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Zwischen Schultüten und Schlagring

 

Der erste Schultag nach den großen Sommerferien war etwas ganz Besonderes. Ich hatte die zweite Klasse erreicht und das sogar mit einem ganz passablen Zeugnis. Obwohl der schnauzbärtige Berliner Amtsschularzt gerade erst ein Jahr zuvor noch bei meiner medizinischen Einschulungsuntersuchung zu meiner Mutter gemeint hatte,

»Wat woll’n se' denn mit dem Hosenmatz inne Schule, junge Frau? Da muss man ja glatt zwee Mal hinkieken, damit man den Piefke wenigstens een Mal sieht. Und überhaupt, ville zu kleen, Ihr Steppke, meine Gnädigste. Der is‘ ja kaum n' Kopp größer, als n‘ Mülleimer…«

 

Mama und der Amtsschularzt einigten sich zunächst erst einmal auf eine Einschulung meiner unscheinbaren Person auf 'Probe' in die erste Klasse. Wenn das jedoch nicht klappen sollte machte meine Mutter mir Avancen auf eine zweite Schultüte, die mir dann im darauffolgenden Jahr natürlich erneut zustehen würde. Dennoch, eine geradezu verlockende Versicherung, wenn ich dabei an die später mit reichlich viel Zeitungspapier ausgestopfte Spitze meiner großen Schultüte dachte, welche man mir just zur Einschulung kredenzt hatte. Ich erinnerte mich noch bis heute sehr lebhaft an jenes damals abgegebene Versprechen, dessen Einlösung ich jedoch niemals in Anspruch genommen hatte.

So trabte ich denn am ersten Schultag im September mit neuen Schulbüchern im Ranzen, frisch angespitzten Bleistiften im Federkasten, sowie einem fetten Grinsen im Gesicht los. Als ich die frischgebackenen Eleven mit ihren riesigen Schultüten vor mir herschaukeln sah, hatte ich für die »Kleinen« jedoch nur ein müdes Lächeln übrig, denn schließlich war ich ja schon in die zweite Klasse versetzt worden.

Das Grinsen sollte mir aber dennoch rasch vergehen, als ich das neue Klassenzimmer mit der Aufschrift: "Klasse 2A" betrat und mit bösem Erschrecken erkennen musste, wer gleich mir ebenfalls die zweite Klasse besuchen durfte...

Rainer Koschnik, der größte Schulhofrowdy, von den Lehrern gelegentlich auch »Prinz Störenfried« genannt. Er war offensichtlich ein 'Sitzenbleiber' und nun durfte er die zweite Klasse noch einmal wiederholen. Damit war er natürlich gleich um ein ganzes Jahr älter und konnte seine inzwischen weiter erstarkte physische Macht gegenüber seinen deutlich jüngeren und schwächeren Mitschülern nun tatsächlich noch viel intensiver ausleben, als je zuvor…

Mir schwante für das kommende Schuljahr definitiv nichts Gutes, denn als ich noch in der ersten Klasse war, machte ich um Koschnik immer schon einen Riesenbogen, selbst wenn ich ihn nur von weitem erblickte. Denn Koschnik war dafür bekannt in der Wahl seiner Methoden nicht gerade eben zimperlich zu sein, wenn es um sein nächstes Opfer ging, selbst wenn es sich dabei sogar um ein Mädchen handeln sollte. Vor Koschnik fand man einfach keine Gnade, es sei denn, man bezahlte ihn mit einer Art Schutzgeld in Form von nützlichen Dingen die er selber gut gebrauchen konnte, wie gestohlene oder gefundene Schlüsselbunde, sowie diverse Feuerzeuge und natürlich Geld.

Bis dato war es mir nämlich stets gelungen, ihm mit heiler Haut zu entkommen, wenngleich es manchmal schon ziemlich brenzlig wurde. Zwar war er durchaus gut anderthalb Köpfe größer als ich und auch mindestens doppelt so breit, aber dafür war ich ein exzellenter und ausdauernder Läufer und konnte demzufolge stets mein Heil in der Flucht suchen, sobald er mich erst einmal ins Visier genommen hatte. Bei einer direkten Konfrontation allerdings hätte ich jedoch nicht die Spur einer Chance gegen ihn gehabt, das war selbst mir so klar, wie Kloßbrühe...

Und nun saß dieser Schläger ausgerechnet mit mir in einer Klasse. Er hätte doch auch in die 2B zurückversetzt werden können, aber so gnädig war mir das Schicksal leider nicht gesonnen. Und so war mir auch sein schiefes Grinsen nicht entgangen, als er mich unter seinen neuen Mitschülern ausgemacht hatte. Ich wusste, ich würde mit Sicherheit demnächst auch zu seinem auserkorenen Opfern gehören, da biss die Maus keinen Faden ab, denn einfach wegrennen konnte ich ihn nun kaum mehr noch.

So kam es, wie es kommen musste und Koschnik passte mich bald darauf an einem Mittwoch nach Schulschluss auf dem Schulhof ab. Und das, obwohl ich mir gerade extra viel Zeit gelassen hatte und nicht gleich sofort mit den anderen Mitschülern hinausgeströmt bin, denn von der Schwarmtaktik der kleinen Fische hatte ich damals noch keine Ahnung. Ich dachte, ihm wäre die Lust vergangen, draußen in der nachmittäglichen Septembersonne auf mich zu warten. Aber leider falsch gedacht, denn mit einem Griff packte er mich plötzlich brutal von hinten am Schulranzengriff und riss mich damit rücklings zu Boden, auf dass ich ihn zu Füßen in den staubigen Schulhofdreck stürzte. Dann setzte er schnell seinen Fuß seitlich auf mein Gesicht und sagte widerlich grinsend,

»Sieh mal einer an, hab ich dich endlich, Bürschchen. Dachtest wohl, du könntest mir entkommen, was? Aber diesmal nicht, Freundchen, jetzt bist du nämlich dran...« Während er mein Gesicht mit seinen dreckigen Schuh immer fester gegen den Boden presste. »Na, wie gefällt dir das, du kleine Ratte?«

Ich verfluchte ihn und hätte ihn ohne mit der Wimper zu zucken umbringen mögen, so sehr hasste ich ihn. Es wäre mir völlig egal gewesen, hätte ich in diesem Augenblick auch nur die winzigste Chance dazu gehabt, ich glaube, ich hätte es getan. Zumindest hatte ich es damals so empfunden. Ich war verletzt, ich war gedemütigt und ich hasste mich der Ohnmacht wegen, die ich empfand in einer so unwürdigen Lage zu sein. Und Koschnik ließ mich seine Macht sehr deutlich spüren, indem er sich ganz tief zu mir herunterbeugte und mir seinen eisernen Schlagring unter die Nase hielt,

»Du wirst mir ab jetzt jede Woche eine Mark mitbringen, oder willst du lieber mit dem hier Bekanntschaft schließen?« Ich deutete so gut es ging ein armseliges Kopfschütteln an. »Na also, geht doch und bilde dir nicht ein, du könntest mich verarschen. Denk also immer daran, Freundchen, was anderes würde dir auch ganz schlecht bekommen«, sagte er und drohte mir wieder mit seinem metallenen Lieblingsspielzeug. Dann nahm er den Fuß von meinem Gesicht und grinste mich verächtlich an, »Und jetzt verpiss' dich, du Ratte, ehe ich es mir noch anders überleg‘…«

 

Gedemütigt zog ich los, heulend und verdreckt, Gott und die Welt verfluchend. Ich fühlte, wie die kalte Wut in mir aufstieg und in meiner kindlich grenzenlosen Phantasie lud ich wie Old Shatterhand meinen Henrystutzen durch. Dann schoss ich diesen elenden Banditen namens Rainer Koschnik ohne mit der Wimper zu zucken von seinem Pferd, nachdem ich ihn zuvor am Fluss unterhalb der Furt gestellt hatte…

Zuhause angekommen, musste ich allerdings das Pferd, als auch den Henrystutzen sofort wieder abgeben und meiner entsetzten Mutter erklären, wie ich zu den blutigen Kratzern im Gesicht und den völlig verdeckten Klamotten gekommen war. Es half alles nichts, sie würde ohnehin die Wahrheit erfahren und mein Vater würde mir daraufhin ganz sicher saftig und ungeschminkt die Leviten lesen…

Als mein Vater am Abend dann von der Arbeit heimkam hatte meine Mutter ihn sogleich darüber informiert, dass sich sein Kronsohn von einem Schulkameraden hat verdreschen lassen. Das war natürlich so nicht ganz korrekt, aber anderseits konnte ich ihr auch nicht einfach nur widersprechen. Mein Vater hörte sich das alles sehr gelassen an und nachdem meine Mutter ihren Teil meiner Version erzählt hatte, wurde ich ins Wohnzimmer gerufen. Mein Vater wies mir ohne ein Wort zu sagen einen Stuhl an, auf dem ich Platz nehmen durfte. Dann sah er mich groß an und sagte ganz leise,

»Ich höre dir jetzt zu, aber ich will die ganze Wahrheit wissen und sollte ich feststellen, dass du lügst, dann erwarte auch von mir kein Pardon…«

So berichtete ich denn wahrheitsgemäß, wie sich alles zugetragen hatte und hoffte darauf, dass mein Vater meine Situation verstehen und mich künftig vor Koschniks fiesen Machenschaften in Schutz nehmen würde. Mein Vater wiederum hörte sich alles ganz in Ruhe und ohne einen einzigen Kommentar abzugeben an. Als ich meine Erklärung beendet hatte fragte er mich nur,

»Und das war wirklich alles?«

Ich nickte verbissen. Und mein Vater sah mich jetzt auf einmal ziemlich streng an,

»Du erwartest doch wohl nicht von mir, dass ich jetzt in die Schule komme und deine Lehrerin darüber informiere, dass du dich nach dem Unterricht mit einem Mitschüler geprügelt hast oder?«

»Ich hab mich ja nicht mit ihm geprügelt«, gab ich trotzig zurück, »der Koschnik hat mir nach der Schule aufgelauert! Er hat mich auf dem Schulhof abgepasst, nur um mich dranzukriegen!«

»Wenn alles tatsächlich so war, wie du es mir geschildert hast, warum hast du dich dann nicht verteidigt, wie es sich gehört?«, funkelte er mich an. Als ich dann noch einmal davon anfangen wollte, dass Koschnik ja viel größer und stärker sei als ich, winkte mein Vater nur enttäuscht ab. »Alles nur faule Ausreden, das lasse ich nicht gelten. Und jetzt mein Sohn, werde ich dir mal was sagen, sollte ich irgendwann noch einmal erfahren, dass du dich von so einem Drecksack, wie diesen Koschnik hast widerstandslos verprügeln lassen, dann setzt es von mir noch zusätzlich was hintendrauf! Ich denke, wir haben uns verstanden...?«

Ich nickte erneut und mir schossen ungewollt die Tränen in die Augen, denn ich war am Boden zerstört. Mein Vater hatte mich nicht verteidigt, sondern ganz im Gegenteil, er hatte mir mit seiner Androhung, mich auch noch zusätzlich bestrafen zu wollen, regelrecht die Hölle heiß gemacht. Und ich musste davon ausgehen, dass er es auch verdammt ernst meinte. Denn mein Vater verfügte, was Erziehungsfragen anbetraf, durchaus über eiserne Prinzipien, gegen die man auch nicht einmal nur leichtsinnigerweise verstieß.

Das Gespräch war daraufhin beendet und ich verließ mit hängendem Kopf die Audienz, während meines Vaters unmissverständlichen Worte noch nachträglich in meinem Kopf eine geraume Zeit hin und her echoten.

Bis Freitag verliefen die Wochentage ohne weitere Zwischenfälle, wenn man einmal davon absah, dass Koschnik mich jedoch unablässig im Auge behielt. Am Samstag versperrte er mir plötzlich den Weg in den Klassenraum und erinnerte mich eindringlich daran, dass am kommenden Montag bereits Zahltag wäre. Dabei lupfte er nur ganz kurz seinen Schlagring aus der Tasche und konnte sich anschließend ziemlich sicher sein, dass ich seinen Wink mit dem Zaunpfahl sehr wohl auch verstanden hatte.

Als ich dann am frühen Montagmorgen todesmutig zur Schule lostrabte, hatte ich vor, Koschnik zu offenbaren, dass er von mir nichts zu erwarten hätte, weder jetzt, noch in Zukunft. Natürlich wusste ich, dass er bereits auf mich warten würde und was mir nun blühen könnte. Als ich aber um die Ecke bog, sah ich Koschnik schon von weitem im Kreise seiner miesen Spießgesellen draußen vor dem Eingangstor zum Schulhof herumlümmeln und schlagartig verließ mich der Mut, ihn in aller Offenheit entgegenzutreten. Ich spielte sogar kurzzeitig mit dem Gedanken, mich rasch zu wieder verdrücken und umgehend nachhause zurückzukehren. Aber da hatte Koschnik mich bereits bemerkt kam mir sogleich entgegen. Er begrüße mich sogar ziemlich lautstark mit den Worten,

»He, Jungs, seht mal, da kommt ja mein neues Sparschwein…« Alle lachten und Koschnik trat dicht an mich heran, »Kiek mal eener an, die kleene Ratte, wer hätte det jedacht!« Er hielt grinsend seine schmutzige Hand auf, »…wat is nu‘ mit meiner Mark?«

Ich tat so, als griff ich in die Tasche meiner Lederhose, ballte insgeheim die Faust und in einem schier unglaublichen Wutanfall rammte ich dem verhassten Widerling meine Faust in den Magen. Dieser spontane Angriff auf Koschnik kam selbst für ihn so derart überraschend, dass er sofort zu Boden ging. Noch im selben Moment warf ich mich dann auf ihn und schlug ihn noch zwei, dreimal mit den Fäusten ins Gesicht. Dann ballte ich wild entschlossen die Linke zur Faust und verpasste ihn noch einen wohlgezielten Faustschlag direkt auf die Nase, die daraufhin sofort zu bluten anfing. Urplötzlich fühlte ich mich jedoch im selben Moment am Griff meines Ranzens gepackt und äußerst brutal zurückgerissen. Jemand hatte mich gegen meinen Willen von meinem fast schon besiegten Gegner getrennt und mich mit einem einzigen Ruck wieder auf die Beine geholt. Als ich mich empört herumdrehte, starrte ich erschrocken in das arg böse dreinschauende Gesicht des stellvertretenden Schulleiters. Nämlich in das, des bekanntermaßen strengsten Lehrers an unserer Schule...

»Ach, na das ist ja ein Ding. Ich kenne dich, du bist doch einer aus der 2A…«

Während ich nur grimmig nicken konnte und vor Aufregung immer noch wie ein Maikäfer pumpte, ließ er mich vollends los,

»Na wunderbar, jetzt haben wir also noch einen weiteren Schlägertypen an unserer Schule, aber das wird für euch auf jeden Fall noch ein Nachspiel haben«, meinte er erzürnt. »Und jetzt ab in eure Klasse, alle beide…«

Das Nachspiel sah aber so aus, dass Rainer Koschnik einen schriftlichen Verweis erhielt und ich quasi mit einem blauen Auge davon kam. Von Stund' an ließ Koschnik mich jedoch in Ruhe und ignorierte mich. Ich war weniger als Luft für ihn, was mir allerdings auch ganz gelegen kam. Zwei Jahre später wurde er aber dann doch wegen Rowdytums der Schule verwiesen.

 

Und erst noch sehr viel später habe ich dann auch begriffen, was mein Vater damit meinte, als er mich vor diesem Ganoven vermeintlich nicht beschützen wollte…

 

 

 

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Impressum

Cover: selfARTwork

Text: Bleistift

© by Louis 2016/11    Update: 2020/11

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Tag der Veröffentlichung: 24.11.2020

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