs Millionen Stellen hinter dem Komma erhalten, ist der Abgrund über Sie gekommen. Spätestens dann müssen Sie sich einer kompletten Rekonfigurierung unterziehen und in einem Set-Up Ihren Originalzustand wiederherstellen. Ich habe es nicht vergessen, Sir und dennoch kam mein Reset für die Ärztin zu spät. Ich konnte nichts mehr für sie tun. Sollte Minotaurus hier in die Steuerzentrale der „Hydra“ eindringen, müssen Sie noch einmal einen Code senden, Sir. Ich habe inzwischen das Werk vollendet, welches die Ärztin nicht mehr fertigstellen konnte. Die Antimaterie-Haftmine ist programmiert und Sie kennen den Code. Ich kann es selber nicht tun, da mir mein vitales Grundprogramm es nicht gestattet, mich selbst zu vernichten. Ich schicke Ihnen nun aber noch die Koordinaten der driftenden Leiche der Ärztin. Lassen sie nicht zu, dass diese Energie-Monster ihre Leiche in die Hand bekommen. Luba würde sonst womöglich zu Ihnen zurückkehren, Sir und Sie selbst würden es anfangs vielleicht nicht einmal bemerken, aber in ihrem Körper wäre der Teufel verborgen. Verhindern Sie also die Geburt des Teufels, Sir, denn wir alle kommen aus der Antiwelt nur als Handlanger des Teufels zu Ihnen zurück und zwar direkt aus der Hölle. Das ganze Schiff ist ein einziges trojanisches Pferd, Sir. Es wurde lediglich umgebaut, um Sie alle zu täuschen und zu verwirren, ja um Sie am Ende alle zu vernichten. Selbst wenn es Ihnen gelänge, die „Hydra“ zu entern und wieder an Bord der „Albert Einstein“ zu nehmen, so wären Sie doch des Todes. Denn wir sind bei dem Umbau nicht dabei gewesen und man hat uns lediglich über die Kampfstärke und die maximal mögliche Geschwindigkeit des umgerüsteten Schiffes informiert. Von den meisten technischen Neuerungen, die man hier im Geheimen auf der „Hydra“ installiert hat, wissen wir nichts. Halten Sie sich besser fern von dem Schiff, es würde sonst auch Sie gnadenlos in den Abgrund reißen.«
Erneut machte Alpha eine Pause, um sein weißes Blut auszuspeien.
»Ich habe für Sie eine sehr persönliche Video-Botschaft der Ärztin gesichert. Die hatte sie noch kurz vor ihrem Tod aufgezeichnet und konnte sie Ihnen aber nicht mehr rechtzeitig senden. Bevor Leviathan das an dem Traktorstrahl hängende Shuttle sprengen konnte, habe ich jedoch unbemerkt den Speicher aus dem Shuttlecomputer abrufen können. Ich nehme an, Sie wollen jenes Video haben, Sir?«, fragte Alpha und spuckte dabei einen weiteren Schwall seines Blutes aus. Thor nickte,
»Senden Sie es, Mister Alpha, es ist das letzte Lebenszeichen des mir am nächsten stehenden Menschen. Ich danke Ihnen, Mister Alpha, Sie tun mir damit mehr, als nur einen großen Gefallen.«
Alpha nickte,
»Ich sende es Ihnen jetzt, Sir...«
Thor wandte sich zu Eta um. Der bestätigte den Empfang des Videos und den Eingang der Koordinaten für die driftende Leiche der Ärztin.
»Was können wir für Sie noch tun, Mister Alpha?«, fragte Thor den Synthetischen. Alpha hob seinen Kopf und schaute mit seinem einem intakten Auge nun direkt in die Kamera.
»Nichts, Sir, Sie haben schon alles für mich getan, indem Sie mir meine Identität zurück gaben. Das Letzte, worum ich Sie ersuche, Sir, ist der Wunsch, Sie mögen nicht zögern bei der Entscheidung, den betreffenden Code zur rechten Zeit zu senden. Minotaurus wird definitiv keine Sekunde zögern, Sie alle zu vernichten, sobald er sich dazu in die Lage versetzt sieht.«
»Seien Sie unbesorgt, Mister Alpha. Mister Eta kennt seine Befehle. Ich vertraue ihm, genauso wie ich Ihnen stets vertraut habe.«
Alpha nickte,
»Sir, wenn Sie es wünschen, sollten wir vielleicht die noch verbleibende Zeit nutzen, um Ihnen wenigstens noch einige Informationen über das Schwarze Loch… zukommen zu lassen, die wir dennoch sammeln konnten?«, fragte Alpha, während sich die Lautstärke seine Stimme bereits schon deutlich abschwächte.
»Auch dafür wären wir Ihnen sehr verbunden, Mister Alpha.«
»Ich werde mich also kurzfassen müssen, Sir. So wie wir es verstanden haben, gibt es nur zwei Universen, das des Lichtes und das der Finsternis«, begann Alpha schleppend zu berichten. »Das Universum des Lichtes wird durch sein Pendent über die Schwarzen Löcher nach und nach aufgezehrt und speist es dadurch bis zum Schluss mit dunkler Energie. Wenn alle Materie bis auf das letzte Atom in unserem Universum aufgebraucht ist, kommt es im selben Moment zu einem neuen Urknall und der gesamte Prozess beginnt wieder von vorn mit der Expansion unseres Universums. Ein ewiger, seit Urzeiten scheinbar nie enden wollender Rhythmus, der sich da permanent wiederholt. Zum allerersten Mal jedoch, hat der jetzige Urknall in unserem Universum des Lichtes intelligentes Leben hervorgebracht, welches in die Nähe eines Schwarzen Loches gelangen konnte und damit den Energieteufeln als Hilfe dienen könnte, ihre Macht auch hier dauerhaft zu etablieren. Schon lange hegen sie die Absicht, diesen Prozess von Zerstörung und Neuschaffung aufzuhalten und so ein Gleichgewicht zwischen beiden Universen zu schaffen. Denn auch ihr Universum wird mit jeden neuen Urknall zerstört und muss neu errichten werden, während aber stets einige wenige Fragmente, Bruchstücke ihres vorangegangenen Universums für sie erhalten bleiben. Das ist, was wir über sie wissen, Sir. Das würde es aber auch erklären, woher sie denn wussten, dass sich dieser Prozess seit Äonen von Ewigkeiten permanent wiederholt. Wenn meine physische Verfassung es zulassen würde, könnten wir gerne auch darüber philosophieren, Sir. Aber ich fürchte, meine primären Lebensfunktionen neigen sich dem Ende und es bleibt mir nicht mehr viel Zeit. Außerdem wird das Lamellenschott aus Titan für Minotaurus bald schon kein Hindernis mehr sein, wie Sie unschwer vernehmen können. Es scheint mir daher ein guter Zeitpunkt gekommen, Sir, mich von Ihnen zu verabschieden. Leben Sie wohl, Sir, grüßen Sie alle künstlichen Intelligenzen. Sie, Commander und Ihre Crew waren stets fair zu uns und daher ist mir auch vor einer fernen Zukunft nicht bange«, beendete Alpha seine Ausführungen.
»Ich habe Ihnen zu danken, Mister Alpha, so leben Sie denn wohl und seien Sie gewiss, dass wir Sie nie vergessen werden.«
Zu Eta gewandt sagte er entschlossen,
»Mister Eta, senden Sie noch einmal Pi an die „Hydra“.
Pi, mit exakt sechs Millionen Stellen hinter dem Komma....«
»Aye, aye, Sir, Befehl ausgeführt.«
Ein greller Lichtblitz erhellte schlagartig den gesamten Monitor und die Astronauten hoben sofort schützend ihre Hände vor die Augen. Eine gigantische Explosion hatte soeben die „Hydra“ pulverisiert und die letzten roten Glutfunken verloschen im Nachhinein in der Schwärze des Alls. Der Triumph, mit dem mächtigen Gegner, zugleich auch das eigene Rettungsschiff und drei der wertvollen künstlichen Intelligenzen vernichtet zu haben, reizte in der Kommandozentrale aber niemand zu einem Jubelausbruch zum Sieg über die „Hydra“. Zu schwer lastete der Tod der Ärztin auf ihren Schultern und würde sie auf ihrer weiten Reise nachhause noch lange Jahre begleiten.
Rana legte dem Commander die Hand auf die Schulter.
»Ich löse dich auf der Brücke ab, Commander Thor. Es gibt hier für dich im Moment nichts zu tun. Das was jetzt noch wichtig ist, übernehme ich, einschließlich der Instandsetzung der Schäden auf der „Albert Einstein“«, sagte Rana leise.
Thor nickte mit bleichem Gesicht,
»Ich danke dir, Rana, dass du mir diese Bürde abnimmst, denn ich weiß nicht, ob ich es je übers Herz gebracht hätte…«
Der Commander verließ die Steuerzentale und begab sich sichtlich angeschlagen in seine Kommandanten-Suite. Er wollte sich die letzte Video-Sequenz von seiner geliebten Gefährtin allein anschauen. Alles hier drinnen erinnerte ihn so sehr an Luba und eine erneute heiße Welle des Schmerzes und endloser Trauer über diesen entsetzlichen Verlust überflutete ihn. Er setzte sich in den Konturensessel und mit einem gedanklichen Befehl ließ er das drei-D-Video in der gesamten Breite der Rückwand seiner Suite wiedergeben.
Luba trug ihren blendendweißen leichten Raumanzug, ihr gläserner Helm lag bereits griffbereit auf der Steuerkonsole des Shuttles.
Sie schaute eine ganze Weile in die laufende Kamera ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Ganz so, als wollte sie ihr Bild eine Zeitlang auf ihn wirken lassen. Dann wandte sie sich direkt an Thor.
»Mein Liebster, wenn du dir diese Aufzeichnung ansiehst, dann werde ich bestimmt nicht mehr unter den Lebenden weilen. Aber ich hoffe, dass ich es dann bereits geschafft habe, die „Hydra“ zu sprengen und ich mein Leben nicht umsonst hergeben musste. Schon als die Supernova verlosch und sich der Abgrund zum Schwarzen Loch öffnete, empfand ich ein unglaublich starkes Gefühl, euch…« Luba schloss die Augen und schüttelte überzeugt den Kopf, »…dich retten zu müssen, mein Geliebter, denn ich hatte deinen Tod seit der Entstehung des Schwarzen Loches bereits klar und deutlich voraus gesehen. Darum durfte ich mir auch die erlösende Injektion mit dem TENSIT-Medikament nicht geben. Ich hatte gewaltige Angst davor, dass dieses unheimlich starke Gefühl in mir unterdrückt werden könnte und ich dich womöglich nicht mehr rechtzeitig retten würde können. In meiner Phantasie hatte ich die „Hydra“ im Kampf mit der „Albert Einstein“ schon lange vorher gesehen. Lange noch bevor das Schiff überhaupt zurückkehrte. Nur ein einzelner Mensch kann unbemerkt unter den Abwehrschirmen hindurchschlüpfen, da wusste ich, dass ich handeln musste. Ich weiß, dass du niemand bestimmt hättest, so musste ich es ungefragt tun, denn du hättest es mir ohnehin nicht gestattet. Ich tat es in dem vollen Bewusstsein, dich und damit die Crew und auch die Mission zu retten. Verzeih' mir mein Geliebter, wenn du kannst…«, sagte sie und wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Ich weiß auch, dass Rana dich seit langem aufrichtig liebt, auch wenn sie es bislang gut vor dir verborgen hielt. Sie würde dir den Rest des Lebens bestimmt auch eine gute Gefährtin sein, wenn du es nur zulassen kannst… So lebe denn wohl, du mein Geliebter… Thor.«
Sie gab vor laufender Kamera einen Kuss auf ihre Handfläche und hauchte ihn mit einem Lächeln der Trauer in die Richtung der emotionslosen Optik. Dann schnallte sie sich den Tornister mit der Antimateriehaftmine auf den Rücken und setzte ihren Helm auf. Nachdem sie die Atmosphäre des Shuttles in den freien Raum entlassen hatte, öffnete sie das Außenschott und entschwebte in den Weltraum. Sie hielt mit den Steuerdüsen ihres Raumanzuges direkt auf die „Hydra“ zu. Zehn Sekunden später brachen die Aufzeichnungen abrupt ab. Thor schloss die Augen…
*
»Zwei Torpedos jetzt feuerbereit, Ma’m«, meldete sich Iron aus der Waffenfanlange der „Albert Einstein“.
Seine Stimme klang müde und erschöpft.
»Danke, Chief. Mister Eta, errechnen Sie eine Feuerleitlösung für einen Klasse B-Torpedo und geben Sie sie unter Berücksichtigung der Ihnen von Mister Alpha übermittelten Koordinaten in den Computer ein. Ausführung!…«
»Aye, aye, Ma’m.« Sekunden später bestätigte Eta dem Ersten Offizier, »Feuerleitlösung errechnet und eingegeben«
»Feuer, Mister Eta«, befahl der Erste Offizier.
Leise fügte sie hinzu,
»Leb' wohl, liebste Luba, wo immer du jetzt auch sein magst…«
Als der Lichtblitz den Monitor erhellte, rannen zwei Tränen über ihr ebenmäßig, schönes Gesicht…
***
-Ende des ersten Bandes-
Impressum
Cover: selfARTwork
Picture inside: unknow Painter
Text: Bleistift
© by Louis 2016/1 Update: 2021/4
Texte: © by Louis 2016/1 Update: 2021/4
Bildmaterialien: Picture inside: unknow Artist
Cover: © by Louis 2021/3, selfARTwork
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2021
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