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Die Ansprache des Bergführers

Basislager I

 

»Ladys and Gentleman, liebe Touristen-Bergsteiger. Ihnen allen gebührt ein überaus herzliches Willkommen in einer der lebensfeindlichen Regionen unseres Planeten. Wir werden also in Kürze damit beginnen, nach dort oben aufzusteigen. Ich freue mich, dass Sie es wenigstens alle pünktlich bis hier her, an den Fuß des Berges geschafft haben. Aber ich weiß auch, dass es niemals alle von Ihnen bis ganz hinauf auf den Gipfel schaffen werden. Etliche werden dann sicher vorher schon vor Erschöpfung und totaler Entkräftung wieder umgekehrt sein oder aber…

Nun, doch soweit wollen wir in diesem Moment besser noch nicht denken…

Natürlich hoffe ich jedes Mal, dass ich auch exakt die gleiche Anzahl von Personen nach dem Abstieg ordnungsgemäß wieder zurückmelden kann. Darum bekommt jetzt ein jeder von mir eine Nummer in Form einer Blechmarke, die er jederzeit stets bei sich tragen sollte, damit wir nach dem Abstieg nicht die Übersicht verlieren. Wenn Sie alle meine Anweisungen bedingungslos befolgen, dann wird, so Gott will, möglicherweise auch niemandem etwas passieren. Denken Sie immer daran, auch wenn es jetzt das schönste Wetter ist, das kann sich am Berg jederzeit, von jetzt auf gleich, in sein extremes Gegenteil verkehren. Diejenigen unter Ihnen, die es dann aber mit Gottes Hilfe geschafft haben, werden für Ihre 20.000,- US Dollar Entrée am Ende mit einer wunderschönen Aussicht vom Gipfel belohnt. Wenn Sie denn je das unverschämte Glück erleben sollten, diese nur etwa knapp zwei Quadratmeter große Fläche zu betreten, um die es hier eigentlich geht.

Bleiben Sie daher möglichst immer alle in Ihrer Marschformation angeseilt. Vor allem, machen Sie rechtzeitig von den mitgeführten Atemmasken mit den Sauerstoffflaschen ausgiebigen Gebrauch, denn auf der höchsten aller Mülldeponien weltweit wird es zwar nicht unbedingt widerlich stinken, dafür wird aber die Luft in dieser extremen Höhe so unglaublich dünn werden und jeder Ihrer verdammten Atemzüge wird Ihnen mit brutaler Härte messerscharf in die Brust stechen, dass Sie sich bald wünschten, niemals geboren zu sein. Ist ja irgendwie auch verständlich, da Ihr Körper die ganze Zeit über unter einem extrem starken Sauerstoffmangel leiden wird.

Trinken Sie bitte auch viel Wasser oder Tee. Auf jeden Fall aber deutlich mehr, als Sie tatsächlich glauben, trinken zu müssen. Denn Sie dehydrieren in dieser Höhe unwahrscheinlich schnell, was hier oben jedoch sehr rasch zu einem vorzeitigen Organversagen und damit zu Ihrem vorzeitigen Ableben führen kann. Sie müssen nämlich jeden Tag mindestens einen Liter Urin von hellgelber Farbe abgeben. Ist die Farbe zu dunkel oder die Menge an Flüssigkeit zu gering, dann trinken Sie eindeutig zu wenig. Versuchen Sie durch kräftige und vor allem permanente Bewegung sicherzustellen, dass Ihnen niemals Ihre Finger oder Zehen erfrieren. Das sind nämlich die Körperglieder, die von Ihrem Blutkreislauf am schlechtesten mit Blut versorgt werden können, selbst wenn Ihr Herz unter Volllast läuft und seien Sie versichert, das wird es. Doch zurück zu den erfrorenen Gliedmaßen. Erst werden sie rot, dann taub, dann weiß und ganz zum Schluss dann kohlrabenschwarz. Sollte es allerdings so weit gekommen sein, dann haben Sie definitiv das Endstadium eines Gefrierbrandes erreicht und nach Ihrer erfolgreichen Rückkehr müssen Ihnen diese völlig verkohlten Glieder auch zwingend und unverzüglich amputiert werden.

Es folgt nun ein weiterer, absolut überlebenswichtiger und wohlgemeinter Rat. Vergessen, verlegen oder verlieren Sie bitte auch niemals Ihre eigene Sonnenschutzbrille, denn selbst nach wenigen Minuten ohne dieses schützende UV-Glas könnten Sie bereits vollkommen schneeblind sein und Ihre persönliche Überlebenschance sinkt damit rapide auf unter 50 %, besonders in den höheren Regionen. Und fragen Sie bitte nicht, ob der Sherpa, das ist der einheimische Träger, der Ihnen Ihre Ausrüstung für Sie in diese eisige Höhe schleppen wird, ob der Ihnen seine Schutzbrille nicht mal leihweise zur Verfügung stellen kann, Ihre sei momentan leider nicht verfügbar. Vergessen Sie es! Er selber besitzt nämlich auch nur diese eine.

Verlassen Sie bitte auch niemals diesen äußerst schmalen Trampelpfad, auf dem wir uns bewegen müssen. Ein jeder tritt bitte möglichst immer in die Fußstapfen seines Vordermannes. Seien Sie sich bitte aber stets bewusst, dass jeder ungewollte Fehltritt auch nur eines einzigen Crew-Mitgliedes, durch eine fatale Verkettung unglücklicher Umstände, zum Absturz Ihrer gesamten Seilschaft führen könnte.

Verspürt jemand von Ihnen ein außergewöhnlich dringendes Bedürfnis, so werden Sie wohl oder übel damit warten müssen, bis Ihre Seilschaft ein dafür geeignetes Plateau erreicht haben wird. Erledigen Sie aus verständlichen Gründen möglichst rasch, was Sie gedenken, tun zu müssen und bleiben Sie während der Verrichtung Ihres unvermeidlichen Geschäftes trotzdem immer in ständiger Sicht- und Rufweite zu Ihrer Seilschaft. Es könnte für Sie quasi in der Tat überlebenswichtig sein, denn nur der ständige Kontakt zur Ihrer Seilschaft garantiert Ihnen an diesem unwirklichen Ort eine deutlich erhöhte Rate einer wahrscheinlichen Heimkehr.

Für die Frauen gilt, es gibt hier kein schützendes Gebüsch und der Schritt um den nächsten Felsgrat herum, könnte möglicherweise auch Ihr letzter gewesen sein, denn niemand wird Ihnen helfen können, wenn Sie urplötzlich abrutschen oder ausgleiten. Man wird bei Ihrem Absturz wahrscheinlich nicht einmal mehr Ihren allerletzten Schrei vernehmen. Sie sind in diesem Fall einfach nur nicht mehr dabei. Und bitte glauben Sie mir meine Damen, Sie wären damit dann gewiss auch nicht die Erste, die hier oben für alle Ewigkeit verschwunden bliebe. Und für die Herren gilt, je länger Sie Ihrem kleinen Mann in dieser eisigen Hölle die große Welt zeigen, umso eher wird er Ihnen ganz sicher abfrieren. Er hat nämlich diesem eisigen Wind und dieser unglaublich extremen Kälte buchstäblich nichts entgegenzusetzen. Kurzum Gentleman, operieren Sie während Ihrer Verrichtung bitte immer in Richtung Lee, also ausschließlich in die, der windabgewandten Seite. Noch eins, nach den neuesten gesetzlichen Bestimmungen verlangen die Behörden, dass Sie Ihre persönlichen Exkremente wieder mit  ins Tal zurückbringen, da nichts mehr davon auf dem Berg bleiben darf. Es könnte bei Nichtbefolgung der Vorschriften also leicht zur Verdopplung Ihres bereits vorab bezahlten Reisepreises führen. Daher packen Sie ruhig zu beim Einsammeln Ihrer eigenen Hinterlassenschaften, denn bereits nach weniger als zwei Minuten sind diese hier oben nämlich steinhart gefroren. Sollten Sie dabei zimperlich sein, verspreche ich Ihnen, die Behörden unten im Tal sind es garantiert nicht. Denken Sie dabei einfach an zu Hause und an Ihren Hund. Dies hier ist allerdings wesentlich unkomplizierter. Ladys und Gentleman, gezieren Sie sich also bitte nicht bei Ihrem notwendigen Geschäft, denn nach wie vor gilt, in der Einsamkeit dieser Höhe sind wir alle nur sächlichen Geschlechts... 

Ab etwa 7.500 Höhenmetern beginnt die sogenannte Todeszone am Berg. Eine Rettung aus dieser Höhe heraus, ist leider kaum mehr möglich und daher auch sehr unwahrscheinlich. Wenn Sie also oberhalb dieser Region, aus welchem Grund auch immer, schlapp machen sollten, muss die Seilschaft Sie leider unverrichteter Dinge zurücklassen und Sie sind auf Gedeih und Verderb auf sich allein gestellt. Machen Sie in diesem eher ungünstigen Fall das Beste daraus und versuchen Sie dann einfach auf eigene Faust das schier Unmögliche. Es wird mit Sicherheit die größte Herausforderung Ihres Lebens werden. Unternehmen Sie aber nichts, sind Sie möglicherweise schon nach wenigen Minuten, spätestens aber nach einer halben Stunde, ganz sicher erfroren. 

Sie werden auf dem Weg nach oben oder auch auf dem Rückweg links, oder rechts des ausgetretenen Pfades höchst wahrscheinlich einige längst mumifizierte Leichen oder skelettierte Teile davon entdecken. Etwa 243 Opfer sind es bis jetzt leider schon, so versuchen Sie bitte niemals, diese zu bergen. Sie sind erstens dafür nicht ausgebildet und zweitens sind all diese Männer und Frauen schon lange tot, niemand wird sie je mehr bergen oder auch nur begraben können. Und last but not least, allein schon bei diesem wirklich aussichtslosen Versuch würden Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit viel eher in einer Mülllavine mit in die Tiefe abgehen, als von alleine auf den ohnehin schon unsicheren Trampelpfad zurückfinden. Machen Sie daher lieber ein Foto von dem Verunglückten und merken Sie sich die Stelle. Das erleichtert später die Zuordnung der Leiche zu einer der bereits vorangegangenen Expeditionen. Ich erspare es mir, Ihnen nun die bekannten Fotos zu zeigen, die bis jetzt von all den Toten dort oben am Berg gemacht worden sind. Das können Sie sich alles nach Ihrer erfolgreichen Rückkehr im Internet selbst anschauen und später dann mit Ihren eigenen Bildern vergleichen, die Sie privat da oben geschossen haben werden. Nebenbei, das Fotografieren am Berg ist den Touristen ausdrücklich erlaubt. Nach Ihrer geglückten Rückkehr in die Basisstation bitte ich Sie jedoch, eine kleine Foto-Gebühr dafür zu entrichten, denn die ist leider in ihrem AI-Preis nicht enthalten. Ach und zum Schluss noch eins, wenn Sie das kleine Plateau da oben auf dem Dach der Welt erreicht haben, bitte schreiben Sie besser nicht in das Gipfelbuch,

»...Goofy war hier...«

Dies wäre etwas pietätlos gegenüber all denjenigen, die es nicht mehr bis nach unten geschafft haben. Unten im Tal können Sie zum Abschluss der Tour dann noch eine Postkarte mit Ihrem Konterfei für Ihre Angehörigen daheim, käuflich erwerben. Darauf wird dann in Ihrer jeweiligen Landessprache stehen,

...Ich war in der eisigen Hölle des Grauens, in 8848 Meter über NN, auf dem Gipfel des Mount Everest…

Alles klar? Okay, auf geht’s und möge Gott Sie schützen, Sie und Ihr obskures Hobby…«

 

 

 

 

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Cover: selfARTwork

Coverpicture: Wikipedia

Text: Bleistift

© by Louis 2014/9     Update: 2021/4

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Texte: © by Louis 2014/9 Update: 2021/4
Cover: selfARTwork 2021/4
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2021

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