Kapitel 1
Diese Novembernacht war kühl und feucht. Dichte Nebelschwaden waberten durch die alten Londoner Gassen und ließen das glatte Kopfsteinpflaster im gelblich funzligen Licht der wenigen Gaslaternen glänzen. Pferdehufgetrappel und das klappernde Geräusch von eisenbeschlagenen Rädern kündigten eine sich nähernde Kutsche an. Kurze Zeit darauf hielt eine schwarz-glänzende, von perlenden Regentropfen überzogene Droschke vor einem düsteren Toreingang in der Elm Street an, über dem ein emailliertes Schild mit der Nummer 12 prangte.
»Wir sind da, Holmes…«, bemerkte Doktor Watson und öffnete den Schlag. Sherlock Holmes schlug die Augen auf und schaute kurz aus dem Fenster. Inspektor Lestrade stand wie immer, die Hände auf dem Rücken verschränkt und selbst Stunden nach Mitternacht noch trefflichst geschniegelt und gebügelt in dem dunklen Toreingang, neben dem ein uniformierter Polizist Wache hielt. Holmes hatte eigentlich nichts anderes erwartet, denn wann immer Inspektor Lestrade vom Yard seine Unterstützung anforderte, ging es meistens um einen ungewöhnlichen Mord, daher also das ganze Aufgebot. Der Detektiv stieg aus der Kutsche, zog seine Deerstalker Mütze ob des feinen Nieselregens noch etwas tiefer ins Gesicht. Sogleich wandte er sich an den Polizisten,
»Guten Morgen, Lestrade, wer ist denn diesmal das Opfer?« Der Inspektor verdrehte die Augen, als hinter ihm plötzlich ein uniformierter Polizeibeamter aus dem Torbogen gestürzt kam und sich heftig in den Rinnstein übergab.
»Sehen Sie Holmes, genau das ist es, wenn selbst meine erfahrenen Beamten einen solchen Anblick nicht ertragen können, also machen Sie sich besser auf etwas Ungeheuerliches gefasst…«, brummte der Inspektor missmutig. Der Detektiv nickte.
»Sicher doch, aber ist denn nicht jeder Mord an sich schon etwas Ungeheuerliches?«, bemerkte er und folgte dem Polizisten vom Yard, der sich bereits auf dem Weg durch den Torbogen begeben hatte.
»Das schon, Holmes«, bestätigte ihm der Inspektor, »aber nicht jeder Mord ist auch so grausam begangen worden, wie jener hier. Auch diesmal ist es erneut wieder eine Prostituierte. Alice Winnington, sie war Irin. Meine Männer kannten sie, eigentlich ein hübsches Ding, nicht vorbestraft, ein weißes, geradezu unbeschriebenes Blatt also und dennoch ist sie jetzt mausetot. Sie ist vermutlich unter gar fürchterlichen Schmerzen, die den schrecklichen Umständen jener barbarischen Tat geschuldet sind, bei lebendigem Leibe verblutet.«
Holmes warf einen vielsagenden Blick auf seinen Begleiter, welcher dem Gespräch der beiden Männer mit gesenktem Kopf gefolgt war. Der Detektiv würde in diesem Fall also wieder einmal mehr auf den medizinisch fachlich versierten Rat seines vielgeschätzten Freundes und Kollegen Doktor Watson angewiesen sein.
»Wer hat sie gefunden, Inspektor?«, fragte der Kriminalist wie nebenbei.
»Eine andere, hier in der Gegend wohnhafte Prostituierte, die gerade auf dem Heimweg war. Eine gewisse Emily Little, vor etwa eineinhalb Stunden. Sie wartet jetzt völlig verstört in meiner Polizei-Droschke, denn ich wollte ihr einen noch längeren Anblick jenes grässlich verstümmelten Opfers ersparen.«
»Schon gut, Lestrade, ich müsste die Dame anschließend dann noch einmal kurz sprechen.«
Der Inspektor hob in einer kurzen Geste der Akzeptanz die Hand, welche zugleich aber auch in Richtung des grausigen Geschehens deuten sollte.
Unterdessen hatten die drei Männer den spärlich erleuchteten Innenhof erreicht und Lestrade steuerte geradewegs auf den linken Hauseingang zu. Vor der schmalen Holztreppe des seitlichen Hauszugangs hatte man einen Polizisten postiert. Demonstrativ schaute der großgewachsene, aber dennoch sichtlich erblasste Mann weg, als Sherlock Holms ihm mit einer Falte auf der Stirn erst auf dessen Uniform und ihm danach ins Gesicht blickte.
»Tut mir leid, Sir, es ist mir peinlich, aber ich hatte mich gleich zu Anfang schon übergeben müssen, deswegen auch die Flecke auf meiner Uniform. Aber so etwas, wie das da, das sieht man schließlich auch nicht alle Tage, nochzumal ich das arme Mädel aus dem Bezirk auch kannte, Sir«, sagte er mit einem schnellen Seitenblick auf das neben ihm am Boden liegende abgedeckte Opfer. Holmes nickte erneut und tippte ihn dann aber in einer beruhigenden Geste verständnisvoll an die Schulter.
Über die Leiche der jungen Frau hatte man eine graue, derbleinene Persennig gelegt, die nun von zwei Scotland Yard Beamten wieder angehoben wurde. Dr. Watson starrte einen Augenblick lang beinahe regungslos und ziemlich ungläubig auf das Mordopfer. In diesem Moment flammte neben ihm urplötzlich ein grell-weißes Magnesiumlicht auf.
Der alte Photograph, ein bereits pensionierter ehemaliger Stadtpolizist, machte noch ein paar weitere Aufnahmen von der Toten. Schließlich hockte sich Dr. Watson unmittelbar neben dem Leichnam auf den Boden, der durch den langen Nieselregen von dem vielen weggeschwemmten Blut des Mordopfers nur so troff.
»Großer Gott, Holmes, wer macht denn so etwas?« Offensichtlich war der altgediente Militärarzt richtiggehend schockiert von dem, was er aus seiner Nahperspektive gesehen hatte. Nun endlich warf auch Sherlock Holmes einen Blick auf den Leichnam der jungen Frau. Augenblicklich unterdrückte er jedoch einen spontan aufsteigenden Würgereflex beim Anblick des noch so jungen, aber dennoch fürchterlich zugerichteten Mordopfers.
Wie mit einem scharf geschliffenen Skalpell hatte man die Kleidung der Frau in einem Schnitt von oben nach unten aufgeschlitzt und sie damit gänzlich nackt aus ihren Kleidern, wie aus einem Kokon herausgeschält. »Sie ist hier im Innenhof des Hauses ermordet worden und sie hat praktisch kein Geschlecht mehr. Selbst die Haut an beiden Brüsten wurde ihr komplett abgezogen, sogar ziemlich fachmännisch, wenn man das überhaupt so nennen darf«, fuhr Dr. Watson angewidert fort. »Es sieht beinahe aus wie ein Fetischmord, aber damit kann doch niemand etwas anfangen, denn das Hautgewebe zerfällt doch relativ rasch, selbst wenn der Täter es sogleich in Alkohol eingelegt hätte…«, murmelte er kopfschüttelnd.
»Nicht, wenn man es in einer vier bis acht prozentigen Formalin-Lösung konserviert, mein lieber Watson«, ergänzte der Detektiv, der sich inzwischen wieder etwas gefasst hatte.
»Sie haben natürlich völlig recht, Holmes, an Formaldehyd hatte ich im Moment gar nicht gedacht…«, korrigierte sich der Mediziner.
»Wann ist denn der Tod eigetreten, Doktor?« Der Arzt schloss indes dem Opfer mit zwei Fingern die Lider an dessen noch immer offenstehenden Augen.
»Ich denke, angesichts der niedrigen Temperatur und der jetzt gerade erst einsetzenden Totenstarre nach zu urteilen, vor etwa knapp drei Stunden.« Sherlock Holmes zog eine kostbare silberne Taschenuhr aus dem Revers und ließ den edel verzierten Klappdeckel aufspringen.
»Also etwa gegen Mitternacht«, konstatierte der Detektiv sinnierend. »Lestrade, gibt es eventuell Zeugen, die zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt etwas gesehen oder gehört haben könnten?«
»Nicht, dass ich wüsste Holmes, es war bereits stockfinster, es hatte fast ununterbrochen genieselt und es war zudem auch noch ziemlich neblig. Also bei einem solchen nasskaltem Schmuddelwetter ist wohl keiner mehr lange auf der Straße. Meine Männer haben bei den Anwohnern bereits Erkundigungen eingezogen, aber niemand will irgendetwas gesehen oder bemerkt haben. Das Übliche eben, Holmes, da kann man nichts machen. Außerdem, wer will denn schon gern seinen Hals riskieren, wenn er für eine tote Prostituierte aussagen soll, die womöglich sogar eines nichtnatürlichen Todes gestorben ist.« Der Detektiv nickte verstehend,
»Das Übliche eben, dann muss ich jetzt erst einmal mit dieser… Emily...«, er schnipste kurz mit den Fingern,
»…Little«…, ergänzte der Inspektor trocken. Holmes nickte abermals,
»...richtig, mit dieser Emily Little reden. Sie können übrigens die Leiche dieser armen Frau hier jetzt in die Morgue schaffen lassen. Doktor Webster soll sie sich aber noch einmal etwas genauer anschauen. Ich werde ihn dann morgen Vormittag mit Watson zusammen einen Besuch abstatten. Vielleicht findet Webster ja doch noch etwas eminent Wichtiges heraus. Etwas, was wir hier vor Ort und bei diesem Wetter womöglich übersehen haben könnten.«
»Verlassen Sie sich darauf, Holmes, ich werde umgehend alles in die Wege leiten. Ich bin selber viel zu sehr daran interessiert zu erfahren, was das für ein widerliches Scheusal ist, der so etwas Barbarisches überhaupt fertigbringt. Und ich will diesen Dreckskerl am Galgen baumeln sehen, Holmes, das ist mein fester Wille«, knurrte der Inspektor wütend.
Sherlock Holmes nickte zuversichtlich,
»Wir kriegen ihn, Lestrade, denn dieser Fall ist ebenso ungewöhnlich einzigartig, wie unglaublich pervers. Ihnen mein Wort darauf, Inspektor.«
Dann wandte er sich um und stieg kurz darauf in die Polizei-Droschke, zu der immer noch wartenden Prostituierten, Emily Little.
***
Fortsetzung folgt...
Impressum
Cover: selfARTwork
Covermotiv: unknown Artist
Text: Bleistift
© by Louis 2017/10 Update: 2021/1
Texte: © by Louis 2017/10 Update: 2021/1
Cover: selfARTwork
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2021
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