Ein wunderschöner Spätsommertag brach an und jener unsichtbare Wetterfrosch aus dem Rundfunk versprach seinen Zuhörern, dass es auch heute den ganzen lieben langen Tag so bleiben würde. Lockere fünfundzwanzig Grad Lufttemperatur wären zu erwarten und am Himmel sollten ununterbrochen gutgelaunte Schäfchenwölkchen spazieren gehen. Na, dachte ich, wenn das keine guten Aussichten sind, dann weiß ich ja nicht.
Mir fiel Jean-Pierre ein, mein alter Freund, der mich vor ein paar Tagen händeringend bat, ihn doch mit einigen zündenden Ideen unter die Arme zu greifen...
Jean-Pierre schrieb wie ich Geschichten. Aber irgendwie schien er einen Hänger zu haben, womöglich so eine Art von Schreibblockade.
Er schrieb gerade an einer ungewöhnlich zarten Liebesgeschichte, wie er meinte und war nun an einem Punkte angekommen, wo es einfach nicht mehr weiterging.
Er brauchte aber diese Geschichte als letzte Episode und als Abschluss für sein neustes Buch, bei welchem ihm sein Verleger aus terminlichen Gründen mit Nachdruck bereits mehrfach angemahnt hatte. Jean-Pierre fand einfach nur keinen neuen Ansatzpunkt, um seine Geschichte weiter voranzutreiben.
So hatten wir uns für heute in der zehnten Stunde dieses Vormittags in dem kleinen intimen Literatur-Café bei mir um die Ecke verabredet. Er würde seinen eBook-Reader mitbringen und mir dann seine Geschichte vorlesen, jedenfalls soweit wie er damit gekommen war, denn auf meinen fachlichen Rat lege er stets sehr großen Wert.
Ich liebe Geschichten, besonders die von Jean-Pierre und am besten, er liest sie auch noch selber vor. Er kann so unglaublich feinsinnig betont vorlesen. Wenn man sich dann dabei noch auf das abenteuerliche Wagnis einlässt, die Augen während seines Vorlesens zu schließen, so sieht man vor sich einen Film ablaufen. Einen farbigen, sehr plastischen dreidimensionalen Film, den Jean-Pierre mit fabelhaften, bezaubernd opulenten Bildern für seine Zuhörer ausgestattet hatte.
Er verstand es wie kein Zweiter, wunderbare Figuren zu erschaffen und sie meisterhaft in seine Geschichten zu integrieren. Ja mehr noch, er beherrschte die Kunst, sie so genial agieren zu lassen, als wären sie tatsächlich ein perfekter, lebendiger Bestandteil seiner ungewöhnlichen Geschichten. Und nun steckte der arme Kerl fest, was eigentlich kaum zu glauben war, denn wenn Jean-Pierre etwas wirklich konnte, dann war es Geschichten zu schreiben. Einen Nagel bekam er zwar nicht in die Wand, denn das Wort 'Hammer' hatte für ihn eine gänzlich andere Bedeutung, was aber für das Schreiben einer wirklich traumhaften Liebesgeschichte letztendlich aber auch keinerlei Bedeutung hatte ...
Das winzige Straßencafé mit den sieben Tischchen hatte am heutigen Samstag wegen des schönen Wetters schon eine Stunde früher geöffnet. Man mag es kaum glauben, aber alle Tischchen waren bereits besetzt, als ich zur vereinbarten Zeit dort eintraf...
Im Winter quetschte Terese, die attraktive Wirtin des kleinen Cafés, ihre sieben Tischchen in den klitzekleinen Literatur-Salon ihres Restaurants. Sodass die Leute beinahe schon aufeinander hockten und jedermann den Gesprächen seines übernächsten Nachbarn folgen konnte, ohne sich dabei überanstrengen zu müssen. Aber die Leute liebten auch im Winter das Flair da drinnen, selbst wenn es dann dort sehr beengt war. Erst recht, wenn Terese den kleinen eisernen Kanonenofen mit Anthrazit zum Bullern brachte und das Feuer eine anheimelnde, wohlig wärmende Atmosphäre verbreitete.
Im Frühling, wenn die ersten Sonnenstrahlen die Luft erwärmten und das erste zarte Grün aus den Bäumen und Büschen hervorbrach, kamen die Tischchen vor das Miniatur-Café auf die Straße und erst im Herbst, wenn der erste Nachtfrost das Laub außergewöhnlich schön zu roten, gelben und grünen kleinen Kunstwerken umfärbte, wanderten sie wieder nach drinnen. Aber noch hatten wir einen traumhaften Spätsommer und überall saßen die Pärchen draußen und genossen den aromatischen Kaffee von Terese, ebenso wie die milde Sonne dieses Samstagmorgens. Sie lasen entspannt in ihren Büchern oder sie unterhielten sich angeregt miteinander.
Mit einer einzigen Ausnahme, denn an einem der Tische saß einsam und allein, eine schlanke, etwas ältere Dame. Sie mochte vielleicht Anfang Sechzig sein, wirkte aber auf Grund ihrer sympathischen Ausstrahlung, bedeutend jünger. Diese attraktive Dame trug ein langes, hochgeschlossenes weißes Sommerkleid aus feinster Spitze mit Rüschen und Bordüren. Auf ihrem Kopf trug sie einen todschicken Sommerhut nach der neusten französischen Mode. Zusätzlich zum Schutz ihrer vornehmen Blässe vor einem zu intensiven Sonnenlicht hatte sie ein Sonnenschirmchen, ebenfalls aus feiner weißer Spitze aufgespannt. Sie hatte gerade eine Tasse Kaffee bei Terese bestellt, als sie mich bemerkte. Während sie mit der linken Hand ihren kleinen Sonnenschirm hielt, winkte sie mir lächelnd mit ihrer Rechten beinahe unmerklich zu. Ein Zeichen? Für mich? Unauffällig schaute ich mich um, ob sie womöglich jemanden anderes zugewunken haben könnte, der hinter mir gestanden war. Da ich aber niemanden hatte entdecken können, so musste ihr Winken folglich also mir gegolten haben.
Etwas verunsichert, weil ich die Dame nicht kannte, zeigte ich sicherheitshalber mit meinem Zeigefinger auf mich und schaute sie fragend an. Sie lächelte erneut und nickte ein wenig verlegen. Langsam ging ich auf sie zu, zog meinen Hut vor ihr und sprach sie nach einer leicht angedeuteten Verbeugung an,
»Verzeihung, gnädige Frau, sind Sie sicher, dass Sie wirklich mich meinen?«
Die Dame lächelte noch immer ihr überaus charmantes Lächeln.
»Aber sicher doch, Thomas, wen sollte ich denn sonst meinen?«, antwortete sie amüsiert und schaute mir nun direkt ins Gesicht. Sie hatte so wunderschöne blaue Augen und auf der hellen Haut ihrer Wagen lag nur der pfirsichzarte Hauch von einem leichten Rouge.
»Aber ich kenne Sie doch nicht einmal, gnädige Frau«, gab ich etwas überrascht zurück.
»Das sollten Sie aber, denn ich bin Isabelle und ich komme direkt im Auftrage von Jean-Pierre. Hat er denn etwa nicht mit Ihnen gesprochen, Thomas?«, antwortete sie mit einem Schmunzeln. Die sich dabei um ihre Mundwinkel bildenden Grübchen gestalteten ihr ohnehin schon schönes Gesicht gleich noch viel anziehender.
»Doch, doch, schon, aber ich dachte, er käme selbst, denn wir wollten gemeinsam noch etwas Wichtiges bereden, zumindest hatten wir das vor«, antwortete ich rasch.
»Lieber Thomas, so setzten Sie sich doch bitte erst einmal und leisten mir etwas Gesellschaft, dabei können wir über alles reden, wenn Sie mögen«, sagte sie, als sei dies die einfachste Sache von der Welt.
Ich nickte.
»Ja, selbstverständlich herzlich gern, wenn Sie denn gestatten.«
»Oh' ich bitte darum«, antwortete sie und wies mit ihrer zartgliedrigen Hand auf einen freien Stuhl von vis-á-vis, während das Lächeln nicht aus ihrem schönen ebenmäßigen Gesicht weichen wollte. Es war ein wissendes, weises Lächeln. Wohl auch ein wenig spitzbübisch. Offensichtlich hatte Jean-Pierre sie geschickt, denn sie hatte mich bereits mit meinen Namen angesprochen. Vielleicht war sie ja eine Literaturkritikerin oder sogar eine Literaturprofessorin und wir beide sollten ihm nun gemeinsam aus der Patsche helfen.
Während ich noch über die bezaubernde Dame nachdachte und ihr gegenüber Platz nahm, kam Terese an den Tisch und servierte ihr die kurz zuvor bestellte Tasse Kaffee.
»Und Sie, Thomas? Wie immer…?«, fragte sie mich bereits wieder im Weggehen begriffen.
»Ja bitte, einen Cappuccino, wie immer, Terese«, rief ich ihr etwas zerstreut nach. Terese nickte verstehend und verschwand in ihrem Restaurantstübchen, während die Dame Isabelle vorsichtig an ihrer Porzellantasse nippte, wobei sie den schmalen Henkel der zart durchscheinenden Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und dabei elegant den kleinen Finger etwas abspreizte.
»Woher kennen Sie eigentlich Jean-Pierre, wenn ich fragen darf, gnädige Frau?«, wandte ich mich wieder an meine charmante Tischnachbarin. Wieder lächelte sie ihr bezauberndes Lächeln, was auf mich eine unglaubliche, ja beinahe schon magische Anziehungskraft ausübte.
»Oh' es ist schwer, Jean-Pierre nicht zu kennen oder ihn gar zu übersehen, finden Sie nicht auch? Es wäre in etwa dasselbe, als würden Sie 1888 in London leben und hätten noch nie etwas von Sherlock Holmes gehört.« Nun lächelte ich und nickte bestätigend. Schon deshalb, weil Sir Arthur Conan Doyle 1887 in London seinen Sherlock Holms veröffentlicht hatte. Selbstverständlich wusste ich also sehr genau wovon Isabelle sprach.
»Ich hatte Jean-Pierre im vorigen Jahr auf einem der vielen Literatur-Foren in Paris kennengelernt. Wir wurden dort einander vorgestellt. Seither stehen wir in Kontakt und korrespondieren miteinander«, fuhr sie fort und nippte wieder an ihrer Tasse Kaffee.
»Aha...«, entfuhr es mir, was mich auf einen überraschenden Seitenblick von Isabelle treffen ließ. »Ich bin nur deshalb etwas erstaunt darüber, weil Jean-Pierre noch niemals von Ihnen gesprochen hat, gnädige Frau. Dabei hatte er doch sonst keine Geheimnisse vor mir, denn Jean-Pierre ist seit Jahren mein bester Freund. Wir vertreten dieselben Ansichten und Ideale und schreiben Geschichten über dieselben Themen, ja wir mögen sogar denselben Typ Frau, was sich vielleicht später sogar einmal als ein Problem erweisen könnte«, klärte ich sie auf.
Wieder lächelte Isabelle,
»Ich weiß, Thomas, er hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich weiß also bestimmt mehr über Sie, als Sie glauben, von Jean-Pierre zu wissen. Und so wie es aussieht, hat er Ihnen offensichtlich doch nicht alles erzählt.«
Ich war einigermaßen baff. Sollte ich jetzt etwa meine Ansichten über meinen besten Freund ändern, nur weil er mir nichts von dieser reizenden älteren Dame, namens Isabelle erzählt hatte? Gewiss nicht, dachte ich und nahm von Terese dankend die Tasse Cappuccino entgegen, die sie mir gerade in diesem Augenblick auf den Tisch stellte.
»Schreiben Sie selbst Geschichten, gnädige Frau?«, fragte ich sie, nachdem ich einen Schluck von Tereses köstlich zubereiteten Cappuccino getrunken hatte.
»Bitte, nennen Sie mich doch einfach Isabelle, Thomas, oder ist es Ihnen etwa unangenehm, mich bei meinem Vornamen zu nennen?«, fragte sie mich.
»Nein, nein, um Gottes Willen, überhaupt nicht, eher ganz im Gegenteil«, antwortete ich schnell.
»Gut, also dann, Thomas, auf unsere Bekanntschaft«, sagte sie, hob ihre Tasse Kaffee an und hielt sie mir entgegen. Wir stießen mit Kaffee und Cappuccino an und tranken einen Schluck aus unseren Tassen. Dann wandte sie mir ihr Gesicht zu und gab mir einen Hauch von Kuss auf die Wange, während ich ein Nämliches tat und sie ebenfalls auf ihre Wange küsste.
Von dieser Frau ging ein aphrodisierender Duft aus, der mich sofort gefangen nahm und urplötzlich flutete zwischen uns eine unerklärliche Woge der gegenseitigen Sympathie hin und her, die mich regelrecht verwirrte und sogar erröten ließ.
»Isabelle ...«, flüsterte sie beinahe tonlos.
»Angenehm, Thomas«, antwortete ich mit rauer Reibeisenstimme immer noch wie benommen. Als erste hatte sich Isabelle wieder gefasst und lehnte sich langsam auf ihrem Stuhl zurück.
»Um auf deine Frage zurückzukommen, lieber Thomas, ich schreibe nicht selbst, aber ich lese sehr viel. In meiner Jugend hab' ich, wie wahrscheinlich alle jungen Mädchen, ein paar Gedichte geschrieben, aber das war es dann auch schon. Ich hatte mich später mit fünfundzwanzig nach Uruguay verheiratet. Dort unterrichtete ich als Lehrerin an der Deutschen Schule, deutsche Sprache und Literatur. Mein Mann war ein ranghoher Offizier in der Armee und entstammte einer wohlhabenden katholischen Familie in Uruguay. Er fiel allerdings vor über zwanzig Jahren im Bürgerkrieg und seither war ich nicht wieder verheiratet. Kinder hatten wir keine. Ich lebe nun allein und sehr zurückgezogen in einem großen ehrwürdigen Haus in der Altstadt von Montevideo. Hin und wieder überkommt mich dennoch die Sehnsucht nach meiner alten Heimat in Europa und so muss ich einmal im Jahr für ein paar Tage oder Wochen Deutschland besuchen. Jetzt habe ich dir das Wesentliche von mir erzählt und nun weißt du, wer ich bin. Ich bin einfach nur eine gute Freundin von Jean-Pierre, der mich ebenso wie dich gebeten hatte, ihm bei seiner letzten Geschichte zu helfen und etwas für ihn herauszufinden.«
»Etwas für Jean-Pierre herausfinden? Was sollte das wohl sein, was er nicht auch selbst herausfinden konnte, wenn es um eine Geschichte geht? Er, der meiner Ansicht nach selbst die besten Geschichten schreibt, sollte doch wohl damit kein Problem haben«, konstatierte ich. Isabelle lächelte erneut,
»Diesmal hatte er wohl doch ein Problem damit, lieber Thomas, weil es ausschließlich nur uns beide, also dich und mich betraf. Er fragte mich nämlich, ob es denn möglich sein könnte, dass wir beide eine Sommerromanze miteinander haben könnten. Das Thema seiner letzten Geschichte für sein neues Buch. Eine ältere Dame in einer Romanze mit einem wesentlich jüngeren Mann. Ich sagte ihm, dass ich das nicht wüsste und dass dazu wohl auch immer zwei gehören würden. Außerdem sei ich doch bestimmt für so eine solche Romanze viel zu alt. Aber Jean-Pierre lachte nur, als er meine Bedenken hörte. Man sei immer so alt, wie man sich selber fühle, gab er mir zur Antwort. Was also meinst du dazu, lieber Thomas? Wärst du also einer kleinen Romanze mit einer älteren Dame nicht abgeneigt?«, fragte sich mich kokett und schaute mich aus ihren leuchtend blauen Augen fragend an. Ich schluckte. Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber jedoch nicht mit einer so ungewöhnlichen Form von Hilfeersuchen.
»Wieso kommt Jean-Pierre gerade auf mich, um eine solche Frage zu beantworten?«, erwiderte ich kopfschüttelnd.
»Vielleicht, weil er dich besser kennt, als du glaubst?«, gab Isabelle still lächelnd zurück.
»Und wie stellt er sich diese Romanze vor? Was denkt er, werden wir tun, um seinen hochgeschraubten Erwartungen zu entsprechen?«, fragte ich Isabelle. Die lachte nun auch höchst belustigt auf,
»Tut mir leid, ich hab' absolut keine Ahnung. Auch ich wüsste im Moment nicht, wie wir das praktisch anstellen sollten. Vielleicht denkt er, dass wir uns beide gleich um den Hals fallen, uns die Kleider vom Leib reißen würden und uns anschließend gegenseitig ins Bett zerrten. Um dann darauf gierig übereinander herzufallen und um was zu tun? Sofort miteinander zu schlafen? Ich glaube, man kann eine solche Romanze nicht einfach so planen, wie eine wissenschaftliche Expedition an den Südpol, oder einen Automobilankauf bei Carl Friedrich Benz. Dazu bedarf es dann doch schon bestimmt etwas sehr viel mehr«, sagte sie mit allmählich versagender Stimme, als sie mir ins Gesicht schaute und nun fassungslos mit dem Kopf zu schütteln begann.
»Ich bin mir jetzt gar nicht mal so sicher, ob er nicht doch genau das damit meinte, Isabelle. Denn du bist eine so wunderbare und wahnsinnig begehrenswerte Frau, dass ich jetzt auf einmal gar nicht mehr weiß, was ich denken soll. Was ist richtig und was falsch? Gibt es das überhaupt, richtig und falsch, wenn ausschließlich Gefühle eine Rolle spielen? Ich habe überhaupt keine Ahnung, aber ich hab' jetzt auf einmal so ein unglaubliches Gefühl in mir… Es ist mir auch egal, wie alt du bist oder ob du die Frau von irgendemanden bist oder warst. Ich verspüre einfach nur dieses übermächtige Verlangen, dich jetzt küssen zu wollen, Isabelle«, sagte ich und ergriff ihre Hand.
Sie wandte mir stumm ihr liebreizendes Gesicht zu und schloss ihre Augen. Ich küsste sie sanft auf ihren Mund. Ihr Kuss schmeckte nach süßem Honigtau und ihre weichen Lippen erwiderten meine innigen Liebkosungen. Doch dann riss sie sich plötzlich von mir los,
»Es geht nicht, ich bin zu alt für dich, Thomas, ich könnte eine solche Romanze nicht ertragen«, sagte sie aufgewühlt mit zitternder Stimme und lehnte sich schwer atmend zurück. »Wie konnte ich mich nur so hinreißen lassen …«
»Unsinn«, sagte ich und streichelte ihr schönes Gesicht. »Du bist nicht zu alt für mich, das ist überhaupt nicht der Grund, der wahre Grund ist, dass du nur Angst davor hast, dich neu zu verlieben.«
»Thomas, bitte lass es uns an dieser Stelle beenden, bevor es uns am Ende gar zerstört, denn so funktioniert eine Romanze nicht. Leb wohl, Adieu ...«, sagte sie erregt und erhob sich.
»Isabelle, wo willst du hin, bitte geh doch nicht fort, lass uns doch reden …« Ich war verzweifelt, denn Isabelle war drauf und dran, das Restaurant allein zu verlassen. Ich rannte zu Terese und bedeutete ihr, dass ich die beiden Kaffee‘s erst später bezahlen würde, jetzt könnte ich ihr aber im Moment nicht mehr erklären. Terese grinste hinter ihrem Fensterglas, nickte aber verstehend und machte mit der Hand eine Bewegung, dass ich verschwinden sollte. Dann lief ich schnell hinter Isabelle hinterher, die inzwischen schon die nahegelegene Haltestelle der Berliner Pferdeeisenbahn erreicht hatte. Als ich sie an der Haltestelle eingeholt hatte, fasste ich sie sanft bei den Schultern und drehte sie zu mir herum,
»Isabelle, warum geht das nicht?«, fragte ich sie zärtlich. Tränen standen in Isabelles Augen.
»Weil es nicht geht, lieber Thomas und ... weil ich mich kenne. Außerdem muss ich heute Abend noch den Nachtexpress nach Hamburg nehmen, denn morgen früh schon fährt mich mein Schiff nachhause, zurück nach Montevideo. Du siehst, es würde also auch gar nicht gehen«, schluchzte sie und lehnte ihr Gesicht gegen meine Schulter.
»Aber warum bist du denn überhaupt auf das Angebot von Jean-Pierre, mich dazu zu befragen, eingegangen, wenn du schon wusstest, dass du morgen schon wieder nachhause fahren wolltest?«, fragte ich sie verzweifelt.
»Ich dachte doch wir zwei, …wir reden nur darüber, wir spielen die Situation nur und tun nur so als ob. Verdammt noch mal, rein theoretisch natürlich. Ich dachte doch niemals, dass ich mich wirklich in dich… verlieben… würde, Thomas. Es war doch nur für diese allerletzte Geschichte in seinem neuen Buch, verstehst du? Ach, das ist alles so furchtbar…«
Jetzt war es ausgesprochen. Isabelle hatte sich in mich verliebt. Und ich, was war mit meinen Gefühlen, was ist mit mir? Auch ich hatte mich in Isabelle verliebt und konnte nun nicht mehr zurück.
»Isabelle, ich bringe dich jetzt in dein Hotel und dann reden wir in Ruhe noch einmal über uns, in Ordnung? Wo logierst du?«
Dann nahm ich ihr Gesicht in beide Hände und sah ihr in die Augen. »Auch ich habe mich sofort unsterblich in dich verliebt, mon Coeur, denkst du etwa, selbst ich kann da jetzt so einfach wieder zurück?«
»Ach Thomas, mach' es doch bitte nicht noch komplizierter, als es ohnehin schon ist«, stöhnte sie. »Also gut, ich wohne im Hotel "ADLON", lass' uns dort miteinander reden, wenn du darauf bestehst, aber bitte nicht jetzt.«
»Wie du willst, dann fahren wir eben zu deinem Hotel«, stimmte ich zu. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte ich und sah, wie die gelbe Berliner Pferdeeisenbahn soeben um die Ecke bog.
Der Kutscher zog an den Zügeln und die beiden kräftigen Brabanter blieben an der Haltestelle stehen. Ich half Isabelle beim Einsteigen. Und weil es so wunderschönes Wetter war, blieben wir gleich auf der Plattform des offenen Sommerwagens stehen. Ich stellte mich hinter Isabelle und umfasste sie an der Taille mit meinen Händen, während sie sich zärtlich an mich schmiegte. Ich bezahlte die beiden Billetts gleich beim Kondukteur, die dann auch bis in die Berliner Dorotheenstadt galten. Der Kutscher löste wieder die Handbremse und zog leicht an den Zügeln. Dann ruckten die Belgischen Kaltblüter-Pferde wieder an und zogen die Bahn weiter auf den Gleisen, immer an den Ufern der Spree entlang, bis zur Straße, "Unter den Linden".
Zu Fuß gingen wir die letzten zehn Minuten durch die Dorotheenstadt, die am Brandenburger Tor endete.
Isabelle hakte mich selbstbewusst unter und betrat mit mir zusammen das Hotel "ADLON" am Pariser Platz.
»Thomas, würdest du bitte einen Moment hier im Foyer auf mich warten, ich werde gleich alles für meine Abreise organisieren und dann können wir anschließend reden«, bat sie mich.
Ich nickte, obwohl ich den Verlauf jener Ereignisse äußerst ungern zur Kenntnis nahm. Denn im Moment sah es tatsächlich so aus, als würde Isabelle heute Nacht noch abreisen wollen, was ich auf jeden Fall zu verhindern gedachte. Ich sah, wie sie mit dem Rezeptionisten des Hotels sprach und der daraufhin einige Papiere aus seiner Lade sichtete. Er nickte und machte sich einige Notizen. Dann bezahlte Isabelle ihr Zimmer und kam wieder auf mich zu.
»Es ist alles geregelt«, sagte sie. »Ich werde heute Abend in der achten Stunde von einer Droschke abgeholt und fahre mit dem Nachtexpress vom Lehrter Bahnhof aus nach Hamburg. Ich hab' uns auf das Zimmer eine gut gekühlte Flasche Champagner kommen lassen und wenn du möchtest, können wir jetzt hinauf gehen und miteinander reden.«
Natürlich wollte ich, gar keine Frage. Meine vermutlich allerletzte Chance Isabelle doch noch zu überreden, von ihrem Vorhaben Abzureisen, Abstand zu nehmen. Sie lächelte wieder ihr unglaublich charmantes Lächeln und nahm mich wie ein Kind bei der Hand.
»Komm Thomas, lass uns unsere letzten gemeinsamen Stunden nicht vergrämen.«
Dann gingen wir beide untergehakt die große breite Treppe über den dicken roten Teppich hinauf in die erste Etage. Isabelle drückte mir wortlos ihren Zimmerschlüssel in die Hand. Ich öffnete ihre Zimmertür und fand mich in einem prächtig ausgestatteten Luxuszimmer wieder. Die Sonne schien hell durch die großen Fenster, die einen fabelhaften Ausblick auf den Pariser Platz, mit dem imposanten Brandenburger Tor im Hintergrund gestatteten. Isabelle ging zu den Fenstern und zog rasch die schweren Samtvorhänge zu. Ich wollte gerade noch etwas zu ihr sagen, als sie mir jedoch sachte mit ihrem Finger meinen Mund verschloss.
»Sag jetzt bitte nichts Thomas, genießen wir es einfach«, flüsterte sie leise in dem intim abgedunkelten Raum. Stumm knöpfte sie mir dann mein Jackett auf und öffnete die oberen Knöpfe meines Seidenhemdes. Ich öffnete ihr am Rücken das weiße Spitzenkleid, welches sie dann rauschend zu Boden fallen ließ. Als sie dann auch ihren Hut absetzen wollte, hielt ich ihr die Hand fest.
»Lass ihn bitte auf, er turnt mich so wahnsinnig an«, raunte ich ihr ins Ohr, weil ich mich dabei von Joe Cockers unglaublich emotional starken Song, "You can leave your hat on ..." so wahnsinnig inspiriert fühlte.
Ich umarmte sie und küsste sie erregt auf ihre weichen Lippen, was sie mir mit femininer und leidenschaftlich vorgetragener Hingabe umgehend erwiderte.
Mit beiden Händen streifte ich ihr sachte die schmalen Träger ihres seidenen Unterkleides über die Schultern und ließ ihn sanft an ihr hinab gleiten, während sie mich zärtlich aus ihren strahlend blauen Augen anschaute und es geschehen ließ. So stand sie nun im Halbdunkel vor mir, mit ihrem bezaubernden Hut auf dem Kopf und ihren von allen Kleidern befreiten nackten Oberkörper. Ich genoss im Dämmerlicht die vollendete Form ihrer kleinen Brüste, die sich so zart unter meinen Händen anfühlten. Als ich sie dort leidenschaftlich küsste, stöhnte Isabelle auf und ihre Lippen suchten nun gierig die meinen …
*
Am Sonntagmorgen, kurz nach zehn Uhr saß Jean-Pierre an einem der kleinen Tischchen in Tereses winzigem Literatur-Café. Er hatte sich eine große Tasse Kaffee bei Terese bestellt und inzwischen seinen Reader eingeschaltet. Als Terese ihm seinen Kaffee brachte, fragte er die junge Frau,
»Ach sagen Sie, Terese, was hatte denn Thomas gestern Vormittag noch zu Ihnen gesagt, als er mit dieser unbekannten Frau, na … Sie wissen schon, …die Dame in dem weißen Kleid, so überstürzt aufbrach? Hat er Ihnen etwa gesagt wo er mit ihr hin wollte?« Terese schüttelte überrascht den Kopf,
»Nicht dass ich wüsste, er deutete mir nur an, dass der die beiden Kaffee später bezahlen würde und rannte dann der Frau hinterher, wobei er ziemlich…« Terese verstummte und lächelte versonnen.
»Ziemlich was…?«, fragte Jean-Pierre misstrauisch geworden und eine senkrechte Falte bildete sich auf seiner Stirn.
»Nun ja, ich würde meinen, er war mächtig schwer verliebt in jene Dame, als er ihr nachlief …«, sagte sie. »Aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung. Das müssten Sie doch aber viel besser wissen, Jean-Pierre, denn Sie saßen doch mit den beiden zusammen an dem Tisch und waren doch selber dabei, als sie fortgingen.«
Jean-Pierre erbleichte in dem Moment von einen Sekunde auf die andere deutlich, als er die Worte aus Tereses Mund vernahm.
»Mein Gott, dann er jetzt schon tot, der arme Kerl ...«
»Wer? Wer ist tot, Jean-Pierre?«, fragte Terese erschrocken, als sie ihn anschaute. Resignierend antwortete Jean-Pierre,
»Mein alter Freund Thomas, er ist tot und nichts auf der Welt kann ihn je wieder lebendig machen.«
Terese hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund.
»Aber wie können Sie so etwas sagen, Jean-Pierre. Gestern war er noch quicklebendig und putzmunter. Was ist mit ihm passiert?«, fragte sie entgeistert.
»Nichts, nichts ist mit ihm passiert, er hat sich nur in Isabelle verliebt und ist mit ihr nach Montevideo gereist. Hier, es steht alles hier drinnen.« Er tippte auf seinen eBook-Reader. »Gestern habe ich die Geschichte noch zu Ende geschrieben. Und heute wollten wir uns erneut treffen und noch einmal darüber reden … Ich konnte doch nicht ahnen, dass er und Isabelle es wirklich wahrmachen würden und …ach, ich bin so ein Idiot …«, schalt er sich.
»Ja, aber aus welchem Grunde sollte Thomas denn jetzt schon tot sein? Er wird jetzt höchstwahrscheinlich mit dieser charmanten Frau wohl noch irgendwie unterwegs sein. Wenn Sie mich fragen, kein Wunder, so attraktiv wie diese Dame in ihrem Alter noch war. Sie machen sich darüber bestimmt nur unnötige Sorgen, Jean-Pierre«, meinte Terese etwas erleichtert.
Jean-Pierre schüttelte nun traurig den Kopf,
»Eben nicht, Terese, denn ich weiß jetzt ziemlich genau, dass Sie diese Dame auch gesehen haben. Thomas ist ihr tatsächlich in die Geschichte gefolgt, die ich extra für ihn geschrieben habe …
Damit ist er schon vor langer Zeit gestorben, denn die Handlung spielt 1908 im preußisch, wilhelminischen Berlin und das, meine Liebe, das ist jetzt schon deutlich weit über einhundert Jahre her ...«
***
Die unmittelbare Fortsetzung erfolgt mit dem 2. Teil dieser Trilogie unter dem Titel: "Nachtexpress"
Impressum
Cover: selfARTwork
Covermotiv: by Pierre Auguste Renoir_ La Promenade
Text: Bleistift
© by Louis 2013/4 Update: 2022/10
Texte: © by Louis 2013/4 Update: 2022/10
Bildmaterialien: Covermotiv by Pierre Auguste Renoir_ La Promenade
Cover: selfARTwork
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2020
Alle Rechte vorbehalten