Kapitel 2
Am nächsten Morgen saß Sherlock Holmes in einen dunkelbraun-karierten Morgenmantel gekleidet, an seiner Pfeife rauchend in seinem Schaukelstuhl und las andächtig in einem dicken Buch. Mrs. Hudson, die gute Seele des Hauses in der Baker Street 221 b, hatte für die beiden Detektive gerade eben den Morgentee serviert und begrüßte den in diesem Moment eintretenden Doktor Watson mit einem wohlwollenden Lächeln. Während Holmes sich mit einem mehr oder weniger undeutlichen Knurren durch die Zähne für den aromatischen Tee bei Mrs. Hudson bedankte, ohne dabei jedoch nur einmal den Blick aus seinem Buch oder auch nur seine geliebte Tabakspfeife aus dem Mund zu nehmen.
Als Mrs. Hudson die Treppe wieder hinabstieg, wandte sich der Kriminalist ebenfalls ohne aufzublicken an seinen vertrauten Freund,
»Mein lieber Watson, was wissen Sie vom Gerben?«
M.D. Watson trat einen Schritt näher an den in seinem Buch vertieften Detektiv heran und versuchte mit schiefgehaltenem Kopf den Text auf dem Buchrücken des Buches zu entziffern, in welchem Holmes gerade so intensiv las. »Sie sollten nicht auf den Buchdeckel starren, Watson, sondern mir lediglich meine Frage beantworten«, fuhr der Detektiv ungerührt und ohne aufzusehen fort. Dr. Watson streckte sich etwas und legte die Hände auf den Rücken. Er mochte es eigentlich überhaupt nicht, zu so früher Stunde schon von Holmes examiniert zu werden und so fasste er sich möglichst kurz,
»Ähm‘ ja, Ihnen auch einen guten Morgen, mein lieber Holmes. Tja, also was wissen wir vom Gerben? Ein ziemlich aufwendiger, komplizierter mechanischer, wie auch chemischer Prozess, welcher sich mit der dauerhaften Haltbarmachung von Tierhäuten bei der Leder- oder Pelzherstellung beschäftigt. War übrigens schon seit der Antike bekannt und ist im Allgemeinen auch recht gesundheitsschädlich, sowohl für den Gerber, als auch schlecht für das Umfeld, aber warum fragen Sie mich das alles, alter Knabe?«
Sherlock Holmes nickte anerkennend,
»Respekt, ich wusste, dass ich mich auf Ihr Wissen und Ihr gutes Gedächtnis verlassen kann, mein lieber Watson. Ihnen also auch einen guten Morgen, ach und nehmen Sie doch Platz und genießen Sie Ihren Earl-Grey-Tee, welchen Mrs. Hudson gerade serviert hatte, bevor er am Ende noch ganz kalt wird, denn wir beide haben heute noch eine Menge vor.«
John Watson nahm schweigend Platz und griff nach seiner weißen Porzellantasse, in welcher der heiße Tee noch immer dampfte.
»Und bevor Sie mich noch mehr fragen, wir müssen anschließend sogleich in die Morgue aufbrechen und hören, ob Dr. Webster, dieser quecksilbrige Coroner seiner Majestät, inzwischen noch etwas Wichtiges über den Tod dieses bedauernswerten Mädchens herausgefunden hat.« Watson wandte sich nun mit seiner Teetasse in der Hand kopfschüttelnd an seinen Kollegen,
»Also ehrlich, Holmes, ich fürchte, ich habe eigentlich auch nichts anderes von Ihnen erwartet...«
»Nun spannen Sie uns doch nicht so auf die Folter, Webster. Was ist es, was Sie noch herausgefunden haben«, drängte Sherlock Holmes den Pathologen und auch Inspektor Lestrade rollte schon mit den Augen, als sich der Coroner wie üblich erst einmal in Schweigen hüllte und mit wehendem weißen Kittel durch die spärlich beleuchteten Kellergänge der Morgue schritt,
»Nur Geduld, Gentleman, Sie werden es gleich zu sehen bekommen und dann natürlich auch verstehen, Mr. Holmes. Und nicht so eilig, denn schließlich habe ich die ganze restliche Nacht daran setzten müssen, nur um Ihre unersättliche Neugier befriedigen zu können«, blaffte der kleingewachsene, dünne Mann mit dem grauen Spitzbärtchen und dem Kneifer auf der Nase. Dann öffnete er rasch die dunkelblau gestrichene massive Holztür zu der gekühlten Totenkammer. Ein modriger Geruch schlug den vier Männern dennoch entgegen und auf dem Seziertisch in der Mitte der Kammer lag das weibliche Mordopfer aus der letzten Nacht, abgedeckt mit einen weißen Tuch…
»Sehen Sie hier…«, der kleine Mann fegte um die Leiche der jungen Frau herum und zog das Tuch von ihrem grässlich verstümmelten Körper herunter. Er wies mit dem Finger auf eine winzig kleine Einstichstelle am Hals des Opfers. »Hier ist ihr eine Chemikalie injiziert worden, die sie vollständig sedierte, während man ihr in aller Ruhe das hier antuen konnte«, sagte er und deutete mit beiden Händen auf das massakrierte Opfer. »Mit anderen Worten, sie hat alles sehr genau mitbekommen, was mit ihr angestellt wurde, ohne dass sie auch nur den kleinsten Finger dabei rühren konnte. Und letztlich ist sie daran auch verblutet…«
»Wahnsinnige Barbaren…«, brummte John Watson und wandte sich erneut angewidert, kopfschüttelnd ab.
»Und diese Chemikalie? Die interessiert mich als Chemiker natürlich ganz besonders, wie Sie sich gewiss denken können«, hinterfragte der Detektiv die Antwort des Pathologen. Der Coroner jedoch nickte verstehend,
»Deren Namen wir zwar noch nicht kennen, wohl aber seit kurzem ihre chemischen Bestandteile, als auch die fatale Wirkung, die sich an dem jeweiligen Opfer damit erzielen lässt. Bei entsprechender Dosierung macht es das Opfer absolut bewegungsunfähig und somit auch völlig wehrlos. Es kann nicht einmal mehr vor Schmerzen schreien, obgleich es diese grässlichen Schmerzen als solche ganz sicher wahrnimmt. Ferner kann sich das Opfer leider auch später nicht mehr an das erinnern, was ihm in der Zwischenzeit widerfahren ist. Zum Glück für sie ist dieses arme Kind hier jedoch nicht mehr davon erwacht, weil sie zwischenzeitlich an den schlimmen Folgen ihrer fürchterlichen Verletzungen verblutet ist«, konstatierte der Pathologe. »Sie ist übrigens länger vorher schon mehrfach richtig übel zugerichtet worden, wie man unschwer an den unterschiedlichen Hämatomen erkennen kann«, ergänzte er und wies auf die verschiedensten blauen und lilafarbenen Flecken an ihrem Körper hin. Diverse Rippenbrüche und ein gebrochenes rechtes Schlüsselbein rundeten das Erscheinungsbild der Leiche dieser schwer malträtierten Frau ab. »Es tut mir leid, meine Herren, aber meiner Meinung nach muss der Kerl, der ihr dies angetan hat, mit ziemlicher Sicherheit ein grausamer Sadist sein und zudem auch noch reichlich Freude am Foltern empfinden, denn alle diese Verletzungen sind dem Opfer bereits zu Lebzeiten zielgerichtet und äußerst präzise beigebracht worden«, beendete Doktor Webster seine medizinischen Erklärungen. Holmes nickte,
»Danke Coroner, das war in der Tat wirklich gute Arbeit.« Der Pathologe neigte seinen Kopf und deckte die Leiche des Opfers wieder mit dem Tuch zu.
»Für Sie, immer wieder gerne, Mr. Holmes«, antwortete er dem Detektiv, was ihm jedoch postwendend einen missbilligenden Seitenblick von Inspektor Lestrade einbrachte.
Wieder auf dem Weg zum Ausgang der Morgue wandte sich Holmes an den nun recht zügig voranschreitenden Polizisten,
»Sagen Sie, Inspektor Lestrade, eine Spritze oder ein Skalpell haben Ihre Beamten bei dem Mordopfer oder in dessen näherer Umgebung nicht zufällig gefunden oder?«
»Nicht das ich wüsste, Holmes, denn ich hatte gleich nach unserer Ankunft am Orte des Verbrechens die Order erteilt, das gesamte Areal nach verdächtigen Gegenständen, die eventuell vom Mörder stammen oder möglicherweise auch nur mit jener Tat in Verbindung gebracht werden könnten, abzusuchen. Sie können mir glauben, Holmes, aber ich hätte gewiss davon erfahren wenn etwas Derartiges aufgefunden worden wäre«, bedauerte der Mann von Scotland Yard aufrichtig. Sherlock Holmes nickte verstehend,
»Mein lieber Lestrade, versuchen Sie doch einmal herauszubekommen, ob das Opfer möglicherweise eine etwas intensivere Beziehung zu einem amerikanischen Militärangehörigen hatte. Speziell zu einen Sergeanten oder sogar zu einem Offizier einer amerikanischen Kavallerieeinheit.«
Der Inspektor nickte,
»Ich werde mein Bestes tun, Holmes, das habe ich Ihnen doch versprochen, auch wenn ich den Hintergrund Ihrer Anfrage noch immer nicht ganz verstanden habe. Aber sei es drum, ich lasse es natürlich umgehend für Sie herausfinden.«
Zu John Watson gewandt, meinte Holmes,
»Kommen Sie, Doktor, wir müssen heute noch in der Lower Eastside von London einigen Handwerkern einen Besuch abstatten und sehr wahrscheinlich auch mindestens einem von ihnen mal kräftig auf die Füße treten.«
»Holmes, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein Offizier das Mädchen ermordet haben könnte? Na schön, dreist wenn es auch nur ein amerikanischer Offizier wäre, aber immerhin ein Offizier, Holmes, ich bitte Sie...«, echauffierte sich M.D. Watson.
»Ihre Loyalität Offizieren gegenüber in allen Ehren, Watson. Aber nein, wir suchen nach einem Handwerker und seinem möglichen Auftraggeber, welcher allerdings aber sehr wohl auch ein amerikanischer Offizier sein könnte, mein lieber Watson«, erklärte Sherlock Holmes zutiefst davon überzeugt.
»Warum zum Teufel, suchen wir nach einem Handwerker, Holmes? Was hat ein simpler Handwerker mit unserem Mord zu tun?«, fragte Watson, als sie kurz darauf schon wieder in einer Droschke nach Londons Lower Eastside unterwegs waren.
Sherlock Holmes Gesicht zeigte keinerlei Spuren einer Regung, als er auf diese Frage antwortete,
»Ihre eigene Antwort, mein lieber Watson. Ich fürchte, Sie selbst haben mich heute Morgen, respektive in der Nacht erst auf die Idee gebracht, in genau diese Richtung zu denken«, fuhr der Detektiv ungerührt fort und schaute kurz aus dem Fenster, wo es aber definitiv nichts weiter zu sehen gab, als nur einen äußerst stark vernebelten Novembertag.
»Ich?«, fragte M.D. Watson überrascht. »Was habe ich denn so Erstaunliches gesagt, was Sie dazu inspiriert haben soll, Holmes?«
»Nun, Sie selbst haben sich als erster dazu geäußert, dass diese Tat genaugenommen recht fachmännisch ausgeführt wurde und ein Handwerker ist für mich ein Fachmann, der sein Handwerk beherrscht. Dabei dachte ich insbesondere an einen Fachmann, dessen Handwerk es ist, sich präzise mit Häuten und Pelzen auszukennen und dies ist für mich für gewöhnlich ein Gerber, möglicherweise auch ein Kürschner. Natürlich gäbe es auch andere infrage kommende Täter, aber das war für mich zunächst einmal das Naheliegendste, ein Gerber, mein lieber Watson.«
»Das leuchtet selbst mir ein, Holmes. Und Sie meinen, ein amerikanischer Offizier könnte ihm den Auftrag dazu erteilt haben, aber warum denn nur, um Gottes Willen, Holmes?«
»Das herauszufinden wird unsere Aufgabe sein, mein lieber Watson. Aber zunächst müssen wir erst einmal den Mörder finden, um an die Hintermänner zu kommen. Dazu aber später mehr, denn wir sind nämlich bereits da, in der Gerbergasse in Londons Eastside.«
In diesem Augenblick hielt die Kutsche an und der Kutscher klopfte drei Mal auf das Dach der Droschke. Sherlock Holmes öffnete wie ein Zauberkünstler seine leeren Hände und machte dabei ein Gesicht, als wollte er wie ein Franzose sagen, ...et voilà…
»Woher zum Teufel konnten Sie wissen, dass wir bereits da sind Holmes, wo doch da draußen kaum etwas anderes, als nur dichter Nebel zu sehen ist?«, fragte Watson verblüfft.
»Zum einen der Gestank, mein lieber Watson und zum anderen, nichts als pures Zeitgefühl. Ich hatte bei der Abfahrt auf die Uhr gesehen, schon vergessen, alter Knabe?«, antwortete der Detektiv gelassen und öffnete den Schlag.
***
letzte Fortsetzung folgt...
Impressum
Cover: selfARTwork
Covermotiv: unknown Artist
Text: Bleistift
© by Louis 2017/10 Update: 2021/1
Texte: © by Louis 2017/10 Update: 2021/1
Bildmaterialien: Covermotiv: unknow Artist
Cover: selfARTwork
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2021
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