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Nachtexpress

 

 

Der Abend brachte keine Abkühlung nach diesem heißen Spätsommertag, denn die Luft zirkulierte bei diesem Wetter einfach nicht genügend in der riesigen steinernen Stadt. Kein Lüftchen erfrischte die Bewohner, der sich rasant entwickelnden Metropole im Herzen Europas und alle litten noch unter den Nachwirkungen der erbarmungslosen Hitze des nur langsam abklingenden Sommers von 1908. Heute war Samstag und mein Dienstplan bei der Preußisch-Hessischen Eisenbahn sah vor, dass ich in dieser Nacht von Berlin-Lehrter Bahnhof exakt um 21.35 Uhr nach Hamburg fahren würde.

 Ein Blick auf die alte, laut tickende Standuhr auf dem dunklen Vertiko verriet mir, dass es noch Zeit hatte und ich mich also nicht übermäßig beeilen musste. Routiniert zog ich an der massiven Silberkette die exakt gehende Eisenbahnertaschenuhr aus dem Revers und überzeugte mich, dass die Zeitangabe korrekt war. Ich hatte mich wie immer, pünktlich um neun Uhr abends beim Vorsteher der Bahnhofaufsicht zu melden und meinen Dienst anzutreten. Es blieb dann noch genügend Zeit, die Begleitpapiere zu sichten und mich mit dem Lokomotivführer über eventuell anstehende Besonderheiten zu verständigen. Von einigem Interesse war für mich lediglich, wer heute Nacht die Lokomotive führen würde, denn mit einigen der Herren kommt man gelegentlich etwas besser aus, als mit manchen anderen.

 Etwas wirklich Außergewöhnliches war mir bislang allerdings für diese Tour noch nicht avisiert worden und so sollte die Reise mit dem Nacht-Eilexpress nach Hamburg wie gewohnt, einen normalen Verlauf nehmen.

Als Kondukteur oblag mir die sowohl die Kontrolle, als auch die Aufsichtspflicht in dem Eilexpresszug der Preußisch-Hessischen Eisenbahngemeinschaft. Ich hatte mich vorrangig um die Fahrgäste und deren Wohlergehen zu kümmern. Das Ausstellen einer Ersatzfahrkarte für einen unterwegs neu hinzugestiegenen Reisenden und die Kontrolle der bereits gelösten Billets waren nur eine der üblichen routinemäßigen Nebenaufgaben.

 

Ich stand also daheim vor dem Spiegel und beendete gerade die letzten Striche an der abendlichen Rasur. Selbst als kleiner, unspektakulärer Beamter der preußischen Eisenbahn hat man schließlich korrekt seinen Dienst zu versehen und letztendlich gehörte auch irgendwo das Aussehen dazu.

Heute Abend jedoch zog ich wegen des Wochenendes meine neuste blaue Eisenbahneruniform an, die gerade erst vor zehn Minuten aus der Wäscherei geliefert wurde. Man hatte mir diesmal sogar die goldfarbenen Messingknöpfe an der Uniform wieder auf Hochglanz poliert, was ich bei der letzten Wäsche bemängelt hatte.

 Der Botenjunge hatte in meinem Beisein warten müssen, bis ich diesmal die Qualität der Reinigung sorgfältig geprüft hatte. Es konnte einfach nicht angehen, dass ich schon wieder mit blinden, angelaufenen Metallknöpfen meinen Dienst antreten musste. Endlich hatte also meine deutliche Beschwerde einen durchschlagenden Erfolg gezeitigt und die blaue Uniform samt Knöpfen, war wieder tadellos gereinigt und hergerichtet worden. Nichts ist peinlicher, als von einem Reisenden der Ersten Klasse wegen einer verschmutzten oder unkorrekten Uniform abfällig gemustert zu werden. Nein, heute passte alles bestens und meine Laune hatte sich daraufhin erheblich verbessert, als ich diesmal die frisch gereinigte Uniform angezogen hatte. Die schwarzen ledernen Halbschuhe, die hatte ich zuvor schon so kräftig gewienert, dass man sich beinahe darin spiegeln konnte.

An der Tür schellte es. Als ich sie öffnete, stand Mathilda, die zehnjährige süße Nachbarstochter mit ihren grünen Kleidchen und ihren blonden Locken in der Diele. Lächelnd hielt sie mir mit einem Knicks ein paar, in festes Pergamentpapier eingewickelte Sandwichbrote entgegen,

»Guten Abend, Herr Kondukteur Wendland, ich soll Ihnen einen schönen Gruß von der Isolde Gaertner bestellen und sie hat extra für Sie ein paar belegte Brote gemacht und sie meinte, Sie würden sie für die lange Reise nach Hamburg bestimmt gut gebrauchen können.«

 Lächelnd nahm ich das Paket in Empfang.

»Na dann bestell‘ doch bitte der Isolde Gaertner mal meinen besten Dank«, sagte ich und griff in meine Hosentasche. Ich reichte ihr ein Zehn-Pfennig-Stück. »Und dafür kaufst du dir morgen beim alten Schmöller an der Ecke etwas Süßes«, riet ich ihr schmunzelnd. Mathilda machte wieder einen artigen Knicks und griente über das ganze Gesicht. Dann sprang sie mit dem Groschen in der Hand, geschwind die hölzerne, nach frischem Bohnerwachs riechende Treppe wieder hinauf.

Isolde Gaertner ist die zwar erwachsene, aber immer noch unverheiratete Tochter der Hausbesitzerin und bewohnt mit ihrer Mutter die größte Wohnung im ersten Stockwerk des Vorderhauses. Der Vater starb lange schon bevor ich noch in das Haus der Gaertners in der Rosenstraße eingezogen bin. Mit der Isolde bin ich ein paar Mal ausgegangen, in den Prater zum Schwofen. Eine überaus reizende Person, allerdings stellt sie mich überall jedem immer gleich als ihren Verlobten vor und auch wenn wir gelegentlich schon das Bett miteinander geteilt haben, so sind wir deswegen noch lange nicht verlobt. Auch dann nicht, wenn Isolde im Bett scharf wie ein Rasiermesser ist und bei Gott, das ist sie. Aber sie und ihre Mutter sähen es natürlich gerne wenn Isolde, ein anziehendes Fräulein um die Dreißig, ihrer Stellung angemessen, einen Beamten der Preußischen Eisenbahn heiraten würde.

Nun, da ich jetzt auch noch von der netten Isolde bestens verproviantiert worden bin, konnte die Reise beginnen. Das Brotpaket tat ich in meine braunlederne Aktentasche, wo ich zuvor schon eine Aluminiumflasche mit heißem Kaffee verstaut hatte und machte mich nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel und einem zufriedenen Gesicht auf den Weg zum Lehrter Bahnhof.

 

*

 

Der Bahnhof selber dunstete noch immer die Wärme dieses Spätsommertages aus und wenn man die riesige Bahnhofshalle des Lehrter Bahnhofs betrat, roch man sofort den Dampf der Lokomotiven, das Schmieröl und die Kohle. Der Nachtexpress nach Hamburg war zwar noch nicht bereitgestellt, aber er befand sich bereits schon auf dem Wartegleis und die weißen Dampf vor sich hinfauchende Lokomotive hatte man ebenfalls schon davor gespannt.

In ein paar Minuten würde der Lokführer den Zug langsam in den Bahnhof schieben.

Ich betrat die Centrale und meldete mich bei der Bahnhofsaufsicht an. Der diensthabende Inspektor grüßte mich mit einem kurzen Nicken und trug mit der üblichen Routine akribisch meinen Namen und meine Ankunftszeit mit Federhalter und Tinte in die Dienstkladde des Bahnhofs ein. Er schob mir kommentarlos, wie nebenbei, die mit Maschine geschriebenen Begleitpapiere für den Hamburger Nachtexpress über den Tisch. Dann wandte er sich direkt an mich,

»Ich lass‘ den Hamburg-Express gerade in die Halle drücken, Anselm, wenn Sie noch einmal mit dem Lokführer reden wollen, dann wäre das jetzt die beste Gelegenheit. Die Gleisreparaturen hinter Ludwigslust sind jetzt abgeschlossen und Sie brauchen dort die Geschwindigkeit nicht mehr reduzieren zu lassen. Das kam vorhin gerade erst telegraphisch rein. Des Weiteren ist der Gepäckwagen heute zum Bersten voll, ungefähr die Hälfte wird in Wittenberge ausgeladen, die Männer dort wissen aber bestens Bescheid und werden Sie auf dem Bahnhof abpassen. Ich indes erwarte von Ihnen Pünktlichkeit, Anselm, Pünktlichkeit und Akkuratesse, wie ich es von Ihnen gewohnt bin.« Ich nickte,

»Worauf Sie sich selbstverständlich verlassen können, Herr Inspektor, ich geh‘ dann gleich mal rüber zum Lokführer, wollte sowieso wissen, wer heute Abend fährt«, sagte ich und hatte schon die Klinke von der Bürotür des Inspektors in der Hand.

»Kann ich Ihnen sagen, Anselm.« Der Inspektor warf einen Blick auf seinen Plan und sein Finger glitt über die Liste der Lokführer. »Nach Hamburg fährt heute Nacht… der Ober, Paul Reimann.«

Ich musste instinktiv sofort grinsen,

»Kenn‘ ich den Mann, guter Lokführer...«

Der Inspektor blickte mich unverwandt durch seine kleine kreisrunde Nickelbrille an,

»Umso besser, wenn Sie ihn kennen, dann wird es auch bestimmt keine Probleme geben, nur sein Heizer ist neu, scheint aber auch einen patenten Eindruck zu machen. Sie machen das schon, Anselm. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Fahrt.«

Ich tippte mit dem Finger gegen die Schirmmütze und verabschiedete mich vom Inspektor. Fünfzehn Minuten verblieben noch bis zur Abfahrt. Ich begab mich auf den vorderen Bahnsteigabschnitt, wo der Lokführer mit einem grellen Warnsignal aus der Dampfpfeife gerade die Einfahrt des Zuges in den Bahnhof ankündigte. Noch ein paar Meter und der Zug hatte seine Position erreicht. Leise fauchend und zischend hielt die Lokomotive neben dem Bahnsteig an und die großen rotlackierten Räder kamen unmittelbar neben mir zum Stillstand. Die Wärme ihres metallenen Rumpfes war sogar noch aus der Entfernung von einigen Metern deutlich zu spüren. Auf dem Aschefänger, obendrauf auf der heißen, hellgrauen Steinkohlenasche, lagen winzige noch glühende Kohlestückchen und erhellten im rötlichen Ton den Unterbau der Lokomotive. Ich stand also geradewegs neben der Lok, als der Lokführer den Dampfdruck aus dem Kessel etwas abließ, was mich in einer riesigen weißen Wasserdampfwolke förmlich verschwinden ließ. Ein Spaß, den sich die Lokführer manchmal erlauben. Dann tauchte Reimanns freundlich grinsendes Gesicht in dem offenen Fenster des Führerstandes auf.

»Der Herr Wendland, welche Ehre«, meinte Reimann und grüßte mich vom Führerstand seiner Lokomotive herunter.

»Ganz meinerseits, Herr Oberlokführer, wir sind ja auch schon eine Ewigkeit nicht mehr zusammen gefahren«, begrüße ich den sympathischen Mittvierziger. Reimann nickte ebenfalls,

»Ist bestimmt schon ein halbes Jahr her, ich glaub wir sind das letzte Mal zusammen nach Köln gefahren, kann das sein?«

»Wenn Sie das sagen, wird es wohl schon stimmen«, scherzte ich.

»Hab' einen neuen Heizer, denn der Krause ist immer noch krank, sieht leider auch nicht so gut aus, mit dem Mann. Na, schaun‘ wir mal, was wird.« Ich nickte zur Bestätigung,

»Verstehe, gute Besserung, wenn Sie ihn sehen sollten.« Reimann nickte verständig.

»Hinter Ludwigslust sind übrigens die Gleisbauarbeiten endlich abgeschlossen. Sie brauchen also dort nicht mehr zu reduzieren, Herr Reimann. Und in Wittenberge haben wir ne‘ gehörige Menge an Fracht auszuladen, aber die Mannen dort sind instruiert und werden pünktlich vor Ort sein«, verständigte ich mich mit dem Lokführer. Reimann grinste bereits wieder,

»Alles klar, Herr Wendland, ich hab‘ vorab schon mal einen Blick ins Streckenprotokoll geworfen und mir dabei auch die Fracht im Gepäckwagen angesehen. Ziemlich vollgepackt der Wagon. Die Jungens werden sich in Wittenberge wohl tüchtig sputen müssen.«

Ich hob die Hand,

»Na dann, Sie wissen also Bescheid und gute Fahrt, Herr Reimann.«

»Ihnen auch, Wendland«, sagte er grinsend. »Sie werden gewiss verstehen, aber ich hab leider noch einiges zu tun.«

»Selbstverständlich, Herr Reimann...«

Reimann erhob noch einmal grüßend seine Hand und verschwand dann wieder in seinem Führerstand.

Somit wäre das also auch geklärt und nun wollen wir doch mal sehen, wer mit uns mitten in der Nacht nach Hamburg fährt, dachte ich und ging wieder zurück in den öffentlichen Passagierbereich des Perrons. Eben wurden die Absperrketten auf dem Bahnsteig geöffnet und die Zugänge zu den jeweiligen Personenwagen freigegeben. Die unterschiedlichsten Leute strömten mit Sack und Pack auf den Bahnsteig und stiegen mit ihren Koffern und dem ganzem Gepäck, nach und nach in den Zug ein.

 

Eine recht elegant gekleidete Dame in der Begleitung eines wesentlich jüngeren Mannes stieg sogar ganz vorn in den Salonwagen der Ersten Klasse ein. Ihr Gepäck wurde gerade mit einem der hohen zweirädrigen hölzernen Karren zum Gepäckwagen gebracht. Mehrere große Koffer und eine Reisetruhe von ihr waren zuvor schon verladen worden. Nachdem der junge Mann jener überaus attraktiven Dame beim Einsteigen behilflich war, überwachte er nun das Umladen ihres restlichen Gepäcks in den Gepäckwagen, der am Ende des Zuges lief.

 Unterdessen stiegen noch zwei oder drei weitere, vornehm gekleidete Herren mit ihren Damen in den hell erleuchteten Salonwagen der Ersten Klasse ein. Der Rest der Reisenden verteilte sich auf die Wagons der 2.Klasse. Im Allgemeinen war der Zug heute Nacht wieder gut besetzt und halbwegs als ausgelastet zu bezeichnen. Bestimmt waren auch wieder einige Auswanderer darunter, die mit der Eisenbahn via Hamburg nach Bremerhaven fuhren, sich dort einschifften, um dann weiter auf einem Frachtampfer zu erschwinglichen Preisen nach Übersee zu reisten. Die meisten von ihnen nutzen die günstigeren Nachttarife, um etwas billiger nach Hamburg zu reisen. Denn tagsüber waren die Billetts für eine Zugfahrt mit dem Express natürlich deutlich teurer, als in der Nacht.

 Pünktlich auf die Minute betrat der Zugabfertiger den Bahnsteig und nickte mir zu. Nach einem grellen Pfiff aus seiner Trillerpfeife hob er die Abfahrtskelle und der Express setzte sich mit lautem Fauchen, Zischen und unter schwerem Aufdampfen langsam in Bewegung.

Wir waren unterwegs.

Ich stand in der offenen Tür des letzten Personenwagens und überwachte die Ausfahrt aus dem Lehrter Bahnhof. Als wir den Bahnhof verlassen hatten schlug ich die Türe hart zu und begann meine Tätigkeit als Kondukteur. Zunächst hatte ich routinemäßig die Billetts aller Reisenden zu kontrollieren und zu entwerten und somit begann die wohl abenteuerlichste und vor allem auch die unglaublichste Zugfahrt meines Lebens...

 

*

 

Sukzessive arbeitete ich mich von hinten nach vorn durch die Wagen der 2.Klasse, um die Fahrkarten der Reisenden zu kontrollieren und mit einer Stempelzange, die meine Dienstnummer und das heutige Datum in die Fahrkarte stanzte, zu entwerten. Bei dem funzligen Deckenlicht in der 2.Klasse, gar keine so leichte Aufgabe, denn auf Klärchens Mithilfe in Beleuchtungsfragen musste ich mittlerweile verzichten. Sie war rechtzeitig am Firmament untergegangen und hatte kurz nach ihrem Verschwinden alles in die pechschwarzen Schatten einer undurchdringlichen Finsternis getaucht. Während unser Express lediglich vom fahlgelben Licht des Vollmondes beleuchtet, durch die laue Brandenburgische Sommernacht Richtung Nordwesten donnerte und dabei jede Menge weißer Dampfwolken in den sternenübersäten, dunkelblauen preußischen Nachthimmel spuckte.

Im Zug waren etliche der Reisenden Privatpersonen, aber auch verschiedene Handelsreisende und jede Menge kleiner Geschäftsleute darunter, die mit diesem Nachtexpress nach Hamburg fuhren. Sie alle hatten ihr Gepäck in den Ablagen über und unter den Sitzen verstaut und es sich in der 2.Klasse so bequem wie möglich gemacht. Zum Glück musste niemand in den Gängen stehen, denn alle Fahrgäste hatten einen Sitzplatz bekommen. Für sein leibliches Wohl mussten die Reisenden in dieser Klasse allerdings schon selber sorgen. So hatten einige von ihnen bereits kurz nach der Abfahrt ihre mitgebrachten Brote und Aluminiumflaschen mit Wasser oder Kaffee ausgepackt und begannen bereits ihren Reiseproviant zu verzehren. Es kam daher nicht selten vor, dass der eine oder andere Reisende erst sein Wurstbrot auf die Ablage am Fenster legte, als ich ihn nach seinem Billett befragte und er dann mit fettigen Fingern in seiner Hosentasche nach der Fahrkarte kramte. Nachdem er sie dann endlich herausgefischt hatte und sie mir mit einem Grunzen zum Entwerten reichte, war sie schon gehörig mit Leberwurst- oder Braunschweiger-Fettflecken verziert.

Nach der Mahlzeit nutzten viele Fahrgäste die Gelegenheit, trotz des monotonen Ratterns der Räder über scheinbar nie enden wollende Schienenstöße, um ein wenig in Morpheus Arme zu sinken. Sich nach einem anstrengenden Tagewerk, einem wohlverdienten Schlafe hinzugeben, soweit es jedenfalls das Geräusch einer fahrenden Eisenbahn zuließ, war gewiss keine Sünde.

Zumeist hatte ich denn nach Spandau, alle Passagiere der 2.Klasse bereits abgearbeitet. Nachdem ich mir eine kleine Pause gegönnt und mich ein wenig erfrischt hatte, konnte ich mich anschließend um die besser betuchten Reisenden aus dem Salonwagen der Ersten Klasse kümmern.

 

Der Salonwagen bestand aus einem offiziellen Teil und mehreren verschließbaren Erster-Klasse-Séparées, wo die Reisenden eine bequeme Liege ausklappen und bei Bedarf, sogar recht angenehm ruhen oder auch schlafen konnten.

Dort, am Ende jenes Salonwagens hatte ich auch mein kleines abschließbares Kondukteurskabuff. Dabei handelte es sich nur um eine winzige Räumlichkeit, in der ich mich nach Notwendigkeit etwas frischmachen und pausieren konnte. Nicht sehr komfortabel, aber wenigstens waren eine Liege und eine Decke vorhanden, ebenso auch eine fipsige Waschgelegenheit, damit man als Kondukteur im Zug notfalls auch einmal übernachten konnte, wenn einen die Reise erst am nächsten Tag wieder zurückführte.

Im offiziellen Teil des Salonwagens konnte der gut situierte Reisende sowohl einen Drink bekommen, als auch eine warme Mahlzeit zum Dinner einnehmen. Für Kaffee, Kuchen und belegte Brote wurde ständig gesorgt und solange die Reise andauerte, wurde der Erste-Klasse-Reisende am Tag und auch in der Nacht stets bestens verpflegt.

 

Nachdem ich nun endlich auch die Fahrkarten der Reisenden in der Ersten Klasse kontrolliert hatte, blieb auf meiner Liste nur noch ein Séparée offen, welches die Nummer Eins trug und von einer gewissen Señora Isabelle de Mendoza, extra für diese Reise nach Hamburg angemietet worden war. Die Señora hatte alle Vorhänge in ihrem Séparée zugezogen und es drang nur ein schwacher Lichtschimmer auf den Gang des Salonwagens. Höflich klopfte ich an ihre Türe,

 »Entrée...«, klang es von drinnen. Ich öffnete vorsichtig die Tür und betrat das Séparée,

»Guten Abend, Señora. Verzeihen Sie bitte die Störung, ich hätte nur gern Ihr Billett zur Kontrolle entwertet.«

Am Fenster saß zurückgelehnt jene äußerst attraktive, ältere Dame in einem hochgeschlossenen blauen Reisekleid und schaute mich freundlich lächelnd aus ihren wunderschönen blauen Augen an. Ihren modischen Hut hatte sie in die obere Ablage getan. Ihr Vis-à-vis war jener jüngere Mann in dem hellen Anzug, der das Verladen ihres Gepäcks organisiert hatte. Er hielt ein paar Bögen bedruckten Papiers in der Hand und trug noch immer seine Kreissäge auf dem Kopf. Der Mann schaute plötzlich ein wenig überrascht drein, als ich ihn direkt ins Gesicht sah...

»Señora Isabelle de Mendoza?« Die Dame nickte freundlich. »Ich habe leider nur Sie auf meiner Passagierliste zu stehen, als eine einzeln reisende Person. Über einem zweiten Mitreisenden habe ich keinerlei Kenntnis«, erklärte ich ihr.

 »Oh‘ das ist korrekt, das ist der Herr Thomas Brenner, er ist Schriftsteller und wird mich auf meiner Reise begleiten.« Ihre schmalgliedrige, zarte Hand wies auf ihren Gegenüber. »Für sein Ticket komme ich selbstverständlich in voller Höhe auf. Was kostet bei Ihnen ein Billett Erster Klasse von Berlin nach Hamburg, Herr…?«

»Wendland, Anselm Wendland, Señora de Mendoza«, beeilte ich mich zu erwähnen.

»Nun gut, Señor Wendland, was also kostet jenes Billett?«

»Isabelle, ich kann und werde für meine Reisekosten selbstverständlich allein aufkommen, das weißt du…«

»Das wird nicht nötig sein, mein lieber Thomas, denn am Geld soll es nicht fehlen. Du wirst mich unterdessen glänzend unterhalten und außerdem will ich, dass du zügig an deiner abenteuerlichen Geschichte weiterschreibst und um solch banale Dinge, wie Geld, sollst du dich von nun ab nicht mehr kümmern müssen«, fiel ihm die attraktive Dame freundlich, aber entschieden ins Wort.

Ich nannte der Dame Mendoza die Summe, die eine Reise in der Ersten Klasse nach Hamburg kostete. Anstandslos bezahlte die Señora den geforderten Betrag aus ihrem Portemonnaie,

»Der Rest ist für Sie, Señor Wendland. Wenn Sie uns bitte noch zwei Tassen schwarzen Tee…?«

»Zwei Mal schwarzen Ceylon Tee, ganz wie Sie wünschen, Señora Mendoza«, vergewisserte ich mich. »Kommt sofort«, sagte ich und überreichte ihr das Billett Erster Klasse für ihren Begleiter.

Mein Gott, was für eine faszinierende Frau, dachte ich und beeilte mich, ihrem Wunsche nach zwei Tassen Tee nachzukommen. Dieser Brenner musste ja in der Tat ein ausgesprochener Glückspilz sein, dass er an so eine phantastische Frau gerät. Aber darüber brauchte ich mir weiter keine Gedanken zu machen. Mich erfreute viel mehr ihre Großzügigkeit, mit welcher sie mir soeben ein fürstliches Trinkgeld von fünf Mark kredenzt hatte. Ein ungewöhnlich gutes Trinkgeld, was ich sehr wohl zu schätzen wusste. Fünf Minuten später servierte ich den bestellten schwarzen Tee in das Séparée Nummer Eins...

 

*

 

Gegen 01.05 Uhr erreichten wir den Bahnhof von Wittenberge. Wie erwartet, standen dort mehre Männer auf dem spärlich mit Gaslaternen ausgeleuchteten Bahnsteig bereit und begaben sich bei Einfahrt des Zuges ans Ende des Bahnsteigs, um aus dem Gepäckwagen, die für Wittenberge bestimmten Frachtstücke auszuladen.

Unterdessen ließ Oberlokführer Reimann die Lokomotive vom Zug abkoppeln, nahm am Depot Wasser und bunkerte im Tender Steinkohle. Ich stieg aus dem Zug, zündete mir auf dem Bahnsteig einen Zigarillo an und begab mich gemächlich zum Gepäckwagen, wo die Eisenbahner unter Aufsicht ihres Vorarbeiters emsig mit dem Ausladen des Frachtgutes beschäftigt waren. Ich grüßte den Vorarbeiter und bot ihm ebenfalls einen von meinen Zigarillos an, den er dankend annahm. Die Arbeit kam gut voran und nach etwa zwanzig Minuten war die Fracht für Wittenberge aus dem Gepäckwagen ausgeladen. Etwa zur selben Zeit setzte Reimann mit seiner Lokomotive sachte zurück und ließ den Zug von seinem Heizer wieder ankoppeln. Der Vorarbeiter schob die Tür zum Gepäckwagen wieder zu, hakte die Türverriegelung ein und bedankte sich noch einmal für den Zigarillo. Er wünschte uns weiterhin gute Fahrt und tippte mit dem Finger gegen den Schirm seine Eisenbahnermütze. Wir konnten nun weiterfahren, denn alles Nötige dazu war bereits getan. Ich zog aus dem Revers meine silberne Taschenuhr und stellte mit Befriedigung fest, dass wir gut im Zeitplan lagen. Zwanzig Minuten hatte der Aufenthalt alles in Allem gedauert und so konnten wir nun ungestört nach Hamburg abdampfen.

Ich stellte mich wieder an die hintere Tür des letzten Personenwagens und mit der Trillerpfeife gab ich Reimann das Signal zur Weiterfahrt. Ebenso sachte wie er angedockt hatte, ließ Reimann seine Lokomotive wieder anfahren und der Zug setzte sich langsam in Bewegung, als ich meine Tür kräftig ins Schloss fallen ließ. Kurz darauf hörte ich jedoch erneut das Zuschlagen einer weiteren Wagontür. Jemand war in Wittenberge entweder noch zugestiegen, oder sogar während der Fahrt abgesprungen, allerdings nicht auf der Bahnsteigseite, denn die hatte ich bis zur Ausfahrt aus dem Bahnhof fest im Blick. Dem Geräusch nach zu urteilen, war es eine Tür des zweiten Wagens vor mir. Während Reimann mit dem Zug stetig Fahrt aufnahm, begab ich mich schnellen Schrittes in den vor mir laufenden Wagon. Fast alle Passagiere der 2.Klasse schliefen nun auf ihren Sitzen, viele aneinander gelehnt und einige schnarchte gar fürchterlich laut. Vorsichtig hangelte ich mich zwischen den Kisten und Koffern weiter nach vorne durch, um in den nächsten Wagen zu gelangen.

Der Fahrtwind hatte schon tüchtig zugenommen, sodass ich meine Schirmmütze tiefer in die Stirn zog. Tänzelnd bewegte ich mich über die Außenplattformen der beiden Anhänger, wo ich dann die Durchgangstür zum nächsten Wagon öffnete. Auch hier wieder dasselbe Bild. Die Leute schliefen und ich fragte leise, ob jemand zugestiegen wäre. Aber die meisten der Fahrgäste kannte ich bereits mehr oder weniger vom Sehen und es war niemand gänzlich Unbekanntes darunter. Die Türen waren alle geschlossen gehalten und so begab ich mich zügig in den nächsten vor uns liegenden Wagon der 2.Klasse.

Auf dem Boden des Ganges vom nächsten Wagen entdeckte ich mehrere große nassglänzende Wasserflecken. Den Spuren der Feuchtigkeit folgend, führten sie mich gradewegs durch den gesamten Wagon bis zum nächsten Abort, welches dann auch mit dem Schild: "Besetzt" verriegelt war.

Ich klopfte gegen die Tür,

»Hallo, ist jemand da drinnen?« Natürlich bekam ich keine Antwort. »Hören Sie, ich weiß, dass Sie da drinnen sind. Im Übrigen habe ich einen Schlüssel für diese Tür und wenn Sie jetzt nicht sofort öffnen, bin ich gezwungen das Abort von außen zu öffnen. Also kommen Sie besser gleich freiwillig heraus«, kündigte ich lautstark und entschieden meinen nächsten Schritt an und rasselte geräuschvoll mit dem Schlüsselbund. Von drinnen wurde zögerlich die Tür entriegelt und das Schild, welches den Status jenes Abortes kennzeichnete, wechselte auf: "Frei". Dann wurde langsam die Klinke heruntergedrückt und die Tür zum Abort öffnete sich.

Da stand sie, eine junge Frau, nass wie eine Katze, die man kurz vor dem Ersaufen wieder aus dem Wasser gezogen hatte. Sie steckte in einem blassblauen langen Kleid, welches förmlich an ihr klebte und vor Nässe nur so troff. Unter ihr hatte sich bereits eine riesige Pfütze gebildet. Ein Bild des Jammers und des heulenden Elends, eine Erscheinung zum Gotterbarmen. Ihre langen blonden Haare hingen an ihr herunter, als wäre die Loreley geradewegs und höchstpersönlich den wilden Rheinfluten entsteigen. Entgeistert starrte mich die junge Frau aus ihren hübschen blauen Augen an. Trotz der momentanen Jammergestalt konnte ich an ihrem ebenmäßigen Gesicht und an ihrer gertenschlanken Figur, eine reizvolle junge Frau erkennen. Einen Moment später brach sie in Tränen aus und fiel mir wie ein verlorener Schlosshund heulend, in die Arme. Ich fing sie auf und zog sie aus dem Abort.

»Sie kommen erst einmal mit zu mir, in mein Kabuff, so können Sie hier auf gar keinen Fall bleiben. Und hören Sie mir um Himmels Willen, mit dieser nervtötenden Heulerei auf. Sie wecken mir mit ihrem Gejammer ja noch alle Passagiere der Ersten Klasse auf. Jetzt reißen Sie sich zusammen und ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, einverstanden?« Sie nickte und als ich sie entschlossen in Richtung meines Kabuffs zerrte, hörte sie tatsächlich auf zu heulen. Als wir vor der Tür meines Kabuffs angekommen waren, vergewisserte ich mich, ob uns niemand auf dem Gang bemerkt hatte und schloss schnell die Tür auf, packte die junge Frau und schob sie in mein Refugium. Hinter mir verriegelte ich rasch die Tür und obwohl wir beide stehend kaum darinnen Platz fanden, wies ich sie an, zuerst einmal ihr nasses Kleid auszuziehen und sich halbwegs wieder auf Vordermann zu bringen.

»Wie, ich soll mich hier drinnen vor Ihnen ausziehen?«, fragte sie mich und schaute mich betreten an. Ich nickte entschieden,

»So, in diesem Zustand können Sie ja wohl nicht einfach mitreisen. Außerdem könnten Sie sich in diesem Aufzug den Tod und andere schlimme Krankheiten holen. Also, was soll’s. Einfach ausziehen das nasse Zeugs, der Rest wird sich finden. Damit eines klar ist, hier an Bord bin ich der Boss und bestimme, wo es langgeht, also runter mit den nassen Klamotten!« Die junge Frau schaute mich zwar echt deppert an, kam allerdings nur sehr zögerlich meiner Anweisung nach. Während sich die blind zugestiegene Loreley aus ihrem klatschnassen Kokon schälte, bemerkte ich, dass das Séparée Nummer Eins die Rufklappe betätigt hatte.

»Ich muss erst einmal sehen, was da los ist«, sagte ich zu meiner Loreley, »ich bin gleich zurück und Sie bleiben hier und verlassen mir auf gar keinen Fall das Kabuff. Damit Sie auch nicht auf die Idee kommen, hier nackicht durch den Zug zu spazieren und eine Panik auslösen, schließe ich Sie einstweilen hier ein, solange ich fort bin. Versprechen Sie mir, sich mucksmäuschenstill zu verhalten. Denn für mich sind Sie immer noch ein blinder Passagier, ohne Billett, ohne Geld und ohne Papiere. So gesehen, kann ich Sie jederzeit auf jedem X-beliebigen Bahnhof von den Gendarmen festnehmen lassen, wenn Sie mir hier Sperenzchen machen. War das deutlich genug?«, drohte ich ihr. Sie nickte stumm und zog sich weiter ihr Mieder aus, während ich mich sogleich herumdrehte und vorsichtig auf den Gang hinaustrat. Hinter mir zog ich leise die Tür ins Schloss und verriegelte sie von außen.

Währenddessen das Schummerlicht noch immer nur spärlich aus dem Séparée Nummer Eins durch die geschlossenen Vorhänge auf den Gang drang, klopfte ich erneut an jene Tür, hinter welcher ich die betörende Dame mit dem spanischen Namen und ihrem Liebhaber wusste. Einmal kurz durchatmen.

Diesmal öffnete mir der Schriftsteller die Tür aber nur einen Spalt weit. Er war ebenfalls unbekleidet und hatte sich lediglich ein Laken umgehängt. Im Hintergrund des Sèparèes sah ich die bezaubernde Dame Isabelle de Mendoza auf dem weißen Laken der aufgeklappten Liege, gänzlich nackt in einer bekannten erotischen Pose ausgestreckt liegen. Sie war mit nichts weiter bekleidet, als mit ihrem phantastisch schicken Hut und sah einfach nur traumhaft in ihrer ungezwungenen und natürlichen Nacktheit aus.

»Entschuldigen Sie, Anselm, ich darf Sie doch so nennen?« Ich schluckte und nickte. Dabei konnte ich meine Augen kaum von dem faszinierenden Anblick dieser Frau lösen,

»Aber selbstverständlich, Herr Brenner, worum geht es?«, flüsterte ich mit plötzlich heiserer Stimme.

»Also die Señora Isabelle, sie ist meine unvergleichliche... nun, sie ist meine große Muse und sie hat mich gerade auf wundersamste Weise geküsst. Und nun kann ich endlich auch an meiner unglaublich spannenden Geschichte weiterschreiben.«

»Wie beneidenswert...«, entfuhr es mir ungewollt.

Brenner lächelte,

»Nicht wahr. Und damit meine fabelhafte Inspiration in dieser Nacht noch lange weiter so intensiv anhält, würde ich bei Ihnen gerne eine gut gekühlte Flasche trockenen Champagners mit zwei Gläsern ordern wollen, wenn es Ihnen recht ist, Herr Wendland.«

»Wenn es weiter nichts ist, Herr Brenner, der Schampus kommt natürlich sofort«, gab ich mit einem Kloß im Hals zurück.

»Ich wusste, Sie würden mich verstehen, mein Freund«, lächelte er verbindlich und schloss leise wieder die Türe.

Und wie ich ihn verstehen konnte. Meine Güte, dachte ich, ist das heute eine heiße Nacht. Ich wischte mir schnell ein paar Schweißperlen von der Stirn und begab mich zügig in den vorderen Teil des Salonwagens, wo ich umgehend das Gewünschte bekam. Auf dem Rückweg reichte ich dem Schriftsteller das Tablett mit dem Champagner und den Gläsern durch die geöffnete Tür und bekam dafür von der bezaubernden Señora Isabelle ein Lächeln geschenkt, für das jeder Mann je nach Situation gemordet oder sich hätte töten lassen. Warum nur erinnerte mich dieses verführerische Lächeln dieser ungewöhnlich phantastischen Frau nur allzu stark an Francisco de Goyas Gemälde, »Die nackte Maja«...

Wie dem auch sei, mich erwartete nun eine weitere Komplikation mit einer anderen, ebenfalls unbekleideten Frau in diesem Nachtexpress. Ich kehrte daraufhin eilig in mein Kabuff zurück. Meine Loreley hatte sich inzwischen von all ihren nassen Sachen befreit und saß nun ebenfalls nackt, wie Eva im Paradies auf meiner Liege, auch nur mit einem dünnen Laken bedeckt. Sie hatte sich inzwischen an dem Handwaschbecken für Zwerge etwas frisch machen können und ihre langen goldblonden Haare in mein Handtuch eingeschlagen. Ich setzte mich zu ihr auf die Liege,

»Ich höre«, sagte ich und schaute die Loreley streng an. »Aber ich will die Wahrheit und nichts weiter, als die ungeschminkte Wahrheit.« Sie nickte, schob sich mit einer unnachahmlichen Geste, eine vorwitzige blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und begann mir ihre Geschichte zu erzählen.

»Also ich bin die Lore Obermann und ich bin Schauspielerin und Tänzerin vor allem aber, eine Eisrevuetänzerin im Berliner Admiralsgartenbad. Vielleicht kennen Sie es ja. Jedenfalls wollte mich der Direktor unseres Theaters an diesem Wochenende wie ein ekliger Zuhälter, für ein paar Mark an einen fetten, schmierigen Baron aus Wittenberge verschachern. Wenn ich mich weigerte, würde er mir bei passender Gelegenheit mein Engagement im Berliner Admiralsgartenbad kündigen. Da bin ich heute Nacht aus Angst vor dem fiesen Kerl aus Wittenberge abgehauen. Ich wollte nur weg, am besten zum Bahnhof, wo zu meinem Glück gerade Ihre Eisenbahn gestanden ist. Unterwegs bin ich dann unglücklicher Weise in der Dunkelheit gestolpert und sogar noch in einen tiefen Bach gefallen. Und den ganen übrigen Rest, den kennen Sie ja.«

Sie machte ein ziemlich schuldbewusstes und betretenes Gesicht. Wortlos stand ich auf und griff nach ihrem blauen Kleid, welches noch immer klatschenass im Waschbecken lag und wollte damit das Kabuff verlassen. Lore stellte sich mir in den Weg und versuchte mich aufzuhalten, wobei das Laken von ihr abglitt und sie nun gänzlich nackt vor mir stand,

»Moment mal, wo wollen Sie denn mit meinem Kleid hin, ick hab sonst nichts mehr anzuziehen«, fauchte sie mich erbost an.

»Ich bin gleich zurück, diesen nassen Fummel können Sie sowieso nicht mehr so anziehen«, sagte ich zu ihr und schon stand ich draußen auf dem Gang.

 »He, he, Sie Kanaille, Sie können doch nicht einfach mit meinem Kleid…«, schrie sie mir wütend hinterher. Sie donnerte energisch gegen die Tür und schrie lautstark nach ihrem Kleid. Ich schloss die Türe wieder ab und schlich mich auf die offene Plattform des Salonwagens, während der Zug in voller Fahrt durch den Ludwigsluster Bahnhof dampfte. Auf der Plattform knotete ich ihr Kleid an der Außenlaterne des Zuges fest an und ließ es im nächtlichen Fahrtwind flattern, damit es noch in der Nacht trocknete. Unser Nacht-Express hatte nun auch noch eine blaue Flagge bekommen, die im Mondschein lustig vor sich hin flatterte.

Über diese ungewöhnliche Idee musste ich nun selber schmunzeln, als mir allerdings gleich darauf das Lachen im Halse stecken blieb, denn irgendemand hatte nämlich just in diesem Augenblick die Notbremse im Zug gezogen. Beinahe wäre ich dabei sogar von der offenen Plattform heruntergefallen. Während die blockierenden Räder auf den Schienen in hohem Bogen weite Funken spuckten, verlangsamte sich allmählich die Fahrt unseres Zuges. Ich ahnte schon wer mir diese Suppe eingebrockt hatte. Mit laut kreischenden Bremsen kam der Zug nach einer ganzen Weile in der freien Landschaft hinter Ludwigslust zum Stehen. Schnell hatte ich mich vergewissert, dass keine wirklich ernstzunehmende Gefahr drohte und daraufhin das Bremssystem wieder reaktiviert. Dann rannte ich über den Schotterdamm stolpernd, nach vorn zur Lokomotive. Lokführer Reimann schaute schon wartend aus dem Führerstandfenster, während seine riesige schwarze Lokomotive wie ein erschöpftes großes Tier leise fauchend, vor sich hin atmete.

»Es tut mir leid Herr Reimann, aber eine kleine Unpässlichkeit eines Fahrgastes aus der Ersten Klasse. Hatte wohl etwas zu tief ins Glas geschaut und dabei wurde ihm plötzlich schlecht. Die Sache scheint nun aber geklärt zu sein und ich denke, wir können dann wieder.« Ich konnte Reimann im Mondschein mehr als deutlich grinsen sehen,

»Eigentlich dachte ich, wir bräuchten hier hinter Ludwigslust nicht mehr zu reduzieren. Jetzt musste ich sogar anhalten. Scheint ja allerhand was los zu sein heut‘ Nacht, bei Ihnen da hinten, Herr Wendland«, brummte Reimann vergnüglich.

»Das können Sie wohl laut sagen, Herr Reimann. Wobei 'allerhand‘ noch reichlich untertrieben scheint, das können Sie mir glauben«, gab ich im Brustton der Überzeugung zurück. »Also Herr Reimann, auf ein Neues und auf mein Signal hin.«

»Wenn Sie es sagen, Wendland, von mir aus gerne, ich bin bereit«, griente er, während sein angerußtes Gesicht wieder im Führerstand verschwand. Das ist halt das Gute an Reimann, dachte ich, nie rastete er aus. Er bleibt immer locker, egal was auch geschieht. Ich stakste bei Mondlicht über den Schotterdamm wieder zurück zum letzten Wagen der 2.Klasse und stieg auf die Plattform. Ein Pfiff aus der Trillerpfeife und der Zug setzte sich laut aufdampfend erneut wieder in Bewegung. Reimann gab noch ein kurzes Signal aus der Dampfpfeife zurück und wieder waren wir unterwegs in Richtung Hamburg.

Auf dem Weg zu meinem Kabuff kontrollierte ich sicherheitshalber noch einmal die Personenwagen der 2.Klasse. Aber die meisten Fahrgäste schliefen schon wieder, oder waren bereits am Eindösen. Als ich wieder beim Salonwagen eintraf, knatterte Lore Obermanns blaues Kleid schon wieder heftig im Fahrtwind. Bei dieser Geschwindigkeit würde es bald trocken sein. Vorher würde ich mir aber noch dieses Biest vornehmen. Da will man einer blinden Passagierin mitten in der Nacht hier JWD helfen und was macht sie? Sie zieht die Notbremse, nichts als Scherereien mit diesem Weibsbild. Ha, na warte nur Lore Obermann, dachte ich und schloss das Kabuff auf.

Lore saß wie versteinert auf meiner Liege und schaute mich böse an,

»Wo ist mein Kleid?«, fragte sie mit einem zornig geröteten Gesicht.

»Warum hast du meinen Zug angehalten, du Biest?«, fragte ich zurück. »Ist das etwa der Dank dafür, dass ich dich gerettet und mitgenommen habe? Ich hätte dich besser aus dem Zug, mitten in die Pampa werfen sollen, anstatt dir meine Hand zu reichen, du Biest! Während ich dein verdammtes Kleid zum Trocknen aufgehängt habe, ziehst du einfach die Notbremse, wo ich mir deinetwegen beinahe sogar noch den Hals gebrochen hätte.« Sie schaute mich ungläubig, ja geradezu völlig überrascht an,

»Sie... Sie haben es also nur zum Trocknen aufgehängt?«

»Na dachtest du etwa, ich würde es heimlich anziehen und dann damit zum Eisenbahner-Ball gehen?«, motzte ich zurück. Lore stand von meiner Liege auf, schaute mich nun mit einem zärtlichen, beinahe entschuldigenden Gesichtsausdruck an, während sie mich fest bei den Händen hielt,

»Wie heißt du, mein Retter, mein Adonis, mein Helfer in der allergrößten Not?«

»Dein Retter heißt Anselm Wendland und wird von seinem Eisenbahn-Inspektor mächtig was zwischen die Hörner kriegen, nur weil du die Notbremse gezogen hast. So sieht es nämlich aus, meine liebe Lore Obermann, denn der Oberlokführer Reimann wird es akribisch in seinem Streckenbuch vermerken und ich, der kleine Kondukteur, werde es am Ende wohl ausbaden müssen.«

Lore ließ mich los und während sie mich unentwegt anschaute, setze sie sich langsam wieder auf meine Liege. Dabei ließ sie gekonnt das Laken von ihrem unglaublich verführerischen Venuskörper gleiten, öffnete mir ihre Arme und winkte mich mit ihren Händen zu sich heran,

»Komm, komm er zu mir, mein süßer Held und küss er mich. Küsst das Biest, das Euch das angetan hat. Küss er mich wild und küss er mich leidenschaftlich. Bestraft mich überall mit euren Küssen«, flüsterte sie. Dann fasste Lore nach meiner Hand und zog mich zu sich hinunter. Halb zog sie mich, halb sank ich hin. Mein verletztes Ego schmolz dahin wie süße Schokolade in der Mittagssonne Südamerikas. Sie war so verführerisch in ihrer Nacktheit und so atemberaubend in ihrer unglaublichen Verführungskunst. So, wie sie sich unter meinen Blicken und unter den Streicheleinheiten meiner Hände räkelte, so sehr heizte sie mir auch emotional mächtig ein. Ich konnte gar nicht anders, ich musste sie einfach küssen, während sie mir meine Uniform aufknöpfte und die frisch gewaschene blaue Jacke achtlos zu Boden gleiten ließ. In ihrer wilden und überschwänglichen Umarmung ließ mir Lore keine Zeit zum Luftholen oder gar zum Überlegen. Ich küsste leidenschaftlich ihre Brüste und meine Lippen verwöhnten minutenlang ihre sinnlich betörenden Brustwarzen. Meine zahllosen Küsse und Liebkosungen ließen sie aufrichten und hart werden. Ohne Unterbrechung glitt mein Mund danach abwärts zu ihrem zuckenden, sich unablässig windenden Bauch und verschonte auch ihr Allerheiligstes vor meinen zärtlichen Küssen nicht. Lore hatte ihre ohnehin nur schwache Zurückhaltung längst aufgegeben und forderte nun energisch, wonach es ihr gelüstete. Sie stöhnte und schrie, während ihre Hände mein Gesicht unerbittlich fest an ihre liebliche Vulva pressten. Ich genoss förmlich den süßen schweren Duft ihres feuchten Geschlechts. Meine Lippen begannen sich nun an ihre Lippen zu verschenken und Lore auch dort wild und entschlossen zu verwöhnen, während meine Zunge auf ihrer vor Erregung glühenden süßen Lustperle Samba tanzte. Beinahe schamlose Wellen der Wollust durchjagten ihren sündhaften, immer heftiger zuckenden Alabasterkörper, für den es von nun an längst kein Zurück mehr gab.

»Komm, mein Held«, stöhnte sie. »Komm jetzt in Lore...«, hauchte sie mir ins Ohr und ich spürte ihren herannahenden Orgasmus wie einen ungebremsten Güterzug herandonnern. Ich folgte willenlos ihrer Aufforderung, wie ein Rad ungefragt dem Verlauf der Schiene folgen muss und tat, was sie von mir verlangte. In dem Moment unserer tiefsten Vereinigung brachen alle Dämme. Kaskaden von Eruptionen stürzten über uns herein, die sich in schier endlosen Zuckungen unserer Körper im ständig wiederkehrenden Rhythmus der Schienenstöße, gegenseitig an- und ineinander entluden…

 

*

 

»Donnerwetter, was für eine unglaublich heiße Geschichte«, stöhnte Terese, die attraktive Wirtin aus dem kleinen Literaturkaffee leise, als Jean-Pierre mit dem Vorlesen aus seinem Reader aufgehört und das Gerät ausgeschaltet hatte. »Da bekommt man ja richtig Lust, in diesen Nacht-Express einzusteigen und selbst eine solch verführerische Reise mitzumachen.«

»Ja, das war ich meinem Freund Thomas noch schuldig, als ich für ihn diese Geschichte schrieb. Schließlich war es doch meine Schuld, dass er sich ausgerechnet in diese Isabelle de Mendoza verliebt hatte. Aber wie hätte ich das denn auch nur ahnen können. Es war doch nur eine Geschichte«, meinte Jean-Pierre mit dem Mute der Verzweiflung. Da sein Freund Thomas nun nach seiner Meinung längst schon tot sein musste, weil doch die Handlung schon weit über hundert Jahre her war, als er der reizenden Isabelle in ihre Geschichte folgte.

»Verstehe«, meinte Terese und blickte Jean-Pierre fragend an. »Aber was ist denn nun mit dem Schiff? Ich denke, sie sind im Spätsommer 1908 beide mit dem Schiff von Hamburg nach Montevideo gereist?«

Jean-Pierres Gesicht bekam tatsächlich einen grüblerischen, fast verwunderten Ausdruck,

»Stimmt, Sie haben recht, meine liebe Terese, die beiden sind doch tatsächlich in jenem Jahr mit dem Schiff von Hamburg nach Übersee gereist. Hmm. Ich glaube, darüber werde ich wohl in aller Ruhe noch einmal gründlich nachdenken müssen…«

 

 

 

***

 

 

 

 

 

 

 

 

 Die Fortsetzung folgt demnächst mit dem 3.Teil dieser Trilogie unter dem Titel:

"Gespensterschiff nach Montevideo"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Text: Bleistift

© by Louis 2013/4    Update: 2020/11

 

 

 

 

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Texte: © by Louis 2013/4 Update: 2020/11
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Tag der Veröffentlichung: 09.12.2020

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